Ein „Berliner Straßenbild“ ohne Bild
[201] Ein „Berliner Straßenbild“ ohne Bild. Unter den Linden in Berlin bewegte sich in buntem Durcheinander die feine Welt. Glänzende Toiletten und vergnügte Gesichter, elegante, elastische Erscheinungen und Jugend und Reichthum, alles flog in schnellem Wechsel an mir vorüber, ein Bild des Glückes und des Frohsinns, der Lebensfülle und des Ueberflusses, und über dem Ganzen lag der Sonnenschein eines heiteren Frühlingstages. Ohne es zu wollen, gerieth ich in den Strom der Spaziergänger hinein, und langsam und willenlos ließ ich mich von ihm treiben, ein Fröhlicher unter den Fröhlichen. Um so schärfer war der Contrast, als plötzlich an einem Seitenwege hinter einer starken Rüster hervor ein todtenbleiches Weib auf mich zutrat, ein kleines Mädchen auf dem Arm, ein etwas größeres an der Hand, und mit zitternder Stimme sagte: „Erbarmen, Herr! eine kranke Frau, eine unglückliche Mutter, die kein Brod für ihre Kinder hat!“ – Es durchzuckte schmerzlich mein Herz; ich sah, daß es kein gewöhnliches Bettelweib war, das zu mir sprach; ich fühlte, daß ich es nicht mit einem auswendig gelernten Spruch zu thun hatte. Es war ein Nothschrei, den der Augenblick der Armen erpreßte. Sie war noch nicht an der äußersten Grenze des Elends angekommen; eine ärmliche Sauberkeit war noch an ihr bemerkbar. Aber sie war krank; das Fieber schüttelte sie sichtbar, und auch das kleinere Mädchen schmiegte sich fröstelnd an ihre mit einem dünnen Tuch bedeckte Schulter. Sie war für einen Augenblick heftig erröthet, als sie ihre Bitte nicht langsam stotternd, sondern schnell wie einen halb unterdrückten Schrei herausgestoßen hatte. Sie bettelte noch nicht lange, das leuchtete aus Allem hervor, und so griff ich schnell entschlossen in meine Tasche und holte ein größeres Geldstück hervor, das ungefähr den Umständen entsprechen und sie ein paar Tage vor der äußersten Noth schützen mochte. Wie leuchteten ihre Augen, als ich es ihr in die kalte, magere Hand legte, – ihre bleichen Lippen zitterten ein paar Worte des Dankes hervor.
Da ertönte plötzlich eine barsche Stimme hinter uns, bei welcher wir [202] Beide gleichmäßig erschraken. Ein Schutzmann war unbemerkt herangetreten und sagte grollend: „Wie können Sie sich unterstehen, Frau, hier auf offener Promenade, zu betteln! – Sie werden mir nach der Wache folgen!“ – und er drängte sie augenblicklich in den Seitenweg hinein, in der klaren Absicht, den geheiligten Boden von ihr zu befreien. Die Frau zitterte noch stärker als zuvor, während er sie vor sich herschob, und ich hörte sie deutlich schluchzen. Ich entschloß mich schnell, ihnen nachzugehen, und bald war ich nahe genug, um zu hören, wie das arme Weib sagte: „Haben Sie Erbarmen, Herr Schutzmann! Ich bin keine Bettlerin; es ist das erste Mal, Gott weiß es! Mein Mann starb vor vier Wochen; ich bin krank und von Allem entblößt, und die Kinder haben Hunger. Ich war in ein Haus gegangen, wo ich früher gewaschen, um mir dort Arbeit zu suchen. Sie hatten eine andere Frau angenommen, und da sah ich auf dem Rückwege all die feinen Herrschaften und dachte, wenn du ein oder zwei darunter findest, die ein Herz für den Armen haben, so ist dir geholfen, und so kam es auch. Haben Sie Erbarmen, Herr Schutzmann, lassen Sie mich gehen!“
„Sie müssen mit zur Wache, Frau – ich kann Ihnen nicht helfen. Da wollen wir weiter sehen,“ antwortete er in seinem harten Tone.
„Ach!“ jammerte die Arme, „nehmen Sie’s nicht übel, aber mit einem Schutzmanne durch die Straßen – es ist mein Tod!“ – Die Kinder schrieen dazwischen, daß es mir das Herz zusammenschnürte.
„Nun, nun, liebe Frau,“ sagte der Schutzmann begütigend, „es sind schon andere Leute mit uns über die Straße gegangen, ohne zu sterben.“
„Mein Gott, die Menschen werden denken, ich habe gestohlen, und ich besitze nichts mehr, nichts, als meinen – guten Namen.“
Ich hielt es nicht länger aus; ich beschleunigte meinen Schritt, um ihnen an die Seite zu kommen, und sagte dann zu dem Manne des Gesetzes:
„Drücken Sie ein Auge zu, Wachtmeister! Die Frau ist krank und sie bettelte nicht eigentlich; sie sah so elend aus, daß ich ihr – meine Gabe aufdrängte.“
„Drücken Sie ein Auge zu, Herr Wachtmeister!“ jammerte die Kranke dazwischen.
„Ich kann es nicht, Herr,“ antwortete der Beamte noch immer in demselben Tone; „ich hätte sie vielleicht nicht bemerkt, denn ich – sehe manchmal schlecht. Aber mein Lieutenant ritt vorüber und zeigte auf die Frau, und da hilft es nichts; ich muß meine Pflicht thun. Er hat mich so schon auf dem Striche, weil ich ihm ‚nicht forsch genug d’raufgehe‘, wie er sagt. Wenn er nach Hause kommt und findet die Frau nicht auf dem Rapporte, so komme ich in Teufels Küche.“
Wir waren jetzt weit von der feinen Promenade entfernt in einer der Queralleen des Thiergartens, und die Kinder schrieen noch immer, und die Arrestantin jammerte ununterbrochen:
„Drücken Sie ein Auge zu, Herr Wachtmeister – drücken Sie ein Auge zu – haben Sie Erbarmen!“
Auch ich machte noch einen Versuch, ihn zu erweichen, da stand der Mann des Gesetzes still und sagte mit dem imponirendsten Tone, der ihm zu Gebote stand:
„Bitte, mein Herr, verlassen Sie uns jetzt! Ich muß Sie dazu auffordern.“
Ich konnte nichts mehr thun; ich blieb hinter ihnen zurück und bog in einen anderen Weg ein, während ich darüber nachdachte, was eigentlich in den Zügen des Mannes lag, das nicht zu seinem Betragen paßte. Unwillkürlich folgten meine Blicke, das noch durchsichtige Unterholz durchdringend, der sich immer weiter von mir entfernenden Gruppe. Ich bemerkte, wie der Schutzmann seinen Schritt mäßigte und sich ein paar Mal forschend umsah. Dann blieb er stehen und fuhr mit der Hand unter den kleinen Schirm seines Helmes. Darauf faßte er, noch immer stillstehend, suchend in seine Tasche und wahrhaftig, jetzt drückte er der Frau die Hand, als ob er von einer alten Bekannten Abschied nähme. Im nächsten Augenblick lief die Frau mit eiligen Schritten davon, und der Schutzmann ihr nach, aber nach der anderen Seite hin, als ob er Furcht hätte, daß sie ihn wieder einholen könne. Ich folgte ihrem Beispiele und steuerte eilig der dritten Himmelsrichtung zu, als ob auch hinter mir Jemand her wäre. War es ein Zufall, daß diese Richtung mich zurückführte auf die feine Promenade? – Das bunte Treiben herrschte noch immer dort, aber es gefiel mir nicht mehr, so sehr hängen die Eindrücke von unseren Stimmungen ab. Gleichgültig und mit langen Schritten ging ich bei den glänzendsten Erscheinungen vorüber in eine Conditorei, wo ich eine Tasse Kaffee trank. Als ich nach einer halben Stunde zurückkam, war die feine Welt verschwunden; die letzten Equipagen rollten davon. Es war Zeit, Toilette zum Diner zu machen. Fast einsam lag die Promenade da. Man sah nur einige Spaziergänger, die wirklich ausgegangen waren, um frische Luft zu schöpfen. – An der Stelle, wo das arme Weib gestanden, ging der Schutzmann wieder mit ruhigem Schritt auf und ab, als gälte es, noch immer den geheiligten Boden zu bewachen. Ich trat an ihn heran, ein Streichholz für meine Cigarre erbittend; er reichte es mir galant, schon in Brand gesetzt, und ich tauschte eine Regalia mit ihm aus.
„Sie sind ein braver Mann,“ sagte ich dabei zu ihm. „Sie haben der Frau …“
„Inwiefern brav?“ fiel er mir in’s Wort, und dann, indem er mich erkannte, fügte er, verlegen auf seine Stiefelspitzen sehend, ruhig hinzu: „Ach so, Sie meinen die Frau! – Ich werde meinen Rüffel bekommen, aber ich kann’s nicht ändern. Das Teufelsweib lief davon, so schnell, daß ich sie nicht wieder einholen konnte. Und ich – ich bin selbst – vor Kurzem – krank gewesen.“