Gut gekleidet sein – wer möchte das nicht? Unser jahrhundert hat mit den kleiderordnungen aufgeräumt, und jedem steht nun das recht zu, sich wie der könig anzuziehen. Als gradmesser für die kultur eines staates kann der umstand gelten, wie viele seiner einwohner von dieser freiheitlichen errungenschaft gebrauch machen. In England und Amerika alle, in den Balkanländern nur die oberen zehntausend. Und in Österreich? Ich wage diese frage nicht zu beantworten.
Ein amerikanischer philosoph sagt irgendwo: Ein junger mann ist reich, wenn er verstand im kopf und einen guten anzug im kasten hat. Dieser philosoph kennt sich aus. Der kennt seine leute. Was nützte aller verstand, wenn man ihn nicht durch gute kleider zur geltung zu bringen vermöchte? Denn die engländer und die amerikaner verlangen von jedem, daß er gut gekleidet ist.
Die deutschen aber tun noch ein übriges. Sie wollen auch schön gekleidet sein. Tragen die engländer weite hosen, so weisen sie ihnen sofort nach – ich weiß nicht, ob mit hilfe des alten Vischer[H 1] oder des goldenen schnittes –, daß dies unästhetisch sei und nur die enge hose anspruch auf schönheit machen könne. Polternd, schimpfend und fluchend lassen sie trotzdem ihre hose von jahr zu jahr breiter werden. Die mode ist eben eine tyrannin, klagen sie. Doch was geschieht? Ist eine umwertung der werte vorgenommen worden? Die engländer tragen wieder enge beinkleider, und nun wird genau mit denselben mitteln der beweis für die schönheit der mit einem male breiten hose geführt. Werde einer klug daraus!
Anmerkungen (H)
- ↑ [451] der verfasser der großen „ästhetik“ (1846–1858) Friedrich Theodor Vischer.
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/18&oldid=- (Version vom 1.8.2018)