Die Seilbrücke bei Teree im Himalaya-Gebirge

XLIX. Ruine Godesberg Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
L. Die Seilbrücke bei Teree im Himalaya-Gebirge
LI. Heidelberg
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DIE SEIL BRÜCKE BEY TIRI
in Hindostan

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L. Die Seilbrücke bei Teree im Himalaya-Gebirge.




In den colossalsten Gestalten umgürtet den Nordsaum von ganz Hindostan der Himalaya (Sanskrit und die Wohnung des Schnees bedeutend), der höchste und größte Gebirgsstock der Erde. Er umfaßt in seiner Ausdehnung vom Bramaputra bis zu den Grenzen von Cabul 16,000 Quadratmeilen. Mehr als 60 Piks dieser Kette übertreffen an Höhe die höchsten Gipfel der Anden; viele überragen den Chimborasso um 3 bis 5000 Fuß. Von gemessenen Kegeln erreicht einer (der Dhawalageri) 28,000 Fuß; aber höhere noch aus unzugänglichen Wüsten von Gletschern und Eisbergen emporstarrend, sprechen der kühn-forschenden, wagenden Wißbegierde der Sterblichen Hohn.

Die südliche Seite dieses Gebirgs steigt aus den sumpfigen, an seinem Fuße hinziehenden Niederungen Hindostan’s in breiten Terrassen bis zu seinem innersten Hochrücken auf. Die erste Terrasse wird durch eine niedrige, 3 bis 600 [11] Fuß hohe, Hügelkette gebildet, welche in einer Entfernung von 30 bis 40 Stunden vom Centralstock des Gebirges es in seiner ganzen südlichen Ausdehnung umsäumt. Die also gebildete erste Terrasse ist die Region undurchdringlicher Wälder mit der üppigsten Vegetation. Vor ihrem Pesthauch ist der Mensch geflohen; sie sind im unbestrittenen Besitz reißender Thiere. – Dann folgt ein zweites Vorgebirge, das eine Terrasse von 1500 Fuß mittlerer Höhe bildet. Auch dieses umläuft die ganze Südseite des Himalaya. Die folgende dritte Kette ist schon Alpe. Bis 7000 Fuß erheben sich ihre Spitzen. Vom Centralgebirge ist sie durch eine in den wunderbarsten Formen zerschnittenen und zerrissenen Landschaft von verschiedener, von 5 bis zu 25 Stunden wechselnder, Breite getrennt.

Erst wenn man diese Bergkette erstiegen hat, stellen des Himalaya’s Riesenmassen in ihrer ganzen überwältigenden Größe dem Auge sich dar und zagend mißt’s im reinen Blau des Aethers die glänzenden Firsten, die sich von dem Plateau des Rückens emporrecken. Zahllos stehen sie da, so weit das Auge nur reicht, wie ein himmelstürmendes Heer von Giganten. Alles Frühergesehene, Erhabene, Große, – das Wunder der europäischen Alpen, der Anblick des Caukasus, der Wiege der Menschheit, – Alles verschwindet und vergeht vor diesem Anblick und der Mensch selbst versinkt gleichsam in Nichts vor der Majestät Dessen, der mit seinem „Werde“ diesen Wunderbau aus dem Nichts hervorrief. Er fühlt’s, er hat die Stufen zum Allerheiligsten im Gottestempel der Natur betreten. –

Die Landschaft selbst, durch die er jetzt wandert, trägt den pittoreskesten Charakter. Von den Gletschern und Schneegipfeln des Centralgebirges, in seiner ganzen Ausdehnung nach Ost und West, stürzen sich reißende, gewaltige Bergströme in engen, tief ausgehöhlten Betten aus festem Urgestein durch furchtbare Klüfte und Abgründe. Steile Felswände steigen lothrecht 1, 2 bis 3000 Fuß hoch an ihnen auf, und die Gewalt ihrer Fluthen wälzt ungeheure Granitblöcke, die sich von den verwitterten Wänden in ihr Bette stürzten, wie leichten Sand oft 10 bis 15 Meilen weit fort. In Wildnissen von Bergtrümmern entspringen heiße Quellen, rauchen warme Seen, oft von den herrlichsten Matten umgeben, auf denen die Bewohner dieser wilden Gegenden, die Ghorkas etc., ihre armseligen Hütten bauten, oder überschattet von hohen Cederfichten und Tannen heiliger Haine, das Ziel pilgernder Hindus aus allen Theilen Hindostan’s. Aber das, was dem europäischen Wanderer in dieser Heimath des uralten indischen Mythen- und Heroencyklus vielleicht am meisten überrascht, ist das plötzliche Wiederfinden der europäischen Pflanzenwelt, nur in weit prangendern, vollkommneren, schönern, ausgebildetern Formen. Die europäischen Getraidearten wachsen hier wild, Aepfel, Birnen, Aprikosen, Pfirschen, Pflaumen und Kirschen, Erd-, Him- und Stachelbeeren, Kartoffeln und Rüben findet er an jedem Abhange, in jedem Gärtchen einer Hütte; und aus den blühenden Obstbäumen und duftenden Rosenhecken begrüßen ihn der Nachtigall und der Singdrossel wohlbekannte Stimmen.

[12] Schwindelnde Stege, mit Gefahr des Lebens nur für den Fußgänger oder das vorsichtige Saumthier geschickt, gehen im Zickzack über Felsenabhänge, oder an steilen Wänden, mit Bäumen besetzt, hin, oder schäumenden Gießbächen in schauerlichen Felsenschluchten entlang, an Wasserfällen hinab und hinan, oder, auf den gebrechlichsten Brücken, oft nur an einem Seile, an welchem man sich mittels eines in einem Ringe fortbewegenden Korbes hinüberschiebt, über breite Bergspalten und tosende Ströme. – Zu einem solchen Naturgemälde führt den Beschauer unser Stahlstich. Teree (Tiri) ist ein kleiner Flecken in der jetzt unter brittischer Hoheit stehenden Provinz Gurwall, ein Landstrich, der zwischen dem 30. und 31. Breitengrade die Scheidewand von Indien und China ausmacht und innerhalb dessen Grenzen die Schneefelder und Gletscher liegen, denen die zahllosen Quellen des Ganges entströmen. Eine derselben, der wüthenden Bhagrettee strömt unterhalb Teree durch eine tiefe, 10 Meilen lange, schauerliche Kluft dem größern Hauptarme zu. – Wegen der Schaaren von Hindus, welche den Quellen des heiligen Flusses und der Wallfahrtsstätte Almohrah alljährlich zupilgern, hat man seit undenklicher Zeit bei Teree eine jener einfachen Brücken über den Strom gebaut, die dem Europäer die erste Idee zu seiner Kettenbrücke abgaben und aus nichts bestehen, als aus 2 parallel nebeneinander ausgespannten Tauen aus starkem Sumpfgrase, über welche Bambusstäbe und auf diese Schilf gebreitet sind. Auf so gebrechlicher Unterlage müssen Reisende das jenseitige Ufer erreichen! – Der an solche Uebersetzmittel nicht gewöhnte Europäer läßt sich gewöhnlich noch ein drittes Seil in Schulterhöhe über die Brücke spannen, an dem er sich bei’m Uebergehen hält. Im Takt folgt er dann mit seinem Gange der schwingenden Bewegung der ganzen Brücke, welche sein erster Tritt auf dieselbe verursacht. – Es bleibt immer ein Wagstück; und daß ein solches Reisen für den in Indien so bequemen Europäer nichts Einladendes hat, kann man sich denken; dennoch aber werden diese Alpregionen seit einigen Jahren von Engländern häufig besucht, welche in der heißen Jahreszeit die drückende Schwüle und den Gifthauch des üppigen Gangesufers verlassen, um sich hier vor den typhosen, lebenzerstörenden Fiebern der bengalischen Ebene zu schützen. Die armen Bergbewohner sind es dann, welche die fremden Herren ihres Landes die steilen Pfade hinauf zu ihren stillen Asylen geleiten; denn der ostindische Sänftenträger, weicher und bequemer noch wie sein Gebieter, scheut den beschwerlichen und gefahrvollen Weg. Und so ist es nichts seltnes geworden, in jenem fernsten Alpenlande Gesellschaften von Engländern zu begegnen, oder zu hören ihres stolzen RULE BRITANNIA’S Wiederhall von des Himalaya’s ewigen Firsten!