Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Die Grabschänder
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 212–214
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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Bearbeitungsstand
fertig
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[212]
72. Die Grabschänder

In Hangtschou war ein Mann namens Dschu. Der lebte vom Gräberraub. Er hatte sechs, sieben Gesellen um sich versammelt. Zur tiefen Nachtzeit, wenn alles schwarz und dunkel war, nahmen sie die Hacken zur Hand und durchstreiften die Gegend. Sie waren unzufrieden, daß sie viel mehr trockenes Gebein fanden als Gold und Silber. So richteten sie eine Geistertafel her, um zu erkunden, wo Schätze verborgen seien.

[213] Eines Tages nahte sich der Bergkönig dem Altar und gab ihnen folgenden Spruch: „Ihr öffnet Gräber und nehmt den Toten ihre Habe. Das ist schlimmer als Raub und Diebstahl. Wenn ihr nicht ablaßt von eurem Wandel, werde ich euch den Kopf abschlagen lassen.“

Dschu erschrak aufs äußerste und stellte sein Gewerbe ein, über ein Jahr lang. Doch weil seine Gesellen nichts zu leben hatten, verleiteten sie ihn, abermals die Geister zu rufen. Um es einmal zu versuchen, tat er, wie sie gesagt. Ein Geist nahte sich, der sprach: „Ich bin ein Wassergeist vom Westsee. Dort steht eine Pagode, an deren Fuß ist ein steinerner Brunnen. Westlich davon ist das Grab eines reichen Mannes. Das könnt ihr öffnen und werdet tausend Silberstücke finden.“ Dschu war sehr erfreut und ging mit seinen Gesellen, die Hacke auf der Schulter, hin. Überall suchten sie den steinernen Brunnen, ohne ihn zu finden. Während sie umherstreiften, kam es zu ihnen wie eine Stimme, die ihnen ins Ohr flüsterte: „Ist denn das nicht ein Brunnen, dort unter dem Weidenbaum westlich von der Pagode?“ Sie sahen nach, da fanden sie einen zugeschütteten, trockenen Brunnen. Sie gruben drei, vier Fuß tief, da kamen sie auf einen steinernen Sarkophag von ungeheurer Größe. Aber wie sich die ganze Bande auch anstrengte, sie konnten ihn nicht heben. Da sprachen sie zueinander: „Im Kloster der Stille ist ein Bonze, der hat einen Zauberspruch, durch den man Eisenstangen zum Fliegen bringen kann. Wenn man den hundertmal hersagt, so wird der Sarkophag von selbst sich öffnen.“

Sie gingen zum Bonzen und versprachen ihm einen Teil der Beute. Der Bonze war auch ein Schurke. Als er ihre Worte hörte, da kam er herbeigelaufen. Er sagte seinen Zauberspruch über hundertmal; da öffnete sich der Sarkophag ein wenig. Dann streckte einer einen schwarzen Arm hervor, wohl ein Klafter lang, zog den Bonzen in den Sarkophag herein, zerriß ihn und fraß ihn auf, daß Fleisch und Blut rings umherspritzten und die Knochen mit [214] dumpfem Klang zur Erde fielen. Dschu und seine Bande liefen vor Schreck davon nach allen Richtungen. – Als sie am andern Tag wiederkamen, um nachzuschauen, da war nirgends ein Brunnen zu sehen.

Im Kloster der Stille fehlte ein Bonze. Alle wußten, daß Dschu ihn gerufen hatte. So verklagten sie den Dschu beim Richter. Dschu verlor bei dem Handel sein ganzes Vermögen und hängte sich schließlich im Kerker auf.

Anmerkungen des Übersetzers

[400] 72. Die Grabschänder. Quelle: Sin Tsi Hiä.

Geistertafel: Planchette, vgl. Nr. 65.