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In der Landschaft um diesen See, theils in den Thälern und Gründen am Fuße des Hochgebirgs, theils auf den Alpengefilden selbst voll saftiger, nahrungsreicher Kräuter, wohin vor 1900 Jahren die Trümmer der Cimbern und Teutonen aus den Römerschlachten geflohen, leben deren Nachkommen – ein Hirtenvolk – in den heutigen Cantonen Schwyz, Unterwalden und Uri in stiller, patriarchalischer Einfalt. Unbekannt sind sie mit den unermeßlichen Fortschritten des menschlichen Geistes und dem verfeinerten Genuß des Lebens; aber rein blieb bei ihnen germanischer Sinn und germanische Sitte. Keinen Gothen, keinen Hunnen, keinen Allemannen, keinen Burgunder, keinen Franken hat es jemals nach ihren armen Wildnissen und nach dem Kampfe mit den starken Männern gelüstet. Im unverkümmerten Besitz der angestammten Freiheit und ihrer Institutionen, weideten sie von jeher ihre Heerden auf den Bergen. Man sah bis tief in’s Mittelalter hinein auf ihren Höhen keine Ritterburg, keine Stadt in ihren Thälern. Lange hatten sie sogar nur eine einzige Kirche; sie stand im Muttenthale; dahin zog das Volk aus Uri, Unterwalden und Schwyz, und gleich wie nur das eine Gotteshaus alle Stämme versammelte, hatten sie auch nur eine einzige gemeinsame Obrigkeit. Dazu wählten sie, nach altdeutschem Brauch, redliche, erfahrene Männer aus ihrer Mitte.

So wurde dort germanische Art unverfälscht gepflegt durch viele Geschlechter. Als indessen der Leute zu viele geworden, so daß sie nicht mehr ein Gotteshaus fassen, daß nicht mehr ein Gericht alle Sachen schlichten und ordnen konnte, da baute sich jede der drei Landschaften am See eine eigene Kirche und wählte sich einen eigenen Landammann und Rath und Gericht. Dergestalt trennten Schwyz, Uri und Unterwalden ihr Gemeinwesen. Ueber alles Gebirg sprach damals Niemand Hoheit an, als der Kaiser, und das Volk war das wohl zufrieden, daß es des gewaltigen Fürsten Schirm genoß. Der Kaiser aber war auch zufrieden mit der bloßen Oberhoheit und ließ dem Volke die Wahl des Reichsoberrichters, der die Streitigkeiten zwischen den Stämmen als Oberinstanz schlichtete. Während in den übrigen Schweizerlanden Ritter und Klöster zu großer Macht im Volke und über dasselbe gelangten, blieben die drei Waldstätten am See reichsunmittelbar. Der Vollgenuß der Freiheit wurde, als ein Ritter des Schweizerlandes, Rudolf der Habsburger, „weil er weise und gerecht war und geliebt von Gott und den Menschen,“ von den hadernden Fürsten Deutschlands zum Kaiser gewählt worden, ihnen auch feierlich verbrieft.

Aber andere Zeiten kamen, als Rudolf gestorben war. Albrecht, sein Sohn und Nachfolger, achtete, herrschsüchtigen Sinnes, der Freiheit nicht. Da sahen Uri, Schwyz und Unterwalden Gefahr, sie traten zusammen (1291) und „in Erwägung böser Zeiten“ erneuerten sie in allgemeiner Volksversammlung feierlich den uralten Bund und schworen, fortan zu seyn wie ein Leib und ein Mann und sich gegenseitig Hülfe zu leisten gegen jeglichen Antaster ihrer Freiheit, mit allem Gut und Blut. Davonher nannte man sie Eidgenossen, ein Name, den sie führen bis auf den

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/164&oldid=- (Version vom 8.12.2024)