Antwerpen (Meyer’s Universum, 1841)
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Lange schon haben wir kein niederländisches Landschaftsbild wieder gesehen und das heutige ist so schön, als hätte das Original einem Waterloo zum Conterfei gesessen. Es gibt die Ansicht der Hauptstadt Flanderns vom Deck des Dämpfers aus (von der Schelde) in zweistündiger Entfernung.
Schon bei der Insel Walcheren erreicht der seewärts nach Antwerpen Reisende den Strom, an dessen südlichem Thore Vließingens stundenlange Festungswerke mürrisch Wache halten, dräuend, nicht schützend. Von da bis etwa 8 Meilen aufwärts gleicht das 2 bis 3 Stunden weite Gewässer einem sich tief in’s Land hineinstreckenden Arm des Meers, und erst unterhalb des Forts Lillo nimmt es die eigentliche Stromgestalt an. Auf jener breitern Strecke ist man von der Landschaft selbst wenig gewahr geworden; nur dann und wann ragte eine Thurmspitze, wie ein Obelisk, einsam über die hohen Dämme empor, welche die Gestade umpanzern. Erst weiter aufwärts wird der Dammgurt niedriger, und mit Verwunderung schweift das Auge von dem hohen Verdeck über das weite Tiefland. Tausendjähriger Fleiß hat es, sonst unfruchtbare Sanddünen oder Sümpfe, wie wir sie noch an den Hannoverisch-Oldenburgischen Mooren und Haiden sehen, in einen endlosen Park umgeschaffen, – einen Park freilich ohne Fels, Berg und Wald, aber voll der üppigsten Grasgründe und fruchtbarer Felder, durchzogen von unzählichen Canälen und Deichen, auf welchen, umgeben von Baumgruppen, oder neben theils klaren, theils schilfreichen Seen, Landsitze, Windmühlen, Weiler und Dörfer winken, die, mit den grasenden stattlichen Heerden, die Staffage malerischer, wechselvoller Landschaftsbilder ausmachen. Je näher Antwerpen, je reger wird das Leben auf dem Strome selbst, und je sorgfältiger die Cultur, je dichter wird auch die Bevölkerung der immer näher zusammenrückenden Ufer. Schneller und immer schneller fliegen dann die Städte, Flecken, Schlösser und Landsitze vorüber! Schanzen und Forts – wie unheimliche Hüter eines großen Schatzes oder wie die Vorposten eines Heers, – werden in rascher Aufeinanderfolge sichtbar; so, zuerst Fort Lillo, dann Lieftenshoek, und einander gegenüber die alten Werke vom Fort Philipp und Maria. – Endlich, mitten in der reichen, bunten Landschaft, tief im Hintergrunde des Wasserspiegels, tritt die stolze Münsterpyramide Antwerpens sichtbar hervor. Wie ein Candelaber steigt sie in die Wolken. Nach und nach gucken der Thürme immer [31] mehr heraus, dann die Citadelle mit ihren Riesenwerken, und endlich der Mastenwald, hinter dem sich die 12,000 Häuser der Stadt in Rauch und Nebel verstecken. –
Es blüheten schon in uralter Zeit in Antwerpen Gewerbe und Handel, und in den Kreuzzügen wurde die Stadt mit dem steinreichen Brügge und dem glänzenden Gent die Perle Niederlands geheißen. Besonders war Antwerpens Verkehr mit den Normannen groß, und dort die Hauptniederlage der Produkte der baltischen Länder. Doch erst mit dem Sinken Venedigs stieg es zu der Handelsgröße empor, von der nur das heutige London einen würdigen Begriff zu geben vermag. Während Spanien selbst durch Auswanderung nach Amerika sich entvölkerte und an der Colonisirung des reichen Welttheils sich entkräftete, beutete Antwerpen durch seinen Handel die Schätze der neuen Welt aus, und das Gold Peru’s und Mexiko’s häufte sich da und in andern Städten Holland’s und Flandern’s zu jenem colossalen Reichthum an, der diesen kleinen Ländern später die Kraft gab, den Kampf auf Leben und Tod mit dem größten Weltreiche nicht nur zu wagen, sondern auch siegreich zu bestehen.
Unter dem Schutze der alle Meere beherrschenden spanischen Flagge, begünstigt durch die wichtigsten Privilegien und im Genusse einer fast republikanischen Freiheit, versammelte Antwerpen im sechzehnten Jahrhundert die unternehmendsten Kaufleute der Erde in seinen Mauern. Der jährliche hiesige Waarenumsatz wurde in der Regierungszeit Carl’s V. auf 500 Millionen Gulden geschätzt. Oefters lagen 3000 Schiffe zugleich im Hafen, und es war nichts Ungewöhnliches, daß die Fahrzeuge 3 bis 4 Wochen lang harren mußten, ehe sie nur an die Kayen zum Entlöschen gelangen konnten. Die Venetianer, von denen, nach dem veränderten Gang des Welthandels, sich viele hier ansiedelten, gestanden selbst, das Antwerpens Handel zu dieser Zeit weit größer war, als der ihrer Vaterstadt zu ihrer blühendsten Periode. Ueber 200,000 Einwohner drängten sich auf den Raum, der jetzt mit 90,000 dicht bevölkert erscheint. Sprichwörtlich war Antwerpner Reichthum durch die ganze Welt, und dieser Reichthum wußte nicht blos zu genießen, auch Kunst und Wissenschaft erblüheten herrlicher unter seinen Fittigen, als die in Egoismus versunkene Neuzeit begreifen kann.
So großer Flor hätte viele Jahrhunderte lang dauern und sich fortentwickeln können, hätte es mehr bedurft, als eines Despoten Faust, um das, was unter dem Zusammenwirken der günstigsten Verhältnisse aufgebaut worden und was so viele Fürsten gepflegt hatten mit sorgsamer Hand, wieder zu zertrümmern. Auf Carl V. folgte ein Philipp II. Vergeblich hatte ihm Carl, Angesichte der flamändischen Nation, das Gelübde aufgelegt, mit Weisheit und Güte zu regieren und das Werk des Gedeihens zu erhalten; ein Philipp, bei dem Blutgerüste, Möncherei, Inquisition, Unwissenheit und Aberglauben als die Grundpfeiler galten, auf dem allein sich der Bau der Fürstengewalt würdig erheben müsse, konnte ein Volk weder lieben noch achten, das, seiner Kraft sich [32] bewußt, Anerkennung und Schutz seiner Rechte und Freiheiten von seinem Herrscher als Etwas forderte, was nicht als Gnade empfangen seyn will, sondern als Etwas, was nicht verweigert werden kann. Das nannte Philipp Uebermuth, und er sandte ein Heer von Söldnern, Pfaffen und knechtischen Beamten in’s Land, auf daß sie der Flamänder stolzen Sinn zur Demuth beugen, und der Nation blinde Fügsamkeit in seinen Willen lehren sollten. Es ward ein System aufgerichtet der raffinirtesten Plackerei und Bedrückung, aufgehoben ward die garantirte Gewissensfreiheit, Ketzergerichte eingesetzt und auf jede Beschwerde mit Hohn und Verachtung erwiedert. Als endlich die Last zur Unerträglichkeit sich steigerte, da ergriffen die Flamänder das letzte, heilige Rettungsmittel der Völker gegen Tyrannen – die Waffen. So begann jener Kampf des kleinen Niederlands gegen das spanische Weltreich, der den größten Dichter der Neuzeit als würdigen Beschreiber gefunden hat. Ueber ein halbes Jahrhundert hat dieser Kampf gedauert, in dem ein kleines Handels- und Gewerbsvolk gegen den mächtigsten Monarchen der Erde, zum Erstaunen der Zeitgenossen, zur ewigen Lehre für die Nachwelt und für alle Völker auf immer ein herzerhebendes, begeisterndes Beispiel, endlich seine Freiheit und Unabhängigkeit errungen. Vergebens bluteten auf Alba’s, des spanischen Feldherrn und Statthalters, Befehl an 18,000 flamändische Bürger unter dem Beile des Henkers; vergebens erschöpfte Philipp alle Mittel der Macht: Versprechung, Bestechung, Verfolgung, Lüge und die Schrecken der Grausamkeit; vergebens sandte er Heer auf Heer und Flotte auf Flotte: Fruchtlos waren des Despoten Anstrengungen gegen den eisernen Heldensinn, und Freiheit und Unabhängigkeit waren dessen Lohn und dessen Triumph.
Freilich nicht ohne furchtbare Opfer. Die offenen Provinzen wurden nach mancher verlornen Schlacht von den spanischen Völkern durchzogen, Verheerung war in ihrem Geleite, und Handel, Gewerbe, Künste flohen vor ihren Schritten. Den höchsten Preis hatte Antwerpen zu zahlen; es wurde belagert (1585), fiel nach einer heldenmüthigen Vertheidigung, und der größte Theil seiner Kaufleute flüchtete mit ihren Geschäften in das durch seine Lage geschütztere Amsterdam. Und als im Westphälischen Frieden die Schelde für die Niederlande geschlossen wurde, da stürzte das kaum wiedererstandene Gebäude seines Handelsflors gänzlich zusammen.
Seit dieser Zeit bis Anfang des jetzigen Jahrhunderts blieb Antwerpen mit schwachen Wechseln ein Platz ohne Bedeutung, und die Volksmenge sank allmählich bis auf 40,000 herab. Erst Napoleon, dessen Scharfblick die herrliche Lage Antwerpens für den Welthandel erkannte, faßte und verfolgte den Riesengedanken, aus Antwerpen für sein Continentalreich ein zweites London zu machen und stattete es von neuem mit den Bedingungen aus, die es ihm vermöglichten, allmählich wieder zu erlangen die Größe vergangener Zeiten. Napoleon hat auf die Reinigung der versandeten und unzugänglich gemachten Schelde, auf die Ausgrabung der Bassins und Docks, auf die Erbauung des Arsenals etc. etc. über 60 Millionen Franken verwendet, und wenn er auch nicht vermögend gewesen ist, selbst seinen Plan auszuführen, so wird doch Antwerpen, das die Früchte seiner [33] Aussaat ärndtet, ihn immer als seinen größten Wohlthäter zu preisen haben. So Vieles und so Großes, als durch Napoleon für Antwerpen geschehen ist, wäre nie geschehen, am allerwenigsten unter der holländischen Herrschaft, unter welche es, nach dem Sturze des französischen Kaiserreichs, 1815 gelangt war.
Der allgemeine Frieden gab Antwerpen den vollen Gebrauch seiner Kräfte, und schon 1815 klarirten wieder fast 4,400 Schiffe in den anderthalb Jahrhunderte lang verödet gewesenen Hafen ein. Fort und fort nahm Antwerpens Verkehr zu. Er hatte schon den von Amsterdam und Rotterdam, seiner alten Rivalen, überflügelt und sich wieder zum Weltmarkte vom ersten Range gehoben, als die Abtrennung Belgiens von Holland sein Gedeihen von neuem erschütterte. Antwerpen, nun ein belgischer Hafen, sah sich plötzlich ausgeschlossen von der Theilnahme an den großartigen Geschäften mit den holländischen Colonien, und die Holländer, im Besitz der Citadelle und der Scheldemündungen, häuften Drangsal auf Drangsal, und Verluste auf Verluste auf die lange schutzlos gelassene Stadt. Von ihnen wurde das Entrepot in Brand geschossen und es verzehrten die Flammen für viele Millionen Güter. Endlich befreite die denkwürdige Belagerung und Eroberung der Citadelle (1831) durch ein französisches Heer Antwerpen und seinen Strom von den holländischen Drängern, und Belgiens sich riesenhaft entwickelnde Industrie, in Verbindung mit den Vortheilen, die ein das ganze Land überspannendes Eisenbahnnetz, dessen Hauptstrang in Antwerpen endigt, dem Handel gibt, ersetzte reichlich, was es durch die Ausschließung vom holländischen Colonialhandel verloren hatte.
Nach diesem geschichtlichen Ueberblick werfen wir einen in die Stadt selbst. – Den ersten Eindruck, den wir da empfangen, ist das Leben auf Straßen und Plätzen. Ueberall ist Thätigkeit, überall Auf- und Abladen der Waaren, Hin- und Hertragen der Ballen und Geldsäcke; überall eilende Commis und dichte Schaaren von Arbeitern. Alles scheint auf der Flucht, um die entschwindende Zeit zu haschen. Aber auch das architektonische Bild der Stadt selbst ist gar reich und mannichfaltig. Im älteren Stadtkern, der noch den Typus der großen altflandrischen Zeit bewahrt, stehen in breiten, heitern Straßen wohlerhaltene Giebelhäuser, tüchtigen und wohlhabigen Ansehens: theils im ältern Style mit einfachen Streifen, theils reicher mit Heiligenbildern, oder mit mythologischen und allegorischen Gestalten verziert; nicht selten wechselnd mit alt-gothischen Kirchen, oder vormaligen, in Wohnungen umgebauten Klöstern, oder größeren öffentlichen Gebäuden. Bei dieser Alterthümlichkeit (welche sich hier weit großartiger, als in den deutschen mittelalterlichen Städten, z. B. Aachen, Frankfurt, Nürnberg, Augsburg etc., äußert) ist nirgends Verfall, nirgends Vernachlässigung oder Mangel zu sehen; das Alte ist so wohl erhalten, wie das Neueste, und seine sorgfältige, liebevolle Pflege thut Augen und Herzen wohl. Nichts Winkliches, Kleinliches, Beengendes auch! Geräumige Straßen wechseln mit geräumigen Marktplätzen und hie und da läuft eine Reihe alter Rüstern neben breiten, klaren Kanälen hin. Das Ganze ist ein heiteres, fröhliches Bild, das an [34] die alten, großen Städte Oberitaliens erinnert. An diesen Kern schließen sich die neuen Straßen und Plätze an, mit modernen Prachtwohnungen, wo der Reichthum sich häuslich eingerichtet, oder weitläufige Fabrikgebäude mit dampfenden Schornsteinen dahinter und im Innern dröhnende, stöhnende Dampfmaschinen. Ueberall aber glänzen elegante Kaufläden, die Magazine der tausendfachen Bedürfnisse der Bequemlichkeit und des Luxus.
Unter den Gebäuden der Stadt zieht uns des Doms dunkle colossale Masse am meisten an, als weltberühmtes Meisterstück altdeutscher Kirchenbaukunst und durch die Kunstschätze, mit welchen die bilderfrohe Frömmigkeit früherer Lage sein Inneres schmückte. Er ist ein Werk des 13. Jahrhunderts, und sein Bau erforderte 88 Jahre. Der 440 Pariser Fuß hohe Thurm ist jetzt der höchste in Europa. Die Malereien machen diese Kirche zu einem Museum, und kaum minder kostbar als die Gemälde sind die Meisterstücke der Holzsculptur an Kanzeln, Betpulten, Chorstühlen etc. etc., von welcher fast alle Antwerpner Kirchen mehr oder weniger Vortreffliches aufweisen. Unter den Domgemälden ist das herrlichste die Kreuzabnahme von Rubens, des Meisters Hauptwerk, das aber leider schnell seinem Untergange zueilt. Rubens selbst ruht, umgeben von andern seiner Werke, in der Jacobskirche, und sein Haus (in der Rubensstraße) wird von der begeisterten Ehrfurcht erhalten, die dem großen Künstler erst kürzlich ein schönes Denkmal errichtet hat. – St. Paul (bei den Dominikanern), St. Andreas, die Augustinerkirche, so wie die Kirche des heil. Antonius von Padua enthalten alle kostbare Werke der flämischen Schule: namentlich viele von Rubens, viele von Van Dyk, Jordaens, Teniers, Franz Floris; auch einige kostbare Bilder der alt-niederländischen, oder van Eyck’schen Schule. – Des hiesigen Museums Bilderschatz hat Weltruf. Nur allein 11 Rubens und 6 van Dyck’s bewahrt es; außerdem die schönsten Werke von Franz Floris, Matsis u. a. – Noch zieht im älteren Stadttheile ein gewaltiges, finsteres Gebäude die Aufmerksamkeit jedes Fremden auf sich: der Palast der Hansa, (die Ostrelins), mit seinen massiven Hallen, ein Stück aus Antwerpen’s großer Vorzeit. Sodann das Rathhaus, weniger colossal zwar, als die Brüsseler und Genter, aber im heitern gothischen Style; endlich die Börse, das erste Gebäude dieser Art im nördlichen Europa, und das Prototyp aller übrigen. Sie ist im 16ten Jahrhundert gebaut worden, in der Zeit, als Antwerpen der Mittelpunkt des Welthandels war. Damals versammelten sich 6000 Kaufleute täglich in ihren Säulengängen und man hörte da alle Idiome und Sprachen der Erde.