Textdaten
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Autor: Adolf Loos
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Titel: Die Herrenmode
Untertitel:
aus: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 19–25
Herausgeber: Franz Glück
Auflage:
Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1962
Verlag: Herold
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Erscheinungsort: Wien
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: PDF bei Commons
Kurzbeschreibung: Loos pflegte eine Kleinschreibung (außer bei Satzanfängen und Namen) auch bei seinen Titeln, wie den Inhaltsverzeichnissen zu entnehmen ist (im Buch selbst sind die Titel in Versalien gesetzt). Um Irritationen zu vermeiden, werden die Titel in der gewohnten Groß-Kleinschreibung gegeben
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[19]
DIE HERRENMODE
(22. mai 1898)


Gut gekleidet sein – wer möchte das nicht? Unser jahrhundert hat mit den kleiderordnungen aufgeräumt, und jedem steht nun das recht zu, sich wie der könig anzuziehen. Als gradmesser für die kultur eines staates kann der umstand gelten, wie viele seiner einwohner von dieser freiheitlichen errungenschaft gebrauch machen. In England und Amerika alle, in den Balkanländern nur die oberen zehntausend. Und in Österreich? Ich wage diese frage nicht zu beantworten.

Ein amerikanischer philosoph sagt irgendwo: Ein junger mann ist reich, wenn er verstand im kopf und einen guten anzug im kasten hat. Dieser philosoph kennt sich aus. Der kennt seine leute. Was nützte aller verstand, wenn man ihn nicht durch gute kleider zur geltung zu bringen vermöchte? Denn die engländer und die amerikaner verlangen von jedem, daß er gut gekleidet ist.

Die deutschen aber tun noch ein übriges. Sie wollen auch schön gekleidet sein. Tragen die engländer weite hosen, so weisen sie ihnen sofort nach – ich weiß nicht, ob mit hilfe des alten Vischer[H 1] oder des goldenen schnittes –, daß dies unästhetisch sei und nur die enge hose anspruch auf schönheit machen könne. Polternd, schimpfend und fluchend lassen sie trotzdem ihre hose von jahr zu jahr breiter werden. Die mode ist eben eine tyrannin, klagen sie. Doch was geschieht? Ist eine umwertung der werte vorgenommen worden? Die engländer tragen wie­der enge beinkleider, und nun wird genau mit denselben mitteln der beweis für die schönheit der mit einem male breiten hose geführt. Werde einer klug daraus!

[20] Die engländer aber lachen über die schönheitsdurstigen deutschen. Die Venus von Medici, das Pantheon, ein bild von Botticelli, ein lied von Burns, ja, das ist schön! Aber eine hose!? Oder, ob das jaquett drei oder vier knöpfe besitzt!? Oder, ob die weste hoch oder tief ausgeschnitten ist!? Ich weiß nicht, mir wird immer angst und bang, wenn ich über die schönheit solcher sachen diskutieren höre. Ich werde nervös, wenn ich schadenfroh im hinblicke auf ein kleidungsstück gefragt werde: „Ist das vielleicht schön?“

Die deutschen aus der besten gesellschaft halten es mit den engländern. Sie sind zufrieden, wenn sie gut angezogen sind. Auf schönheit wird verzichtet. Der große dichter, der große maler, der große architekt kleiden sich wie die engländer. Der dichterling, der malermeister und der künstlerarchitekt aber machen aus ihren körpern altäre, auf denen der schönheit in form von samtkrägen, ästhetischen hosenstoffen und secessionistischen krawatten geopfert werden soll.

Gut angezogen sein, was heißt das? Es heißt: korrekt angezogen sein.

Korrekt angezogen sein! Mir ist, als hätte ich mit diesen worten das geheimnis gelüftet, mit dem unsere kleidermode bisher umgeben war. Mit worten wie schön, schick, elegant, fesch und forsch wollte man der mode beikommen. Darum handelt es sich aber gar nicht. Es handelt sich darum, so angezogen zu sein, daß man am wenigsten auffällt. Ein roter frack fällt im ballsaale auf. Folglich ist der rote frack im ballsaale unmodern. Ein zylinder fällt auf dem eise auf. Folglich ist er auf dem eise unmodern. Alles auffallen gilt in der guten gesellschaft für unfein.

[21] Dieser grundsatz ist aber nicht überall durchführbar. Mit einem rocke, der im Hydepark unbeachtet bleiben würde, kann man in Peking, in Sansibar und auf dem stephansplatz sehr wohl auffallen. Er ist eben europäisch. Man kann doch nicht verlangen, daß sich derjenige, der auf der höhe der kultur steht, in Peking chinesisch, in Sansibar ostafrikanisch und auf dem stephansplatz wienerisch anzieht! Der satz erhält daher eine einschränkung. Um korrekt gekleidet zu sein, darf man im mittelpunkte der kultur nicht auffallen.

Der mittelpunkt der abendländischen kultur ist gegenwärtig London. Nun könnte es einem wohl dort passieren, daß man bei einem spaziergang in gegenden gerät, in denen man sehr von seiner umgebung abstäche. Man müßte von straße zu straße den rock wechseln. Das geht nicht an. Wir können also unseren lehrsatz vollständig formulieren. Dieser lautet: Ein kleidungsstück ist modern, wenn man in demselben im kulturzentrum bei einer bestimmten gelegenheit in der besten gesellschaft möglichst wenig auffällt. Dieser englische grundsatz, der jedem vornehm denkenden zusagen dürfte, begegnet aber in den deutschen mittel- und niederkreisen lebhaftem widerspruch. Kein volk hat so viele gigerln wie die deutschen. Ein gigerl ist ein mensch, dem die kleidung nur dazu dient, sich von seiner umgebung abzuheben. Bald wird die ethik, bald die hygiene, bald die ästhetik herangezogen, dieses hanswurstartige gebaren erklären zu helfen. Vom meister Diefenbach bis zum professor Jäger,[H 2] von den „modernen“ dichterlingen bis zum wiener hausherrnsohn reicht ein band, das alle geistig miteinander verbindet. Und trotzdem vertragen sie sich nicht miteinander. Kein gigerl gibt zu, eines zu sein. Ein gigerl [22] macht sich über das andere lustig, und unter dem vorwande, das gigerltum auszurotten, begeht man immer neue gigerleien. Das moderne gigerl oder das gigerl schlechtweg ist nur eine spezies aus einer weit verzweigten familie.

Dieses gigerl haben die deutschen im verdacht, daß es die herrenmode angibt. Das ist aber eine ehre, die diesem harmlosen geschöpf nicht zukommt. Aus dem gesagten geht schon hervor, daß sich das gigerl nicht einmal modern kleidet. Damit wäre ihm auch nicht gedient. Das gigerl trägt immer das, was seine umgebung für modern hält.

Ja, ist denn das nicht mit dem modernen identisch? Keineswegs. Daher sind auch die gigerln einer jeden stadt verschieden. Was in A imponiert, hat in B schon seinen reiz verloren. Wer in Berlin noch bewundert wird, läuft gefahr, in Wien ausgelacht zu werden. Die vornehmen kreise aber werden stets jenen änderungen der mode den vorzug geben, die den mittelklassen am wenigsten zum bewußtsein kommen. Durch kleiderordnungen sind sie nicht mehr geschützt, und es ist ihnen nicht angenehm, gleich am nächsten tag von jedermann kopiert zu werden. Da müßte man sich sofort nach ersatz umsehen. Um dieser ewigen jagd nach neuen stoffen und schnitten enthoben zu sein, wird nur zu den diskretesten mitteln gegriffen. Jahrelang wird die neue form wie ein offenes geheimnis der großen schneider sorgsam gehütet, bis sie endlich durch ein modejournal ausgeplaudert wird. Dann dauerts noch ein paar jahre, bis selbst der letzte mann im lande davon kenntnis erhält. Und nun kommen erst die gigerln an die reihe und bemächtigen sich der sache. Aber durch die lange wanderschaft hat sich die ursprüngliche [23] form gar sehr geändert, sie hat sich auch der geographischen lage untergeordnet.

Man kann die großen schneider der ganzen welt, die jemanden nach den vornehmsten prinzipien anzuziehen imstande sind, an den fingern abzählen. Es gibt manche millionenstadt der alten welt, die eine solche firma nicht aufweisen kann. Selbst in Berlin war keiner zu finden, bis ein wiener meister, E. Ebenstein, eine filiale daselbst errichtete. Vorher war der berliner hof gezwungen, sich einen guten teil seiner garderobe bei Poole in London anfertigen zu lassen. Daß wir überhaupt gleich eine ganze anzahl jener wenigen firmen in Wien besitzen, haben wir nur dem glücklichen umstande zu verdanken, daß unser hochadel ständiger gast im drawing room der königin ist, viel in England arbeiten ließ und auf diese weise jenen vornehmen ton in der kleidung nach Wien verpflanzte und die wiener schneiderei auf einen beneidenswerten höhepunkt brachte. Man kann wohl sagen, daß auf dem kontinent die oberen zehntausend in Wien am besten gekleidet sind, denn auch die anderen schneider wurden durch diese großen firmen auf ein höheres niveau gehoben.

Die großen firmen und ihre nächsten nachfolger haben alle ein gemeinsames merkmal: die furcht vor der öffentlichkeit. Man beschränkt sich womöglich auf einen kleinen kundenkreis. Wohl sind sie nicht so exklusiv wie manche londoner häuser, die sich einem nur auf eine empfehlung des prinzen von Wales öffnen. Aber jeder prunk nach außen ist ihnen fremd. Es hat die ausstellungsleitung viel mühe gekostet, einige der besten in Wien zum ausstellen ihrer erzeugnisse zu bewegen. Man muß anerkennen, daß sie sich dann sehr geschickt aus [24] der schlinge gezogen haben. Sie stellen eben nur solche objekte aus, die sich einer nachahmung entziehen. Am geschicktesten war Ebenstein. Er bringt eine demidreß (hier fälschlich smoking genannt) für die tropen (!), eine hunting vest, eine preußische regimentsinhaber-damenuniform und einen coaching coat mit gravierten perlmutterknöpfen, jeder einzelne knopf ein wahres kunstwerk. A. Keller bringt neben vorzüglichen uniformen einen frack coat mit den obligaten grauen beinkleidern, mit dem man beruhigt nach England reisen könnte. Gut gemacht scheint auch das norfolkjaquett zu sein. Uzel & sohn zeigen die spezialität ihrer werkstatt: hof- und staatsuniformen. Sie müssen wohl gut sein, sonst könnte die firma ihren alten rang auf diesem gebiete nicht so lange behaupten. Franz Bubacek hat sportkleider des kaisers zur ausstellung gebracht. Der schnitt des norfolkjaquetts ist neu und korrekt. Herr Bubacek beweist durch dessen ausstellung viel mut, er fürchtet die nachahmung nicht. Dasselbe kann man auch von Goldman & Salatsch behaupten, die ihre spezialität, die uniformen des yachtgeschwaders, zeigen.

Mit dem unbedingten lobe wäre ich aber hier zu ende. Die kollektivausstellung der genossenschaft der kleidermacher Wiens verdient es nicht. Bei kundenarbeit muß man manchmal beide augen zudrücken, da der kunde durch das betonen seiner eigenen wünsche oft für manche geschmacklosigkeit verantwortlich ist. Hier aber hätten die gewerbsleute zeigen können, daß sie über ihrer kundschaft stehen, daß sie wohl den kampf mit den großen firmen aufnehmen könnten, wenn man sie frei schalten und walten ließe. Die meisten haben diese gelegenheit versäumt. Schon in der wahl der stoffe zeigen sie ihre [25] unkenntnis. Aus dem covercoat-stoff machen sie paletots, aus paletot-stoffen covercoats. Aus norfolkstoff sakkoanzüge, aus glattem tuch gehröcke.

Mit dem schnitt ist es nicht besser bestellt. Wenige sind von dem standpunkt ausgegangen, vornehm arbeiten zu wollen, die meisten wenden sich an die gigerln. Die können da in zweireihigen westen, karrierten anzügen mit samtkrägen schwelgen! Eine firma leistet sich sogar auf einem jaquett blaue samtärmelaufschläge! Ja, wenn das nicht modern wird …

Ich nenne hier einige, die sich von diesem hexensabbath ein wenig fern gehalten haben. Anton Adam arbeitet gut, schneidet aber seine westen zu tief aus. Alexander Deutsch zeigt einen guten winterpaletot, Joseph Hummel einen guten ulster, P. Kroupa schadet leider seinem sonst korrekten gehrock durch eine borte. Gern hätte ich noch eine firma genannt, die ihre erzeugnisse offen ausgestellt hatte. Als ich aber an dem norfolkjaquett versuchte, die falte zu lüften, die angebracht ist, um dem arm durch vermehrten stoff bewegungsfreiheit zu gönnen, war es mir unmöglich. Sie war falsch.

Anmerkungen (H)

  1. [451] der verfasser der großen „ästhetik“ (1846–1858) Friedrich Theodor Vischer.
  2. [451] Diefenbach: der maler Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913), anhänger einer „naturgemässen lebensweise“.
    Jäger: prof. dr. Gustav Jäger (1832–1916), deutscher zoologe, der bekannte vertreter einer besonderen gesundheitspflege mit einführung wollener normalwäsche (jägerhemd); er war eine zeit lang auch direktor des zoologischen gartens in Wien.