Ein Besuch im Bethlem-Hospital in London

Textdaten
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Autor: L. P.
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Titel: Ein Besuch im Bethlem-Hospital in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–29, S. 359–360; 369–372; 384–386
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Die Psychiatrie in London
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Ein Besuch im Bethlem-Hospital in London.

Von L. P.

Schon der bloße Name „Bethlem or Bedlam“ ist hinreichend, unserer Gemüthsstimmung einen dunkleren Schlagschatten zu geben, so heiter und sonnig sie auch immer sein mag. Der Anblick einer jeden Krankheit in ihrem bösartigsten Charakter ist zwar im Stande, uns für einen Augenblick tief zu erschüttern, doch ist dieses Gefühl stets vorübergehend; die Geisteskrankheiten machen dagegen auf den Besucher immer einen bleibenden Eindruck, welcher sich nur in einem längeren Verlaufe der Zeit einigermaßen verwischen läßt. Der Wahnsinn zeigt uns so recht die ungeheuere Größe des geregelten Geistes, indem er uns das schreckliche Bild der geistigen Anarchie vor die Augen führt; denn die geistigen Fähigkeiten als solche sind in den meisten Fällen nicht zerstört, ja zuweilen sogar bedeutend erhöht; sondern es ist nur das Band der Harmonie zwischen den verschiedenen Impulsen, durch welches sie mit dem Bewußtsein verknüpft sind, auf die eine oder andere Art zerrissen, und deshalb hat der Wille seine leitende Macht verloren. Der Geisteskranke giebt uns daher entweder das Bild eines Fahrzeuges, welches auf offener See von einer völligen Windstille überrascht wird oder das zwischen gefährlichen Klippen auf sturmbewegtem Meere das Steuerruder verloren hat und von der gewaltigen Brandung bald hierhin bald dorthin geschleudert wird, um, wie es scheint, im nächsten Augenblicke gegen die Felsen zerschmettert zu werden. Und es ist namentlich diese Ungeregeltheit oder besser – diese völlige Hülflosigkeit – denn Wahnsinn kann auch Methode haben – in der sich der Kranke befindet, welche uns so gewaltig angraut und so tief ergreift.

Bethlem bietet außer diesem allgemeinen Interesse, daß es eines der großartigsten, ältesten und bestgeführten Hospitäler dieser Art ist, noch den speciellen Reiz einer romantischen Vergangenheit; denn wenn man den Gerüchten, welche sich in allerwelts Munde befinden, Glauben schenken darf, so wurde es früher häufig gemißbraucht, um sich unangenehmer Gegner für immer zu entledigen. Und wer unter solchen Umständen einmal diese Anstalt betreten hatte, für den gab es in der Regel keinen Ausgang; er war wie der bekannte Mann mit der eisernen Maske lebendig todt. Er fristete hier zwar sein armseliges Dasein fort, aber er war wie völlig begraben und für alle öffentlichen Acte des Lebens wie gestorben. Wenn es wahr ist – wie uns die Dichter versichern – daß die Steine Ohren haben, möchten doch dann die Wälle von Bethlem auch sprechen können. Welch’ eine Geschichte von Unglück, welch’ ein Bild menschlicher Schwächen und Verworfenheit würde uns enthüllt werden. Wir würden – oder wir müßten uns außerordentlich täuschen – die Mysterien der großen Vornehmen und vornehmen Großen erhalten, welche Alles das, welches wir jetzt unter diesem Titel über die niedrigeren Klassen der Gesellschaft besitzen, weit hinter sich lassen würden.

Der Fremde, welcher von dem Westende Parliamentarystreet hinaufgeht, wo sich die stolzen Gebäude der Admiralität, der Horsegarde, Whitehall mit den berühmten Frescogemälden; die Ministerialgebäude; die mit Recht berühmte Westminster-Abtei mit dem Poetenwinkel und den königlichen Gräbern; Westminsterhall mit seinen historischen Erinnerungen; das an architektonischem Schmuck überreiche neue Parliamentsgebäude befinden und dann von Westminsterbrücke auf die andere Seite der breiten Themse hinüberblickt, erkennt bald in der Mitte der dunklen Rauchwolke, welche durch tausend hohe Schornsteine der mächtigen Fabrikgebäude gebildet wird, und die sich wie ein schwerer Nebel über ein niedriges Thal über dem ganzen Stadttheil lagert – ein großes Gebäude mit einem erhabenen Dome hervorragen. Schon der unsichere Anblick aus der trüben Ferne läßt verrathen, daß es ein großartiges öffentliches Institut irgend einer Art ist. Dies ist Bethlemhospital oder das öffentliche londoner Irrenhaus. Sobald wir näher gekommen sind, finden wir, daß das Gebäude selbst ein höchst nobles Aeußere hat und durchaus nicht den Charakter eines Gefängnisses an sich trägt; denn man bemerkt auch nicht eine einzige eiserne Stange vor den tausend erhabenen Fenstern, sondern alle sind unvergittert und spiegelklar. Die Hauptfront des Instituts ist über 700 Fuß lang und besteht aus zwei Flügeln und einem Centrum, auf dem sich der hohe Dom befindet, den man schon aus weiter Ferne bemerkt. Die anderen vierstöckigen Lokalitäten sind für die Wohnungen des Beamtenpersonales und die Patienten bestimmt, und zwar der rechte Flügel für die männlichen und der linke für die weiblichen. Außerdem hat das Hauptgebäude noch drei Seitenflügel nach hinten hinaus, wodurch zwei geräumige Höfe gebildet werden, die jedoch nach der Seite hin, welche dem Hauptgebäude gegenübersteht und an den Gemüsegarten grenzt, offen sind. Der Grundriß der Anstalt bildet demnach die Form eines liegenden gothischen E . Die Anstalt, deren Einrichtung beinahe eine Million Thaler gekostet hat, kann bequem 500 Patienten placiren, doch ist diese Anzahl äußerst selten erreicht, und befindet sich in der Mitte eines geräumigen Platzes, welcher ungefähr vierzehn englische Morgen enthält.

Als wir an einem Dienstage etwa gegen 11 Uhr vor dem Haupteingange erschienen, der sich unmittelbar an der großen Straße, dem Centrum des Gebäudes gegenüber, befindet, öffnete der Pförtner[WS 1], welcher nahe am Eingange ein sehr niedliches Häuschen bewohnt, die verschlossene Thür und ersuchte mich, meinen Namen in das Fremdenbuch zu schreiben. Ich that es und befand mich nun in dem Bereiche der Anstalt selbst. Vor mir lag das Gebäude in seiner ganzen Ausdehnung, und in Front desselben eine Art Park, von dem der linke und rechte Flügel mit üppigen Gebüschen und schattigen Bäumen bepflanzt sind, zwischen denen sich die mit weißem Sand und Kies bestreuten Fußsteige anmuthig hindurchwinden. Der Theil indessen, welcher dem Centrum gegenüber liegt und in dem wir uns befinden, ist ganz eben und mit einem dichten, wohlgeschnittenen grünen Rasen bedeckt, über den zwei Fußsteige etwas aufsteigend zum Haupteingange des Gebäudes selbst hinaufleiten. Der Eingang ist im griechischem Style gebaut, sehr geräumig und wird durch acht schöne korinthische Säulen gebildet, zwischen denen eine breite Stiege von Marmor von ungefähr acht oder zehn Tritten in das Innere des Gebäudes selbst führt. Zunächst gelangen wir in eine sehr geräumige Vorhalle, in der sich die beiden berühmten[WS 2] Figuren von Cibber befinden, welche den rasenden und melancholischen Wahnsinn darstellen, und die früher auf dem Eingangsthore standen, als sich das Hospital selbst noch in Moorfields befand. Beide Figuren haben eine gelagerte Position und erfüllen die Seele des Beschauers mit wahrem Grauen. Sie sind unsers Erachtens als Kunstwerke sehr bedeutend und verdienen allein schon einen Besuch der Anstalt; doch können wir uns nicht länger bei ihnen aufhalten; denn der Portier, dem wir unseren Wunsch, den Hauptarzt der Anstalt zu sprechen, mitgetheilt haben, heißt uns in ein geräumiges Empfangszimmer eintreten, dessen Fenster nach hinten hinausgehen, und dessen Wände mit mehreren großen Grundrissen und architektonischen Plänen der Anstalt geschmückt sind. Außer mir befinden sich hier noch zwei Personen, von denen der eine einen unglücklichen Bruder, der andere einen geisteskranken Sohn besuchen will.

Ich knüpfte mit dem älteren Herrn eine Unterhaltung an, und er theilte mir auf mein Befragen über die Krankheit seines Sohnes die folgende Geschichte mit.

„Ich selbst bin ein Farbenhändler im Westend und obwohl ich es sehr gern gesehen, daß mein Sohn mein Geschäft erlernt hätte, und obgleich ich ihm häufig darüber gütige Vorstellungen zu machen pflegte, so konnte ich ihn doch nie dazu bewegen.

„Ich will kein „Ladendiener“ werden,“ pflegte er dann wohl auszurufen, „und nach aller Welts-Pfeife tanzen und rennen. Ich will studiren, will berühmt werden und mir eine anständige, wenn nicht glänzende Position in der Gesellschaft erringen.“

„Seine Mutter fühlte sich durch derlei Aeußerungen geschmeichelt, und anstatt seinem unzeitigen Ehrgeize einen Zügel anzulegen, bestärkte sie ihn nur noch und ich selbst mußte allen ihren Wünschen nachgeben, um nicht vor ihnen als ein kaltherziger, egoistischer Spießbürger zu erscheinen. Und so gab ich nach einigem Zögern meine Einwilligung, ihm eine sogenannte höhere Bildung zu geben, d. h. ich sparte und kargte Alles zusammen, um eine hohe Pension in einer „anständigen“ Schule für junge Gentlemen zu bezahlen und ihn stets in neuer Kleidung zu erhalten. Er schien auch alle [360] unsere Hoffnungen zu erfüllen, denn seine Zeugnisse waren stets von der allerbesten Art.

„Da er sich für den heiligen Stand der Kirche bestimmte, so setzte er nach wohlbestandener Prüfung seine Studien im King’s-College fort. Während dieser Zeit hatte er die Bekanntschaft einer jungen Dame von vornehmer Herkunft gemacht, die ihm auch ihre Hand versprach, wenn er am Ende seiner Studienzeit – das war Anfangs August d. J. – den ersten Preis der Anstalt erhalten würde. Er hat deshalb während der letzten sechs Monate im wahren Sinne des Wortes Tag und Nacht gearbeitet und gelernt, denn er schlief nur jede dritte Nacht etwa drei oder vier Stunden und, um während der übrigen Zeit nicht vom Schlafe überwältigt zu werden, pflegte er seine Füße wohl in kaltes Wasser zu stellen.

„Doch endlich kam die Entscheidung. Die Examination dauerte drei Tage, und es waren für den ersten Preis etwa zwanzig Bewerber aufgetreten. An den beiden ersten Tagen wurden die erforderlichen schriftlichen Arbeiten angefertigt, und darnach die drei besten Candidaten für das mündliche Examen des dritten Tages ausgewählt. Mein Sohn gehörte zu diesen und erregten namentlich seine griechischen Arbeiten, die in den besten antiken Versen geschrieben waren, die höchste Bewunderung der ganzen Anstalt, und man hielt es für ausgemacht, daß er Sieger sein werde und das mündliche Examen werde nur noch so pro forma abgehalten. Von allen Seiten gratulirte man ihm und er selbst schien seines Sieges gewiß zu sein; denn er war nie so ruhig und so guten Muthes gewesen, als an diesem letzten Tage der Entscheidung. Von seinen Mitbewerbern war der eine der Vetter des Hauptexaminators. Zu Anfang ging Alles wohl, doch kam man bald an eine – ich glaube „verlorene“ Stelle des Plato, die ein Steckenpferd des Examinators ist, weil er auf „eigene“ Kosten ein dickes Buch über ein daselbst – wie er meint – zu setzendes Jota subscriptum hat drucken lassen. Mein Sohn war unvorsichtig genug, die entgegengesetzte Meinung zu vertheidigen und sogar einige sarkastische Bemerkungen gegen die Ansichten des gelehrten Herrn Examinators fallen zu lassen, was diesen natürlich gegen ihn aufbringen mußte, und die Prüfung bekam bald einen äußerst gereizten Charakter, und es war nun mehr ein Kampf auf Leben und Tod zwischen zwei eifersüchtigen Rivalen, als eine ruhige Examination eines Studenten; doch das Ende war, daß dem Verwandten des Examinatoren der Preis zuerkannt, und mein Sohn mit einer Art väterlicher Ermahnung entlassen wurde. Ich und mehrere seiner Freunde erwarteten in ängstlicher Spannung auf dem Hofe der Anstalt den Ausgang der Prüfung, und ich werde nie das todtenbleiche Gesicht und die zerstörten Züge vergessen, mit denen er auf uns zugestürzt kam und aus vollem Halse lachend rief: „Ich bin durchgefallen! ha, ha!“ Dies sind die einzigen und letzten Worte, welche er seit jener Zeit gesprochen hat; denn er verfiel sofort in eine Art Trübsinn, aus dem ihn Nichts aufzumuntern vermag, und er ist nun seit sechs Wochen in diesem Hospitale.“

Die Erzählung war gerade beendigt, als der Oberarzt der Anstalt, Dr. Hood, hereinkam, und ich theilte ihm nun meinen Wunsch mit, daß ich das Hospital besuchen möchte, um darüber etwas für die deutsche Presse zu schreiben. Und obwohl ich mit keiner Empfehlung eines Bankers aus der Lombardstreet bewaffnet, noch durch einen ehrwürdigen Geistlichen introducirt war, welches überall erforderlich ist, wenn man in England das Geringste erreichen will, und überhaupt nichts aufzuweisen hatte, als ein ehrlich deutsches Gesicht und ein Monatsheft der „Gartenlaube“, womit ich im Namen des Verlegers die Bibliothek der Anstalt bereicherte, so wurde mir doch mit der größten Bereitwilligkeit mein Wunsch gewährt, und mir auch auf meine Bitte die erforderlichen statistischen Notizen über die Anstalt verabreicht. Doch ehe ich die Wanderung durch das Hospital selbst beginne, scheint es passend zu sein, über die Behandlungsweise der Kranken in dieser Anstalt einige Worte vorauszuschicken, denn dieselbe ist insofern von der allerhöchsten Bedeutung und dem lebhaftesten Interesse, weil man hier zuerst ein neues System, das sogenannte „Nicht Zwangssystem“ in größerem Maßstabe in Ausübung gebracht hat, und welches nach dem Zeugnisse des Herrn Dr. Hood mit dem allerglänzendsten Erfolge gekrönt worden ist. Man war früher nämlich allgemein der Ansicht, daß mechanischer Zwang, vermittelst schwerer Ketten, eisernen Kugeln an den Füßen, Handschellen, Zwangsjacken etc. etc. in der Behandlung der Geisteskranken unumgänglich nothwendig sei. Die berühmtesten Aerzte, unter anderen der wohlbekannte Thomas Willis, empfahlen Fesseln, Prügelstrafe und Zwang als die besten Mittel einer Kur und daß die Nahrung dürftig, die Kleidung grob, das Bett hart und die Behandlung strenge und militairisch sein sollte. Die Verbesserung der Zwangsjacke oder eines anderen dieser Marterinstrumente, wurde dafür in dieser Zeit als ein Triumph der Wissenschaft betrachtet und königlich belohnt, und man glaubte allgemein, um in den eigenen Worten des berühmten Boyan Crowther zu reden, „daß wir durchaus keine Kontrole über widerspenstige Kranke haben würden, wenn wir nicht die Zwangsjacke und das schwarze Loch hätten“, und er fügt dann herzlos hinzu: „die Illustration der Angemessenheit einer Behandlungsweise vermöge der speciellen Aufzählung verschiedener Fälle würde nichts mehr oder weniger sein, als eine ausführliche Geschichte der Zwangsjacke mit den anderen Zwangsmitteln als Zugabe.“ Von dieser Beschaffenheit waren alle Irrenanstalten bis zu Anfange dieses Jahrhunderts, so daß Dr. Powell noch im Jahre 1807 als Zeuge vor dem Comitee des Hauses der Gemeinen erklären konnte, „daß die Irrenhäuser vielmehr Plätze für die sichere Aufbewahrung der Geisteskranken, als Heilanstalten genannt werden könnten.“

[369] Doch wir dürfen uns im Interesse der Humanität gratuliren, daß diese barbarischen Anstalten und grausamen Behandlungsweisen als unnöthig und unmenschlich verdammt sind. Dem berühmten Pinel gebührt der Ruhm, den armen Unglücklichen die Bande und Ketten für immer zerbrochen zu haben, und obwohl man Anfangs die Ausübung seiner Ansichten als unpraktisch und utopisch verlachte und verketzerte, jetzt ist es eine unbestrittene Thatsache, daß alle Wahnsinnige ohne Ausnahme ohne Anwendung des geringsten mechanischen Zwanges gehandhabt werden können. Anstatt des mechanischen Zwanges nimmt man in außerordentlichen Fällen jetzt seine Zuflucht zu dem sogenannten „gepolsterten Zimmer,“ da man durch Erfahrung gefunden hat, daß zeitweilige einsame Absperrung oft einen beruhigenden Einfluß auf selbst die tobensten Kranken ausübt, namentlich nachdem sie ein warmes Bad und andere beruhigende Medicamente bekommen haben, wie dies der Fall gerade erheischen mag.

Dr. Autenrieth hat, wenn wir Dr.Burrow glauben dürfen, gepolsterte Zimmer erfunden, obwohl letzterer die Anwendung desselben zu mißbilligen scheint. „Um die Nothwendigkeit körperlicher Zwangsmittel zu vermeiden,“ sagt er, „hat Dr. Autenrieth ein starkes Zimmer eingerichtet, welches überall vollständig auf das Sorgfältigste wattirt ist, in dem man nun, seiner Ansicht nach, den rasendsten Kranken, wie ein wüthendes Thier im Käfige ohne Gefahr loslassen kann. Doch die Absurdität und Zwecklosigkeit dieses Planes ist allen Aerzten, welche nur einige Erfahrung in diesem Gebiete haben, von selbst klar; denn die Kranken würden bald alle Wattirung mit Gewalt fortreißen und sich an den Wänden das Gehirn einschlagen oder bald wirklich wüthende, wilde Bestien werden.“ So schrieb der gelehrte Doctor noch im Jahre 1828, und hätte er nur zehn Jahre länger gelebt und den großen Erfolg gesehen, mit dem die Erfindung gekrönt worden, so würde er sicherlich seine vorgefaßte Meinung als völlig ungerecht geändert haben. Doch zeigt sich in allen Zweigen der verschiedenen Wissenschaften und allen Seiten der Civilisation derselbe Gang der Entwickelung. Der Uebergang vom Barbarischen zu dem Rationellen und Humanen geschieht nie ohne eine heftige Opposition.

Glaubte doch noch vor etwa 20 Jahren die ganze Gilde von Schulmeistern, daß der Baculus oder die birkene Ruthe der wahre nürnberger Trichter sei; als ob der Sitz der Intelligenz nicht im Kopfe, sondern in einem anderen namenlosen Theile des menschlichen Körpers säße, wo man es durch einen äußeren Stimulus zu reizen hätte, um es zu befruchten. Der Stock ist jetzt aus allen anständigen Anstalten verbannt und der Lehrer vielmehr der Rathgeber und Leiter, weniger der Prügelmeister geworden, und der so oft prophezeite Untergang der Welt ist dessenungeachtet noch nicht erfolgt. Aber die humanste Behandlungsweise ist gleichzeitig auch die aller erfolgreichste, und dies ist auch mit Facten zu belegen.

Nachdem unser Führer eine Lattenthür geöffnet hat, treten wir sofort in eine wenigstens zweihundert Fuß lange Halle, in welcher sich etwa 50 reconvalescente Kranke befanden, welche theils ruhig auf und ab spazieren, theils lesen, theils in kleinen Gruppen mit einander plaudern, doch war dies ausnahmsweise und scheinen die Geisteskranken im Allgemeinen die Unterhaltung zu vermeiden. Ungefähr in der Mitte der Halle befindet sich ein gewaltig großer Vogelbauer von blitzendem Messing, in dem ungefähr ein Dutzend sehr schöne Tauben gehalten werden, welche sich in dieser Gesellschaft ganz glücklich zu fühlen scheinen; denn wir bemerkten darin drei oder vier Nester mit einer hoffnungsvollen Brut und die Alten waren so zahm, daß sie sich von den Patienten ruhig den Kopf streicheln ließen, und das lebhafte „Kockeruckkuckkuhhuh“ der großen Ringeltaube schien den Unglücklichen besonderes Vergnügen zu gewähren. Es war für mich eine ergreifende Scene, wie mehrere Patienten auf den Dr. Hood, der mit uns eingetreten war, in der größten Eilfertigkeit zustürzten und ihm einer nach dem andern mit wahrer Zärtlichkeit die Hände drückten, und bei seinem Anblick wie begeistert schienen. Ja, die Stellung eines Arztes, der seine Pflicht thut und Humanität mit Wissenschaft zu vereinigen weiß, ist eine erhabene und äußerst ehrenvolle. Hätte Dr. Burrow und die anderen Verfechter des Ketten- und Knutensystems einen solchen Empfang gesehen, sie würden sich sicherlich ihrer Vorurtheile geschämt haben. Freundlichkeit und Humanität geben dem Arzte [370] eine ungeheuere moralische Gewalt über seine Patienten, welche viel bedeutender ist als die physische Gewalt.

Zu beiden Seiten dieser langen Halle befinden sich links und rechts gewölbte Zimmer, in denen die Patienten schlafen. Jedes Gemach enthält gewöhnlich zwei eiserne Bettstellen, auf denen eine weiche Roßhaarmatratze und die erforderlichen wollenen Decken und leinenen Betttücher liegen. Alles ist äußerst sauber und wohlgehalten. Außerdem befinden sich in den Zimmern noch ein oder zwei Stühle und in einigen sogar eine Waschtoilette; übrigens sind die Fenster weder hier noch in einem andern Theile der Anstalt mit Ausnahme der Criminalabtheilung mit eisernen Gittern versehen. Ich machte meinen Führer darauf aufmerksam, und er sagte mir, daß eine vieljährige Erfahrung ihn gelehrt hätte, daß Geisteskranke äußerst selten das in sie gesetzte Zutrauen mißbrauchten, und es würden im ganzen Jahre nicht zehn Scheiben muthwillig zerbrochen, und es sei völlig unerhört, daß die Utensilien oder Möbel verletzt würden. Dr. Hood scheint diese Bemerkung in allen Punkten zu bestätigen; denn er sagt in seinem letzten Berichte: „Wenn es uns gelingt, einem Patienten zum klaren Bewußtsein zu bringen, daß wir ihm Zutrauen schenken; wenn wir im Stande sind, ihm begreiflich zu machen, von wie großer Bedeutung es ist, sein Ehrenwort zu halten, so haben wir seinen geistigen Zustand bedeutend verbessert; denn die Wiederbelebung der Selbstachtung ist gewöhnlich das erste untrügliche Zeichen einer Genesung.“

Die Patienten tragen übrigens keine gleichmäßigen Uniformen, sondern ihre eigenen Civilkleider, und das scheint mir in der Behandlung der Kranken von großer Bedeutung zu sein, indem sie nicht jeden Augenblick an die Schrecklichkeit ihrer Lage erinnert werden. Außer den Schlafgemächern befinden sich hier noch und zwar fast in der Mitte des Flügels zwei Speisesäle, in denen wenigstens 50 Personen mit der größten Bequemlichkeit gespeist werden können. Man bedient sich guten englischen Porzellans, und mein Führer versicherte mir, daß ein Patient selten sein Tischzeug muthwilligerweise beschädige oder zerbreche. Die Messer sind sehr dick, ohne Spitze und nur gerade scharf genug, um mit Mühe das Fleisch zu zerschneiden. Unter den Patienten dieser Abtheilung befindet sich einer, dessen Abenteuer hier vor nicht gar langer Zeit bedeutendes Aufsehen erregt haben, und welche er selbst jetzt verfaßt hat, um sie der Oeffentlichkeit zu übergeben. Da er hörte, daß ich etwas über die Anstalt schreiben wollte, so händigte er mir ein sorgfältig geschriebenes Exemplar seines letzten Abenteuers ein, und ich halte es für interessant genug, es hier einschalten zu dürfen.

„Ein Wettrennen.

„Nun Jedermann, wer mich nur ein Wenig kennt, – und wer sollte nicht Kapitain B. kennen – weiß auch, daß ich von jeher ein gutes Herz und eine offene Hand zum Geben hatte; doch geriethen meine Verhältnisse dabei bald in einen solch’ schrecklichen Zustand von Gichtbrüchigkeit, daß ich ernstlich über das beste Mittel nachzudenken begann, mich meiner äußerst peniblen Position zwischen den Händen der Wucherer und anderer Manichäer zu entziehen, welche mich wie mein Schatten überall hin verfolgten. Ich war entschlossen, einen Coup d’état irgend einer Art zu versuchen; Nichts schien mir zu verzweifelt, wenn es nur die Möglichkeit zeigte, mich zu retten. Da schien mir auf einmal das Schicksal die schönste Gelegenheit zu bieten. Und auf mein Ehrenwort, eine gar glorreiche Sache würde es für mich gewesen sein, wäre ich glücklich genug gewesen, die reiche Emilie Kleinknochen (Emilie hatte, nebenbei bemerkt, die größten Knochen, welche ich je gesehen habe) mit Leib und – Vermögen – zu gewinnen. Und die Lady war ebenfalls ungeheuer süß mit mir, und ich würde sie auch sicherlich geheirathet haben, und heute ein Obrist in der Expeditions-Armee sein, anstatt als halbpensionirter Kapitain zu verschimmeln, wenn ich nicht von meinem Vater – ein ächter Irländer – eine zu große Vorliebe für Whiskey geerbt hätte. Das – Wetter – hole ihn. Amen.

„Meine Emilie, wie ich sie zu nennen pflegte, hatte bereits, ich weiß nicht, seit wie vielen Decennien den Meridian des Lebens passirt und trotz ihrer großen Knochen, etwas schielenden Augen und einem Schnurrbarte, für den mancher junge Offizier ohne Bedenken seinen kleinen Finger gegeben haben würde, war sie noch passabel genug, doch besaß sie, und das war ja die Hauptsache, im vollen Uebermaße, dessen ich bedurfte, um eine ungeheuere Bresche in meinen Finanzen auszufüllen, und so faßte ich – vielleicht das funfzigste Mal in meinem Leben – den kühnen Entschluß, mein Junggesellenleben aufzugeben und den heiligen Stand der Ehe zu versuchen. Um die Wahrheit zu sagen, es machte mir durchaus keine Schwierigkeit, ihr Jawort zu erhalten. Meine Emilie wurde nicht im Geringsten verlegen oder schamroth, als sie meine Liebesbetheuerung anhörte und meine Hand annahm, und ich sah in der That aus ihrem Gesichte niemals die Farbe der Scham prangen, mit Ausnahme einer hochröthlichblauen Flamme auf der Nasenspitze, welches, wie sie mir wiederholentlich erklärte, von einer schlechten Verdauung herrühren sollte – aber meiner Meinung nach ein brillanter Katalog von Spirituosen zu sein schien.

„Doch möge dem sein, wie ihm wolle, ich würde dem theueren Wesen niemals seinen Tropfen beneidet haben, hätte es das Geschick gewollt, daß sie meinen Namen – und einen äußerst respektablen obendrein – zu führen bekommen hätte. Doch „mit den himmlischen Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten,“ meine Emilie ist jetzt die Frau eines kleinherzigen Spießbürgers, der ihr jeden Tropfen beneidet, der die Sorgen dieser Welt vergessen macht, und der sie noch obendrein mit seinem „guten Rathe“ zu Tode langweilt.

„Ich muß jedoch einige Zeit zurückkehren und will nur kurz bemerken, daß nach der gewöhnlichen Anzahl von pro forma Visiten und affectirten Ceremonien, kleinen Geschenken und großen Schwüren ewiger Treue und derlei Unsinn mehr meine Hand angenommen, und alle Vorbereitungen für das glückliche Ereigniß getroffen wurden. Niemals hatte in dieser Welt ein Dragonerkapitain auf halbem Solde freundlichere Handwerker, als ich auf einmal bekommen hatte. Schuster, Schneider, Pferdehändler, Sattler, Kutschenbauer, Büchsenmacher, Goldschmiede und unzählige andere überhäuften mich völlig mit ihren Waaren, und alle ohne Ausnahme hatten meine Rechnung auszuziehen vergessen, „das werde sich schon später finden,“ hieß es. Ja, mein Juwelier übersandte mir nicht nur verschiedene Goldsachen zum Betrage von 500 Pfund Sterling, sondern hatte außerdem noch eine Banknote von 100 Pfund beigefügt, welche Summe man mir für drei Monate ohne Zinsen vorschießen wollte, und man bat so dringend und schien so uninteressirt zu sein, daß ich in der That nicht das Herz hatte, die Bitte abzuweisen. Aber ich darf sagen, daß er und alle anderen Professionisten jetzt von Herzen wünschen, daß sie damals weniger dringend oder ich hartherziger gewesen sein möchte. Ich brauche wohl kaum zu bemerken, daß ich über meine herrlichen Aussichten außer mir vor Freude war und daß ich alle Nächte bis den hellen Morgen im Kreise vergnügter Freunde meiner Schönen einen Trinkspruch nach dem andern brachte. Ich wünschte, ich hätte es nie gethan; denn dies hat gerade alle meine schönen Hoffnungen und Schlösser in Spanien zerstört.

„Das ceremonielle Liebeln war, wie bereits gesagt, alles abgemacht und der Tag unserer Vermählung für die nächste Woche festgesetzt. Näherinnen arbeiteten sich fast zu Tode, um das Brautkleid zur rechten Zeit fertig zu haben. Da kam mir ein altes Versprechen in’s Gedächtniß, welches ich früher einem meiner Cameraden gegeben hatte, daß, wenn ich mich je zu der Fatalität eines ehelichen Lebens entschließen sollte – keiner als er mein Brautdiener sein sollte. Dies kam mir gerade in den Kopf, als ich nach einer durchschwärmten Nacht an meinem Schreibpulte saß, um meiner Heißgeliebten einige Zeilen zu schreiben, denn ich pflegte ihr alle Morgen einen Brief zu schicken, obwohl ich sie fast eben so bald sah, als sie denselben durchgelesen hatte. Ich schrieb daher die folgenden beiden Briefe:

 „Theuerster Carl!

„Drei Mal Hurrah! Gratulire mir – ich habe eine Amazone gezäumt und gesattelt. Sie ist zwar äußerst großknochig und so häßlich als die verrufene „Urgroßmutter“ mit Zehn multiplicirt; aber was schadet das? Sie ist ein Crösus, sie hat ganze Wagenladungen – baaria. – Ich glaube, sie trinkt scharf und ich bin fest überzeugt, daß sie Teufelsmucken hat, aber Du weißt, daß sie ihrem Ehemanne zu lieben, ehren und zu gehorchen geloben muß. Mit Bezug auf Liebe und Ehre soll sie völlig freies Spiel haben, sollte sie es indessen jemals an dem erforderlichen Gehorsam fehlen lassen, so werde ich die Zügel äußerst straff anzuziehen wissen. Du weißt, alter Junge, unsere Verabredung. Nun gut, die schreckliche Calamität wird am kommenden Donnerstag stattfinden; so finde Dich denn, als ein braver Junge, in vollem Wichse hierselbst um 8 Uhr Morgens ein. Warte nur bis ich die Alte erst gehörig gefesselt habe und dann: „Vivat victoria!“ Geld wie Heu! Vergiß nicht – Donnerstag um 8 Uhr pünktlich, Soldatenzeit.
Der Deinige E. B. 

[371] „Die Abfassung des anderen Briefes war, wie man sich leicht denken kann, viel schwieriger und es bedurfte mehr als eines Glases Whiskey ohne Wasser, ehe ich meine Phantasie hoch genug hinaufgeschraubt hatte, die folgende Composition vom Stapel laufen zu lassen:

„Geliebteste und Keuscheste Deines Geschlechtes!
„Wie langsam streichen meine traurigen und einsamen Stunden dahin! Will der Tag niemals, niemals anbrechen, welcher das Urbild des schönen Geschlechts in die sehnsüchtig ausgestreckten Arme Deines Charles bringen wird. O, möchte der längst ersehnte Tag für diesen Augenblick anbrechen. Ich schwöre bei dem rosigen Lichte des Liebesgottes selbst, daß kein Sterblicher jemals so herzlich, so wahnsinnig, so uninteressirt geliebt hat, als ich. Ja, ich vergöttere Dich, Schönste der Schönen. In den einsamen Grübeleien meiner schlaflosen Nächte habe ich mich häufig selbst ertappt mit dem Wunsche, daß Du, am Morgen nach unserer Heirath durch irgend ein Mirakel blutarm und so häßlich als die alte Martha sein möchtest, welche ich von ganzer Seele hasse – doch wie kann ich jemals solch ein Wort, als Hassen, niederschreiben, während ich an das reine Wesen denke, welches für immer die Liebe und Ruhe meines Herzens besitzt. Bist Du ganz wohl, Theuerste? Bist Du jetzt um halb drei Uhr halbwach und ist der Gegenstand Deiner jungfräulichen Gedanken Dein Charles?
Der Deinige (Cupido allein weiß wie elend). 

„Wenn das nicht ihr altes Herz rührt, dachte ich, als ich den Brief faltete und ein anderes Glas trank, dann ist ihr nicht zu helfen. Es ist mir bis aus den heutigen Tag ein unerklärliches Räthsel, wie es gekommen, aber die traurige Wahrheit ist, daß ein schadenfrohes Geschick es wollte, daß ich den Brief an Carl an meine Heißgeliebte adressirte und den ihrigen in Carl’s Umschlag steckte. Man denke sich daher meines Carl’s Ueberraschung, als er die wahnsinnigen Tiraden zu Gesichte bekam, und andererseits die entsetzliche Wuth meiner Emilie. Man verlasse sich darauf, selbst die Furien der Unterwelt sind nichts im Vergleiche zu der Raserei einer verschmähten und hintergangenen Frau. Aber meine Emilie war ein Wesen von sehr soliden Nerven, ausgenommen in Bezug auf eine bedeutende Aengstlichkeit, unter die Haube zu kommen. Ich bin fest überzeugt, daß selbst ihr Herz von Knochen oder Stein war. Sie wußte indessen ihre Gefühle so ausgezeichnet zu bemeistern, daß ich auch nicht das Geringste von dem bevorstehenden Sturme und Donnerwetter ahnete, ehe es auf mich mit voller Gewalt herabrollte und plötzlich zerschmetterte. Aber ich will der Geschichte selbst nicht vorgreifen.

„Nachdem ich die beiden Briefe gehörig versiegelt hatte, ließ ich sie für meinen Burschen auf dem Tische liegen, welcher sie am Morgen auf die Post trug, und da sich Carl gerade auf Urlaub befand, so bekam er den seinigen erst nach Verlauf mehrerer Tage, während der meiner Schönen richtig eingetroffen war, um meinen Honig in bitterste Galle zu verwandeln und mich um ihre kostbare Hand zu bringen. Nachdem ich den Morgen, wie gewöhnlich, bis drei Uhr verträumt hatte, machte ich mich auf den Weg, meine Verlobte in ihrer schönen und bequemen Behausung zu besuchen, und sie empfing mich eben so freundlich als gewöhnlich, nur schien die alte Martha – welche die Stelle einer Gesellschafterin und Ehrendame bei meiner Holden ausfüllte – und die gewöhnlich noch mürrischer als häßlich zu sein pflegte, ausnahmsweise und ich möchte sagen, unnatürlich zuvorkommend; aber ich war so völlig ohne allen Verdacht, daß ich glaubte, dies geschähe nur in der Absicht, sich bei mir in Gunst zu setzen. Nach Verlauf einiger Minuten entließ Emilie die abscheuliche Martha, und nachdem sie ihre allersüßeste Miene angenommen hatte, erklärte sie mir, daß sie eine Bitte an mich hätte, welche für ihre Gefühle von der allerwichtigsten Bedeutung wäre, so daß selbst die Verwirklichung unserer Vereinigung von deren Erfüllung abhängig wäre.

„Bei Jupiter Ammon! Ich glaube wirklich, ich hätte Alles lieber bewilligt, als meine Braut mit ihrer Kasse, ihren Hypotheken, und allen ihren anderen liegenden und persönlichen Reichthümern einer kleinen Grille wegen fahren zu lassen. Ich erklärte ihr daher mit der feurigsten Leidenschaft, daß jeder ihrer geringsten Wünsche mir stets heiliges Gesetz sein würde, daß ich, wenn dies ihr Wunsch sei – von Stunde ab dem Whiskey entsagen, keine Cigarren mehr rauchen, meinen Burschen entlassen, ja selbst meinen herrlichen Schnurrbart opfern würde.

„Meine Emilie warf mir einige dankvolle Blicke zu, als ich mit dem größten Pathos bis zur Klimax meiner großherzigen Anerbietungen hinaufstieg und ich muß gestehen, daß keine Frauensperson weder auf noch von der Bühne die Rolle besser gespielt haben könnte. Aber während sie mich mit Schmeicheleien überschüttete für – als sie es zu bezeichnen beliebte – meine verschwenderische und wirklich edle Generosität, versicherte sie mich, daß ihre Bitte selbst nicht das geringste der Opfer fordere, welche ich freiwillig und so großherzig angeboten hätte. Sie wünsche nämlich, sagte sie, daß theilweise ihrer eigenen Schüchternheit wegen, doch hauptsächlich aus Furcht vor ihrem Bruder, der unsere Verbindung durchaus mißbillige, unsere Hochzeit durchaus privatim sei und eine kurze Strecke außerhalb der Stadt verherrlicht werden möchte. – Ich sah sofort, worauf es abgesehen war, die alte Dame wollte von sich sprechen machen und wünschte deshalb allen Ernstes entführt zu werden. Da es mir ganz gleichgültig war, wie und wo die Geschichte vor sich ging, wenn ich nur die Baarschaft erlangte, so kamen wir überein, daß ich in der kleinen häßlichen Dorfkirche in Kingston eine Licenz zu unserer Heirath nehmen sollte, und daß sie, um ihren Bruder desto besser zu täuschen, alle Vorkehrungen zu der Festlichkeit unter dem Vorgeben einstellen sollte, daß ihr Entschluß durch seine Vorstellungen bedeutend erschüttert sei. Wie gesagt, so gethan. Ich verschaffte die nöthige Licenz, und in dem Halbdunkel eines kalten und regnerischen Morgens fand ich mich, unserer Verabredung gemäß, an der Ecke von Cavendish Square mit einer Chaise und vier Halbblutspferden ein. Es schlug sieben Uhr, dann acht, dann neun und meine Holde wollte noch immer nicht erscheinen. Neugierige Vagabunden, in guter und schlechter Kleidung, fingen bereits an, ihre Bemerkungen zu machen; alle trafen stets den Nagel auf den Kopf und einige spotteten sogar – was ich selbst zu fürchten begann – daß ich tüchtig angeführt sei. Doch schlimmer als Alles war, daß die Knechte an zu klagen begannen, daß die Pferde den Kropf bekommen würden, wenn sie noch lange zu warten hätten, und ich stand gerade auf dem Punkte, Emilien einen Besuch in ihrer Wohnung zu machen, um die Ursache dieser Zögerung zu erfahren, als eine Miethskutsche anlangte, und heraus kam die sehnsüchtig Erwartete. Sie war so dicht verschleiert, daß ich wirklich fürchtete, sie würde ersticken, und ich bat sie daher, sie möchte ihren Schleier abnehmen, da wir ja nun außer dem Bereiche aller Gefahr wären. Anstatt meinem Wunsche nachzukommen, legte sie ihren Kopf auf meine Schulter und flüsterte: „Erinnere“. Es war nämlich zwischen uns Beiden abgemacht, daß sie bis zum Augenblicke unserer Verheirathung verschleiert bleiben und daß auf unserer Fahrt kein Wort gesprochen werden sollte. Da ich ihre Halsstarrigkeit sehr wohl kannte und außerdem dachte, daß ich ihre eisigen, erstarrten Gesichtszüge noch genug nach der Hochzeit zu betrachten Gelegenheit haben würde, so begnügte ich mich, stillschweigend den Druck ihrer knöchernen Hand zu erwiedern, und ein oder zwei Mal die Seiten ihres Hutes zu küssen.

„Wir hatten soeben die Südseite der Vauxhall Bridge erreicht, als ich eine Kutsche im Galopp hinter uns herkommen hörte und ich sah bald, daß sie sich uns bedeutend zu nähern begann. Zweifelsohne war dies der gefürchtete Bruder, der uns verfolgte. Ich schrie deshalb unsern Kutschern zu, so schnell als irgend möglich zu jagen und versprach einem Jeden zwei Pfund Sterling, falls sie unsern Verfolger überflügeln würden. Meine Heißgeliebte zitterte am ganzen Körper und ihre Seufzer schienen so beklommen und so eigenthümlich, daß unter weniger ernsten Umständen ich sie für ein herzliches Gelächter genommen haben würde. Aber damals konnte ich sie nur für Seufzer nehmen und ich bemühte mich, sie auf alle mögliche Weise zu beruhigen, indem ich ihr die freudige Nachricht wiederholte, daß wir unsern Verfolger bedeutend überholten und daß die Distanze zwischen uns und ihnen zunehmends größer würde, und daß übrigens ihr Bruder, da sie nicht mehr minorenn – die weibliche Methusalem – minorenn – weder ein gesetzliches noch moralisches Recht hätte, über ihre Hand zu verfügen. Wir flogen unaufhörlich weiter, und wiewohl unsere Verfolger nicht näher kamen, so verloren sie uns doch nie ganz aus dem Gesichte. Wir hatten soeben Kingston Bottom hinter uns gelassen und bogen gerade in Kingston selbst hinein, als unsere Verfolger an uns vorüberjagten und vor der Kirchthüre anhielten. Man denke sich meine Ueberraschung, meinen Schreck und meine Verwilderung! In dem Augenblicke, als die Kutsche an uns vorüberschoß, [372] steckte meine Emilie, meine theuere Emilie, ihr altes Gesicht aus dem Fenster desselben, grinzte in einer schrecklichen Weise und schrie aus vollem Halse – und sie konnte schreien, das versichere ich meine Leser: „Beide auf derselben Fahrt, ich sehe.“

„Konnte ich meinen Sinnen trauen, war das meine Emilie, welche an mir vorbeiflog, über und über in weißem Atlas und feinen Spitzen, und das an der Seite seines spießbürgerlichen Civilisten? Wenn so, wer war das Wesen, das sich in diesem Augenblicke zitternd und seufzend in meinen Armen befand? Der Gedanke ist zweifelsohne ungeheuer schnell, jedoch hatte ich kaum Zeit, das zu denken, welches ich soeben niedergeschrieben habe, als unsere Kutsche ebenfalls vor der Kirchthüre anhielt und der Schlag niedergelassen wurde. In demselben Augenblicke sprang auch meine schöne Begleiterin, ihren Schleier und ein halbes Dutzend Mäntel von sich werfend, heraus und man denke sich meine Wuth und meine Scham, als ich nicht meine Emilie, sondern die alte Mumie Martha vor mir sah, welche mich auf das Schmählichste anlachte und mich herauszukommen einlud. Unser Wettjagen war nicht unbemerkt geblieben, und so hatten sich denn im Nu mehrere Straßenjungen um meinen Wagen versammelt, welche mich alle auf das Herzlichste verspotteten, und es hat wohl nie seit Erschaffung der Erde einen unglücklicheren Mann gegeben, als ich an diesem Tage war, wo ich allein nach der Stadt zurückkehrte und meine Emilie mit ihrem Gelde sich an einen prosaischen Civilisten verheirathete, der nicht einmal das Geschick hat, von dem ungeheuern Vermögen einen rechten Gebrauch zu machen.“

Dies ist der melancholische Liebesroman des armen Kapitains, und die schließliche Entwicklung ist allerdings tragisch genug für ihn, um ihn um seinen Verstand zu bringen.

[384] Am äußersten Ende der langen Halle befindet sich eine weite Gitterthür, welche auf einen kleinen Hof führt, der rings von hohen Gebäuden mit Säulengängen umgeben ist. Hierher werden die schlimmsten Kranken der Anstalt gebracht, und wird es als eine Art Strafe für Ungehorsam betrachtet, hier eingesperrt zu werden. Daselbst mochten sich zur Zeit vielleicht zehn Patienten befinden, von denen einige ein Buch vor das Gesicht hielten, als ob sie läsen, dabei marschirten sie aber in vollem Sturmschritt auf und nieder. Einer dieser Abtheilung bildet sich ein, Lord Byron zu sein, und in der That, wenn man durch Nachahmung seines Anzuges und äußerer Manieren ein Byron sein könnte, so wäre ihm dies auf das Vollständigste gelungen; denn „wie er räuspert und wie er spuckt, hat er ihm glücklich abgeguckt“, und da der große Barde bekanntlich schlecht zu Fuße war, so bildet sich der Unglückliche ein, lahm zu sein.

Wir gingen von hier in die lange Halle zurück und gelangten durch einen offenen Eingang in einen Seitenflügel, wo sich ein Billard befand, auf dem gerade einige Patienten spielten, und wir haben in unserm ganzen Leben keine bessern Doublés, angesagte Quadroublés und feine Schnitte gesehen als hier.

In einem andern Zimmer befindet sich eine Bibliothek, zur freien Verfügung der Patienten. Wir nahmen einige Bücher von ihren Ständen. Die Mehrzahl derselben sind religiösen Inhalts. Doch befinden sich da ebenfalls die englischen Classiker von Shakespeare bis auf Moore und Charles Dickens; eine reiche Auswahl von Reisebeschreibungen und Geschichtswerken, von englischen Novellen und anderen literarischen Erzeugnissen; aber am Meisten wird die illustrirte „London News“ und „Punch“ verlangt, von denen mehrere Exemplare vorhanden sind. Hinter dem Bibliothekzimmer befinden sich noch einige Werkstätten, wo mehrere Patienten als Schneider, Schuhmacher, Tapezierer, Fußdeckenmacher, Tischler u. s. w. beschäftigt sind. Es dürfte nicht unangemessen sein, hier die Erfahrung des Dr. Hood beizufügen, welcher auf das Ausdrücklichste erklärt, daß man mit Bezug auf die moralische Leitung des Geisteskranken nicht Gewicht genug auf diejenigen Beschäftigungen und Erholungen legen kann, welche darauf berechnet sind, den Geist von seinen Illusionen abzulenken und die gesunde Uebung der reflektirenden Thätigkeiten zu kräftigen.

„Im Allgemeinen“ sagt er, „wird man finden, daß Wahnsinnige sehr zur Trägheit geneigt sind. Einige mögen zwar nachtheilig unruhig sein, doch unterliegt die Mehrzahl den kranken Gefühlen und sind durchaus nicht aufgelegt, sich irgendwie mit Ausdauer zu beschäftigen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß jede Art von Beschäftigung eine heilende Tendenz hat, und es ist daher wünschenswerth, daß jeder Patient alle mögliche Ermunterung dazu erhalten sollte. Jede Art von Erholung ist nur ein anderer Ausdruck für geistige Beschäftigung und erheitert, wenn weise geleitet, die Stimmung des Gemüthes und erzeugt einen gesunden Ton der Gefühle. Aus diesen Gründen bekamen im Laufe des Jahres einige Patienten der Anstalt die Erlaubniß, unter Aufsicht von Aufsehern in die Stadt zu gehen, welches stets als eine besondere Vergünstigung betrachtet wurde und die beste Wirkung hatte. Vier männliche Patienten bekamen sogar die Erlaubniß, unter einer sorgfältigen Aufsicht nach einander die Nationalgallerien, die Ausstellung in Sydenham, Greenwich, Kew Gardens zu besuchen, und sogar einige Wasserexcursionen zu machen, und ich kann ohne das geringste Bedenken versichern, daß diese Ausflüge den allergünstigsten Einfluß auf ihren Gesundheitszustand ausgeübt haben.“

Auf Grund dieser Erfahrungen hat man in einigen Anstalten dieser Art sogar große Festlichkeiten veranstaltet, an denen die Verwandten und die angesehensten Personen der Nachbarschaft Theil nahmen. Man hat die Mahlzeit mit Gesellschaftsspielen und einem großartigen Balle beschlossen, und alle Versuche dieser Art haben stets den allerbesten Erfolg gehabt.

Im zweiten Stockwerke des Gebäudes befinden sich die heilbaren Kranken. Die Einrichtung der Lokalität ist dieselbe, wie im ersten Stocke. In der Mitte ist gleichfalls die lange Halle, in der sich ein großer Bauer mit allerlei zwitschernden Vögeln befindet; zu beiden Seiten sind dann die Schlafzimmer, Speisesäle, Lesezimmer, Wasch- und Badesäle und bieten durchaus nichts Besonderes dar. Die Dauer in dieser heilbaren Station ist auf ein Jahr beschränkt, und kann nur nach Ablauf dieser Frist nach Gutachten des Arztes auf drei oder vier Monate ausgedehnt werden. Die leitende Idee dieser Bestimmung ist, der Anstalt so viel als möglich den Charakter einer Heilanstalt zu geben, und sie einer möglichst großen Anzahl von Unglücklichen zu öffnen. Die Erfahrung hat überdies gelehrt, daß die meisten Fälle in dieser Frist geheilt werden, und daß die Hoffnungen auf eine Genesung nach Ablauf dieser Zeit schwächer und schwächer werden.

Die Patienten sind, je nach dem Charakter ihrer verschiedenen Krankheiten von einander streng abgeschieden; so sind es z. B. die Unruhigen von den Ruhigen, die Reinlichen von den Schmutzigen, die Melancholischen von den Tobenden u. s. w. Ein junger Mann in dieser Abtheilung, von einer sehr bedeutender Bildung, leidet unter der fixen Idee, daß er wahnsinnig sei. Sobald er mich zu sehen bekam, kam er eiligst auf mich zu und fragte mich in einem ziemlich imperatorischen Tone: „Kennen Sie mich?“ und da ich diese Frage verneinte, so fügte er eiligst hinzu: „Nun gut, dann wissen Sie auch nicht, daß ich wahnsinnig bin – ja, ja! – ich hin wahnsinnig, völlig toll.“ Ich suchte ihn zu beruhigen, indem ich sagte, daß er nicht wahnsinnig, sondern ganz vernünftig sei, doch das schien ihn nur noch mehr aufzuregen, denn er sagte: „Das ist es gerade, was mich ärgert, daß mich alle Welt, selbst der Doctor zum Besten haben und mir was weiß machen will; aber das soll ihnen nicht gelingen, ich weiß es besser, daß ich verrückt bin, da fehlt’s mir, da, da!“ (Bei diesen letzten Worten zeigte er auf die Stirn.) Ich habe keine Vorstellung, wohin unsere gelehrten Philosophen diesen Fall placiren würden; denn die interessante Frage, welche von ihnen entschieden werden müßte, ist die, ob ein Mann, der ein klares Bewußtsein seines Zustandes hat und dessen Krankheit nur eben in diesem Bewußtsein besteht – als wahnsinnig zu betrachten ist.

Am äußersten Ende dieser Halle befindet sich eines jener wattirten Zimmer, welche ein Substitut für den körperlichen Zwang bilden. Das Gemach selbst ist ein hohes, schwach erleuchtetes Gewölbe, welches vollständig stark wattirt oder gepolstert ist, selbst Fußboden und Decke. Der Ueberzug ist ein äußerst starkes Fabrikat aus Gummi und so zähe, daß man es mit den bloßen Händen nicht zu zerreißen im Stande ist. Patienten, welche sich nun in einem rasenden Zustande befinden, und sich gar nicht anders bändigen lassen, werden dann in dies Zimmer gebracht, nachdem sie ein warmes Bad und beruhigende Medicamente erhalten haben. Doch nimmt man nur in den alleräußersten Fällen seine Zuflucht dazu, und hat man ein eignes Buch, in dem man jeden einzelnen Fall dieser Art aufzeichnet und eine genaue Krankheitsgeschichte des Patienten giebt. In dem Zimmer ist kein Mobiliar, mit Ausnahme einer Art Sopha, welches als Bett dient und in derselben Weise, wie das ganze Gemach überpolstert ist.

Von hier führt wiederum eine breite, steinerne Treppe hinauf zur dritten Etage, wo sich die unheilbaren, im Ganzen 75, Patienten befinden. Man muß sich übrigens diese unglücklichen Wesen durchaus nicht als gefährlich vorstellen, sondern die meisten halb schlafend oder in eine tiefe melancholische Träumerei versunken, und mein Führer versicherte mich, daß gerade diese Station die allerwenigsten Umstände verursache. – Auch scheint dieser Zustand der physischen Existenz im Allgemeinen durchaus nicht nachtheilig zu sein; denn die größere Mehrzahl ist recht wohl genährt und ein Alter, der bald seinen 75sten Geburtstag feiert, ist bereits fünfzig Jahre in der Anstalt. Die 75 unheilbaren Patienten (38 männliche und 37 weibliche) waren bis zu Ende des vergangenen Jahres zusammen gerade 700 Jahre, das macht für Jeden durchschnittlich 9 Jahre und 4 Monate in der Anstalt. Eine andere auffallende Erscheinung in den statistischen Nachrichten ist die verhältnißmäßig große Anzahl wohlerzogener Personen, welche sich in dieser Abtheilung befindet. Denn während 28 Patienten eine gute oder sogar eine außerordentliche Erziehung genossen haben, fanden wir in der gegebenen Liste nur zwei männliche Patienten, welche ohne alle Erziehung sind. Wenn wir nun bedenken, wie ungeheuer groß [385] in England die Klasse ist, deren Erziehung ganz und gar als Null betrachtet werden kann, so darf man wohl sagen, daß Unwissenheit den Geisteskrankenen nicht gar zu günstig ist. Eine andere Tabelle zeigt uns ferner, daß wenigstens die Hälfte der Patienten dieser Klasse auf die eine oder andere Weise zum Besten der Anstalt beschäftigt sind.

Wir stiegen nun ohne uns weiter aufzuhalten, bis zum Flure der ersten Etage hinunter, und gelangten von hier vermittelst eines verdeckten und mit einer starken eisernen Thüre wohl verwahrten Ganges in ein anderes Seitengebäude nach hinten hinaus, wo sich die wahnsinnigen Verbrecher befinden, welche theilweise in dem Krankheitszustande ein Verbrechen begangen, oder während Abbüßung ihrer Strafe wahnsinnig geworden sind. Es befinden sich überhaupt 106 (84 männliche und 22 weibliche) Criminal-Patienten in der Anstalt, welche hier zusammen mehr als 708 Jahre, also durchschnittlich etwas mehr als 7 Jahre gelebt haben. Auffallend ist übrigens, daß sich unter ihnen 82 Individuen befinden, welche sich ein Verbrechen gegen die Person haben zu schulden kommen lassen. Auch befinden sich hier zwei politische Verbrecher, von denen der eine jener Laufbursche Oxford ist, welcher ein Pistol auf die Königin abfeuerte. Da ein Hauptzweck dieser Abtheilung darin besteht, die Patienten in sicherem Verwahrsam zu haben, so ist hier Alles gefängnißmäßig eingerichtet, und an jeder Thüre und in jedem Gange stehen riesige Wärter aufgepflanzt, welche sofort bei der Hand sind, sobald die Kranken einen Versuch machen sollten, sich der Haft zu entziehen, wofür sie ohne Ausnahme stets aufgelegt sein sollen. Abgesehen übrigens von der strengen Aufsicht und den eisernen Stäben vor den Fenstern, ist die Verpflegung und Behandlungsweise dieselbe, wie in den anderen Abtheilungen der Anstalt, und werden wenigstens zwei Drittel der Patienten im Hause und im Garten beschäftigt. Im zweiten Stocke befinden sich die Reconvalescenten dieser Station, unter denen sich auch ein Maler von nicht geringen Talenten befindet. Er hat jetzt ein mittelalterliches Stück aus der Zeit der Kreuzfahrer auf der Staffelei, worauf sich wenigstens hundert Figuren befinden, von denen einige mit solcher Gewandtheit und Kühnheit gezeichnet sind, daß sie keinem Künstler Schande machen würden.

Unten angelangt, kamen wir aus einer Seitenthüre, welche mit einem ungeheuern Schlüssel geöffnet wird, auf einen Hof hinaus, auf dem sich einige Bäume und ein verdeckter Gang befindet, unter dem die Patienten spazieren gehen können. Im Hintergrunde ist ein großer Gemüsegarten, der fast ausschließlich von den Irren selbst bearbeitet wird. In dem mittleren Flügel nach hinten hinaus, welcher zugleich die Scheidewand zwischen der Abtheilung für die männlichen und weiblichen Patienten bildet, ist die Kapelle (Betsaal), in der wöchentlich drei Mal Gottesdienst gehalten wird. In der Vorhalle des mittleren Portals sind die Apotheke, das Büreau, Wartezimmer und andere Lokalitäten der Administration und unten die Küche der Anstalt. Das Erste, was uns beim Eintritte in die Augen fiel, war eine äußerst elegante Dampfmaschine von fünf Pferdekräfte, welche die ganze Anstalt selbst bis in die höchsten Etagen hinauf mit dem erforderlichen warmen Wasser versorgt, dann aber auch zum Kochen verwendet wird; denn hier wie in allen großen Küchen in England kocht man mit heißen Wasserdämpfen, welche vielfache bedeutende Vortheile bieten soll. Einer besteht darin, daß die Küche selbst viel sauberer gehalten und bei geringeren Mitteln ein viel größeres Resultat erzielt werden kann. Der ganze Kochapparat und die Armee von eisernen Töpfen und Kasserolen sehen alle so rein und blitzend aus, als hätten sie soeben die Hände des Künstlers verlassen, der sie verfertigte. Mehr als ein Dutzend gewaltige Hammelskeulen oder riesige Rinderbraten, ein ganzer Sack voll Kartoffeln, verschiedene Gemüsearten und eine Masse anderer Speisen können alle zu einer und derselben Zeit gebraten, geschmort und gekocht werden. Auch kann man vermöge einiger Regulatoren die Hitze je nach dem Bedürfnisse entweder für das Ganze oder eine bestimmte Abtheilung bald stärker, bald schwächer machen. Zu unserer Rechten befindet sich unmittelbar unter dem Fenster ein langer, schneeweißer Tisch, auf dem die Vertheilung der Lebensmittel vor sich geht. Wir bemerken hier drei oder vier Männer mit gewaltigen Messern und wirklichen Heugabeln ritterlichst bewaffnet und die verschiedenen Portionen schneiden. Jeder hat eine ungeheure Hammelkeule (denn es giebt heute gerade Hammelbraten) und eine Waagschale vor sich, doch scheint die letztere fast überflüssig, denn während der ganzen Zeit, daß wir diesem interessanten Prozesse zusahen, kam es fast nicht ein einziges Mal vor, wo man nicht gleich mit dem ersten Schnitte die erforderliche Quantität abgeschnitten hätte. Andere Personen sind wiederum beschäftigt, die Gemüsearten zu verteilen, welche ebenfalls zugewogen werden, und verschiedene Aufwärter, größtentheils Patienten, schaffen dann die Speisen nach den verschiedenen Sälen und zwar werden die für die oberen Stockwerke vermittelst einer Maschine von der Küche unmittelbar hinauf befördert. Gleich am Eingange finden wir auch den Speisezettel und wir theilen ihn hier mit, um zu zeigen, daß die Patienten durchaus keine Noth zu leiden haben.

Zum Morgenbrote erhalten sie sämmtlich Thee und die Männer außerdem 14 und die Frauen 12 Loth Brot und Butter.

Mittagsessen: Sonntag: Gekochtes Pökelrindfleisch,

Montag und Donnerstag: Hammelsbraten,
Dienstag und Freitag: Pökelhammelfleisch,
Mittwoch: Rinderbraten,
Sonnabend: Fleischpastete

und zwar die Männer 1 Pfd. und die Frauen 28 Loth und außerdem erhalten Alle 8 Loth Brot und 2 Loth Käse. An den anderen Tagen erhalten sämmtliche Patienten neben dem resp. 12 oder 10 Loth Fleisch 8 Loth Brot; die Männer 3/4 Pfd., Frauen 1/8 Pfd. Gemüse, und endlich die Männer 1/2Quart und die Frauen 1/4 Quart Bier. Das Abenbrot ist wie das Morgenbrot, doch erhalten die Männer des Mittags und Sonnabends anstatt des Thee’s 1/2Quart Bier und 4 Loth Käse. Diejenigen Patienten, welche im Garten, in den Werkstätten oder in dem Waschhause beschäftigt sind, erhalten außerdem noch zum zweiten Frühstück 8 Loth Brot, 2 Loth Käse, 1 Loth Butter und 1/2 Quart Bier und des Nachmittags als Vesperbrot 1/4 Quart Bier. Die Weihnachtsmahlzeit besteht, wie überall in England, aus Roastbeef und Plumpudding. Am Neujahrstage Mincepies, am Charfreitage die berühmten Crossbuns. Zu Ostern und am Pfingstmomage Kalbsbraten und Speck.

Dieses sind die gewöhnlichen Gerichte, und ist bei ihrer Auswahl namentlich auch der englischen Sitte Rechnung getragen; zuweilen werden sie indessen auch nach Gutachten des Arztes durch Schweinebraten, Speck und Fisch ersetzt, und wir haben wohl kaum zu erwähnen nöthig, daß alle Speisen stets von der allerbesten Güte sind. Die bedeutenden Kosten der Verwaltung und Unterhaltung der Anstalt werden theils von den Einkünften früherer Vermächtnisse und Stiftungen, theils von den Patienten selbst bestritten. Die Regierung zahlt außerdem für die Criminal-Abtheilung einen jährlichen Zuschuß von etwa 30,000 Thalern, und allein für fünf Patienten dieser Art hat der Staat schon mehr als 45,000 Thaler an die Verwaltung der Anstalt gezahlt. Ja, das Verbrechen, abgesehen von der tiefen Bedeutung desselben in moralischer Beziehung ist stets außerordentlich theuer, und es läge deshalb schon im materiellen Interesse der Gesellschaft allen Ernstes daran zu gehen, um dasselbe, wenn nicht ganz auszurotten, doch wenigstens so selten als möglich zu machen. Doch kann dies nicht durch Polizeimaßregeln erzielt werden; dazu bedarf es der Schulmeister, eines neuen Erziehungssystems und weitgreifender socialer Reformen. Dies sind keine Chimären einer krankhaften Phantasie, welche sich nicht realisiren ließen, sondern es sind laute Forderungen der Civilisation und Humanität, und man lege nun ernstlich Hand an’s Werk und die glücklichen Resultate werden sich von selbst ergeben.

Hiermit haben wir unsere Wanderung eigentlich vollendet, denn der andere linke Flügel des Hauptgebäudes wird von den weiblichen Patienten bewohnt. Die Matrone oder Oberaufseherin, eine äußerst gebildete Dame, empfängt uns und führt uns durch diese Abtheilung der Anstalt, deren Einrichtungen sich fast in Nichts von denen unterscheidet, welche wir so eben weitläufiger beschrieben haben. Auch hier ist überall dieselbe Reinlichkeit, dieselbe weise Absonderung der Patienten, und in einigen Gängen fanden wir einige große Blumentöpfe mit den schönsten blühenden Blumen, welche von den Patienten mit einer wahren Ehrfurcht betrachtet zu werden schienen, und als meine Begleiterin einige davon abpflückte und sie den umstehenden Kranken gab, schienen sie wie die Kinder außer sich vor Freude. In einem Seitenflügel nach hinten hinaus führend, befinden sich die Arbeitszimmer, wo eine große Zahl von Patienten mit Nähen, Stricken und anderen weiblichen Arbeiten beschäftigt ist. Daß man übrigens tüchtig arbeitet, zeigt schon, daß man im Jahre 1853 im Ganzen 2714 verschiedene Stücke Arbeit [386] verfertigt hat. Außerdem befindet sich hier das Waschhaus, wo die sämmtliche Wäsche für die Anstalt größtentheils von den Patienten gewaschen, gerollt und geplättet wird.

Wir gelangten endlich an die Criminal-Station, und waren froh, hier nur 22 doppelt unglückliche Patienten zu finden. Wir wissen zwar nicht genau die Ursache dieser Erscheinung, ob der Criminalkalender der Frauen so bedeutend geringer ist, was wir fast bezweifeln, oder ob das begangene Verbrechen die Frau weniger affizirt, was wir ungern glauben möchten, aber es ist nichtsdestoweniger eine Thatsache, daß auf eine Verbrecherin dieser Art fast vier Männer kommen. Wir sahen hier auch die frühere Amme des Prinzen von Wales (Kronprinzen), welche vor einigen Monaten in einem Anfall von Wahnsinn bekanntlich ihren sechs Kindern einem nach dem anderen den Hals abschnitt, und welches zur Zeit der That so mancherlei scandalöse Geschichten in Umlauf setzte. Die unglückliche Mutter scheint jetzt durchaus kein Bewußtsein ihrer That zu haben und ist anscheinend vollkommen ruhig und wohlgenährt. Als wir die statistischen Tabellen der Verbrecher in dieser Anstalt übersahen, fiel es uns besonders in die Augen, daß das Jahr 1851 so berühmt durch seine früher nicht geträumte Weltausstellung und so ungünstig für das Verbrechen im Allgemeinen, auch in den Annalen dieser Anstalt eine bemerkenswerthe Stelle einnimmt, da nämlich in diesem Jahre die Anzahl der aufgenommenen Patienten um 58 Individuen geringer als in dem vorhergehenden Jahre ist, und worunter sich nur drei männliche und gar keine weibliche Criminalpatienten befinden.

Unter der Rubrik der muthmaßlichen Ursachen des Wahnsinns nimmt natürlich Liebesgram die erste Stelle ein – o nein, schönste Leserin – Krankheit, Erblichkeit in der Familie, Angst, Unmäßigkeit, Vermögensverluste, übermäßiges Studium, das sind die Hauptursachen, und die Liebe nimmt nur eine ziemlich untergeordnete Stelle ein, und das ist ganz natürlich; denn die wahre Liebe (falls es außer in Novellen eine solche giebt), welche sich getäuscht findet, sucht, wenn sie klug ist, den unwürdigen Gegenstand sobald als möglich zu vergessen, oder wenn sie das nicht ist – bricht das Herz und macht der unerträglichen Existenz ein frühzeitiges Ende. Doch bemerkten wir bei unserem Fortgange aus der Anstalt, als wir durch den Theil des parkartigen Gartens gingen, welcher, wie wir bereits am Eingange unserer Darstellung gesagt haben, sich in Front des Flügels für weibliche Patienten befindet, und indem sich die größere Mehrzahl der Patienten auf dem schönen Rasen ergeht, im Schatten eines baumartigen Strauches ein junges Mädchen von etwa siebzehn oder achtzehn Jahren auf dem Boden sitzen, welches mit ihrem Schürzenbande äußerst beschäftigt schien. Als wir unbemerkt näher kamen, fanden wir, daß sie wie Gretchen in der Gartenscene eine Art Schicksalsprobe machte, um das Herz ihres Geliebten zu erforschen. Sie hatte nämlich eine Menge Knoten in dieses Band geschürzt, und nun begann sie mit: „Er liebt mich,“ „Er liebt mich nicht,“ jedesmal eine Knoten weiter gehend, und wir haben selbst eine Charlotte von Hagen in ihrer Blüthezeit dieses Spiel nicht vollendeter durchführen sehen. Die Spannung, die Ungewißheit und doch eine gewisse Zaghaftigkeit bis zu Ende fortzuschreiten, war meisterhaft und wollte es nun das Geschick, daß der letzte Knoten mit „Er liebt mich,“ zusammentraf, o, dann war sie plötzlich lauter Freude und Glückseligkeit; doch dauerte es nur einen Augenblick, und der Versuch wurde von Neuem gemacht, und fiel es diesmal unglücklich aus – o, welcher Schmerz! und ich werde in meinem Leben den verzweiflungsvollen Angstruf: „Er liebt mich nicht!“ dieser Unglücklichen vergessen; er war mit einer Art von krampfartigem Schluchzen ohne Thränen begleitet, und drang wirklich durch Mark und Bein. Sie raufte dann mit beiden Händen Gras auf, das sie sich auf’s Haupt streute. Diese Trauerscene hatte jedoch ebensowenig Bestand; denn schon nach einigen Minuten begann sie von Neuem zu zählen, und wir eilten so schnell als möglich an ihr vorüber.

Hiermit haben wir unsere Wanderung vollendet, und ich wüßte nicht, daß ich jemals in meinem Leben so durch und durch ergriffen gewesen wäre, denn da giebt es so manche Erscheinungen, ein besonderer Zug im Gesichte, eine einzige Geberde, eine Bewegung mit dem Kopfe, welche einen Eindruck hinterlassen, den man bis in’s Innerste fühlt, aber nicht wiederzugeben im Stande ist.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Pförner
  2. Vorlage: berühmte