Die Tells-Kapelle bei Küsnacht

CCCLX. Das Troitzker Sergiuskloster Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band (1841) von Joseph Meyer
CCCLXI. Die Tells-Kapelle bei Küsnacht
CCCLXII. Die Burg Hildgardsberg in Bayern
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DIE TELLSCAPELLE

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CCCLXI. Die Tells-Kapelle bei Küsnacht.




Im Herzen der Schweiz, von bewaldeten Gebirgen umfangen, liegt der Vierwaldstädter-See. Fünf Meilen streckt er sich aus, von Altdorf bis nach Luzern; die kürzern Arme seines Kreuzes, von Küsnacht bis bei Stanz, sind vier Stunden aus einander. Er ist schmal, oft nur eine viertel, selten eine halbe Stunde breit. Dieser See weicht keinem der Alpenbecken an Mannichfaltigkeit der Schönheiten, und jede Jahreszeit schmückt seine Landschaften mit neuen Reizen. Am nördlichen Ende, wo ihm die Reuß entströmt, herrscht das Malerische, Anmuthige vor. Niedrige Hügel mit Rebengeländen, Gruppen von Bäumen und einzelne Felsparthieen bilden hier gleichsam die Propyläen zu der schauerlichen Pracht der Alpenwelt, welche die Fahrt auf dem See dem Reisenden enthüllt; – denn bald steigen die Ufer empor, die einzelnen Felsgruppen rücken zu senkrechten Feldwänden an einander, die Wohnungen der Menschen finden keinen Raum mehr, sie werden seltner und hören endlich auf. Schroff richten sich zur Rechten und Linken die Hochgebirge gen Himmel mit ihren Waldgürteln und ihren Felsenscheiteln. Kleine Gewölke spielen fast immer um ihre Brust. Da oben ruhen stille Matten und Sennhütten, und zuweilen mischt sich in das feierliche Rauschen des Sees das Geklingel einer Viehheerde, oder das Horn des muntern Hirten. Höher und immer höher werden dann die Felsmauern der Ufer; oft überhängend, oft ihre Zinnen gegen einander neigend, als wollten sie zusammen stoßen. Streckenweise sind die geschlossenen Wände völlig kahl; kein Strauch kann da Wurzeln schlagen und nicht ein Grashalm kann eine Kluft finden, in die er sich festklammere. Felsgipfel recken sich auf, die niemals ein menschlicher Fuß erstiegen hat; Horststätten sind’s der Adler und Geier, und nichts Lebendiges, außer ihnen, ist in der Höhe; nichts Reges auch, als der Staubbach, der über dem Abgrund herüber taumelt; nichts Lautes auch in der Tiefe, als Wogen- und Ruderschlag, oder das Geheul des Föhns, das den Schiffer schreckt. Ueber eine Stunde lang sieht man nicht eine menschliche Wohnung. Dann erscheint die erste wieder als Fischerhütte auf einem bematteten Vorsprung, und auf den Felsen in der Höhe die ersten Thiere, Ziegen, welche die sprossenden Kräuter suchen. Dann und wann sieht man wohl auch einen Wildheuer klimmen, der, an den Ellenbogen und Knien mit eisernen Hacken bewaffnet und mit einem Netz um seine Lenden gebunden, von Fels zu Fels zu kommen trachtet und um einen Arm voll Gras das Leben wagt. Auch die Quellen werden häufiger und in weißschäumenden Caskaden stürzen sie sich in die dunkelgrüne Fluth.

[94] In der Landschaft um diesen See, theils in den Thälern und Gründen am Fuße des Hochgebirgs, theils auf den Alpengefilden selbst voll saftiger, nahrungsreicher Kräuter, wohin vor 1900 Jahren die Trümmer der Cimbern und Teutonen aus den Römerschlachten geflohen, leben deren Nachkommen – ein Hirtenvolk – in den heutigen Cantonen Schwyz, Unterwalden und Uri in stiller, patriarchalischer Einfalt. Unbekannt sind sie mit den unermeßlichen Fortschritten des menschlichen Geistes und dem verfeinerten Genuß des Lebens; aber rein blieb bei ihnen germanischer Sinn und germanische Sitte. Keinen Gothen, keinen Hunnen, keinen Allemannen, keinen Burgunder, keinen Franken hat es jemals nach ihren armen Wildnissen und nach dem Kampfe mit den starken Männern gelüstet. Im unverkümmerten Besitz der angestammten Freiheit und ihrer Institutionen, weideten sie von jeher ihre Heerden auf den Bergen. Man sah bis tief in’s Mittelalter hinein auf ihren Höhen keine Ritterburg, keine Stadt in ihren Thälern. Lange hatten sie sogar nur eine einzige Kirche; sie stand im Muttenthale; dahin zog das Volk aus Uri, Unterwalden und Schwyz, und gleich wie nur das eine Gotteshaus alle Stämme versammelte, hatten sie auch nur eine einzige gemeinsame Obrigkeit. Dazu wählten sie, nach altdeutschem Brauch, redliche, erfahrene Männer aus ihrer Mitte.

So wurde dort germanische Art unverfälscht gepflegt durch viele Geschlechter. Als indessen der Leute zu viele geworden, so daß sie nicht mehr ein Gotteshaus fassen, daß nicht mehr ein Gericht alle Sachen schlichten und ordnen konnte, da baute sich jede der drei Landschaften am See eine eigene Kirche und wählte sich einen eigenen Landammann und Rath und Gericht. Dergestalt trennten Schwyz, Uri und Unterwalden ihr Gemeinwesen. Ueber alles Gebirg sprach damals Niemand Hoheit an, als der Kaiser, und das Volk war das wohl zufrieden, daß es des gewaltigen Fürsten Schirm genoß. Der Kaiser aber war auch zufrieden mit der bloßen Oberhoheit und ließ dem Volke die Wahl des Reichsoberrichters, der die Streitigkeiten zwischen den Stämmen als Oberinstanz schlichtete. Während in den übrigen Schweizerlanden Ritter und Klöster zu großer Macht im Volke und über dasselbe gelangten, blieben die drei Waldstätten am See reichsunmittelbar. Der Vollgenuß der Freiheit wurde, als ein Ritter des Schweizerlandes, Rudolf der Habsburger, „weil er weise und gerecht war und geliebt von Gott und den Menschen,“ von den hadernden Fürsten Deutschlands zum Kaiser gewählt worden, ihnen auch feierlich verbrieft.

Aber andere Zeiten kamen, als Rudolf gestorben war. Albrecht, sein Sohn und Nachfolger, achtete, herrschsüchtigen Sinnes, der Freiheit nicht. Da sahen Uri, Schwyz und Unterwalden Gefahr, sie traten zusammen (1291) und „in Erwägung böser Zeiten“ erneuerten sie in allgemeiner Volksversammlung feierlich den uralten Bund und schworen, fortan zu seyn wie ein Leib und ein Mann und sich gegenseitig Hülfe zu leisten gegen jeglichen Antaster ihrer Freiheit, mit allem Gut und Blut. Davonher nannte man sie Eidgenossen, ein Name, den sie führen bis auf den [95] heutigen Tag. – Albrecht, der darob Zornige, schickte Kriegerschaaren in’s Land und er selbst kam nach mit gewaltiger Heeresmacht, zettelte Parteiungen unter den Schweizern an, und die halfen ihm, die Freiheit zu zerstören. Zwar wagte er es nicht, den Freibrief zu zernichten, den sein Vater den drei Waldstätten gegeben; aber er schickte ihnen zu Reichsvögten zwei harte Männer, eingeweiht in seine Pläne, welche drücken und quälen sollten, daß ihnen der trotzige Muth wegfiele und sie sich an Willfährigkeit in seinen Willen gewöhnten. Er schickte den Hermann Geßler von Brunegg und den Beringer von Landenberg. Der Geßler baute sich zur Wohnung mitten im Lande Uri eine Zwingburg. Fortan war kein Recht mehr im Lande und Geßlers Wille das einzige Gesetz.

Aber dem Volke schien leichter der Tod, als das schmähliche Joch. Die Drei, die auf der Matte im Rütli in der Nacht am 17. December 1307 ihre Hände zum gestirnten Himmel hoben und vor dem Herrn, vor welchem Könige und Bauern gleich sind, schworen, zu ringen für die Erhaltung der Freiheit bis in den Tod; – sie wußten, daß ihr Schwur in jedem Herzen der Eidgenossen widerhallte, denn die Schmach war allen gleich und ihr Wehe fühlte Jeder. Aber der Geßler achtete keiner Zeichen und gedachte, den Hohn zur Qual zu fügen. Darum setzte er vor dem Thore seiner Burg, hart an der Landstraße, die Jeder ziehen mußte, den Hut von Oesterreich auf eine Stange, daß ihm sich Jeder verneige, der des Wegs käme; daran, so verkündigte er, wolle er erkennen, wer für, wer wider Oesterreich sey.

Und Wilhelm Tell, der Schütze aus Bürglen im Uri, trollte mit seiner Armbrust und seinem Buben vorüber, blickte hinan zum Hut, stand still und aufrecht, und neigte sich nicht. Alsbald nahmen ihn die hütenden Knechte fest und führten ihn vor den Vogt; dieser, im Uebermuthe des Tyrannenkitzels, befahl die That, die jeder Knabe weiß. Als nun der furchtlose Mann dem Geßler auf die Frage: „warum nahmst Du zwei Pfeile?“ zur Antwort gab: „der zweite galt Dir, im Fall ich fehl geschossen!“ da ließ er den Mann binden und in das Boot werfen, mit dem er nach Küsnacht zu schiffen trachtete, um ihn dort, fern von der Heimath, zu verderben. Unterwegs schickte Gott den Föhn, daß er wühle das Wasser des Sees zu Bergen auf, und in der Todesangst lies Geßler dem starken Tell die Ketten abnehmen, das Steuer zu fassen und zu retten. Er thut’s und rudert; aber, am Gestade, bei’m Axenberg, wo die nackte Felsplatte in den See tritt und jetzt das Kirchlein steht, ― da der Tell hinaus auf die Platte und das Schiff hinaus in die See! Frei war der Tell; aber wohin vor dem Vogt? Wie auch konnte er Weib und Kind als Pfand in des Tyrannen Band lassen? wie ertragen die Schmach, die man in ihm dem freien Volke angethan? – Ihn band ein Eid! –- denn (so läßt ihn Schiller reden:)

     „Im Augenblicke – als mir die Hand erzitterte,
Als du mit grausam teuflischer Lust
Mich zwangst, auf’s Haupt des Kindes anzulegen –

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Als ich unmächtig flehend rang vor dir:
Damals gelobt’ ich mir in meinem Innern,
Mit furchtbar’m Eidschwur, den nur Gott gehört,
Das meines nächsten Schusses erstes Ziel
Dein Herz seyn sollte. – Was ich mir gelobt
In jenes Augenblickes Höllenqualen,
Ist eine heilige Schuld! ich will sie zahlen.“

Mit diesem Vorsatze eilt der aller Stege kundige Schütze zur Küsnachter Straße. Wo die Kapelle jetzt steht auf der Höhe, zu welcher der Weg aus der Tiefe herauf führt, da hält er an: –

     „Durch diese hohle Gasse muß er kommen,
Es führt kein andrer Weg nach Küsnacht – hier
Vollend’ ich’s. – – – – – –
– – – – – – – – –
Mach’ deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt!
Fort must du, deine Uhr ist abgelaufen.“

Es kommt der Vogt den Hohlweg herauf geritten. Teil’s Pfeil durchbohrt das Herz des Gewaltherrn und Tell’s Volk wird – frei. – –


Fünf Jahrhunderte sind seitdem verronnen; aber unvergessen blieb das Andenken Tell’s und seiner Sinnesgenossen, welche muthvoll in den Schlachten der Freiheit ihr Leben geopfert haben. Ihre Namen kamen als Ehrennamen in allen Gemeinden auf die Nachkommenschaft. Die spätesten Enkel beteten noch für sie, und bas befreiete Land stiftete Altäre, wo Meßopfer dargebracht wurden für das Heil ihrer Seelen. Aehnlich haben die alten Völker ihre Helden geehrt. Wie Rom und Griechenland ihren Heroen Tempel und Ehrensäulen aufrichteten, so erbauete das fromme Hirtenvolk der Waldstätten den seinigen Kapellen an denjenigen Orten, wo sie ihre Thaten für’s Vaterland vollzogen hatten, und Feierlichkeiten gedachten der Tage, an welchen sie geschehen. Noch sind in den drei Urcantonen die sogenannten Kirchzüge in Gebrauch, Prozessionen, die man dahin macht, wo die Eidgenossen die junge Saat der Freiheit mit ihrem Herzblute düngten: – nach den Schlachtfeldern bei Morgarten, bei Sempach, bei Laupen, bei Murten, bei Granson. Aus dem nämlichen Sinne erstand dem Andenken Werner’s von Stauffach, eines der drei Männer des Grütli, zu Steinen schon 1400 eine besondere Kapelle; und eine zweite, die [97] des Winkelried’s, steht bei Morgarten auf der Matte. Aber vor Allen war Tell gefeiert – dessen kühne That das Volk zuerst ermuthigte, seine Kraft zu gebrauchen und die Fesseln zu zersprengen. Uri errichtete ein solches Gotteshaus seinem Tell zu Bürglen, wo er gewohnt, und ein anderes auf der Klippe am See (auf der Tellsplatte), wo er seinen Wächtern glücklich entflohen war. Nicht minder dankbar seinem Andenken weihete ihm Schwyz eine dritte Kapelle, auf demselben Plätzchen, wo er gestanden, als er bei der hohlen Gasse zwischen Immisee und Küsnacht den Vogt durch den Pfeil erlegte. Von dieser sehen wir die treue Darstellung im Bilde.

Unverändert wie das Andenken seines Helden, so ist auch das Hirtenvolk der freien Waldstätten – daß Volk von Uri, Schwyz und Unterwalden – durch die Zeiten gegangen. Fromm und gottesfürchtig, ist ihm alles Große und Ehrwürdige aus den Tagen der Vorzeit überaus theuer; vor allem die Religion und die Verfassung. Beide sind ihm heilig und nach seinen Begriffen ist jede Aenderung an letzterer ein Antasten der Freiheit selbst. Mit der Muttermilch ist in dem Waldstättner die Ehrfurcht und die schwärmerische Liebe für das aus dem Alterthum durch seiner Ahnen Muth erhaltene Landesgesetz und eben so für die mit ihm engverbundene katholische Kirche aufgewachsen. Eins ist ihm so werth, wie das andere; die Zerstörung des einen ist ihm Vernichtung des andern: – daher das hartnäckige Widerstreben jener Urcantone gegen alle Neuerungen, allen Fortschritt im Schweizerischen Volksleben, und ihr ewiger Hader mit den neuerungssüchtigen Bündnern. Die Thatsache ist zu beklagen; aber das Motiv ist ehrwürdig und gut.


Noch ein Wort. Unsere Zeit, die sich in Gegensätzen brüstende; – die Zeit, in der man es wagen konnte, das Daseyn des ehrwürdigsten aller Menschen wegzuleugnen, – die hat es auch gesehen, daß man Tell’s Namen aus der Geschichte streichen wollte. Den Advokaten und Aposteln von Tyrannei und Volksbetrug, ihnen war Tell’s praktische Lehre vom Recht der Selbsthülfe ein Aerger und Gräuel von jeher. Daher kam die Meute auf den Einfall, die Wirklichkeit eines Tell’s geradezu in Frage zu stellen und die ganze Historie als eine Lüge zu denunziiren, als die Erfindung eines müßigen Chronisten, oder als einen Traum, den man dem dummen Volke aufgebunden. Es ist nicht lange her, daß der alberne Anschlag vor dem Forum geschichtlicher Forschung mit Schimpf und Spott geendigt. Seitdem haben nun jene Anwalte die Taktik geändert. Sie zergliedern Tell’s That, weil sie sich nicht wegleugnen läßt, mit dem Messer der christlichen Moral – und vom Helden bleibt nur der Mörder zurück! Euch, ihr Anatomen des Rechts, – armen Schächern! – rufe ich zu mit unserm Schiller:

– – Eine Grenze hat der Herrscher Macht.
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

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Wenn unerträglich wird die Last – greift er
Hinauf getrosten Muthes in den Himmel
und holt herunter seine ew’gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst. – –
– Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.
– – – – – – – –

Und auf dem Boden dieses Rechts, das Ihr nicht wegleugnen könnt, weil sein Codex in jeder Menschenbrust offen aufgeschlagen da liegt, geht euer Mörder Tell in der Glorie des Heros durch die Jahrtausende, so lange Clio noch eine Tafel beschreibt.