Die Paulskirche in London

CCCXXXVII. Panama in Mittelamerika Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band (1841) von Joseph Meyer
CCCXXXVIII. Die Paulskirche in London
CCCXXXIX. Antwerpen
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DIE PAULSKIRCHE IN LONDON

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CCCXXXVIII. Die Paulskirche in London.




Braucht Gott ein Haus von Menschen Hand? Sterblicher! blicke hinauf in’s Himmelsblau, blicke hinab, wo ungesehene Welten ziehen, denke die Unermeßlichkeit des Alls, wo Milchstraßen wie Regenbogen entstehen und vergehen vor dem Auge der Ewigkeit, und frage dich, ob der Herr und Schöpfer dieses Alls dein steinern Haus braucht? – Braucht die Anbetung ein solches? Sterblicher! thue den hohen Tempel deines Innersten auf, den Gott dir selbst in die Seele gebaut hat, trete da vor den Altar der ewigen Liebe mit der Flammen-Aufschrift: „Zage nicht, du bist unsterblich!“ und der Frage wirst du lächeln.

Aber nicht Jeder faßt es, daß jedes Menschenherz ein Tempel sey und in jedem Herzen Gott wohne, und so richtet der Verehrungsdrang des Menschengeschlechts dem Herrn vergängliche Gebäude auf. So hat es gethan von Anfang an, und so wird es thun in Zeiten, die fern sind.


Die Paulskirche in London, der größte aller Tempel der protestantischen Christenheit, der an Größe nur Rom’s Sankt Peter nachsteht, nimmt die Stelle ein, wo in der Römerzeit ein Dianentempel gestanden hat. Cubert, ein König von Essex, war es, der im 7. Jahrhundert hier die erste Cathedrale baute. Brand zerstörte sie um das Jahr 900; sie ward abermals durch Feuer verheert um 1070 und wieder aufgebaut. Nochmals vernichteten sie die Flammen und sie erstand zum drittenmale im 13. Jahrhundert, herrlicher als zuvor, geschmückt mit einem 520 Fuß hohen Thurm, dem höchsten der Welt. Und zum viertenmale verging sie im großen Brande von 1665, worauf die heutige Paulskirche an ihre Stelle trat. Diese ist ein Werk Wren’s, des größten Architekten, den England je gehabt hat.

Am 1. Juni 1675 wurde der erste Grundstein gelegt, und 1710 setzte Wren, der Sohn, den letzten Stein auf den Gipfel der Laterne; 35 Jahre hatten also hingereicht, diesen Riesenbau zu vollenden, welcher über London’s unübersehliche Häuserwelt sich hebt, wie ein Adler über niedriges Gewürm, oder die [28] Ilias über gedankenloses Geschwätz. Die Kosten betrugen (was unglaublich scheint) nur 748,000 Pfund Sterling (etwa 9 Millionen Gulden), und die Revision der Baurechnung gab der Redlichkeit und Sparsamkeit des Baumeisters das glänzendste Zeugniß. Dennoch wurde Wren mit Undank belohnt. Er sah sich durch Neid, Unwissenheit und Cabale genöthigt, sich in’s Dunkel zurück zu ziehen, wohin ihn Lästerung und Schmähung folgten. Erst nach seinem Tode fanden seine Verdienste und Tugenden Anerkennung. Man begrub ihn in St. Paul’s tiefster Gruft, damit sich der herrliche Tempel gleichsam wie ein Mausoleum, das er selbst gebaut, über seine Asche wölbe, und schrieb auf seinen Grabstein: – „Dieser Kirche und dieser Stadt Erbauer ruhet hier. Nicht sich, dem Gemeinwohl hat er über neunzig Jahre gelebt. Suchst du sein Denkmal? – schaue umher!“ –

Die Grundfläche von St. Paul bildet ein lateinisches Kreuz, und ihre Dimensionen geben denen der Peterskirche in Rom nur wenig nach. Der Queerarm ist zwischen den äußern Mauern 252 rheinische Fuß lang; der Langarm 520 Fuß und die Grundmauern sind 40 Fuß tief in die Erbe gesenkt. Der innere Raum ist durch zwei, fast 100 Fuß hohe, Pfeilerreihen in 3 Schiffe geschieden. Die Stärke dieser Pfeiler ist 10 Fuß; die der Seitenmauern nicht weniger als 15. Die gewölbte Haube (der große Dom) erhebt sich von der Kirchenflur 216, bis zur Laterne 280 Fuß empor. Die Gesammthöhe der Kirche vom Straßenpflaster bis zur Kreuzesspitze beträgt 372 Fuß. Aber unter diesem Bau über der Erde wölbt sich ein zweiter, unterirdischer – ein Labyrinth von Räumen, Sälen, Gängen, getragen von Kreuzgewölben, deren Bogen 22 Fuß hoch sind. Diese weiten Hallen sind für die irdischen Reste menschlicher Größe bestimmt und es finden drittehalbtausend Särge Raum. Sie sind bis jetzt fast leer geblieben und erst in einigen sieht man Grabmonumente mit berühmten Namen. Darunter Nelson’s. Der prächtige Sarkophag, der des Helden Gebeine umschließt, ist der nämliche, welchen sich der „große Kardinal“ (Wolsey) in den Tagen seines Glanzes anfertigen ließ. Bekanntlich starb Wolsey nach seinem Sturze vom Gipfel der Macht, als ein Gefangener.

Der über der Mitte des Kreuzes sich erhebende große Dom (nach der Kuppel der Peterskirche die größte in der Welt) hat 100 Fuß Durchmesser, und seine elliptische Form gibt ihm ein gefälliges, edles Ansehen. Auf jeder Seite derselben erhebt sich ein über 100 Fuß hoher Glockenthurm.

Drei noble Portiken zieren die drei Eingänge, und zum größten derselben, auf der Westfronte, führt eine Prachttreppe von 28 Stufen aus schwarzem Marmor. Entstellt wird leider die äußere Ansicht durch ein hohes, häßliches Eisengeländer von 3 Zoll dicken Stäben, das den Tempel ringsum einfaßt und durch die an ihn drängenden Hausermassen, welche von keiner Seite eine Uebersicht des Ganzen zulassen. Den besten Blick auf die obere Hälfte der Cathedrale hat man, an günstigen Tagen, von der andern Seite der Themse, von welcher auch die Aufnahme unsers Bildes geschehen ist.

[29] Das Innere der Paul’s-Kirche läßt kalt, und den peinlichen Eindruck des Oeden zurück; denn nur das hohe Chor wird gegenwärtig zum Gottesdienste gebraucht. Die Episcopal-Gemeinde ist nämlich, nach Abtrennung einer Menge Sekten, die in diesem Stadtviertel viele Bethäuser und Capellen haben, so klein geworden, daß sie auch das Chor nur nothdurftig ausfüllen kann. Die übrigen Räume tragen den Charakter der größten Verlassenheit und Unkirchlichkeit. Zwar hat man gesucht, die Nacktheit durch Aufstellung kostbarer Monumente zu entfernen; aber es ist dies schlecht gelungen. Gewiß war es kein glücklicher Gedanke, im Vorhofe des Hauses eines Alles mit Liebe und Erbarmen umfassenden Schöpfers die colossalen, von ihren Piedestalen finster herabblickenden Statuen von 30 bis 40 Kriegsfürsten zu versammeln, denen Trommeln, Kanonen, Spieße, Bomben, Kugelhaufen und alle Werkzeuge zur Zerstörung von Menschen und Menschenglück, in Marmor gemeißelt, zu Füßen liegen, und über deren Häupter zerschossene Fahnen und Standarten hängen, Zeugen und Trophäen der Siege, in welchen das Blut der Brüder in Strömen vergossen ward. Man irrt von einem Monumente zum andern, liest die Namen: – Namen von lauter Generälen, Admirälen und ihren Schlachten. Da fühlt man sich wie in der Vestibule eines Invalidenhauses, und gewiß würden diese glänzenden, blutigen Namen auf dem weißen Marmor mit sammt ihren Bildsäulen und Siegeszeichen in Greenwich und Chelsea eine passendere Stelle gefunden haben, als hier. War in der That für den schönsten Tempel der protestantischen Christenheit eine schickliche Ausschmückung so schwer zu ermitteln in dem Lande, das an Menschen, die ihr Leben edeln Bestrebungen widmen, so reich ist? Hat man das Unschickliche nicht gefühlt, als man Howard’s Statue in solcher Gesellschaft aufgerichtet? Was thun die Söhne des Kriegs neben dem Apostel der Humanität? Was die blutigen Glücksspieler der Schlachten neben der heitern Gestalt eines Engels, der den Trost in die tiefen Kerker trug und die schaudervollsten Verließe in allen Ländern den erwärmenden Strahlen der Menschlichkeit öffnete. Howard’s Monument allein – jene erhabene Gestalt, die dir voll verklärter Freude den Schlüssel entgegen hält und mit der andern Hand auf zerschlagene Fesseln hinweist – sie würde durch den an ihr entzündeten Gedanken den ungeheuern Raum ausfüllen und die Oede vergessen machen. Aber wenn man, wie es jetzt geschieht, fortfährt, Sankt Paul gleichsam zur Schädelstätte aller brittischen Schlachtfelder auf Meer und Land zu verkehren, so werden seinem Beschauer nie die Gefühle nahe treten, die ihn immer an solchen Ort begleiten sollten. Unmöglich ist’s, die Symbole des Menschen- und Völkermords mit denen der Anbetung eines väterlichen Gottes zu vereinen, unheimliche, peinigende Vorstellungen müssen jeden Betrachter bestürmen und heraus muß er sich sehnen aus dem profanirten weiten, herrliches Gotteshause in der stillen Andacht enge Zelle.