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Titel: Ein Meerwunder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 582–583
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Transatlantischer Segeltörn der „Red, White and Blue“
Blätter und Blüthen
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[582] Ein Meerwunder. Etwa zwanzig englische Meilen Seewegs von dem Punkte entfernt, wo sich zwischen Dover und Calais die gegenüberliegenden Küsten Englands und Frankreichs am nächsten kommen, erhebt sich vor einem prachtvollen Meereshorizonte an bewaldeter, hügliger Küste die Stadt Ramsgate, eines der beliebtesten Seebäder der Londoner Mittelclassen. In der That ist es mit seinen Klippenpromenaden und Hafendämmen, seinem herrlichen Wellenschlage und seinem sandigen Strande ein reizender sommerlicher Seeaufenthalt, und was den Weltverkehr betrifft, den uns hier die nah und fern vorüberziehenden Schiffe gleichsam vor Augen demonstriren, so können sich nur sehr wenige andere Seebäder Großbritanniens mit diesem Ramsgate messen, wo sich das ganze gewaltige Handelstreiben von der Nordsee durch den Canal in den atlantischen Ocean und von dem atlantischen Ocean zurück in die Nordsee unaufhörlich vor unsern Blicken auf und nieder bewegt. Dies ist denn auch ein Hauptgrund, warum ich gerade hier so gern meine Villeggiatur halte.

Auch diesen Sommer verlebte ich, dem Dunst und Lärm der Weltstadt entronnen, ein paar genußreiche Wochen in Ramsgate. Eines Morgens vom Bade zurückkehrend, stieg ich die Ostklippe von Ramsgate hinan und warf, einen Moment auf dem steilen Wege ruhend, den Blick über die See, als das „Meerwunder“ mir in’s Auge fiel, von dem ich die Leser der Gartenlaube unterhalten will. Ein Schiffchen, nicht größer, als ein Fischerboot, aber ganz ausgestattet wie ein Dreimaster: Masten, Raaen, Stangen, Segel, Alles in größter seemännischer Vollständigkeit und, um den seltsamen Hinblick zu krönen, das ganze Fahrzeug von oben bis unten mit wehenden, weiß-roth-blauen Wimpeln geschmückt. Fast in demselben Moment wurde im Hafen die amerikanische Flagge aufgehißt und nun entdeckte [583] ich auch dieselbe gesternte und gestreifte Flagge in diminutiver Gestalt am Vorderende des kleinen Dreimasters. Die ganze Erscheinung war über alle Maßen fremdartig, beinahe märchenhaft. Man hätte glauben mögen, ein Seegespenst, eine Fata Morgana zu sehen; aber da fuhr es am hellen, lichten Tage dahin und unzweifelhaft deutlich hob seine Gestalt sich gegen die schwarzen Bäuche anderer Schiffe ab. Als ich oben auf der Terrasse der Klippe ankam, fand ich schon eine Anzahl Spaziergänger, um den dort stationirten Küstenwächter geschaart, in lebhafter Unterhaltung über das wundersame kleine Fahrzeug. Ich erfuhr nun, was ich vermuthet, daß nämlich das Schiffchen aus Amerika komme und The Red, White and Blue (Roth, Weiß und Blau) benamst; daß ferner schon vor zwei Tagen ein Canalpilot in der Nähe von Hastings an Bord gegangen sei, der zuerst die Nachricht verbreitet habe, diese Nußschale komme geraden Weges von New-York über den atlantischen Ocean, habe eine Bemannung von zwei Leuten, einem Capitän und einem Steuermann, als einzigen Passagier aber einen Hund und beabsichtige, ohne weitern Verzug seine Reise nach London fortzusetzen. Die Nachricht klang selbst für unsere an das Abenteuerlichste gewöhnten Ohren kaum glaublich, und halb staunend, halb ungläubig sahen wir dem kleinen Fahrzeug nach, bis es, um die nächste Klippe segelnd, vor unseren Blicken verschwand.

Im Laufe des Morgens wurde das Wetter stürmisch und ich hörte Tags darauf, The Red, White and Blue habe die Dienste eines Zugdampfers in Anspruch nehmen müssen und sei in dem etwa zehn englische Meilen entfernten Hafen von Margate vor Anker gegangen. Durch das ungewohnte Erlebniß und den Bericht des Küstenwächters interessirt, fuhr ich daher noch denselben Nachmittag in Begleitung einiger Freunde mit der Eisenbahn nach Margate hinüber, um womöglich an Bord zu gehen und von der Bemannung selbst über Schicksale und Bestimmung des außerordentlichen Schiffchens authentische Details zu erfahren. Wir fanden das kleine weiß-roth-blaue Meerwunder richtig im Hafen von Margate, bereits umgeben von einer Anzahl neugieriger Ruderboote. Die Bootsleute von Margate, wie nicht mehr als billig, waren in bester Stimmung. „Wollen Sie die Red, White and Blue sehen, Sir?“ schallte es uns aus einem halben Dutzend Kehlen entgegen. „Kommen Sie, Sir!“ Und bald saßen auch wir im Boote und flogen dem Amerikaner zu.

Da lag der kleine Heros, nicht mehr als etwa sechsundzwanzig Fuß lang, sechs Fuß breit, von dritthalb Tonnen Gehalt, wettergeschlagen, aber noch immer in seetüchtigem Zustande. Man durfte nicht daran zweifeln, alle Zeugen wiederholten die erstaunliche Geschichte, dies Miniaturschiff war von New-York über den atlantischen Ocean gesegelt. Zwei furchtlose Männer, begleitet von einem Hunde, hatten das so oft besprochene, aber noch nie vollendete Wagstück ausgeführt. Da standen sie, die Hände in den Taschen, offenbar mit sich selbst zufrieden, und tauschten mit ihren bewundernden Besuchern heitere Worte aus. Endlich kam auch an uns die Reihe und wir hörten als Zweck der Fahrt: die Yankees seien herübergekommen, um bei der großen internationalen Ausstellung von 1867 in Paris zugegen zu sein und „den Franzosen zu zeigen, daß sie nicht Alles zusammen hätten ohne eine Curiosität wie diese, die den übrigen Dingen zur Folie dienen könne.“

„Also eine Yankeespeculation!“ wird der Leser ausrufen. Ja wohl, weiter nichts, aber trotzdem nicht minderer Beachtung würdig. Alles wohl berechnet. Denn, um zur Ausstellung anzukommen, hätte man bis zum Februar des nächsten Jahres Zeit gehabt; allein mitten in den Winterstürmen würde eine solche Fahrt geradezu Wahnsinn gewesen sein. Die einzige Chance des Gelingens bot der Sommer, und mitten im Sommer segelte man demnach von New-York ab und langte nach siebenunddreißig Tagen an der englischen Küste in Margate an. Aber doch, welche Kühnheit, welche Ausdauer, welches Geschick setzt diese Fahrt voraus! – in ihrer Art in Wahrheit kaum eine weniger wunderbare Unternehmung, als die atlantische Telegraphen-Expedition, deren Größe die Welt in Staunen setzt. Ich will nur noch erwähnen, daß die Argonauten des Red, White and Blue, von denen der eine sich Capitän Hudson, der andere Mr. Fitch nennt, bald nach ihrer Abfahrt von New-York bei regnerisch stürmischem Wetter die Entdeckung machten, daß das Deck ihres Schiffchens lecke, und somit nicht allein ihren Reisevorrath durchnäßt sahen, sondern auch den größten Theil des Weges in nassen Kleidern zubringen mußten. Sie hatten einen Kochofen an Bord, konnten denselben jedoch aus eben jenem Grunde nur bei seltenen Gelegenheiten gebrauchen und waren nicht wenig froh, als der Capitän eines Schiffes, dem sie am südwestlichen Ende des englischen Canals begegneten, ihnen eine Flasche Branntwein zum Geschenk machte, um ihre steif und müde gewordenen Glieder zu erwärmen. Die Provisionen an Bord bestanden aus einhundert und zwanzig Gallonen Wasser, zweihundert Pfund Brod, fünf Pfund Kaffee, zwei Pfund Thee, vier Kasten geräucherte Häringe, fünfzehn Pfund geräuchertes Rindfleisch, siebenzehn Pfund Käse, allerlei Gewürz und Pickles, einer Anzahl hermetisch verschlossener Kasten mit präparirten Speisen und sechs Flaschen Branntwein und Whiskey. Das Innere, welches durch eine Fallthür erreicht wird, enthält vier Gemächer, zwei cylinderförmige an den Seiten, zwei viereckige von etwa vier Quadratfuß Flächeninhalt an beiden Enden. Die Seitengemächer geben genügenden Raum zum Liegen, sehen aber übrigens Särgen ähnlicher, als Betten. Mehrmals warfen Wind und Wellen das kleine Fahrzeug senkrecht auf seine Starbordseite und nur mühsam konnte die eingeströmte See durch Ausschöpfen entfernt werden. Die Schiffsuhr wurde gleich anfangs durch Nässe unbrauchbar, ein Chronometer fehlte, Compaß und Quadrant allein mußten daher als Wegweiser und Zeitmesser Dienste thun.

Am schlechtesten befand sich übrigens während der ganzen Fahrt der vierbeinige Passagier, der Hund, obgleich seine Genossen ihr Möglichstes thaten, ihn aufzuheitern. Als wir an Bord des Red, White and Blue waren, lag die arme Bestie mißmuthig, krank, mit gesenktem Kopf und Ohren in der Ecke neben dem Steuerruder und gab nur von Zeit zu Zeit, wenn man sich ihm näherte, ein wehmüthiges Winseln von sich. Capitän Hudson und sein Genosse erfreuten sich des unsäglichen Luxus, wieder trockenes Zeug auf dem Leibe zu haben und ihre Gliedmaßen yankeeartig bequem der Länge und Breite nach ausstrecken zu können. Boote auf Boote fuhren inzwischen von allen Selten heran und noch bei unserer Rückfahrt sahen wir The Red, White fand Blue ringsum von neugierigen Besuchern umgeben. Später erfuhr ich aus der Zeitung, daß die arme Fanny (so hieß der Hund) während der Weiterfahrt von Margate auf der Themse gestorben sei. Das Schiffchen ist seitdem nach dem Krystallpalast in Sydenham transportirt, wo es wahrscheinlich noch eine Zeit lang das sensationslustige Londoner Publicum herbeilocken wird, ehe es zu der von seinen Eigenthümern beabsichtigten Rundreise in den englischen und französischen Häfen wieder unter Segel geht und (falls Neptun ihm auch ferner seinen allerhöchsten Schutz gewährt) im nächsten Jahre schließlich auf der großen Ausstellung in Paris erscheint.