Textdaten
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Autor: B. S.
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Titel: Die türkische Vendée
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, 45, S. 730–732, 743–744
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[730]
Die türkische Vendée.
I.
Der Krieg und die „Albanische Liga“. – Landung in Antivari. – Volkszustände in Skutari. – Volkstrachten. – Die albanische Frau.

Wer sich dem Glauben hingegeben, daß die zum Theil sehr guten Absichten des Berliner Friedenscongresses den Orient wirklich beruhigen werden, der hat in den letzten Monaten manche bittere Enttäuschung zu erfahren gehabt. Die einerseits von schlimmster Barbarenwirthschaft, anderseits von einem bunten Gemisch feindlich sich gegenüberstehender Racen und Religionen erzeugten Wirren und Krankheitszustände des dortigen Völkerchaos liegen zu tief, als daß sie durch äußerliche Mittel und diplomatische Schachzüge beseitigt oder auch nur beschwichtigt werden könnten. Kaum waren die Friedensverträge zwischen den Mächten ausgewechselt, so loderte bereits hier und dort mit oder ohne Aufstachelung von Constantinopel aus die Flammen bewaffneter Empörungen auf, und der Widerwille gegen die decretirte Neuordnung der Dinge gab sich in furchtbaren Ausbrüchen der Leidenschaft und des entschlossensten, vor Blut, Brand und grimmigem Mord nicht zurückschreckenden Widerstandes kund. Der bei der schleunigen Ausführung der Berliner Bestimmungen in Bosnien sich erhebende Widerstand hat in mörderischen Kämpfen von der österreichischen Waffengewalt niedergeworfen werden müssen, und es scheint dies in der Hauptsache vorläufig gelungen zu sein. In demselben Augenblicke aber wird auch schon unsere Aufmerksamkeit auf einen anderen Feuerpunkt gerichtet, auf Albanien, wo wir, dem Friedenswerke gegenüber, einen ganzen Volksstamm bis an die Zähne gerüstet sehen, einen Volksstamm, der unter den Elementen des bisherigen türkischen Reiches bei uns nur wenig bekannt ist, aber jedenfalls im weiteren Verlaufe noch von sich reden machen wird.

[731] Die Horden der „Albanischen Liga“ führen den von den Großmächten beendigten Krieg auf eigene Faust weiter, zunächst um die Montenegriner, die ihnen verhaßtesten aller Giaurs, mit blutigen Köpfen in ihre steinige Heimath heimzusenden. Plötzlich sind die seit Jahrhunderten in beständigen Fehden unter einander sich aufreibenden Stämme der Skipetaren wunderbar einig geworden. Der Toske drückt dem Gegen, seinem früheren Todfeinde, die nervige Faust, der mohammedanische Ultra umarmt den römisch-katholischen Miriditen, und der würdige Pascha von Skodra betrachtet diesmal den Bund der feindlichen Brüder, deren grimmige Feindschaft die Türken sonst immer geschürt und ausgenützt hatten, mit wohlgefälligem, halb ironischem Lächeln, nennt sie „Retter des Vaterlands“ und verspricht ihnen glänzende Belohnungen, während man doch erwartet hatte, daß ein so empörender Vorgang, wie die Ermordung Mehemed Ali’s durch die albanische Wuthgier, den ganzen Zorn der Pforte erregen und ihr die Pflicht nahe legen werde, Vergeltung zu üben für diese schnöde Abschlachtung eines ihrer verdientesten und gebildetsten Würdenträger. In der That ist Albanien jetzt die Vendée der hohen Pforte und zum Central-Waffenplatz für die Insurrection im westlichen Theile der Balkanhalbinsel geworden. Deshalb ist es wohl an der Zeit, unseren Lesern ein Bild vom Leben der Albanesen ihrer Heimath, Geschichte, ihrer Sitten und Gebräuche und ihres Parteiwesens vorzuführen.

Nichts läßt sich mit der eigenartigen Schönheit der albanesischen Küstenlandschaft vergleichen, welche man auf einer Fahrt auf der Adria voll Bewunderung an sich vorüberziehen läßt. Diese Höhenreihen mit ihren dunkelgrauen Riesenterrassen erscheinen wie von unzähligen Kuppeln, Thurmspitzen und anderen architektonischen Zierstücken überbaut, welche im Abendsonnenschein zauberhaft funkeln und mit hellleuchtendem Schimmer übergossen sind. Die Contouren der niederen Ketten heben sich aus dem Lichtgrunde der dahinter emporragenden Schneegipfel haarscharf ab. Schwelgend in solchem Anblick wähnt man sich in ein Märchenland versetzt und glaubt das Lied des Meermädchens aus Weber’s „Oberon“ von ferne singen zu hören. Leider ist vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt, in diesem Falle eigenlich ein Sprung. Nach den erhebenden Gefühlen romantischer Naturschwelgerei fallen wir aus allen Himmeln – bei der Landung am sumpfigen Strande. Da lungern die Lastträger umher und bei der Ankunft eines Schiffes drängen sie sich heran, um die Ankommenden auf ihren Schultern durch den ersten türkischen Sumpf an’s Land zu schleppen.

Auf einmal sieht man rings umher nur Schmutz und asiatische Wildniß. Das Traumbild ist zerronnen, und die im übelsten Sinne nackte Wirklichkeit tritt hervor. Von der höchst primitiven Landungsstelle bei der in einer Bergschlucht versteckten Stadt Antivari nach der Hauptstadt Skutari zu gelangen, gehört zu den geduldmordenden, mühseligen und halsbrecherischen Aufgaben und kann nur Leuten, die schon in den Hochgebirgen Tibets oder in Turkestan reisten, einigermaßen erträglich erscheinen. Man ist gezwungen sich einer oft nicht einmal des Weges kundigen Reiterkarawane anzuvertrauen, die aus einigen Führern und anderen wilden Gestalten besteht, denen der Grimm gegen die Giaurs aus den verkniffenen Augen blitzt. In solcher Gesellschaft muß man besten Falls zehn Stunden bei Gefahr des Lebens durch sumpfige Niederungen, über Gießbäche, an Felsabhängen entlang, aus durchweichten Fuhrten der Bojana reiten. Allen Respect aber vor der Sicherheit, Geduld und Ausdauer dieser an türkische Wirtschaft gewöhnten Rosse, die über glatte Felsblöcke hinweg balanciren, sich durch Gerölle durchstrampeln, die Ritze der elenden Fuhrten meiden und selten straucheln, aber nie davor gesichert sind, ihr tapferes Leben in einer Kothlache erstickend zu beenden. Wehe jedoch dem Unglücklichen, der durch Regen genöthigt wird, in einer elenden Gebirgsmühle sein müdes Haupt niederzulegen, ehe er die Stadt Skutari (Skodra) erreicht! Von der äußersten Dürftigkeit einer solchen Wohnung vermag sich ein civilisirter Mensch kaum eine Vorstellung zu machen, noch weniger aber von dem abscheulichen Geruch, in welchem diese Barbaren Albaniens, die sich von ihren altpelasgischen Ururahnen höchstens durch den Anzug unterscheiden, Tag für Tag zu leben und zu athmen vermögen.

Die Stadt Skutari liegt größtenteils in der von der Bojana, dem Abfluß des Skutarisees, durchflossenen Ebene und macht keinen imposanten Eindruck. Es fehlt hier jegliches Malerische. Im Spätsommer, Herbst und Winter stoßen die einförmigen, ganz vereinzelt stehenden Häuser, welche Schafställen gleichen, durch ihre Leblosigkeit und Unregelmäßigkeit ab, und im Frühjahr sieht man sie vor lauter Bäumen nicht. Das Einzige, was noch den Beschauer fesselt, ist der Fluß, die geschlängelte Bojana. Aber gerade diese glitzernde Wasserschlange bringt viel Unglück mit sich, denn durch häufige Ueberschwemmungen wird oft der größte Theil der Stadt unzugänglich und durch die späteren Miasmen die Luft in der heißen Zeit ganz unerträglich gemacht. Die elenden Brücken sind verwitterte Holzgestelle, die den Uebergang als tollkühnes Unternehmen erscheinen lassen. Nahe der Hauptbrücke erblickt man den graßen Bazar, einen der besuchtesten der Westtürkei.

Höchst unpraktisch hat man gerade diesen Versammlungsort dahin verlegt, wo das Wasser am schnellsten eindringen und zerstören kann. Manche Kaufläden stehen beständig unter Wasser, aber Niemand thut etwas, um eine Aenderung zu schaffen. Sehr lästig machen sich auch in Skutari, wie in den meisten größeren Türkenstädten, jene herrenlosen Hunde, welche massenhaft zwischen den Kaufläden umherlaufen, an Fleischerbuden das Blut von herabhangenden Hammeln lecken und nach Aas umherschnüffeln. Diese Bestien werden mit unbegreiflicher Humanität behandelt, dagegen muß man nur allzu oft Scenen scheußlicher Rohheit und Bestialität gegen Menschen sehen.

Unvergeßlich bleibt mir ein widriges Straßenbild. Einem armen Roßknecht, welcher Pferde zur Schwemme in die Bojana trieb, wurden dieselben von einigen ziemlich vornehm gekleideten Türken geraubt. Sie schlugen den Knecht blutig und warfen ihn in den Fluß, aus welchem er sich schwimmend rettete. Solche Scenen offenbarster Gewalttat erregen bei den Zuschauern keinerlei Aufsehen oder Entrüstung, sondern fast nur spöttisches Gelächter. Wer diese albanischen Türken kennt, findet es natürlich, daß die fanatischen Mörder Mehemed Ali’s diesen zum Opfer ihrer Blutgier erkoren, denn sie haßten in ihm nicht nur den Giaur, sondern auch die feine Bildung und die Gerechtigkeitsliebe des Europäers, und, was wohl die Hauptsache war, ihre Gier galt auch den kostbaren Waffen und schönen Gewändern des unglücklichen Muschirs. Nichts kann die Habgier eines Albanesen heftiger anstacheln, als der Anblick kostbarer Waffen eines Vornehmen.

Das Aeußere der Albanesen hat viel Bestechendes, sogar Imponirendes, namentlich die theatralisch stolze Haltung dieser Gebirgssöhne. Manche dieser buntgeschmückten Gestalten erinnert an den gravitätisch einherschreitenden Zigeunerhäuptling in der „Preciosa“. Die Gesichter haben meist einen edlen Schnitt; die Schädelform ist länglich, aber an der Stirn auffällig breit, die Nase fast römisch gerade und lang, die Brust meist sehr hoch gewölbt - Alles kündet strotzende Kraft und Gesundheit. Es ist ein kerniger und wirklich schöner Menschenschlag, von der Natur wie wenige andere Stämme bevorzugt. Durch die naturgemäße Lebens- und Nahrungsweise bleiben sie vor vielen Krankheiten geschützt. Mager und muskulös, langhalsig, mit stolz emporgerecktem Kopfe, aus dessen ziemlich kleinen und von mäßigen Brauen überwölbten Augen grelle Blitze hervorleuchten, mit nicht sehr üppigem Schnurrbart, aber langen Haarsträhnen im Nacken, mit wohlgestalteten, kräftigen Körperformen ausgestattet, stellt der Albanese äußerlich so recht das Bild eines Athleten und Helden aus der Zeit des alten Thraciens dar. Die meisten tragen das Haupthaar über der Stirn ringsum kurz, das heißt glatt abrasirt bis auf ein Schädelcentrum, dessen Haarstränge in gedrehten Zöpfen unter dem Fez versteckt werden. Viele aber lassen auch das Haar lang über das Genick herabfallen, rasiren jedoch ebenfalls den größten Theil des Vorderkopfes. Auffallend ist das helle Haar vieler Südalbanesen, ebenso ihre lichte Hautfarbe und ihr bläuliches Auge, Kennzeichen, welche vielleicht auf eine Vermischung mit Slaven, Gothen, oder noch früher mit Kelten hindeuten mögen.

Die Kleidung macht den Eindruck einer eigenartigen Ursprünglichkeit und ist im Allgemeinen recht gefällig. Sie besteht hauptsächlich aus der besonders den epirotischen Albanesen eigenthümlichen Fustanella, einem weißwollenen, vielfaltigen, bis zu den Knieen herabfallenden Rocke, unter welchen die Nordalbanesen eine blaue Hose aus Baumwolle zu tragen pflegen. Ueber die Fustanella wird ein brauner, weiter Mantel aus Ziegenhaaren und Schafwolle, den man Kapota nennt, geworfen. Die kleidsame [732] Flokate, eine Art Ueberjacke aus Wollenzeug ohne Aermel, welche die Brust unbedeckt läßt, ist hauptsächlich die Tracht des toskischen Stammes der Albanesen. Dieselbe wird eng anschließend getragen, und mit derselben hängt unten ein weites vielfaltiges Stück zusammen, das bis zu den Unterschenkeln herabreicht; das Ganze hält ein rother breiter Gurt zusammen. In Südalbanien trägt man auch reich mit Stickereien, Knöpfen und Rosetten verzierte Gamaschen.

Die Frauen der Albanesen zeigen in ihrer Tracht viel Aehnlichkeit mit den freilich viel fröhlicheren und anmuthigeren slavischen (montenegrinischen und dalmatinischen) Schönheiten. Meist ist das Kleid von geringen Stoffen und einem Hemde ähnlich, darüber tragen sie aber eine bunte, mit Zierrath überhäufte kurze Jacke und über dem Busen ein Tuch; sie umhüllen sich mit einem langen, ärmellosen Ueberkleide. Auch die Frauen setzen mit Vorliebe einen Fez auf, gewöhnlich aber bedecken sie den Kopf mit einem Tuche, unter welchem das geflochtene und mit kleineren Goldmünzen geschmückte Haar versteckt bleibt. Eigentlichen Schönheiten begegnet man höchst selten, auch sorgt die Barbarei der Männer schon dafür, daß sie niemals ihr Haupt froh und frei erheben, sondern fast stets unter der Last eines bejammernswerten Daseins verkommen. Gleich den niedrigsten Mägden geplagt und verachtet, finden sie nirgends Erholung, fröhliche Feste und gesellige Vergnügungen, wie die lustigen und koketten Slavinnen oder Griechinnen, denen die Lust des Kolos oder anderer Tänze lacht. Alle Feld-, Haus- und sonstige Arbeit ist ihnen aufgebürdet, und dazu sind sie allezeit dem gröbsten Undank und rohester Begegnung von Seiten der Männer ausgesetzt. Ueberhaupt stellen sich die Albanesen hinsichtlich der Mißachtung weiblicher Anmuth, Würde, Tugend und Ehre tief unter andere Barbarenvölker.

Bis zur Geburt des ersten Kindes darf eine Hausfrau nicht einmal den Mann in Gegenwart von Gästen mit seinem Namen anreden. Wie lästig für eine so arme erniedrigte Frau der Besuch von Freunden und Verwandten sein muß, kann man sich vorstellen, wenn man sie Allen nach der Reihe die höchst unappetitlichen Hände küssen sieht, wie es ihres Amtes ist. Da darf um aller Heiligen willen Keiner übersehen werden! Nur in Südalbanien hat sich noch ein winziger Rest ritterlicher Galanterie erhalten, der freilich sonderbar genug mit der empörenden Behandlung der Hausfrauen contrastirt. Dort widmet nämlich der Hausherr seinen Schwägerinnen seine durch die Landessitte geheiligte Huldigung, indem er dieselben wiederholt und nach Kräften reichlich beschenkt oder überhaupt durch Aufmerksamkeit auszeichnet.

Die höchst unwürdige Stellung der albanesischen Frauen entspringt offenbar aus dem uncivilisirten, halb türkischen Herkommen, die Frauen ohne jede Mitgift zu kaufen. Da die jungen Frauen keinerlei Besitz, nicht einmal ihre eigenen Kleider in die Ehe bringen, so werden sie eben nur als Arbeitssclavinnen und nothwendige Uebel geschätzt. Meist schon im dreizehnten Jahre werden diese Opfer der Tyrannei den gänzlich gemüthlosen Eltern abgekauft, um an der Seite eines mehr als rauhen Mannes ihre Jugend zu vertrauern und vor seiner beim geringsten Anlaß hervorbrechenden Grausamkeit zu zittern.

[743]
II.
Der Mädchenraub in Nordalbanien und die Blutrache. – Die Blutsbrüderschaft. – Kriegerischer Sinn des Albanesen. – Aberglaube, Sprache und Confession. – Die Kopfzahl der Albanesen. – Die Miriditen und ihre Stellung in der türkischen Arme. – Der Prink von Oros. – Geschichtliches.

Fast einen Anflug von Romantik hat gegenüber der unwürdigen Behandlung der Frauen der in den Gebirgen Nordalbanies zuweilen vorkommende Mädchenraub. Die Lust am Raube überhaupt, weniger die am Mädchen persönlich, verlockt manchmal einen Jüngling der Miriditen oder aus einem anderen christlichen Stamme, im Gehege der Mohammedaner, wo er ein leidlich hübsches junges Mädchen entdeckte, nebst seinen Freunden einzubrechen und das Kind zu entführen. Solcher Raub gewährt den Beraubten das Recht der Rache, welche jedoch meistens mit wenigen Opfern abgethan ist. Auch sind in diesem Punkte die Mohammedaner oft viel christlicher oder milder, als die albanesischen Christen, welche mit bornirter Wildheit das Recht der Blutrache ausüben und oft nicht eher ruhen, bis das feindliche Geschlecht nebst Kindern und Säuglingen vertilgt ist.

Unter diesen Blutchristen fordert die Barbarei der Blutrache, wie von zuverlässigen Autoren berechnet wurde, durchschnittlich 3000 Menschen im Jahre, woraus sich die merkliche Abnahme der albanesischen Bevölkerung auch ohne die Decimirung durch Kriege und Aufstände erklärt. Was Stammesfehden, Seuchen und Pestilenz verschonen, das fällt den menschlichen Tigern der Blutrache zum Opfer – nutzlos, hoffnungslos und unabänderlich! Ist ein Mord geschehen, so flieht der Mörder schleunigst aus der Heimath, und ihm folgen in der Regel seine nächsten Verwandten. Verzeihung ist von den Verletzten das heißt allen Verwandten des Gemordeten, schwer zu erlangen und erfordert die umständlichsten Vorbereitungen oder heimlichen Unterhandlungen, welche in solchem Falle sich oft jahrelang fortspinnen. Im günstigsten Falle treibt die Habsucht der verletzten Partei schneller zu einer Ausgleichung. Dann wird gewöhnlich ein mit theatralischen Schaustellungen verknüpfter Auszug der Büßenden zum Hause der Feinde in Scene gesetzt. An der Spitze des Zuges schreitet ein Geistlicher im Ornate, hinter ihm werden einige Säuglinge in Wiegen getragen; dann tritt die Hauptfigur des Zuges hervor, nämlich der Mörder; er trägt einen Strick um den Hals, an welchen zugleich ein Yatagan (kurzes Schwert) gehängt ist; die Augen sind ihm verbunden, die Arme gefesselt. Seine ruhigen Mienen müssen tragischen Ausdruck haben. Der Priester entwickelt nach der Ankunft des Zuges, dem alle Verwandten des Büßenden folgen, seine Beredsamkeit, mahnt mit Hindeutung auf die Säuglinge in der Wiege an die Christenpflicht des Vergebens und wird unter lautloser Stille angehört. Man ist an eine längere Dauer solcher Ceremonien gewöhnt, und das halsstarrige Sträuben der um Verzeihung Gebetenen läßt ohnedies einen prosaischen schnellen Abschluß dieser Hauptaction nicht eintreten.

Endlich giebt das Haupt der verletzten Partei das Signal der nahenden Versöhnung, indem er eine der Wiegen erfaßt, dreimal umdreht und dann niedersetzt. Gleiches thut sein Anhang mit den übrigen Wiegen. Das Unglaublichste, was auf diesen traditionellen Act folgt, ist eine allgemeine Umarmung des Reuigen, welcher endlich losgebunden wird. Hierauf wird die Buße festgesetzt, und zum einstweiligen Pfande legen die Sippen des Begnadigten verschiedene Kostbarkeiten namentlich Waffen nieder. Das so tragisch begonnene Ceremonielstück endigt mit einer Schmauskomödie. Nicht allzu selten schließen bei dem Versöhnungsschmause gerade die beiden früheren Todfeinde Freundschaft, das heißt Blutsbruderschaft, und zwar mit der bekannten Ceremonie, daß Jeder das mit Branntwein gemischte Blut des Andern trinkt. Solche Brüderschaft gilt für besonders heilig und unverletzlich. Man schwört sich dadurch Treue und Gemeinschaft bis zum Tode. Selbst der leibliche Bruder wird oft nicht so hochgehalten, wie ein Blutsbruder. Blutsbrüder theilen ihr Gut, ihre Waffen, ihre Kleider, ihr Lager und halten im Kampfe gegen Landes- und Stammesfeinde fest zusammen, bis der Tod sie trennt.

Alles Sinnen und Trachten der männlichen Hälfte dieses Volks ist eben auf Kampf und Krieg gerichtet, und alle Lebensgewohnheiten gründen sich auf das ihnen fast angeborene kriegerische Wesen. Der einzige und höchste Stolz des Albanesen ist, als Kriegsheld (Palikar) gerühmt zu werden. Dagegen ist er in Friedenszeiten ein höchst unnützes Mitglied der Gesellschaft; sehr träge und faul, ohne jede Neigung für Gewerbethätigkeit, arbeitet er eigentlich nur dann, wenn die „schlechten Zeiten“ keinen Kampf, Raub oder sonstige lustigere Dinge in Aussicht stellen oder die äußerste Noth dazu treibt. Unter Tausenden sind nur Wenige, welche als Handwerker (Bäcker, Fleischer) auswärts ihr Unterkommen suchen. Alle Uebrigen fristen in den Bergen ihr Dasein mit Viehzucht und etwas Ackerbau, welcher freilich auf die primitivste Weise betrieben wird, vielleicht noch gerade so, wie zu Herodot’s oder Homer’s Zeiten. Ein gänzlicher Mangel an Schulbildung schließt diese Neu-Pelasger von der Cultur des Abendlandes weit mehr als die slavischen Halbasiaten ab. Auch das Meer bleibt ihnen verschlossen, obwohl sie es dicht vor sich sehen, und es ist keine Spur von der Lust an Seeabenteuern und nicht einmal an Seeräuberei, welche ihre illyrischen Vorfahren an allen Küsten des Mittelmeeres gefürchtet machte, auf diese ihnen so ungleichen Nachkommen übergegangen.

Wie alle noch nicht von der Cultur berührten Völker huldigen die Albanesen dem Aberglauben in allen denkbaren Gestalten des Unsinnigen; sie glauben an den „bösen Blick“, an „umgehende Verstorbene“, an „Dämonen“, an „Unglückstage“ und auch an „geschwänzte Menschen“. Der Aberglaube bezüglich der „Umgehenden“ stammt muthmaßlich von dem hochsensationellen Vampyrismus der slavischen Nachbarn. Jedenfalls liegt solchem Auferstehungswahne die Furcht vor der Rache erschlagener Feinde zu Grunde, wie ja überall unter Wilden Furcht und Gewissensangst Dämonen erzeugen, aus denen sich nach und nach Götzenculte entwickeln.

Nach dem Obigen sollte man auf eine lebhafte Phantasie oder gar poetische Begabung der albanesischen Bergbewohner schließen, aber dagegen spricht die Trockenheit und Dürftigkeit ihrer überlieferten Volkslieder und sonstiger poetischer Ueberreste, von denen höchstens die Klagelieder auf gefallene Helden über dem Niveau des Gewöhnlichen stehen, während die sogenannten Liebeslieder, das heißt Volks- oder Rundgesänge, nichts von erotischer Gluth, schwärmerischem Idealismus oder dergleichen enthalten und sogar durch allerlei Spott oder Hohn auf die Frauen verunziert sind. Ihr Stil entspricht etwa dem unserer Schnadahüpfl. – Die Sprache der Albanesen hat sich aus altillyrischen Grundformen und Beimischungen aus dem Alt- und Neugriechischen, Lateinischen, Gothischen, Slavischen und Türkischen zusammengefügt. Unter den christlichen Nordalbanesen schreiben die Wenigen, welche überhaupt schreiben lernten, theils mit lateinischen, theils mit griechischen Buchstaben, lateinisch die Römisch-Katholischen und griechisch die Griechisch-Orthodoxen. Die beiden in vieler Beziehung sehr verschiedene Stämme der toskischen und der gegischen Albanesen, von denen die ersteren Süd- und Mittelalbanien, die letzteren Nord- oder Oberalbanien bewohnen, sind ganz besonders auch durch die Sprache so sehr von einander unterschieden, daß sie sich gegenseitig kaum verstehen. Am meisten aber trennt der Glaube, der die Bewohner Albaniens in Mohammedaner (Mehrzahl in Süd- und Miltelalbanien), Griechisch-Orthodoxe und Römisch-Katholische (Mehrzahl in Nordalbanien) scheidet. Das Land als geographischer Begriff umfaßt das Vilajet Skutari [744] (Skodra), Theile des Vilajets Janina, Saloniki und Kossowo (die Sandschakate Prisrend und Prischtina) mit einem Flächencomplex, der von 50,000 bis zu 91,400 Quadrat-Kilometer angegeben wird, und nach ebenfalls nur annähernder Schätzung mit 11/4 bis 12/3 Millionen Bewohnern. Die Kopfzahl der Albanesen überhaupt ist schwerer zu ermitteln. Man hat auf die Türkei 13/5 Millionen, auf Unteritalien 180,000, auf Griechenland 200,000 gerechnet, also zusammen 1,980,000 Köpfe, aber das mag wohl um einige Hunderttausende zu hoch gegriffen sein.

Die zahlreichsten, eigenartigsten, tapfersten und interessantesten der Albanesenstämme sind jedenfalls die Miriditen, welche eine Art Bund von Stämmen Nordalbaniens bilden. Miridit oder Mirdit heißt soviel wie „Tapferer“, was nach dem Sinne von wilden, kriegerischen Völkern immer auch den Begriff der Rechtschaffenheit in sich faßt. In einem Kriege vermögen sie unter Anführung eines Bairaktar (Fahnenträger) 9 bis 10,000 Bewaffnete zu stellen. Da sie weder Tribut noch den Charadsch (Kopfsteuer) zu zahlen haben, außerdem mit den anderen Skipetarenstämmen allein unter allen Rajahs der Türkei das Privilegium besitzen, in die türkische Armee einzutreten, so bewahren sie sich stets ein großes Selbstbewußtsein und die denkbar freieste Stellung gegenüber der Regierung, welcher an der Heerfolge dieser Freiwillig-Gouvernementalen jetzt mehr als jemals gelegen sein muß. An ihrem Oberhaupte, dem Prink oder Prenk, welcher in dem Städtchen Oros residirt, hängen sie mit unverbrüchlicher Treue. Er gilt übrigens auch als ein Nachkomme des ruhmvollen Nationalhelden Skanderbeg (Bey Alexander), ist ihr oberster Richter, ihr Feldhauptmann und übt eine nur durch die Kanton-Aeltesten und das geistliche Oberhaupt, den Erzbischof von Skutari, eingeschränkte Gewalt aus. Von allen Römisch-Katholischen der Balkanhalbinsel sind sie die eifrigsten und bigottesten. Die aus der Propaganda in Rom nach Albanien geschickten Geistlichen sprechen die Landessprache, versuchen die albanesischen Barbaren auf jede Weise zu civilisiren, belehren sie in Handwerken, im Oliven-, Obst- und Weinbau und bewähren sich vielfach als kluge Beherrscher wilder Volksleidenschaften, jedoch will es ihnen nicht gelingen, aus wilden Jägern, Räubern, Wegelagerern und Kriegern friedliche, arbeitsame Menschen zu machen. Unter anderen Völkern können diese römischen Priester durch ihre unbedingte Herrschaft über die Weiber freilich mehr ausrichten, als hier, wo das Weib zur schmachvollsten Niedrigkeit und Einflußlosigkeit herabgedrückt ist. Die Miriditen zeichnen sich durch Freiheitsliebe und Tapferkeit aus; auch wird von ihnen große Wahrheitsliebe und Offenheit gegen Fremde gerühmt, aber desto barbarischer und unrühmlicher ist ihre Hinterlist, Tücke und Grausamkeit gegen Feinde, die sich im Kampfe zu thierischer Blutgier steigert. Ihr Stammes- und Glaubenshaß richtet sich nach allen Seiten, weniger noch gegen die mohammedanischen Unterdrücker des Heimathlandes, die ihre besonderen freiheitlichen Privilegien nicht anzutasten wagen, als gegen die Griechisch-Katholischen in und außer Albanien, am meisten gegen die nördlichen Todfeinde, die Montenegriner, und auch gegen die Griechen.

Die Geschichte Albaniens und seiner Bewohner reicht in die dunkel-graue Vorzeit der Thrako-Illyrier, oder vielmehr noch weiter, bis zu den nördlichen Anwohnern der alten Hellenen, den Pelasgern, zurück. Nach alten griechischen Autoren hieß Südalbanien lange Zeit Epeiros (das heißt Festland), im Gegensatz zum gegenüberliegenden Kerkyra, jetzt Korfu (das heißt Inselland). Der spätere Name Albanien bedeutet Kreideland oder weißes Hochgebirgsland (so ähnlich wie in England und Schottland „Albion“, „Albain“ oder „Albanach“). Von der Zeit an, wo es (um 168 bis 176 vor Christo) durch die Römer erobert und römische Provinz wurde, bis 1430 wo es für alle weitere Zukunft unter die Herrschaft der zur Hülfe herbeigerufenen Türken kam, hat das Land viele stürmische Wechsel des Regiments und eine fast endlose Folge von wüsten Metzeleien und mörderischen Parteikämpfen erlebt. Während der langen Türkenherrschaft, welche Albanien zur Barbarenöde machte, haben nur zwei Perioden allgemeines historisches Interesse: die Freiheitskriege unter der ruhmreichen Führung des Miriditenhelden Georg Kastriota (geboren 1404, gestorben 1467) oder Skanderbeg (Fürst Alexander) und die blutige Vernichtung des albanischen Adels unter der grausamen Tyrannei des Paschas von Janina, Ali von Tepelen, des letzten epirotischen Gewaltherrschers am Ende des achtzehnten und zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Skanderbeg war erst türkischer Vasall, benutzte aber den glänzenden Sieg Hunyadi’s, des Ungarn-Feldherrn, bei Nisch (1443), der die Türken schwächte und demüthigte, zum Abfall. In dreißig Tagen trieb er die Türken aus dem Lande, besiegte sie wiederholt und wurde beim Regierungsantritt Mohammed des Zweiten als rechtmäßiger Fürst Nordalbaniens anerkannt. Auch später im Bunde mit den Venetianern hat er seinen Namen durch glänzende Siege über die so gefürchteten Türken mit unvergänglichem Ruhme bedeckt und wurde von allen späteren Dichtern des Albanesenvolkes als Heros gefeiert und besungen. Je weniger seine Nachkommen zu Ruhm und Glanz, zu Ehre und Macht gelangten desto überschwenglicher feierte man den einzigen großen Nationalhelden des tapfern Albanesenstammes. Wie sollte auch ein Freiheitsheld, ein zweiter Skanderbeg unter den Albanesen erstehen, da sie sich in der Gunst ihrer türkischen Herren sonnen und stolz sind auf ihre Söldingsrolle. Völlig einig mit den unverbesserlichen Vernichtern der Cultur des Südostens, werden sie mit ihnen in Reihe und Glied fechten und untergehen, weil sie es in ihrer halsstarrigen Verblendung nicht besser wollen.

Bis dahin aber werden sich die Sümpfe ihrer Thäler und die Schneegefilde ihrer Berge noch häufig roth färben von grausam vergossenem Blute, und es wird unser deutscher Landsmann Mehemed Ali nicht der letzte Friedensbote gewesen sein, welcher der verbrecherischen Wildheit dieser Halbmenschen zum Opfer gefallen ist.

B. S.