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Titel: Die neugriechische Poesie
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aus: Das Ausland, Nr. 141; 143-145; 147 S. 561-563; 569-571; 573-574: 578-580; 586-588
Herausgeber: Eberhard L. Schuhkrafft
Auflage:
Entstehungsdatum: 1828
Erscheinungsdatum: 1828
Verlag: Cotta
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Erscheinungsort: München
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[561]

Die neugriechische Poesie.

[1]

Was in dem schönen Epigramme die Weinrebe zu dem gefräßigen Thiere sagt, von dem ihre edlen Sprößlinge benagt werden, das hat Griechenland seit den 3000 Jahren seiner mit Ruhm und Herrlichkeit eben so, wie mit Jammer und Elend beladenen Geschichte noch allen seinen Peinigern und Drängern in Recht und Wahrheit zugerufen:

Nagst du mich auch bis zur Wurzel, doch werd’ ich wieder entsprossen,
Wein zu spenden, o Bock, wenn du als Opfer erliegst.


Der ächte, erst seit wenig Jahren den übrigen Völkern bekannt gewordene, Gesang des sich selbst überlassenen Volks, der ohne fremden Antrieb aus ihm hervorhallt, und was in ihm sich regt, ohne andere Zuthat in voller Frische und Lauterkeit ausspricht, dieser ist es, den wir in das Auge fassen, um in ihm das treue Bild des Volkes und seines noch jetzo originalen und lichten Geistes zu entdecken. Obwohl vielgestaltig und auf dem Festland wie auf den Inseln vorhanden, blieb er doch wie das ganze innere Leben des neuen Griechenlands den Fremdlingen bis zum Beginn der großen Bewegung verborgen, und den Griechen selbst, welche der Bildung wegen mit ihnen in Verkehr traten, schien, wie auch bei uns vor Lessing und Herder, was im Munde des Volkes lebte, keiner Beachtung werth: sie werden auch jetzt noch bei der Nachfrage nach nationalen Gesängen meist eher die Lyrika eines Kalbos, die Anakreontika eines Christopulos nennen, als jene Tragudia der Pallikaren, der Schiffer und Hirten, oder die lieblichen Lieder, welche bei Hochzeit und Reigentanz von den Jungfrauen gesungen werden. Am ersten wurden die Engländer, welche zur Zeit, wo ihnen Europa geschlossen war, sich desto häufiger nach Griechenland wendeten, darauf mehr aufmerksam, und Leake liefert in seinen Untersuchungen über Griechenland schätzbare Nachrichten, in denen jedoch die Poesie des Volkes und der Unterrichteten nicht gehörig geschieden sind. Auch Lord Byron, wiewohl er fast nur historische Lieder kannte, zeigt im Anhange zu Childe Harold sich jenen geneigt. Eine vollständige Sammlung wurde zuerst in Deutschland vor etwa zwanzig Jahren durch den Baron Werner von Haxthausen unternommen, die noch jetzt nicht gedruckt ist. Göthe, dem Proben daraus in Uebersetzung zukamen, erklärte sie für die besten Volkslieder, die ihm bekannt wären; in keinen andern seyen die drei Arten der Poesie, das Erzählende, das Lyrische und Dramatische so schön verbunden. Hierauf hat die große Bewegung der letzten sieben Jahre, welche das Innere von Griechenland den europäischen Völkern aufschloß, auch diese Lieder mehr an das Licht gestellt. Eine und die erste beträchtliche Sammlung, mit welcher vor drei Jahren dem deutschen Mitarbeiter zuvorkam, ist seitdem durch andere schätzbare Nachträge vermehrt worden, [2] so daß für ein Urtheil über diese nun aufgeschlossene Gattung von Poesie die Urkunden in hinlänglicher Anzahl vorliegen.

Die Sprache dieser Gesänge, neu-griechisch oder romaisch genannt, ist nicht durch eine gewaltsame Katastrophe, sondern durch allmälige Wandelung des Redegebrauches aus der alten hervorgegangen. Wenn sie bis zum zwölften Jahrhunderte nicht geschrieben ward, so geschah es, weil die Atticisten dem alten Griechisch im Schriftgebrauch ein über sein Leben hinausreichendes künstliches Daseyn zu bewahren gewußt hatten, wie im Abendlande die Latinisten dem Latein, bis Bocaccio und Dante kamen, um dem Volk das Recht, seine Sprache statt der ausgestorbenen in Schriften zu gebrauchen, gegen die Vorurtheile der Gelehrten geltend zu machen. Es kommt demnach die Sprache der Neugriechen neben der alten nicht als eine neue zu betrachten, wie Italienisch neben Latein, sondern sie ist die Sprache ihrer Vorfahren mit ihren Formen und Fügungen, nur, wie das Volk, in sich verarmt, und im Gebrauch umgewandelt, wie es allen Sprachen, der alt-griechischen nicht am wenigsten, begegnet ist; doch zwischen den neuesten Liedern und den alt-attischen ist der Unterschied in sprachlicher Hinsicht nicht größer als zwischen diesen und den alt-epischen Gesängen, und wenn nicht wenige Formen neu geworden, so ist dagegen manches in den Schriftgebrauch eingetreten, was nach [562] sicherer Analogie auf das fernste Alter des Aeolischen und Dorischen zurückweist, so daß in dieser Hinsicht diese neuesten Erzeugnisse eines ewig jungen Geistes auf seltsame Weise mit seinen ältesten zusammenstehen.

Wie aber Sprache, so ist auch die rhythmische Form alt-überliefert, mit Veränderungen, die nicht in das Wesen gehen.

Allerdings ist die auch der neuesten Forschung noch unerklärliche Verbindung zwischen Rhythmus und Betonung bei den Alten im Neu-griechischen aufgehoben; über die Messung entscheidet, wie in den romanischen Sprachen, der Accent, und über das Metrum fast allein die Anzahl der Sylben; doch ist die strenge Messung der Sylben zum Behuf der Verse dem Alt-griechischen ursprünglich so wenig eigen gewesen, wie dem Alt-lateinischen, und noch die homerischen Formen sind voll von Widersprüchen gegen das späte Gesetz, das mit der größeren Feinheit der Tonkunst entstand und aufhörte. Wann der neue Gebrauch aufgekommen, ist mit Bestimmtheit nicht nachzuweisen. Auch des vortrefflichen Santenius erst vor drei Jahren durch Herrn von Lennep bekannt gewordene Untersuchungen hierüber zum Terentianus Maurus [3] bringen diesen Punct nicht zur Entscheidung. Vielleicht aus dem sechsten Jahrhunderte sind die allein nach der Sylbenzahl gemessenen Hexameter, welche Montfaucon in der Paläographie anführt. [4] Von jambischen sind die ältesten, welche Zeitangabe zulassen, dem fünfzehnsylbigen Tetrametron entsprechend, und gleich ihm mit dem Einschnitt nach der achten Sylbe, von Psaltes, um 1050 nach Chr., der eine Umschreibung des hohen Liedes in ihnen lieferte, oder, wie er es ausdrückt, in schlichteren und wie vom Wagen geworfenen Redeweisen

Ἐν ἀπλουστέραις λέξεσι καὶ κατημαξευμέναις.

Sie waren indeß schon zu seiner Zeit gemein, und unter dem Namen der politischen gangbar, oder auch δημοτικοὶ genannt, weil sie im Munde des Volkes und ihm geläufig waren. [5]

Aus den folgenden Jahrhunderten sind durch Nikitas Eugenianos, Manassis, durch Joannes Tzetzes und Andere in solchen demotischen Versen vom Maße der Hexameter, der jambischen Trimeter und Tetrameter ganze Werke geschrieben, doch hält Tzetzes für nöthig, sich in richtig gemessenen Jamben deshalb zu entschuldigen: [6]

Indeß warum wohl schriebe man in kunstreichem Maß,
Versfüße wahrend überall und Sylbenläng’,
und glättet’ alles nach Gebühr sorgfältig aus;
Gleich gilt ja doch Kunstreiches und Barbarisches.

Allerdings ist eine solche Auflösung früherer Satzungen bei diesen Spätlingen der griechischen Poesie zurückstoßend, weil das in alte und durch große Dichter geheiligte Formen Eingedrungene sich als Entartung und Barbarei darstellt, indeß dieser Widerspruch zwischen Maß des Verses und Form der Rede verschwand, als man den unnatürlichen Gebrauch ausgestorbener alter Redeweisen aufgab und die umgestalteten frei walten ließ. In dem Neu-griechischen ist als in einem frischen Organe dieses Vorwalten des Rhythmus über das alte Sylbenmaß mit den zahlreichen Abstoßungen und Verschmelzungen, welche die Beweglichkeit des biegsamsten Stoffes, der Sprache, indeß herbeigeführt hatte, so wenig auffallend, als die analogen Spracheigenheiten des gleich eigenthümlichen homerischen Gesanges.

Die nach Betonung und Umfang geordneten Rhythmen der neuen Lieder entfalten sich mit vielem Schwung und Wohllaut, dem nach Umständen das Anmuthige wie das Starke, ja selbst das Erhabene beiwohnt.

Eigen ist dieser Gattung der, zum Wenigsten theilweise, Gebrauch des Reimes, nicht als ob die alte Poesie ihn verschmäht hätte, im Gegentheil gebrauchen ihn beide Literaturen, wenn auch selten, als eine Form des ὁμοιο-τέλευτον, wodurch Gleichklang im Scherz oder Ernst bedingt ist. Wenn Strepsiades in den Wolken (v. 707) sein hochkomisches Leidwesen in gereimten Anapästen darlegt:

καὶ τὰς πλευρὰς δαρδάπτουσιν,
καὶ τὴν ψυχὴν ἐκπίνουσιν
καὶ ἱοὺς ὄρχεις ἐξἐλκουσιν,
καὶ μ’ ἀπολοῦσιν,
<(poem>
so wirkt die daraus hervordringende Energie, nicht ohne parodische Beziehung auf das tragische Pathos, so sicher, als das wahre Pathos bei Ennius im Munde der Andromache: <poem>
Haec omnia vidi inflammari,
Priamo vi vitam evitari,
Jovis aram sanguine turpari

und damit diese nicht ein den Alten selbst unerfreuliche Abart scheine, so bedenke man, daß Cicero, der dieses Bruchstück anführt [7] also darüber urtheilt: „Praeclarum carmen. Est enim et rebus et verbis et modis lugubre.“ Was aber vermieden ward, ist die Wiederholung, das Stehende dieser Form; die gleichmäßige Anordnung

[563] des Reimes, in der neuen Poesie bei seinem Gebrauch gewöhnlich, wird wie der stehende Gebrauch jeder Redefigur als Uebermaß und Fehler betrachtet.[8] Als einen stehenden Schmuck hat ihn die demotische Dichtkunst erst spät aufgenommen. Das älteste Werk im noch alten, wiewohl schon verdorbenen Griechisch mit durchgehenden Reimen ist des Gregorios Chymnos aus Kreta Paraphrase des alten Testamentes, von welcher Lambecius Proben mitgetheilt hat:[9]

Δίομαι τριςυπόστατε Κύριε καὶ πατέρα
τὴν χάριν σου μ’ ἀπόστειλε ἐτούτην τὴν ἥμέρα.

Früher noch als die griechische Sprache hatte sich die lateinische der ihr aus der Fremde gekommenen strengen Sylbenmessung entledigt und die Maße nach Accent und Sylbenzahl angenommen, dazu aber beinahe eben so früh den regelmäßigen Gebrauch des Reimes gethan, den sie, wie der Name zeigt, von den germanischen Völkern angenommen. Eingeführt in den kirchlichen Gebrauch, ward diese Form nicht selten durchströmt von der Gluth der Andacht und religiösen Begeisterung des Abendlandes, und nicht wenige jener als geordneten Gesänge sind von der Vortrefflichkeit des Stabat mater und des Dies irae, wie zum Theil des Petrus von Clugny Gesang auf die Geburt des Heilandes:

Auctor rerum creaturam
Miseratur periturum
     Affuit,
Atque dextram libertatis
Jam ab hoste captivatis
     Praebuit.
Coelum terrae fudit rorem,
Terra gignit creatorem,
Chorus cantat angelorum,
Cum sit infans rex eorum.

[10] In dem Neu-griechischen hat man die Reime seit dem sechzehnten Jahrhunderte zuerst in der Paraphrase der Batrachomyomachie von Demetrios Zeno aus Zakynthos, bei Martin Crusius in der Turcogräcia:

Πρὸ τοῦ ν’ ἀρχήσω δέομαι τὀν ὄψιστον τὸν Δία,
Νὰ μ’ ἀποστείλη βοηθὸν ’σταύτην τὴν ἰστορία.

Daß die Reime in dieser Form nicht bei den Griechen erfunden, sondern von den romanischen Völkern an sie gekommen, zeigt ihr später Gebrauch und der romanische Name selbst, den sie beibehalten; Gregorios Chymnos nennt sein Werk Ἑρμηνείαν ῥημάδα; reimen heißt ῥημαρίζειν. Wörter, die offenbar vom romanischen rima und rimare gebildet sind. [11] Doch ist in der neuen Dichtkunst der Griechen der Reim gar nicht als wesentlich anzusehen; viele der schönsten Lieder, die aus den Gebirgen des Festlandes fast ohne Ausnahme, haben ihn nicht; eigen ist er besonders den Liedern von den Inseln zur Darlegung sanfter Gefühle der Freude, der Liebe, der Sehnsucht, und trägt nicht wenig bei, die Anmuth dieser melodischen Gebilde zu erhöhen. [569] Die Verse selbst, deren der neue Gesang sich bedient, zeigen eine größere Mannigfaltigkeit und einen nähern Zusammenhang mit den alten Maßen der Griechen, als man gewöhnlich erwartet.

Die kürzeren Gattungen der jambischen und trochäischen Rhythmen, wie sie schon in ächten Bruchstücken des Anakreon, dann in der attischen Comödie angewandt erscheinen, sind ihnen geläufig.

Dem schönen anakreontischen Gesange εἰς Κόρην, einem der wenigen ächten, die des Dichters Namen tragen:[12]

Πῶλε Θρηκίη, τί δή με
Λοξὸν ὄμμασι βλέπουσα
Νηλέως φεύγεις, δοκεῖς δέ μ’
Ὂὐδὲν εἰδέναι σοφόνη;


Junge Thrakierin, warum doch
Gleich dem Füllen trotzig blickend
Fliehst du grausam mich, als wär ich
Nimmerdar von dir gekannt?

und den nach seinen Maßen gebildeten Stellen der alten Comödie [13] stehen mit ihren gereimten Versen nicht wenige der originalsten neuen Gesänge zur Seite, doch ohne, wie in der alten Poesie, nach bestimmten Systemen abgetheilt und dadurch in Strophen geschieden zu seyn. Derselbe Vers wird dann gemeiniglich durch das ganze Gedicht eingehalten. [14] Auch findet er sich um eine Sylbe kürzer, eben wie der Schluß der genannten anakreontischen Strophe, und so in gleicher Weise durch das ganze Lied angewendet. [15]

Φεγγαράκι μου λαμπρὸν
Φέγγε καὶ περπάτειγε,
Γιά νά σ’ ἐρωτήσομε
Διά δυό Γραικόπουλα κ. τ. λ.


Du mein lieber heller Mond,
Scheine nur und geh’ voran,
Daß ich bei dir fragen kann
Nach dem jungen Griechenpaar u. s. w.

oder umgekehrt, so daß der Rhythmus mit weiblichem Ausgange schließt, wie im Liede auf die Schwalbe S. 255.

 Wieder ist die Schwalbe da;
Von dem weißen Meere her
Kam sie, setzte sich und sprach:
März, mein März, so schön und klar,
Und du schlimmer Februar:
Magst du regnen, magst du schneyen,
Dennoch duftest du nach Mayen.

Doch mischen sich auch beide Gattungen, und der kürzere Vers schließt dann eine Abtheilung des Liedes, z. B. im Ständchen eines Pallikaren: [16]



An dem Thor von Salonikia
Saß ein Pallikare nieder
Mit dem aufgelockten Haare,
Trug die Leyer in den Händen,
Die mit Golde schön geschmückte,
Und beginnt sein Lied und sagt.

Mit zwei überzähligen Sylben hat ihn ein kurzes Lied bei Fauriel; [17]

Meine süße Taube, meine Traute
Sitzet an dem Wege hin und singet:
Fürchtet nicht die Knaben, nicht die Jungen,
Aber ihres Mannes böse Schwester u. s. w.

Diese trochäischen Verse verlängern sich bis zum überzähligen Dreimaße (trimeter hypercatalecticus in syllabam) mit dem Einschnitte nach der zweiten Dipodie, z. B.:

Lieber Manuel, lieber Junge, lieber schöner Freund,
Deine Frau, wie wohlgestaltet, und du freust dich nicht?
„Und du sahst sie, und du kennst sie, lieber Janitschar?“
Ja ich sah sie, ja ich fand sie und ich liebe sie.
„Wohl du sahst sie, wohl du kennst sie, wohl, wenn du sie liebst,
Sage dann, was sie getragen, und was auf dem Haupt?“
Weiß ist ihr Gewand gewesen, roth ihr Haupt geschmückt.
Und Manuly geht im Rausche, geht und tödtet sie;
Doch am Morgen ist er nüchtern, wacht und rufet sie:
Auf, o Herrin, meine Holde, auf und nimm dein Kleid,
Auf und bade dich und schmücke dich und geh zu Tanz,
Daß die Jünglinge dich sehen und vor Neid vergeh’n,
Daß ich Armer auch dich sehe, deiner mich erfreu'.

[570] und erreichen selbst das volle Viermaß (trimeter acatalectius), bis zu welcher Länge sie bereits Anakreon ausgebildet hatte. Wie dieser in dem Verse bei Hephästion  Κλῦθί μευ γέροντος εὐέθειρα χρυρόπεπλε κοῦρε,
so der neue Dichter [18]:
 Ἁλικόν μου καρυοφύλλε καὶ χαλάζιον μου ζυμπίλι u.f.

Wie aber vom trochäischen, so sind auch vom jambischen Verse mehrere kürzere Formen aus der alten Poesie durch die neue fortgepflanzt worden: die vierfüßigen zu einem metrischen System vereinten Jamben in den Wolken des Aristophanes V. 1442. ff.:
Φειδ. Τί δ’, ἣν ἔχων τὸν ἥττω
 Δόγον σε νικήσω λέγων,
 Τὴν μητέρ’ ὡς τύπτειν χρεών;
Στρεψ. Τί δ’ἄλλο γ’ ἣν ταυτὶ ποιῆς,
 Οὐδέν σε κωλύσει σεαυ–
 τόν ἐμβαλεῖν ἐς τὸ βάραθρον
 Μετὰ Σωκράτους
 Καὶ τὸν λόγον τὸν ἥττω.

Pheid. Doch wie, wenn mit der Rede,
 Der schwächern, ich beweisen kann
 Daß du die Mutter schlagen mußt?
Streps. Was anders? wenn du dieses thust,
 Dann wird dir nichts im Wege steh’n
 Daß du dich in die Grube wirfst,
 Mit dem Sokrates
 Und sammt der schwächern Rede,

haben ihr ganz neues Gegenbild unter andern in den Ammenliedern bei Fauriel,[19] von denen das erste so lautet:

Ναννὰ ναννὰ τὸ υἱοῦδί μου
Καὶ τὸ παλληκαροῦδι μου
Κοιμήσω υἱοῦδὶ μ’ ἀκριβὸ,
Κ’ ἔχω νὰ σοῦ χαρίσω. κ. τ. λ.


Nanná, Nanná, mein Söhnelein,
Mein kleines liebes Jüngelein,
Schlaf nur, du wunderschönes Kind,
So werd’ ich dich beschenken:
Zum Zucker Alexandria,
Zu deinem Reis Misiri,
Dazu Konstantinopolis
Drei Jahre d’rin zu schalten,
Und noch dazu drei Dörfelein,
Und noch dazu drei Klösterlein,
Die Dörfer, daß du ihre Flur
Lustwandelnd magst betreten,
Und deine kleinen Klösterlein,
Da drinnen magst du beten.

Im Dreimaß ohne die Schlußsylbe (trimeter catalecticus in syllabam) ist das Lied von der schönen Sängerin.[20]

Am Ufer unten, drunten an dem Strome,
Wusch eine junge Frau des Gatten Kleider,
Und klagt’ im Lied lautsingend ihre Leiden,
Da schwebt’ ein milder Hauch daher am Ufer,
Der sanft den Saum von ihrem Kleid erhebet,
Daß frei ihr Fuß erschien bis um die Knöchel.
Es strahlt das Ufer, strahlt die ganze Weite.
Die Schiffe ziehn, es naht die Gallione,
Und All’ erfüllt mit Staunen ihre Schönheit.

Besonders eigen aber ist der neuen Poesie der längste Vers dieser Gattung, das Viermaß ohne die Schlußsylbe, oder der fünfzehnsylbige jambische Vers. Diesen hatte schon Hipponax, 500 J. vor Christo, ausgebildet, wie der Scholiast des Aristophanes [21] nachweist, welcher von ihm als Beispiel anführt:

Εἴ μοι γένοιτο παρθένος καλή τε καὶ τέρεινα
O wäre mir ein junges Weib, voll Wohlgestalt und Anmuth.

Wegen des Schwunghaften und Raschen in seiner Bewegung war ihm die attische Comödie vor vielen zugethan, und bei Aristophanes tritt er häufig ein, wo der Dialog sich hebt und eilt. Beim Volke selbst ward ihm so großer Beifall, daß ihn die spätern demotischen Dichter beinahe als stehende Form anwandten, und ihn an die neueren zu eben so häufigem Gebrauch überlieferten. Kein anderer findet sich öfter, zumal im erzählenden Gedichte, und schon Lord Byron bemerkt, daß er statt des Hexameters jetzt die Form des Heroischen geworden ist; doch gewährt er sich gleich dem Hexameter nicht weniger dem Heitern und Naiven, als dem Erhabenen und Ernsten, wie für jenes folgendes Beispiel, eines der einfachsten, zeigen mag [22]:

Κόρη, ὄντας φιλώμαστον νύχδ’ ἦτον ποῖος μᾶς ἐῖδε u. f.
Nacht war es, da wir uns gesehn: Wer hätt’ uns da belauschet?
Uns sah die Nacht, das Morgenroth, der Stern, der Schein des Mondes,
Und nieder senkte sich der Stern und saget es der Welle,
Die Welle sagt dem Ruder es, das Ruder es dem Schiffer,
Der Schiffer aber singt es laut am Thore der Geliebten.

Wenn aber sich dieser einfachen Rhythmen die neue Poesie, gleich der alten, mit feiner Wahl des einem jeden Gesange Zusagenden bedient, so sucht sie auch durch Brechnung der Reihen in der Mitte, und Verbindung verschiedener von derselben Art zu mehrgestaltigen Versen oder verschiedener Verse zu zweizeiligen Strophen, nach Art der archilochischen Epoden, sich zu lyrischer Mannigfaltigkeit zu erheben. So bestehen mehrere der kürzern Lieder [23] aus zwei unverbundenen oder gebrochenen jambischen Reihen:

Ich tret’ in einen Garten, seh’ einen Apfelbaum,
Mit Aepfeln schwer beladen, ein’ Maid in seinem Raum,
Der sag’ ich: steig hernieder, mir wohlgesinnt zu seyn,
Sie aber bricht sich Aepfel, wirft sie mir hinterdrein.

Die zweisylbige Strophe, so daß der kürzere Vers nachtritt, oder den wahren Epodos, zeigt das Lied an Dimos [24], dessen Name in jeder Strophe wiederkehrt:

Ja, Dimos, deiner Augen heller Schein,
 Die sanftgezognen Brauen,
Die brechen, Dimos, gänzlich meine Kraft,
 Und führen mich zum Tode.
Enthüll’, o Dimos, nur dein blankes Schwert,
 Stoß es in meinen Busen,

[571]

Und sammle, Dimos, mein entströmend Blut
     In einem goldnen Tuche.
In die neun Dörfer, Dimos, trag’ es hin,
     Und in die zehn Reviere;
Und wenn sie fragen, Dimos, was es sey:
     „Das Blut von der Geliebten.“

Dieselbe Strophe mit Brechung in dem längern Verse und mit kürzerm Maße des nachschlagenden, hat das Lied vom Garten, über welches aller Liebreiz südlicher Natur und Naivetät verbreitet ist: [25]

Alle mit schwarzen Augen und braunen Wangen
     Von dunklem Haar umhangen,
Küssen mich gerne; doch Eine will es vermeiden,
     Und schafft mir bitt’res Leiden.
Zu Berge will ich steigen und einen Garten
     Anbau’n und warten,
Den Garten und die Hütte und schöne Reben
     Und eine Thür daneben.
Da kommen all’ die Schönen und suchen Trauben
     Und wollen Küss’ erlauben.
Laßt sie nur alle kommen mit dunklen Blicken
     Zu plagen, zu entzücken.
Sie rufen nach dem Gärtner: Gib uns die Trauben,
     Wir wollen Küss’ erlauben.
Legt ab nur eure Socken und tretet näher,
     Nur ganz herein und näher.
Willst du von diesen Aepfeln, dort von den Quitten,
     Nicht lange sollst du bitten,
Willst du die Moschustrauben, die Zuckerbeeren,
     Der Liebe sey’s zu Ehren.

[573] Nach Aufhebung der Sylbenmessung sind zwar die mehr denn zweisylbigen Füße vom regelmäßigen Gebrauche ausgeschlossen, weil es die Natur der Verse, welchen die Sylben nicht zugemessen, sondern zugezählt werden, mit sich bringt, daß über jede einzelne Stelle hinweg der Rhythmus wieder anhebt; doch macht die Freiheit, mit welcher der Rhythmus über den jedem Vers zukommenden Sylben schwebt, so wie die Menge offener Sylben, welche sich ohne Härte durch Synizese zu Einer verschlingen, während sie im Rhythmus die Bewegung und den Klang von zweien wenigstens nicht ganz verlieren, daß aus dem jambischen und trochäischen Maße Daktylen und Anapästen nicht selten hervorzubrechen scheinen, und das Ganze sich überhaupt mit größerer Mannigfaltigkeit des Rhythmus entfaltet, als bei jenen einfachen Maßen man erwarten sollte: das ursprüngliche Gefühl rhythmischer Mannigfaltigkeit und Zweckmäßigkeit, die Grundlage der großen rhythmischen Kunst alt-griechischer Dichter, ist offenbar auch ihren Nachkommen eigen, und in ihren einfachen Gesängen deutlich ausgedrückt. Da unserer Sprache diese Fälle offner Laute fremd ist, kann sie nur durch freien Gebrauch der Kürzen nachhelfen, z. B. in dem zweiten Theile des oben angeführten Ständchens:

Παραθυρώκιά μου χρυσᾶ
Καὶ κιφοσάκιά μου χρυσᾶ
Εἰπέτε τὴν Κυρίτσαν σας,
Νὰ ἐβγῆ ’σ τ’ ἀγνάντιον νὰ τὴν ’δῶ.
Δὲν ἐῖμαι ὄφιος νὰ τὴν πιῶ,
Λεοντάρι νὰ τὴν καταπιῶ.


O du mein gold’nes Fensterlein,
Und ihr Vorhänge mit goldnem Schein,
Saget doch meiner Trauten d’rin,
daß sie komm’ und sich lass’ erblicken.
Keine Schlange bin ich, sie zu ersticken,
Kein Löwe, sie zu reißen in Stücken.

und im Hochzeitliede S. 236:


Ἀπὸ τὰ τρίκορφα βουνά
Ἱερακι ἔσυρε λαλιά
Πάψετ’, ἀέρες, πάψετε
Ἀπόψε κ’ ἄλλην μιὰν βραδιάν,
Ἀγώρου γάμος γίνεται,
Κόρη ξαντθὴ ’πανδρεύεται


Von den dreihauptigen Bergeshöh’n
beginnt ein Sperber zu rufen schön:
Senket euch, Lüftchen, senket euch,
Nicht heut, nicht morgen Abend zu weh’n,
Bis die Jungfrau zu dem Bräutigam
Und zu seiner Braut der Jüngling kam.

Sogar den dogmischen Rhythmus scheint diese Poesie mit einer festen Erinnerung an das Wesentlich desselben in seinen einfachen Formen nachzubilden, wie besonders ein Lied aus Kreta bei Voutier [26] zeigt, wenn es in der That aus dem Volke kommt:


Ψυχὴ ἀθλία,
Τί δυστυχία
Ἀκαταπαύστως σε τυραννεῖ
Δὲν ἔχεις φίλον
Πιστὸν μὲ ζῆλον,
Νά σε λύπῆται νά σε πονɛ̃.


Du mein leidend Herz,
Welch ein bittrer Schmerz
Dich ohn’ Unterlaß drängend erfüllt,
Du hast keinen Freund,
Der mit dir vereint,
Dir mitleidend die Thränen stillt.

Alle diese Formen, deren Urbild sich fast ohne Ausnahme in der alten Lyrik findet, zeigen, ungeachtet ihrer Mannigfaltigkeit, ein bestimmtes Gepräg, das den verschiedenen Stoffen eben so angemessen, wie überall durch einen gewissen Grundton mit sich selbst übereinstimmend ist, zum Beweise, daß sie sämmtlich in Bezug auf Eine musikalische Tonart stehen. Gemeiniglich achtet man die Musik der Alten für verloren; indeß tönt noch ihre Hirtenflöte, wie in Sicilien, so auf den Inseln des Archipelagus, in Arkadien, wie in den Thälern des Olympus, und die von unserm musikalischen System ganz abweichende Temperatur und Art ihrer Töne, so wie die Eigenthümlichkeit der Melodien, zeigen offenbar, daß auch hier, wie in den Rhythmen, der Grieche noch jetzt alter Ueberlieferung folgt, ohne sie zu kennen. Einfach und doch abwechselnd, wie diese Rythmen, haben die Melodien mit ihnen auch dieses gemein, daß sie nicht über zwei Reihen von Tönen hinausgehen, und so das Lied des zweizeiligen Epodos wiedergeben. Welchem rhythmisch-musikalischen System des Alterthums aber sollen wir den oben bezeichneten Inbegriff der Rhythmischen Bildungen im neu-griechischen Gesang und seine musikalische Begleitung gleich oder ähnlich stellen?

Wir sind durch genauere Erforschung der alten Rhythmik und Tonkunst dahin gekommen (und das Resultat ist [574] eines der größten und denkwürdigsten der das ganze classische Alterthum umfassenden und mehr durchdringenden neueren in Deutschland gegründeten Philologie), aus der Messung der Rhythmen und Verse die Tonart zu erkennen, für welche sie gedichtet waren, indem sich gezeigt hat, daß Mischung und Folge der Töne in der Harmonie, und Mischung und Folge der Sylben in den Rhythmen auf das Vollkommenste sich entsprechend und für einander gebildet wurden. Nun ist kein Zweifel, daß die sämmtlichen rhythmischen Formen der alt-griechischen Poesie, welche sich in der neu-griechischen wiederholen oder doch wiederspiegeln, der ionischen Tonart angehören. Die von Archilochus, Anakreon, von Hipponax gebildeten Rhythmen, welche hier in andauerndem Gebrauch sind, desgleichen die gebrochenen Verse, die aus Reihen mit verschiedenen Aufschlägen, zusammengefügt sind, ausgegangen von Sotades, Pherekrates tragen als Erfindungen ionischer Dichter eben so bestimmt, wie die dogmischen Reihen das Gepräge der ionischen Tonart oder Musik, welche den einfachen und schwunghaften Gang der Trochäen und Jamben, den Zusammenstoß der Hebungen im Dochmius, und die Lockerheit der ungebundenen Reihen nach Bedarf für ihre bald heiteren, bald wehmüthigen, im Ganzen mehr dem Ueppigen und Weichen, als dem Ernsten und Starken zugewendeten Erzeugnisse zu brauchen bedacht war. Diese ionische Weise, für die höhere Lyrik so wenig passend, daß sie im pindarischen Gesange gar nicht, dagegen in der Comödie mehr denn eine andere gebraucht wird, war schon in dem Jahrhunderte nach Alexander fast allein herrschend geworden; denn nachdem der Ernst der dorischen Tonkunst, und das Ungestüm der äolischen mit dem großartigen Charakter der frühern Zeit und ihrer Lyrik untergegangen war, fand man allein noch an den üppigen und leichtern Weisen des ionischen Tones Behagen. Da aber seitdem in dem Leben und der Gesinnung der Griechen kein Aufschwung zu dem Stärkern und Erhabenern eingetreten, im Gegentheil sich, zumal auf den Inseln, Sitte und Leben in ungefähr gleicher Eigenthümlichkeit bewahrt hat, so ist natürlich, daß auch die Poesie den dieser Eigenthümlichkeit entsprechenden Formen treu blieb. Und so ist auch historisch nachgewiesen, was als eine aus dem Innern hergeleitete Wahrnehmung durch Neuheit überraschen und auffallen könnte, daß die ganze rhythmische und musikalische Form der neu-griechischen Poesie als eine nicht wesentlich umgestaltete Ueberlieferung der alt-ionischen Rhythmik und Tonkunst muß betrachtet werden. [578] Gehen wir von dem rhythmischen auf den poetischen Charakter des neu-griechischen Gesanges ein, so wird man auch in den Ideen, die er darlegt, in den Ansichten, die er ausspricht, in den Gefühlen, die er athmet, einen oft eben so überraschenden Nachklang und Wiederschein des

[579] griechischen Alterthums wahrnehmen. Das den alterthümlichen Dichtern eigne frische Gefühl für die Herrlichkeit ihrer Natur ist, wie ein lebender Pulsschlag, auch in diesen Gesängen fühlbar, und wie damals, so strebt auch jetzt die Phantasie, Alles was sie umgibt, mit Gefühl, mit Theilnahme, ja mit Rede und mit Allem zu begaben, was in der menschlichen Brust sich regt und gestaltet: die Vögel, ehedem die Genossen und Dollmetscher der Götter, reden zu dem Menschen, bringen ihm Kunde, trauern über sein Leid, einzeln oder im abwechselnden Lied gegen einander, unter dem mitfühlenden Lispeln der Pinien oder dem einstimmenden Laut der Quellen, oder sie klagen die Frevel an, deren Zeuge sie seyn müssen; [27] es ist das treue Streitroß, welches die Befehle seines Herrn empfängt und ausrichtet, oder gleich dem Gespanne des Achilleus in der Iliade mit ihm Zweisprache hält, wie beim Tod des Bebros, den seine Genossen sterbend am Ufer des Vardari zurückließen: [28]

Am Vardari, am Vardari,
Auf den Fluren am Vardari,
Lieget Bebros an dem Boden,
Und es spricht zu ihm sein Rappe:
„Auf, o Herr, damit wir eilen,
Denn voran sind die Genossen.“ –
„Nicht, o Rappe, kann ich eilen,
Denn ich liege hier zu sterben,
Scharre mit dem Huf die Erde,
Mit dem Silberreif am Fuße,
Fasse dann mich mit den Zähnen,
Daß du in das Grab mich legest.
Doch zuvor nimm meine Waffen,
Daß du sie den Freunden bringest,
Auch das Tuch aus meinem Gürtel,
Daß du es der Trauten bringest,
Weinen wird sie, es erblickend.“

Wie aber diese Dichtung die Thiere den Menschen nähert, so belebt sie in gleicher Weise die Gegenstände der Natur. Die Berge, die Flüsse, ehedem von Gottheiten besessen, deren Gestalt nicht selten auf Bildwerken und Gemälden über Felsen oder in Grotten liegend gefunden wird, verkehren im Gespräche mit einander oder mit den Menschen: der Olympos, unbezwungen und mit kühnen Bewohnern, den Schaaren kriegerischer Räuber bedeckt, rühmt sich seiner Freiheit gegen den Ossa oder Kissabos, den die Türken unterjocht haben:

Der Olympos und Kissabos, die Berge sind im Streite.
Da wendet sich der Olympos zum Kissabos und saget:
„Mit mir nicht hadre, Kissabos, du in den Staub getretner,
Ich bin Olympos, bin der Greis, in aller Welt gepriesen.
Ich habe zwei und vierzig Höh’n und zwei und sechzig Quellen,
An jeder Quell’ ist ein Panier, Zweig’ überall und Laurer.

[29]

In dem Wasser des Flusses aber waltet ein Geist von bestimmter Eigenthümlichkeit, der durch Gesang an das Ufer gelockt wird. Wo die Wittib, darüber gehend, so rührend ihren Gemahl beklagt, daß die Brücke zerreißt, und der Strom aufhört sich zu bewegen, erscheint er am Ufer, und gebietet ihr, die Klage zu enden, und einen andern Gesang zu beginnen.[30] Dieser Belebung äußerer Natur geht die Ansicht zur Seite, nach welcher Thäler und Fluren unter dem Schirm eines wohlthätigen Genius stehen, und das Bestreben, die Erscheinungen des Lebens auf Wesen von bestimmter Persönlichkeit und Gesinnung zu beziehen.

Jener obwaltende Genius, sogar die Ruhe der gefiederten Bewohner in seinem Gebiete schirmend, erscheint, ganz analog der alten Vorstellung, als Drache, [31]und begegnet zürnend dem Jünglinge, der noch in später Nacht in sein Gebiet tritt, und durch seinen lieblichen Gesang die Nachtigallen in ihren Nestern, und die Vögel in den Feldern weckt. Die Pest, πανοῦλα, wird als ein Verein von drei Frauen in schwarzen Kleidern gedacht. Gleich den Schicksalsgöttinnen treten sie zu den dem Tode geweihten in das Haus, und bemächtigen sich ihrer Beute. Die Seuche der Pocken wird von den Müttern als furchtbare Frau betrachtet, aber mit mildem Namen Συγχωρημένη, die Verschonende, bezeichnet, wie in Athen die Erinnyen, die nach Aeschylos Seuchen und Mißwachs bringen, die Eumeniden, die Wohlgesinnten, genannt wurden.

Zumeist aber ist in diesem Kreise von Vorstellungen dem Alterthum die Idee des Todes selbst analog, der bei Euripides in der Alkestis als Θάνατος persönlich auftritt. Alkestis ist ihm verfallen und schon übergeben, als Herakles ankommt. Dieser unternimmt, um sie mit Thanatos zu ringen, besiegt und nöthigt ihn, seinen Raub auszuliefern. Ganz so erscheint der Tod im neu-griechischen Gesange, zwar mit einem andern, doch mit einem mythologischen und analogen Namen, Charon genannt. Er lauert auf den jungen Hirten, der am Morgen singend und heiter vom Gebirge kommt, daheim Nahrung zu suchen, und hält ihn an. [32]

Der Jüngling fleht vergeblich um sein Leben, und versucht dann mit ihm, gleich dem Alciden, den wiewohl ungleichen Kampf:

 „Laß mich, o Charon, laß mich frei, o gönne mir zu leben!
 Daheim hab ich ein junges Weib, nicht darf sie Wittib werden,
 Und die unmünd’gen Kindelein ließ’ ich zurück als Waisen.“
 Doch Charon höret nicht auf ihn und will ihn rasch ergreifen.
 „O Charon ist es so bestimmt, und willst du mich ergreifen,
 Wohlan, so laß uns kämpfen hier auf dieser Marmorplatte.
 Wenn du, mein Charon, mich besiegst, geb’ ich dir meine Seele,
 Doch wirst du selbst von mir besiegt, dann geh, wie du gekommen.“
 Sie gingen, rangen hart im Kampf, vom Morgen bis zum Mittag;
 Doch als der Tag zum Abend ward, warf Charon ihn zu Boden.

Aus dieser Dichtung ist auch jene Ballade hervorgegangen, welche die Bewunderung von Göthe erregt und durch die Aufgabe für zeichnende Künstler, welche er darauf gründete, allgemeinere Verbreitung gefunden hat. Sie ist in demselben fünfzehnsylbigen Jambus verfaßt, welcher sich hier in der ganzen Kraft seiner Tonfälle und im vollen Schwunge seines raschen Ganges bewegt: [33]

[580]

Διὰ τ’εἶναι μαῦρα τὰ βουνὰ καὶ στέκουν βουρτωμένα,
Μὴν ἄνεμος τὰ πολεμᾷ, μήνα βροχὴ τὰ δέρνει;
Κοὐδ’ ἄνεμος τὰ πολεμᾷ, κοὐδὲ βροχὴ τὰ δέρνει,
Μόναι διάβαιν’ ὁ χάροντας μὲ τοὺς ἀπαιθαμμένους.


Warum sind die Gebirge schwarz und stehn in finstrer Trauer?
Ist es, weil sie der Sturm bekriegt, weil sie der Regen geißelt?
Nicht daß der Sturmwind sie bekriegt, daß sie der Regen geißelt,
Doch Charon reitet über sie einher mit den Gestorb’nen.
Die Jungen treibt er vor sich hin, zieht hinter sich die Alten,
Und führt die zarten Kindlein gereiht an seinem Sattel.
Wohl rufen ihm die Alten nach, wohl flehn zu ihm die Jungen:
Mein Charon halt am Dorfe still, halt an dem kühlen Brunnen,
Damit die Greise trinken gehn, die Jungen Steine werfen,
Und daß die kleinen Kindelein sich Wiesenblumen sammeln.
„Nicht an dem Dorfe halt’ ich an, nicht an dem kühlen Brunnen.
Die Mütter kommen zu dem Quell, erkennen ihre Kinder,
Erkennen ihre Männer auch, und wissen nicht zu scheiden.

Mit dieser Vorstellung hängt der Glaube zusammen, daß der Geist des Verstorbenen noch um sein Grab waltet, und, in ihm wohnend, den Wiederhall des Lebens vernimmt, und den Wiederschein seiner süßen Anmuth empfindet. Auch dieser Glaube hat sich aus dem Alterthum erhalten. Aus ihm entsprang bei den Alten die Ehrfurcht vor den Gräbern, der den Manen gewidmete Dienst und die Evocation der Heroen, wenn es galt ihr Gebeine in ein anderes Grab zu bringen. Wenn daher in einem unsrer Lieder[34] ein Jüngling über eine Gräberflur gehend einem Hügel auf das Haupt tritt, hört er Ruf und Donner aus der Unterwelt und die Klage des Geistes, den er beunruhigt. In einem der schönsten Gesänge, auf den Tod eines jungen Matrosen, begehrt dieser ein Grab am Ufer, wo er die Ankunft seiner Genossen hören kann: [35]

Nicht in die Kirche traget mich, begrabt mich nicht im Kloster,
An freier Küste sey mein Grab, es sey im Ufersande,
Es kommen dort die Schiffer an, und ich hör’ ihr Getümmel.

Und Dimos trägt sterbend seinen Pallikaren auf, daß sie das Grab ihm oben breit machen, damit er darüber noch aufrecht stehen und kämpfen könne, und mit Oeffnungen an der Seite:

Damit die Schwalben kommen, und den Frühling wiederbringen,
Und daß die Nachtigallen mir den süßen Mai verkünden.

Faßt man die einzelnen Seiten dieser Ansicht, das Bestreben, menschliches Gefühl und Urtheil in die Welt der Thiere, wie in die Gegenstände der Natur zu legen, den Schutz der Gegenden und die Besorgnisse des Lebens auf Wesen von bestimmter Persönlichkeit und Gesinnung zu übertragen, in Einen Ueberblick zusammen, so wird man auch hier glauben, auf dem Boden des Alterthums zu wandeln: doch wär’ es übereilt, überall an einen unmittelbaren Zusammenhang der neuen und alten Vorstellungen in diesem Kreis zu denken. Zwar ist dieser bei Manchem, wie beim Genius des Orts, beim Charon als Thanatos, nicht zu verkennen; indeß von andern dieser Vorstellungen, besonders denen, die sich auf Belebung der Natur beziehen, liegt der Grund offenbar tiefer, und muß in demselben innigen und frischen Gefühl für die überschwängliche Herrlichkeit jenes Himmels und jener Erde gesucht werden, das schon im Alterthum die Erscheinungen im ganzen Gebiet der Schöpfung mit menschlichen Wesen umgab, um sie als Abbilder des Göttlichen, ja als Gottheit selber zu verehren. Nachdem durch das Christenthum die heidnische Form gebrochen war, in deren Mythen und Symbolen es sich verkörpert hatte, sprang der Quell dieses Gefühls wieder frisch und in ursprünglicher Reinheit aus der menschlichen Brust hervor. Noch fortdauernd breitet es sich, vermenschlichend und belebend, über die Schöpfung aus, und sein erquickender Hauch weht in dem Haine des neuentsproßten Gesangs. [586] Es ist dasselbe lautere und innige Gefühl, welches in diesen Gesängen, auf andere Gegenstände gerichtet, bald als Lust und Süßigkeit des Lebens sich ausspricht, bald als Sehnsucht nach der Heimath, einer Heimath, deren Anmuth in diesen Gesängen jede Trennung als ein Ungemach, jede Fremde als den Ort der Trauer betrachten läßt, eines Lebens, das in solcher Heimath, unter der dunkeln Klarheit jenes Himmels, in dem ätherischen Hauche jener balsamischen Luft, über den blauen Fluthen des unendlichen Meeres, in der Anmuth üppiger Thäler, in der Majestät erhabener Gebirge, unter dem Duft der Blumen und der Fülle der edelsten Früchte mit doppeltem Reize schimmert, und, das Blut in raschen Schlägen leicht bewegend, den unglücklichen Bewohnern auch im tiefsten Ungemach Kraft und Jugend des Geistes bewahrt hat. Aus eben demselben fließt in diesen Gesängen die Lebendigkeit, die Unmittelbarkeit der Auffassung, die sonnige Klarheit und Wärme der Ansichten, der Empfindungen, und als freie Gabe der Huldgöttin, jene mühelose Kunst, das Tiefste, das Bewegendste, das Erheiterndste in Einem Augenblicke zu zeichnen und zu verbinden, so daß es wie auf einmal vor die Augen tritt und das Herz rührt, während der Blick mit Wohlgefallen auf dem lichten Gewand der Bilder verweilt, mit deren innigen und lautern Farben, wie mit dem bunten Teppich des Frühlings, jene anmuthigen Gestaltungen umgeben sind.

Dieselbe Lebendigkeit und Lauterkeit wird man finden, wo dieses Gefühl sich über die geselligen und sittlichen Verhältnisse des Lebens ausbreitet, wo es den Freund, die Aeltern, die Kinder umfaßt. Nirgend ist die Freundestreue, die Zärtlichkeit, zumeist der Mütter gegen die Kinder, und der Kinder gegen die Mütter, die eheliche Liebe, die Leidenschaft der Geschlechter zu einander zugleich naiver und inniger geschildert worden, als in diesen einfachen und der Natur unmittelbar entnommenen Liedern. So klagt, um unter vielen eines der einfachsten zu wählen, ein von seiner Mutter getrennter Sohn:

„Eröffne dich, mein leidend Herz, ihr meine bittern Lippen,
Eröffne dich, und sage mir ein einzig Wort des Trostes.
Für dich ist Hülf’ im Tod allein, Mitleiden nur im Grabe:
Wenn Leben sich von Leben trennt, wo wäre Trost zu finden?

[587]

Die Mutter scheidet sich vom Sohn, der Sohn von seiner Mutter,
Und von einander Mann und Weib, die inniglich geliebten.
Dort drüben jenseits dem Gebirg, der steilen Höh’, der großen,
Die Nebel auf dem Haupte trägt, und Reif an ihrem Fuße,
Da liegen in getrennter Gruft zwei Brüder eingegraben,
Und zwischen ihren Gräbern ist ein Weinstock aufgeschossen.
Der trägt der rothen Trauben viel und Gift in ihrem Weine,
Und keine Mutter, die ihn trinkt, wird einen Sohn gebären:
O hätte meine Mutter auch von diesem Saft getrunken!“

Neben jener Innigkeit und Lauterkeit der Gefühle geht die Raschheit, und mit ihr die Beweglichkeit der Darstellungen. Die Bilder, die Gedanken treten so unmittelbar nach einander ein, daß nicht selten die Verbindungen fehlen, und, was man als ergänzend, bedingend, vorbereitend, erläuternd begehren könnte, meist als untergeordnet niedergeschlagen wird. So wechseln auch mit gleicher Raschheit die verschiedensten Formen der Darstellung; die Schilderung eines Gefühls, einer Lage verschlingt sich bald mit einer Erzählung, bald mit Gesprächen, so daß das Lyrische, Epische und Dramatische auf das Leichteste und Anmuthigste gemischt sind, und dem Hörer wird überlassen, wahrzunehmen, wo die Personen eingeführt, wie die bunten Stoffe verbunden, wo die Scenen gewechselt werden.

Was aber den Werth dieser Lieder noch erhöht, ist ihre große Verschiedenheit; denn obwohl in allen dasselbe nationale Gepräge leicht erkennbar ist, so spiegelt sich doch im Einzelnen der Charakter der Stämme wie der Landschaften ab, in denen sie entsprungen sind.

Wild und stürmisch, wie die Sitten und Scenen des Lebens, welche sie schildern, sind die Lieder der Armatolen aus den Gebirgen von Epirus, Akarnanien und Thessalien. Die kühnen Streifzüge, welche jene nie bezwungenen Horden aus ihren Klüften und Wäldern unternahmen, um als Feinde die Türken zu bekriegen, oder sie als Räuber zu plündern, die Kämpfe, welche sie gegen Ali Pascha zu bestehen hatten, ihr Heldenmuth, ihr Trotz, ihr Haß gegen den grausamen Feind sind ihr rauher Stoff, und bilden die eine Seite des Gemäldes, dessen Düsterheit durch die Züge von Großmuth, Aufopferung und patriarchalischer Schlichtheit des Lebens und der Sitten wunderbar gemildert wird.

Wildheit und heroische Kraft athmet in folgender Stelle des oben erwähnten Liedes, in welcher der Olympus sich seiner kühnen Bewohner rühmt:[36]

Auf meinem höchsten Gipfel hat ein Adler sich gesetzt,
In seinen Krallen hält er fest das Haupt von einem Helden,
„Was hast du wohl, o Haupt, gethan, daß du gerichtet wurdest?“
Friß, Vogel, meine Jugend auf, friß, Vogel, meine Stärke,
Dann wächst dein Flügel ellenlang, und spannenlang die Kralle.
In Luxos und Xeromeros war ich ein Armatole,
In Chasia und auf dem Olymp zwölf Jahre lang ein Räuber;
Und sechzig Aga’s schlug ich todt, brannt’ ihre Dörfer nieder.
Doch traf mich selber nun die Reih’ im Kampfe zu erliegen.

Nach harten Kämpfen hatte Ali Pascha zwar die Sulioten bezwungen, auch die Pässe der thessalischen Gebirge, doch nicht die Standhaftigkeit ihrer Bewohner, noch ihren Haß: [37]

Obwohl die Pässe türkisch sind, sie nahm der Albanite,
Stergios ist am Leben noch, nicht kümmern ihn die Pascha’s:
So lange Schnee auf Berge fällt, bekämpfen wir die Türken,
Wir gehn und suchen uns Gehöf, da wo die Wölfe lagern.
In Städten wohnt der Knechte Schaar, in Ebnen bei den Türken,
Zu Städten wählen Berges Oed’ und Schlucht wir Pallikaren,
Statt mit den Türken leben wir lieber mit wilden Thieren.

Wendet man sich von diesen Werken eines wilden aber regellosen Heroismus, in dem die neuesten Ereignisse jener Länder sich mit wunderbarer Klarheit spiegeln, zu den Liedern, die uns von den Inseln, oder aus Thessalonich, Smyrna, Para kommen, wo kaum der Wiederhall der kriegerischen Stürme gehört wird, so sind es friedsame Scenen, milde Gefühle der Liebe, der Freude, der Trauer, die uns entgegentreten: anmuthige Legenden und Balladen, Lieder der Mütter, der Ammen, Gesänge beim Reigentanz, bei Hochzeiten, oder bei Trennung und Tod, Serenaden und Liebesklagen, in denen oft die Weichheit und Milde des ionischen Himmels sich über Sprache, Bilder und Maß ausbreitet, wie in dem Liede von der Trennung zweier Liebenden, das hier als äußerster Gegensatz jenes rauhen Heldengesanges stehen mag:

Meine braune Nelkenblume, meine blaue Hyacinthe,
Neige dich zu meinem Gruße, neige dich zum Liebeskusse,
Daß ich scheide mit Verdrusse, weil mein Vater es gebietet.

Meine braune Nelkenblume, meine blaue Hyacinthe,
Neige dich zum meinem Gruße, neige dich zum Liebeskusse,
Daß ich scheide mit Verdrusse, weil die Mutter es gebietet.

Tag und Stunde sind gekommen, daß wir von einander scheiden,
Um auf ewig uns zu meiden; und mir bricht das Herz im Busen,
Daß wir von einander scheiden, um auf ewig uns zu meiden.

Und die Augen strömen Thränen, kreisen wild in irrem Wähnen.
Daß wir von einander scheiden, um auf ewig uns zu meiden.

Die Gedichte nun, welche bis jetzt zu unsrer Kenntniß gekommen sind, obwohl beträchtlich an Zahl und Mannigfaltigkeit, sind doch nur ein sehr geringer Theil von denjenigen, welche dort im Munde des Volkes leben und die beinahe jeder Tag sich vermehren oder umgestalten sieht. Ihre Urheber sind im Volke selbst, und so wenig, wie Homer und Ossian es waren, im Stande zu schreiben oder zu lesen, Pallikaren in ihren Lagerstätten, Hirten bei der Heerde, Schiffer in den müßigen Stunden ihrer Fahrt, Jungfrauen bei ihrem häuslichen Geschäfte – Jeder, den der innere Trieb bewegt, ohne Absicht, als auszusprechen, was der Nächste auffaßt und weiter bringt. Zumeist thun dieses die Blinden, welche ein uralter Gebrauch darauf hinweist, solche Lieder zu lernen und dadurch zu verbreiten, daß sie bei Festen und Gelagen oder im Kreise zufälliger Hörer ihren Inhalt zur Leyer vortragen. Mehrere dieser blinden Sänger, die Jeder gerne empfängt, gerne hört, tragen solcher Lieder eine unerschöpfliche Menge bei sich im Gedächtniß, einige, eine begünstigtere Classe, vermehren ihren Vorrath durch neue Gesänge, oder schmücken die überlieferten schöner aus. Es ist bekannt, daß eine alte griechische Sage den Sänger der Iliade als blinden Greis bezeichnet und ihm ähnliches Loos zutheilt, zum Zeichen, daß auch hier in Bezug [588] auf Dichtkunst ein merkwürdiger Gebrauch sich unverändert aus frühester Zeit erhalten hat.

Bei dieser allgemeinen Lust und Liebe zur Dichtung wird jede öffentliche Begebenheit zu Lied und Gesang, und so liefern auch die Feste, die Feiern, die Trauer des häuslichen Lebens dieser Dichtung unerschöpflichen Stoff, und keinem Kenner des griechischen Alterthums wird entgehen, daß wir uns auch hier mit der neuen Dichtkunst auf altem Grund und Boden befinden. Nicht in den kunstreichen Gebilden des lyrischen Chores, nicht in den aus ihnen hervorgegangenen Wettkämpfen der öffentlichen Spiele, des Theaters zumal, oder in den Päanen, Hymnes, Dithyramben ist die Grundlage der alt-griechischen Poesie oder die ursprüngliche poetische Anlage des hellenischen Stammes zu entdecken, sondern hunter jenen Schaustellungen einer ausgebildeten Kunst in den Liedern, von denen auch im Alterthum die Vorgänge, wie die Geschäfte des gewöhnlichen Lebens mit seiner Mühe, Lust und Trauer umgeben und geschmückt waren, und hier treffen in alter und neuer Zeit Stoff, Gesetze, Bestimmung der Poesie, ja zum Theil Namen und Feste zusammen. Wie damals in dem Gesange der Eiresione beim Wechsel des Jahres, der Tag des Apollo von Knaben gefeiert wurde, die von Hause zu Hause mit Lob und Wünschen für die Inwohner zogen, so noch jetzt in gleicher Weise und zur selben Zeit der Tag des heiligen Basilius; wie früher im Chelidonismos , wo wird jetzt mit dem Lied auf die Schwalbe die Wiederkehr des Frühlings in gleichem Umgange gepriesen. Bei der Panegyris, der Versammlung der Gemeinden zu gemeinsamem Feste, wo sich im Freien unter Begleitung der viersaitigen Leyer, die noch jetzt das Plektrum schlägt, Chöre der Jungfrauen und Jünglinge zum Tanze ordnen, tönen, wie ehedem die Hyparchemat, so auch jetzt die Gesänge zum Reigen, und so entsprechen dem Eretikon die Weisen der Ruderer, dem Himäus die Lieder der Frauen am Brunnen, dem Litierses, was von den Schnittern, dem Epilenios, was bei der Weinlese und Kelter gesungen wird. Der Epithalamios hat sich in eine Fülle von Liedern ausgebreitet, mit denen die Braut eingeholt, der Bräutigam begrüßt, das Paar zur Kirche geleitet und beim Festgelage gefeiert wird, und der Olophyrmos und Threnos in eine nicht geringere Fülle von Klaggesängen, in welchen beim Todesfall die Gattin, die Kinder, die Aeltern, die Verwandten ihren Schmerz bei der Leiche, bei der Beerdigung und noch spät nachher bei dem Grabe ergießen. Was also ist die neugriechische Poesie anders, als jene, in dem Volke selbst wurzelnde, mit seiner innersten Natur verschmolzene, die Begebnisse des Lebens unmittelbar durchdringende, ursprüngliche Poesie des griechischen Alterthums? Ihre kunstreichsten Formen und Gebilde sind vergangen, aber das Wesentliche, das Einfache, das Unmittelbare derselben, aus dem auch jene Gebilde hervorgingen, ist geblieben. Als ein kostbarer Besitz hat diese Gabe der Musen das Volk durch die Jahrhunderte herab begleitet, seine Leiden mit ihrem Trost, seine Freude mit ihrer Lust geschmückt, und erscheint nun wieder, bewahrend die einfachste musikalisch-rhythmisches Weise des Alterthums, waltend und bildend, in einem, der fernsten Zeit analogen Kreise von Ansichten und Phantasien, und doch neu und eigenthümlich, die jüngste Offenbarung des in sich unverwüstbaren und aus jeder Bedrängniß unversehrt hervorbrechenden griechischen Geistes, die sicherste Beglaubigung der Hoffnungen, die sich an die Auferstehung der berühmtesten und unglücklichsten Nation für die Bildung geknüpft haben. Denn kein Zweifel ist, daß die poetische Anlage, wo sie mächtig und schaffend ist, nicht als etwas einzelnes und für sich bestehendes, wie beim Individuum, so bei Völkern, sondern als das Zeichen eines im Allgemeinen großen, regsamen und weitgreifenden geistigen Vermögens zu betrachten ist. Wie im alten Hellas die poetische Bildung in dem Namen und der Herrlichkeit Homer’s vereinigt, der gemeinsame Stamm alles des Großen und Herrlichen wurde, was später der hellenische Geist entfaltete, so kann auch aus dieser frischen und vielgestaltigen geistigen Kraft, die in dem neu-griechischen Gesange sich offenbart, unter dem jüngsten Geschlechte jener ruhmreichen Ahnen ein ähnliches Gedeihen hervorgehen, wenn es im Rathe der Vorsehung beschlossen ist, daß sie aus diesen Stürmen und so großer Zerrüttung zu Gesetzlichkeit und Ruhe gelangen, und in die Reihe wohlgeordneter Völker des christlichen Europa wieder eintreten. Dann wird vergönnt seyn, auf das verjüngte Griechenland den Lobgesang nach seinem ganzen Inhalte wieder anzuwenden, den vor mehr als zweitausend Jahren einer der reichbegabtesten hellenischen Sänger, Euripides, auf Attika gedichtet: [38]

Erechtheus Enkel, seit fernster Zeit beglückt,
     Der seligen Götter Geschlecht,
Die ihr vom heiligen unvertilgbaren Land
Abpflückt der Lieder herrlichste Weisheit,
     Hinwandelnd mit heiterm Sinn
     Durch des Aethers lautersten Schein,
Wo einst die neun pierischen Jungfrau’n der blondgelockten
     Hamonia gepfleget,
Und aus des Kephissos schön strömender Fluth
Aphrodite schöpfend die Flur anhauchte
Mit lieblicher Lüfte sanftgemischtem Weben,
     Und immer schmückend ihr Gelock
     Mit süß duftender Rosen Gewind
Als Genossen der Weisheit zu Euch sandte der Liebe Götter,
     Jeglicher Ruhmesthat Vollbringer.

  1. Auszug aus dessen Vorlesung, gehalten in der Sitzung der königl. Akademie der Wissenschaften zu München am 28 März 1828.
  2. Besonders in den drei Bänden der Eunomia von Iken und Kind. Das französische Werk hat den Titel: Chants populaires de la Grèce moderne. Recueïllis et publiés, avec une traduction française, des éclaircissemens et des notes. Par C. Fauriel. Tom. I. Chants historiques. Tom. II. Chants historiques, romanesques et domestiques, Paris 1824 und 1825.
  3. Terentius Maurus. E recensione et cum notis Laurentii Santenii. Opus Santenii morte interruptum absolvit Davides Jacobus van Lennep. Traj. ad Rhen. 1825. Die umfassende mit alt-holländischer Gelehrsamkeit geführte Untersuchung über die versus poëtarum vulgarium beginnt p. 163 und reicht bis 219.
  4. Montfaucon Palaeographia I. 3. p. 220.
  5. Πολιτικός, wie Santenius a. a. O. S. 191 nachweist, schon bei Demosthenes in der Bedeutung, dem Gebrauche des Volkes gehörig. geg. Aristogit. p. 776. 11, wie denn auch publica und e medio sumta parallel sind bei Ovidius:

    Sumta sed e medio consuetaque verba, puellae,
    Scribite. Sermonis publica forma placet.

    Ars. amat. B. III, 479.
  6. In Jambis I. 1 Poem. Chiliad. καἶ τι (l. καί τοι τι) γάράν τις τεχνικῷ γράφῃ μέτρῳ κ.τ.λ.
  7. Tuscul. III. 19. So bemerkt zur II. ß, 87

    Ἠύτε ἔθνεα εἶσι μελισσάων ἀδινάων
    Πέτρης ἐκ γλαφυρῆς αἰεὶ νέον ἐρχομενάων

    der Biograph des Dichters S. 301 in Bezug auf den Gleichklang: τὰ τοιαῦτα μάλιστα προςτίθησι τῶ λόγω χάριν καὶ ἡδονήν.
  8. Dieses trifft alle rhetorischen Figuren, die ὀμοιοτέλευτα, ἰσοκατάληκτα πάρισα und ὀμοιόπτωτα. Vergl. Cic. Orat. c. 12. §. 12. Lucilius bei Gellius XVIII. 8. In ihnen war die Stärke der alten durch Gorgias ausgeschmückten Redekunst, die Γοργείη κεφαλὴ, welche Sokrates scherzend erblickt, wo ihm Agathon ein Hauptstück dieser Rhetorik entgegen hält, das beinah durchgehend den Reim hat. Symp. S. 107. D.

    Πραότητα μὲν πορίζων,
    ἀγριότητα δ’ ἐξορίζων,
    φιλόδωρος εὐμενείας,
    ἅδωρος δυςμενείας,
    ἴλεως, ἄγαδὸς,
    δεατὸς σοφοῖς,
    ἀγαστὸς δεοῖς
    u. f.

  9. Biblioth. Caes. S. V. C. 297. p. 545 sq.
  10. In Bibl. Cluniens. p. 1348. Santenius a. a. O. S. 19.
  11. Daß er im Neu-griechischen nothwendig weiblich seyn müsse, wie Friedmann in einer schätzbaren Abh. über die prosodischen und metrischen Eigenthümlichkeiten der neu-griechischen Sprache (Eunomia. II. S. 240) sagt, dazu ist kein Grund vorhanden, und der Gebrauch ist entgegen.
  12. Bei Fischer B. I. LXI. Er ist bei Heraklides Pontikus Alleg. Homer. p. 414. Col. erhalten worden.
  13. Aristoph. Friede V. 339. 571. 651 ff.
  14. z. B. bei Fauriel, 2. B. u. 23. 278. 284.
  15. Das. II. 71.
  16. Das. II. 148.
  17. II. 238.
  18. Das. II. 167.
  19. II. V. 428 ff. Vgl. 280. 412.
  20. Das. 397.
  21. Zum Plutus v. 253. Vergl. Hephaestion de metris, p. 16.
  22. Fauriel II. S. 416.
  23. Das. II. S. 284. u. 39. 45. 46.
  24. Das. II. 154.
  25. Das. II. 240.
  26. Lettres sur la Grèce, p. 216. und Eunomia III. S. 46.
  27. Bei Fauriel II. S. 392.
  28. Das. II. S. 134.
  29. Das. I. S. 38.
  30. Das. II. S. 80. τὸ στοιχεῖον τοῦ ποταμοῦ.
  31. Das. II. S. 391.
  32. Das. II. S. 90
  33. Das. II. S. 728.
  34. Das. II. S. 402.
  35. Das. II. S. 106.
  36. Das. I. S. 38.
  37. Das. I. S. 128.
  38. Eurip. Medea. V. 829 ff.