Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)/Erstes Gebot I

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Erstes Gebot I.
Ich bin der Herr, dein Gott!

 So spricht der Herr, der König Israels und sein Erlöser, der Herr Zebaoth: Ich bin der Erste, und Ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott. Jes. 44, 6.


 Wir sind mit den eben gehörten Worten, den ersten, die wir überhaupt in der Schule gelernt haben, als der erste Religionsunterricht bei uns begann, in das selige Heiligtum der Gewißheit aus all dem Vergänglichen und den Wandelwegen des Ungewissen und Unsicheren, des Vielleicht und des Zweifels wieder heimgekehrt. Wie der Sohn in der Fremde, nachdem er die Gabe des Vaterhauses vergeudet und die letzte Erinnerung an das Vaterhaus und Vaterherz zu verlieren Gefahr lief, noch in der entscheidenden Stunde sich aufmachen und zu seinem Vater gehen wollte, so wollen auch wir, wie uns das Leben geführt und welche Narben es bei uns hinterlassen und was es an Gedankenträgheit und Gedankenarmut und Zerrissenheit bei uns geschaut hat, hinlegen und aufgeben. Und wie wir als Kinder nach wildem, wirrem Spiel uns zur Mutter flüchteten, um an ihrem Herzen zu rasten, so wollen wir wieder nach mühevollem Spiel des Lebenstages und nach der Bitternis des Vielbegonnenen und Wenigerreichten heimkehren und sagen: Laß mich hören Freude und Wonne und nach allem Vielleicht und unter den tausend Etwa die Stimme mich vernehmen, die mich einst so trost- und machtvoll umtönte, die mir die Glockentöne der Heimat näherbrachte, die an Weihnachten mich umglänzte und mit| dem ersten Grün der Osterfreude mich begrüßte. Laß mich wieder hören das Wort, Dein Wort: Ich bin!

 Wir stehen alle an Gräbern und das letzte Grab, vor dem wir zurückschauern und das immer klarer, schärfer umrissen sich uns auftut, ist das eigene. Wir haben Liebe begraben, die Täuschung war, Vertrauen begraben, das uns betrog und haben Hoffnungen zu Grabe geleitet, deren keine wert war, je unser Herz zu bewegen. Und dann sind die Menschen herangetreten, mit denen wir eine Weile gingen und dann verließen sie uns und fragten nicht mehr darnach und endlich merken wir, es wird ernst, es ist dir gesetzt, Mensch, zu sterben und dann – das Gericht. Diese zwei Gewißheiten bleiben dir von deinem Leben: ein großes, heiliges Ende, das dir dein Gott verordnet, und deine schüchterne Antwort auf Gottes Gebote.

 Aber weil wir so vom Scheiden zum Abschied und vom Abschied wieder zum Scheiden gehen, weil über all unsern Festen der leise Hohn Gottes ruht, daß Er die Menschen eine kleine Zeit spielen und sich freuen und sich anfeiern läßt, bis Er dann mit einer einzigen Handbewegung den ganzen Ertrag jählings versenkt, klingt es aus der Tiefe unseres Herzens, das mit tausend ehernen Banden und mit Myriaden seidener Fäden an das Leben gebunden ist, „Laß mich hören Freude und Wonne, sprich mir endlich: Du Meister des Raubes, Du König der Vernichtung, Du Gewaltiger, der alles zerstört, sprich mir endlich von bleibenden Gütern und überragenden Größen!“

 Und Er wendet sich zu mir so einfach, wie Er dem armen Knechte erschien, als ihn seine Mutter verbergen und sein Vater verlassen mußte, der in der Wüste keinen Freund und nirgend eine Heimat hatte; und mit dem allerschlichtesten Worte, mit dem Er den armen Hirten draußen in der Einsamkeit der Wüste das ganze Herz erquickte, mit dem Er das brechende Auge seines treuesten Propheten himmlisch| verneute und stärkte, wendet Er sich an dich und mich und spricht: Ich bin!

 Wenn das Kind nächtens durch den Wald eilt – es hat seinen Vater verloren und weiß nur noch das Eine, dieser Wald trennt mich von ihm und einigt mich mit ihm – dann hört es in weiter Ferne, aber es hört doch, die trauteste Stimme: Ich bin es!

 So spricht Er zur armen, weltverirrten, weltverlorenen, weltvergessenen Seele, zur Seele, die nur noch ein Verlangen hat: sich auszuweinen und dann scheiden zu gehen: „Sei getrost. Ich bin es!“ Nun dürfen alle Wellen forttragen, was nimmer gehalten werden kann und alle Wogen fortführen, was ich mir halten wollte an Lieb und Treu, an Erinnerung und Güte und Gnade; nun kann alles fallen und ich so arm werden als hätte ich nie etwas gewußt, noch besessen, ja ärmer – denn der ist wohl ärmer, der einst etwas hatte und nun alles enträt –, wenn ich nur Dich weiß, dann weiß ich mir genug; und wenn nur Du bist, dann ist es mir reichlich genug.

 Ich bin es! Wenn dieses Wort nicht mehr wäre, was wäre dann dies Leben? Ausstaffierter Flitter, dem man lächelnde Lüge in jedem Zuge ansieht; ernste Miene, hinter der die Torheit wohnt, heiße Mühe, über die Narren lächeln; das ganze Leben ein großes Gaukelspiel; Tropfen des Weltmeeres, die eine kleine Zeit in willkürlicher Eile aneinander sich reihen und eine Welle läßt sie zerstieben. Tropfen des Weltmeeres, in die flüchtig ein höhnender Sonnenblick fällt; das nennt man Glück und – es ist vorüber. Aber Ehre sei dem, der in all dieses unnennbare Weh des Menschenlebens das beste, das gnadenreichste Wort hineingerufen hat: Ich bin es!

 Wenn ich am Sarge stand, wo man das Beste von mir nahm und ich wußte nicht, warum gerade jetzt und gerade so dieser schwere, schwarze Strich durch mein Leben und| seinen Gang, durch mein Denken und seinen Weg gemacht werden mußte, und es sah alles so unsinnig, so unvernünftig aus, so gar ohne Zweck, so sprach Er: Ich bin es! Und wenn man sich müde gearbeitet hat und der Herr spricht von keinem Worte des Dankes und läßt alles vor den eigenen Augen zerstieben, wie wenn ein Kind achtlos eine Blume zerpflückt, an der dein Herz sich erfreute, wenn du wahrnimmst, daß Gott das Werk deines Lebens und all deine Arbeit, deren Bedeutung du so hoch einschätztest, zur Seite stellt und du wähnen mußt, Er will dich gar nicht mehr; du möchtest aber wenigstens hören, warum Er also tat, dann tröstet sein Wort: Ich bin es.

 Ich bin! Bei dem wollen wir zunächst bleiben. Jahre vergehen und die Liebe, die sie uns verhießen, verrinnt und der Ertrag, den wir ihnen gaben, verbleicht und der Erfolg, den sie uns versprochen, vergeht. Aber je einsamer der Lebensweg wird und je rätselvoller das Lebensende sich anläßt, desto trostreicher das Wort: Ich bin!

 Also Einer ist es, an den die Vergänglichkeit so wenig hinreichen kann, daß Er sie sendet, damit sie seine Ewigkeit erweise. Einer ist es, an dem der Wechsel der Dinge so wenig Teil hat, daß Er ihn majestätisch herein ins Leben wirft, damit man seine Wandellosigkeit erkennen möge.

 Einer, sage ich, ist es, der da Jahrtausende aufeinander – bald in eiliger Folge, bald in langsamem Zuge – folgen läßt, um schließlich, zu dem Menschen der Unkultur wie zum Sohne der höchstgesteigerten Bildung, immer nur das eine Wort zu sagen: Ich bin es! Ich weiß nicht, ob du es schon einmal empfunden hast, was es um die Geschichtlichkeit ist. Wenn man so einsam seine Straße zieht und sieht über sich die sogenannten ewigen Sterne und den Mond in seiner Klarheit und denkt sich: das ist der Stern, der einst meinen Vätern schien und der Mond, der einst einem Hiob glänzte; das sind die Sterne, unter denen mein Heiland| im Garten einsam litt und stritt, und das ist der Mond, der da die Erde erleuchtete also, daß man seines heiligen ernsten Leidens Spuren sah. Und derselbe Mond scheint mir und die alten Sterne zeigen auch mir den Weg.

 Da wird man erfüllt von einer gewissen Sicherheit, von Ruhe und beständiger Hoffnung. Der da gesprochen hat: „Ich bin es,“ heißt alle, denen die Vergänglichkeit ein Grauen ist und die des Todes Schrecken mit eherner Gewalt anfaßt, zu ihm sich flüchten als zu dem Herrn aller Zeiten und dem Könige aller Vergänglichkeit.

 Ich bin der Herr, dein Gott!

 Also, Er braucht mich nicht, daß Er vielleicht mit kosendem Worte, weil jetzt seine Anhänger selten werden, nach mir ausblickt, ob ich ihm vielleicht noch mein dürftig, ärmlich Opfer darbrächte. Ist Er vielleicht der Gott, der, weil jetzt die Massen von ihm weggelockt werden, um eine Schar von Frauen und etliche armselige Männer mit gebrochenem Rückgrat wirbt, daß sie wenigstens ihm ihren Dank noch stammeln. So lest ihr es wohl da und dort und so vernehmt ihr es auch: der alte Gott ist opferbedürftig um zu leben.

 Doch mit souveräner Gewalt spricht Er: Ich bin der Herr. Nicht, daß du mich hättest gerufen, Jakob, oder daß du um mich gearbeitet hättest, Israel. Mich hast du mit dem Fett deiner Opfer nicht gesättigt.

 Nein, Christen, macht euch von diesem Wahne los, als ob Er in einer Sekunde deiner oder meiner bedurft hätte. Denn Er ist in sich selbst genug, völlig selig, völlig abgeschlossen, ganz in sich reich, ohne daß er irgend einer Sache bedürfte. Denn wenn Er meiner bedürfte und ich käme nicht zu ihm, bliebe Er ja ewig bedürftig.

 Christen! Und wenn die ganze Welt und sein ganzes Weltwerk zerscheiterte und keiner heimkäme, seine Seligkeit wäre dadurch nicht getrübt. Sondern, wenn Er spricht:| Ich bin der Herr! so will Er uns zeigen, wie Er unsere Bedürftigkeit zu Ihm hin ansieht. Er hat sich in unsere Seele senken müssen, weil der Meister immer einen Zug seines Ichs in jedes Bild legt und kein Meisterbild wäre, das nicht des Meisters allein froh wäre und sein sollte. Als Er dich und mich schuf, hat Er eine einzige Saite in unser Leben gelegt, die nie ganz zur Stille kommt, bis sie wieder von dem gerührt wird, der sie schuf und endlich den Grundakkord anstimmt: Er ist mein Vater!

 Siehe, wenn du das wissen darfst, daß Er dich nie vermißt, aber daß Er dich vermissen will, und du daran dich festhalten kannst, daß Er, ohne dich völlig im Frieden, dich in sein Friedensreich hereinnehmen will, dann, o Seele, kannst du des Wortes dich trösten: Ich bin der Herr, der seine Gedanken auswirkt, damit sie zu ihm wiederkehren und seine Worte spricht, damit sie, weit durch die Welt hin geehrt, endlich bei ihm wieder heimfinden. Dann sollst du es gewiß haben: Ich bin der Herr! Also auch mir bereit und gewärtig.

 Ich bin der Herr, dein Gott!

 Wie viel hat man schon über das Wort Gott zunächst äußerlich, aber auch innerlich betrachtet, geredet. Die einen haben das Wort Gott von einer Wurzel abgeleitet, die bedeutet: verborgen, versteckt, verhüllt. Also: Ich bin der Verborgene, der in einem Lichte wohnt, da niemand zukommen kann. Die andern haben das Wort Gott erklärt: Ich bin der, der von sich aus alles gibt.

 Luther hat in seiner praktischen, seelsorgerlichen Weise am schönsten in einer uns noch erhaltenen Predigt über das Wort Gott gesprochen. Es ist das in der Predigt am Laurentiustag, den 10. August 1516, gewesen. Da sagt er: Gott ist der, der dir etwas ist, so daß alles andere dir nichts ist. Ein Kind kann mit diesem Worte zufrieden werden und ein Mann kann an ihm sich erbauen. Gott| ist der, der dir etwas ist, so daß dir alles andere nichts mehr ist. So soll dir Vater und Mutter, Weib, Mann, Lieb, Treu, Gut, Ehre, Glück und Gunst, alles nichts sein, weil Er dir das Etwas deines Lebens, das Große, das Überwältigende, das, was sage ich, das einzig dein Leben Ausfüllende geworden ist.

 Und wenn dir noch etwas außer Gott etwas bedeutet, so bist du eben nicht in Gott. Und wiederum sagt Luther – im großen Katechismus: Gott und höchstes Gut sind innerlich beisammen. Ich bin der Herr, dein höchstes Gut!

 Diese kurzen Worte mögen uns heute genug tun. Vielleicht haben sie doch da oder dort eine Frage geweckt: ist Er mir wirklich noch etwas? Oder könnte ich ruhig meine Straße ziehen, wenn Er und weil Er mir nichts ist? Ist Er mir wirklich etwas, nach dem ich verlange von einer Morgenwache bis zur andern? Oder ist Er mir nur ein Begriff, der mich durch Jahre gequält hat? Ein hartknochiger Katechismusunterricht hat mir diesen Begriff eingequält und dann bin ich immer wieder an ihn herangezwängt worden. Ist dieses Etwas so dein Herz ganz erfüllend, wie es am Eingang des großen Katechismus heißt: Gott, Herz und Glaube, die gehören zusammen. Gott, Herz und Glaube! Ist es so bei dir, daß Er dir das Eine geworden ist, für das du lebst, weil du von ihm lebst, an das du denkst, zitternd, manchmal zagend, aber im tiefsten Grunde doch mit der fröhlichen Sicherheit: Er kennt die Seinen. Siehe, das Eine nimm mit in deine Arbeit. Wie klein ist die Welt mit Gott in ihren Ängsten; wie groß ist die Welt mit Gott in ihren Gaben! Wie klein ist die Welt mit all ihren Rechten; wie groß ist die Welt mit all ihren Pflichten!

 Wie wird mir der kleinste Dienst so wichtig: Ich bin der Herr, dein Gott! Und wie wird mir das größte Lob der Menschen so kleinlich: Ich bin der Herr, dein Gott. Wie| werde ich immer wieder auf Höhen geführt, da die Nebel und Schwaden des Tages weit zu meinen Füßen langsam zu Sumpf und See niedergehen, während ich Leben atme und Freiheit empfinde!

 Darum beten wir aus der ganzen Innerlichkeit der Seele:

 Nach Dir, Herr, verlanget mich.
 Mein Gott, ich hoffe stets auf Dich!
 Zu mir Dich neig’, zu mir Dich wend’.
 Aus Zion Deine Hilf’ mir send’!
 Die Sonnenblum’ sucht ihre Sonn’,
 So such’ ich Dich, mein’s Herzens Wonn’.
 Und dies nur ist noch mein Begehr,
 Daß ich Dir immer näher wär’!

In Gott versinken, aber nicht in Gott vergehen.
Das schenke Er euch und mir aus Gnaden!

Amen.





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