Ein Bild deutscher Verbrüderung in der Schweiz

Textdaten
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Autor: A. von Rondow
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Titel: Ein Bild deutscher Verbrüderung in der Schweiz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 166
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Bild deutscher Verbrüderung in der Schweiz.

Es ist eine alte und bekannte, an sich vollkommen erklärliche und berechtigte Thatsache, daß die Menschen, wenn sie ihre Heimath verlassen und im Auslande ihren Aufenthalt genommen, sich zu ihren Landsleuten halten und zur Pflege heimathlicher Erinnerungen sowie zum patriotischen Schutze ihrer nationalen Interessen sich in Vereine zusammenthun. Eine besondere Art dieser Vereinigungen sind diejenigen, welche zur Unterstützung und zum Schutze hülfsbedürftiger Landsleute gegründet werden. Es gereicht den Deutschen zur besonderen Anerkennung, daß gerade sie es sind, welche die ältesten solcher Vereine besitzen. In zwei Jahren wird „Die deutsche Gesellschaft der Stadt New-York“ ihre Säcularfeier begehen. Der Zweitälteste dieser Vereine ist „Die deutsche Gesellschaft der Wohlthätigkeit in London“, gegründet, wie der Verein zu Baltimore, im Jahre 1817. Im Jahre 1842 folgte die Stiftung des „Deutschen Wohlthätigkeits-Vereins in St. Petersburg“, 1844 die Gründung des „Deutschen Hülfsvereins in Paris“ und 1855 die der „Deutschen Unterstützungsgesellschaft in San Francisco.“

Der siebente der deutschen Hülfsvereine, dem Alter nach, hat bereits im Jahre 1881 den fünfundzwanzigjährigen Erinnerungstag seines Bestehens gefeiert. Es ist der „Deutsche Hülfsverein in Zürich“, welcher der Mutterverein von zehn anderen Vereinen gleicher Art geworden, die sich heute wie ein Netz über die ganze Schweiz erstrecken.

Die traurige Reactionszeit der dreißiger Jahre hatte viele deutsche Flüchtlinge nach der Schweiz verschlagen. Das Jahr 1848 sandte eine Schaar neuer Emigranten, und die Schweiz wurde seitdem neben den Vereinigten Staaten von Nordamerika das Ziel aller Derer, denen es im deutschen Vaterlande zu eng wurde. Ihnen gesellten sich Hunderte von Deutschen zu, welche in der Schweiz freiwillig zur Ausübung gelehrter, industrieller, kaufmännischer Berufsarten oder aller denkbaren Gewerbe ihr Domicil nahmen. Daß nicht Alle die gehofften Träume verwirklicht sahen, liegt nahe. Und so darf es nicht Wunder nehmen, daß Manche früher oder später der Hülfe und Stütze ihrer deutschen Landsleute bedürftig wurden.

Es war zu Anfang des Jahres 1856, als der Züricher Professor Dr. Bobrik aus Danzig den ersten Mahnruf zur Bildung eines deutschen Hülfsvereins ergehen ließ. Der Ruf fand in einer am 7. Februar jenes Jahres zusammenberufenen Versammlung deutscher Männer lebendigen und freudigen Widerhall, und die Versammelten beschlossen die Verwirklichung des angeregten Gedankens. Lange schon deckt den Stifter die heimathliche Erde, sein Werk aber ist geblieben und gediehen; hoffen wir, daß es bestehe, so lange Deutsche in Zürich der Unterstützung bedürfen!

Schon das erste Jahr weist eine Mitgliederzahl von 227 auf, die sich seitdem zwischen dieser und der heute stärksten Zahl 345 bewegte, mit Ausnahme der Jahre 1862 bis 1865, in denen die Zahl bis zu 200 und darunter gesunken war. Der erste Präsident des Vereins war Heinrich Runge, ein politischer Flüchtling, heute Stadtkämmerer in seiner Vaterstadt Berlin und dort der ersten einer unter seinen Mitbürgern. Unter seiner mit großem Geschick geführten Leitung gedieh der Verein zusehends und fand Anerkennung von Privaten und Behörden. Da damals noch keine Staatsverträge über Krankenpflege bestanden, ordnete er die Unterbringung erkrankter Deutscher im Cantonhospital an, verschaffte hülfsbedürftigen, marschunfähigen Landsleuten durch Abkommen mit der Direction der Schweizerischen Nordwestbahn freie Eisenbahnfahrt in die Heimath und begründete das System der staatlichen Subventionirung des Vereins durch die österreichische und die deutschen Regierungen in der Art, wie sie noch heute besteht. Als Herr Runge im Jahre 1862, nach seiner Vaterstadt Berlin zurückkehrend, die Geschäfte dem einst in Preußen zum Tode verurtheilten Dr. Nauwerk übergab, war es bereits ein systematisch geordneter, blühender Verein, den er seinem Nachfolger überliefern konnte. Und Nauwerk leitete denselben sechszehn Jahre lang, seines Vorgängers würdig, mit unablässigem Eifer und viel Geschick, eine schwere Arbeit, da er allein alle Gesuche aus der ganzen Schweiz erledigen mußte. Ihm hat der Verein unendlich viel zu danken, vor allem seine Centralisation.

Es wäre ein Irrthum, wollte man annehmen, daß unter der Leitung politischer Flüchtlinge der Verein zum Herd einer revolutionären Propaganda geworden. Die Männer, welche einst, schmollend oder in politischer Acht, freiwillig oder gezwungen das Vaterland verließen und in der Schweiz eine neue gastfreie Heimath suchten, haben wohl lange an den Erinnerungen ihrer heißblütigen Vergangenheit gezehrt. Aber sie haben im letzten Menschenalter sehr viel gelernt und sehr viel vergessen – vor Allem gelernt, Deutschland über Alles zu stellen, vor Allem aber auch vergessen, den Werth des Menschen nur nach der eigenen Parteischablone zu messen.

Als sich im Jahre 1862 in Bern und bald darauf in Basel deutsche Hülfsvereine nach dem Muster des Zürcherischen bildeten, war es ein glücklicher Gedanke Nauwerk’s, den drei bestehenden Vereinen einen wohlorganisirten inneren Zusammenhang und einen Krystallisationspunkt zu geben, von welchem aus nach gemeinsamen Principien die Hülfsleistung zu regeln wäre. In einer auf den 20. November 1863 nach Olten berufenen Delegirtenversammlung der drei Vereine wurde die Ausführung der Idee Nauwerk’s mit allgemeinem Beifalle beschlossen, worauf sogleich der inzwischen gegründete Verein Genf dem Bunde beitrat.

Der Centralverein gab sich ein Statut, das in einfacher und praktischer Weise den gegenseitigen Verkehr zu Nutz und Frommen der Vereinscassen bestimmte und sich seither bewährt hat. Danach haben die Localvereine alljährlich fünf Procent ihrer Mitgliederbeiträge an die Centralcasse, deren leitender Vorort alle zwei Jahre wechselt, abzuliefern und empfangen dagegen nach Maßgabe der Höhe ihrer Ausgaben einen entsprechenden Antheil der Regierungssubvention. Der Centralverein regelt die größeren Unterstützungsfälle entweder selbstständig oder durch Circular. Alle Jahre versammeln sich Delegirte der Localvereine zu einer Generalversammlung, um ihre Erfahrungen auszutauschen, und senden sich allmonatlich, zur Vermeidung mißbräuchlicher Anrufung der Vereinshülfe, die Listen der Unterstützten zu.

Nach diesem bedeutungsvollen Schritte folgte im Jahre 1863 in Aarau, dann 1872 in Chur und Lausanne, 1875 in Neuenburg und Chauxdefonds und 1878 in Winterthur und St. Gallen die Bildung neuer Hülfsvereine nach dem Muster der bereits bestehenden.

Die Fürsorge aller dieser Vereine für die Hilfebedürftigen erstreckt sich nicht blos auf Reichsdeutsche, sondern auch auf Deutsch-Oesterreicher, und die Vereine genießen der thätigen Unterstützung der beiden Gesandten von Deutschland und Oesterreich-Ungarn, die auch, sowie der Gesandte Baierns, den alljährlichen Generalversammlungen regelmäßig beiwohnen.

In jüngster Zeit ist die Heimbeförderung armer Deutscher aus dem Reiche und aus Oesterreich-Ungarn durch Staatsverträge geregelt worden, und zwar der Art, daß die Staaten die eine, die Vereine die andere Hälfte der Fahrtaxe zahlen. Auch hat ein Staatsvertrag mit dem deutschen Reiche vom 31. December 1876, betreffend die Krankenpflege, den Vereinen eine ansehnliche Last abgenommen, indem seit diesem Zeitpunkte die Spitalkosten für dieselbe in Wegfall kommen.

Der deutsche Hülfsverein in Zürich hat seit den fünfundzwanzig Jahren seines Bestehens 18,040 arme Landsleute mit 96,320 Franken aus seiner Casse unterstützt, in vielen Fällen Kleider, Wäsche und Schuhe an sie abgegeben und ihnen durch Beschaffung von Arbeit und Rath Linderung ihrer Noth verschafft. Nicht selten wurden von Mitgliedern Sammlungen für deutsche Familien angeregt, bei Unglücksfällen größerer Art aber veranstaltete der Vorstand selbst Collecten unter seinen Mitgliedern. In hervorragender Weise geschah dies beim Brande von Glarus, bei der Ueberschwemmung im Rheinthale, der Wassersnoth in der Eifel, dem Grubenunglücke im Plauenschen Grunde und in Zwickau, den Bränden in Meiningen und in Todtnau, für die Nothleidenden in Oberschlesien und für die Kriegsgeschädigten der Jahre 1866 und 1870 bis 1871, so daß der Verein heute mit Befriedigung auf sein Wirken zurückschauen kann, wenn er auch oft hinter dem Wollen zurück bleiben mußte. Mit Dank und Wehmuth gedenkt der Verein vieler seiner dahingegangenen Mitglieder von hervorragender Thätigkeit, von denen die Namen mehrerer auch im deutschen Vaterlande einen guten Klang haben – eines Th. Knoch, Aug. Reimann, Justizrath Butte (Merseburg), Linke und in neuerer Zeit Krauß und Braun; der frühere deutsche Consul Herr Mark gehörte dem Verein fünfundzwanzig Jahre lang an, und heute ruht die Hauptlast der Geschäfte auf den Schultern des Herrn Henning, welcher seit dreizehn Jahren Cassirer des Vereins ist, und des Herrn Hühn, der seit länger als drei Jahren mit der ganzen Energie und Umsicht seiner Vorgänger die Präsidialgeschäfte versieht.

Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir dem Berichte über den engeren Verein Zürich auch noch einen Ueberblick über die Thätigkeit der anderen Vereine beifügen, die sich über sämmtliche deutsche Grenzcantone mit Ausnahme von Solothurn, Schaffhausen und Thurgau und über die von Deutschen besonders lebhaft aufgesuchten Cantone der romanischen Schweiz, Neuenburg„ Waadtland und Genf, erstrecken.

Die Schweiz ist seit Jahrzehnten das Ziel der überschießenden deutschen Arbeitskraft, die leider nicht immer ihre Hoffnungen auf eine ersprießliche Verwendung erfüllt sieht. Von Jahr zu Jahr wächst diese Einwanderung, von Jahr zu Jahr steigert sich aber auch die Zahl der hülfsbedürftigen Deutschen. Es ist statistisch berechnet worden, daß die abnorme Vermehrung der Bevölkerung des Cantons Zürich allein dem Zuzug deutschen Elementes, das sich um 23,000 Köpfe seit 1870 vermehrt hat, zu danken ist.

Durch die Begründung und Ausbildung des Systems der deutschen Hülfsvereine in der Schweiz ist nunmehr, wenn auch in bescheidenen Grenzen, der Noth und dem Elend der nach der Schweiz verschlagenen armen und hülfsbedürftigen Deutschen abgeholfen und manche Thräne getrocknet worden. Immerhin möge der Antheil des Mutterlandes an dem schönen Unternehmen nicht ermatten! Die deutschen Hülfsvereine in der Schweiz bedürfen noch sehr der Hülfe von außen, um in Wahrheit den Namen „Hülfsvereine“ zu verdienen, den sie tragen; bis jetzt möchten sie eher den Namen „Unterstützungsvereine“ in Anspruch nehmen; denn gar Mancher, der wohl der Hülfe bedürftig wäre, muß noch heute abgewiesen werden und von dannen gehen, weil es den Vereinen an Fonds fehlt. Möge das Vaterland dieser Thatsache nicht vergessen!

A. von Rondow.