Dieser grundsatz ist aber nicht überall durchführbar. Mit einem rocke, der im Hydepark unbeachtet bleiben würde, kann man in Peking, in Sansibar und auf dem stephansplatz sehr wohl auffallen. Er ist eben europäisch. Man kann doch nicht verlangen, daß sich derjenige, der auf der höhe der kultur steht, in Peking chinesisch, in Sansibar ostafrikanisch und auf dem stephansplatz wienerisch anzieht! Der satz erhält daher eine einschränkung. Um korrekt gekleidet zu sein, darf man im mittelpunkte der kultur nicht auffallen.
Der mittelpunkt der abendländischen kultur ist gegenwärtig London. Nun könnte es einem wohl dort passieren, daß man bei einem spaziergang in gegenden gerät, in denen man sehr von seiner umgebung abstäche. Man müßte von straße zu straße den rock wechseln. Das geht nicht an. Wir können also unseren lehrsatz vollständig formulieren. Dieser lautet: Ein kleidungsstück ist modern, wenn man in demselben im kulturzentrum bei einer bestimmten gelegenheit in der besten gesellschaft möglichst wenig auffällt. Dieser englische grundsatz, der jedem vornehm denkenden zusagen dürfte, begegnet aber in den deutschen mittel- und niederkreisen lebhaftem widerspruch. Kein volk hat so viele gigerln wie die deutschen. Ein gigerl ist ein mensch, dem die kleidung nur dazu dient, sich von seiner umgebung abzuheben. Bald wird die ethik, bald die hygiene, bald die ästhetik herangezogen, dieses hanswurstartige gebaren erklären zu helfen. Vom meister Diefenbach bis zum professor Jäger,[H 1] von den „modernen“ dichterlingen bis zum wiener hausherrnsohn reicht ein band, das alle geistig miteinander verbindet. Und trotzdem vertragen sie sich nicht miteinander. Kein gigerl gibt zu, eines zu sein. Ein gigerl
Anmerkungen (H)
- ↑ [451] Diefenbach: der maler Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913), anhänger einer „naturgemässen lebensweise“.
- Jäger: prof. dr. Gustav Jäger (1832–1916), deutscher zoologe, der bekannte vertreter einer besonderen gesundheitspflege mit einführung wollener normalwäsche (jägerhemd); er war eine zeit lang auch direktor des zoologischen gartens in Wien.
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)