Die Gesellschaft der Waisenfreunde (Die Gartenlaube 1885/17)

Textdaten
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Autor: Friedrich Hofmann
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Titel: Die Gesellschaft der Waisenfreunde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 279–280
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Mehr: Gesellschaft der Waisenfreunde
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„Die Gesellschaft der Waisenfreunde.“

Am 15. März 1884 wurde in Leipzig der Verein gegründet, welcher den obigen Namen annahm und dessen Programm wir in demselben Jahrgang der „Gartenlaube“ S. 323 unseren Lesern mitgetheilt haben.

Der Gedanke, welcher die Gründung dieser Gesellschaft ins Leben rief, spricht von selbst zum Herzen jedes Kinder- und jedes Volksfreundes, und wir haben in dem Vertrauen auf die Wirksamkeit desselben uns nicht getäuscht; dennoch aber halten wir, nach den in dieser Zeit gesammelten Erfahrungen, die erneute Erinnerung an das Unternehmen und eine lebhaftere Nachhilfe für dasselbe durch die Presse für nothwendig und verbinden diese heute mit der Einladung zur ersten Generalversammlung des Vereins.[1]

Der Gedanke brachte nichts Neues auf die Welt; für die Annahme an Kindesstatt (Adoption) bestehen längst gesetzliche Bestimmungen. Was neu an der Sache ist, gehört dem Bestreben der Gegenwart an: Denn, was früher vereinzelt geschah, durch gesellschaftliche Thätigkeit größere Verbreitung zu verschaffen. – Unsere Zeit hat neben ihrem strahlenden Licht auch die entsprechenden Schatten, und hier nimmt die Verrohung, welche man in gewissen Schichten der Bevölkerung zu beklagen hat, eine wichtige Stelle ein. Sie lenkt von selbst den Blick auf die Kinder der Armuth und wirft die Frage auf: Wie ist da zu helfen? Die Wahrnehmung ist so allgemein, daß sie längst die öffentliche Sorge in Anspruch nimmt und daß die verschiedensten Mittel angewandt werden, dem Unheil Einhalt zu thun und für seine Beseitigung zu wirken. Auch das Bestreben der „Waisenfreunde“ will nicht mehr und nicht weniger, als dazu ein Mittel in kräftigere Thätigkeit versetzen, als bisher geschah, ausgehend von der Ueberzeugung, daß durch Aufnahme in wohlhabende Familien Tausende von armen, verlassenen Kindern vor dem Versinken in Verkommenheit und Entartung gerettet werden könnten.

Man wird uns einwenden, daß vom Staat und von den Gemeinden durch Waisenhäuser für den beklagenswerthesten Theil der Kinder gesorgt werde. Wir wollen kein Wort gegen das Walten guter Waisenhäuser einwenden, obwohl wir die Erziehung [280] eines Kindes in einer guten Familie der im besten Waisenhause vorziehen. Wo aber keine Waisenhäuser bestehen? Da kommen die armen Waisen freilich auch in die Familien, aber wie? In einem sächsischen Blatte lasen wir folgende dorfobrigkeitliche Anzeige: „Nächstkommenden Sonntag Nachmittags drei Uhr sollen im Erbgericht zwei elternlose Kinder, ein Knabe von sieben und ein Mädchen von zehn Jahren, nach Mindestforderung in Erziehung gegeben werden.“ Die Redaktion der betreffenden Zeitung machte die Bemerkung dazu: „Welche Eindrücke muß dadurch die Seele dieser Kinder für das spätere Leben davontragen?“

Die Gleichgültigkeit, mit welcher man schon halbverkommene Bettelkinder an sich vorüberlaufen läßt, rächt sich durch die gesteigerten Gefahren, die aus der Entsittlichung der Armuth erwachsen. – Davor kann nur wahre, das heißt werkthätige Menschenliebe uns retten. Und wie leicht und rasch wäre geholfen, wenn es recht viele solcher Mütter gäbe, wie ich eine gekannt und von der ich das Folgende erzählen will.

In einem thüringischen Städtchen sah man vor dem Hause einer wohlhabenden Familie täglich ein armes Kind, einen Knaben von etwa vier Jahren, betteln. Er kam bei jeder Witterung, in Sturm und Regen wie im Sonnenschein. An einem Spätherbst-Nachmittag jammerte der Kleine ganz erbärmlich: er habe noch nichts erbettelt und er bekomme Schläge, wenn er nichts heimbringe. Da ließ die Frau des Hauses den Knaben vor sich führen. Sie hatte just ihre fünf Kinder gebadet, das Kleinste war eben aus der Wanne gehoben. Der arme Junge starrte vor Schmutz an den Kleidern wie an Händen und Gesicht und bot einen widerlichen Anblick. Das ging der Frau erst recht zu Herzen. Rasch ließ sie ihn entkleiden und steckte ihn in die Wanne, während alte Kleider von ihrem gleichaltrigen Söhnchen zusammen gesucht wurden, denn die Kleiderfetzen des Jungen mußte man auf den Düngerhaufen werfen. Und als er nun von der Kruste von Schmutz befreit und frisch angekleidet war, stand ein wunderhübsches Bübchen da! Mit Staunen und Jauchzen begrüßten die Kinder das neue Brüderle, zogen es sofort in ihren Kreis, theilten mit ihm ihr Vesperbrot und ihr Spielzeug, und alle waren glücklich, am glücklichsten der Knabe, der zum ersten Male in seinem Leben fühlte, wie Liebe thut. Als aber der Abend kam und das gute „Brüderle“ heimgehen sollte, brach ein allgemeiner Jammer los. Das arme Kind schluchzte: „Wenn ich heim komme, nehmen sie mir die schönen Kleider, ich muß meine alten wieder holen, und Hiebe krieg’ ich doch.“ Was war da zu machen? Der Knabe blieb, – und seine Eltern gaben das gern zu; „hätten sie doch so einen Fresser weniger,“ sagten sie.

Das ist ein Beispiel von dem Glücke eines Kindes der Armuth. Giebt es nicht Hunderttausende von Familien, die wohl noch leichter, als diese Mutter, ein armes Kind zu sich nehmen könnten? Mit jedem geretteten Kinde würde für die menschliche Gesellschaft und das Gedeihen des Vaterlandes eine Gefahr beseitigt und eine Hilfe gewonnen sein.

Unser Verein wendet seine Bitten aber vorzugsweise an kinderlose Ehepaare und beschränkt seine Sorge auf die elternlosen Kinder, auf die Waisen. – Wenn wir nun die Wahrnehmung machen, daß von den vielen kinderlosen Ehegatten verhältnißmäßig doch nur eine geringe Zahl sich zur Annahme einer Waise an Kindesstatt entschließt, so dürfen wir dies nicht dem Mangel an gutem Willen zur Last legen. Die Hauptursache ist, daß sie den Werth eines Kindes nicht zu schätzen wissen. Gegen diese Ursache können uns aber nur die glücklichen Mütter zu Hilfe kommen; nur sie sind im Stande, kinderlosen Frauen die rechte Schilderung zu geben von den tausend Freuden, welche das aufblühende Leben eines Kindes in unserm Herzen erweckt. Und wenn es der Mutterliebe naturgemäß auch leichter wird, die vielen Mühen der Pflege zu tragen, als dem Weibe einem angenommenen Kinde gegenüber, so haben wir doch Beispiele zu verzeichnen, wo edle Frauen Kinder im Alter von wenigen Monaten an sich nahmen und in kurzer Zeit sich so innig an das junge hilflose Wesen gefesselt fühlten, daß sie bei dem ersten Lallen, dem ersten Lächeln, dem ersten Aufbrechen der Knospe des Geistes im Kinde alle Mühen vergaßen und alle schlaflosen Nächte, daß sie glücklich wurden in dem Besitze eines Kindes. – Und daß diese Liebe echt sein kann, daß sie zu wahrer Elternliebe sich ausbildet, das haben wir auch an einem Trauerfall erfahren: wir hatten zwei Todesfälle zu beklagen, zwei schon ältere der angenommenen Waisen starben, die Briefe der Pflege-Eltern drückten einen so tiefen Schmerz aus, wie er beim Verluste leiblicher Kinder nicht bitterer empfunden werden kann. Auch sie gehörten zu Denen, welche den Werth eines Kindes erkannt hatten.

Was unsere Gesellschaft auf dem Gebiet der Waisenversorgung bisher geleistet, darüber werden in der Generalversammlung, deren Ort und Zeit oben angegeben ist, unser Geschäftsführer, Herr Schuldirektor Karl Otto Mehner in Burgstädt bei Chemnitz, und unser Kassirer, Herr Direktor emeritus K. Glob. Dießner (bei welchem gegen Einzahlung von drei Mark die Mitgliedskarten des Vereins zu beziehen sind) Bericht erstatten. Einen Erfolg der Gründung unserer Gesellschaft darf ich jedoch nicht verschweigen.

Aus Wien erhielt ich Programm und Statuten eines Vereines zugesandt, dessen „Bitte zum Beitritt“ Folgendes ausspricht:

„In Leipzig hat sich jüngst – veranlaßt durch ein Gedicht in der ‚Gartenlaube‘ des Inhalts, wie traurig Weihnachten, wo kein Kind im Haus – eine Gesellschaft von Waisenfreunden gebildet, die den Zweck hat, Waisenkinder zunächst in kinderlosen Familien unterzubringen. Ein solcher Verein ist hiermit auch in Wien und zwar mit dem Rechte der Ausbreitung auf ganz Oesterreich ins Leben getreten. Die Begründer desselben sind sich im Vorhinein bewußt, damit einen neuen Baustein in das sociale Gebäude der allgemeinen Wohlfahrt einzufügen und der Zustimmung aller Wohldenkenden gewiß zu sein.“

Diese Schwesterstiftung der unsrigen nennt sich „Kinderasylverein ‚Waisenhort‘“ und der Präsident ihres Vorstandes ist Herr Engelbert Keßler, Vorstand für Spar-, Vorschuß- und Genossenschaftswesen des I. allgemeinen Beamtenvereins, in Wien IX., Kolingasse 15.

Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, über diese Wiener Stiftung uns nur zu freuen. In der Annahme, daß von den zahlreichen Freunden und Lesern der „Gartenlaube“ in Oesterreich doch manchem die Schriftstücke des „Kinderasylvereins“ noch nicht zugegangen, theilen wir das Wesentlichste für die Verbreitung desselben mit. Außer der Versorgung von Waisen aller Stände in dazu befähigten Familien, namentlich den kinderlosen, bezweckt der Verein die Gründung von Waisenasylen zum Behuf der Versorgung von Waisenkindern in eigener Regie, sowie die Bildung eines Hilfsfonds zur Unterstützung unbemittelter Waisen von Fall zu Fall. Das Wirkungsgebiet desselben sind die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, ohne Rücksicht auf die Konfession. Die Verpflichtung der Mitglieder des Vereins ist dieselbe wie bei den unsrigen: Aufsuchung von verlassenen Waisen und von Familien, welche sich derselben annehmen wollen, und Meldung darüber an den Vorstand. Eigenthümlich und praktisch ist die Bestimmung über die Beiträge zu den Vereinsmitteln. Sie zerfallen in vier Klassen: 1) Beitrag als Stifter: 50 Gulden ein für allemal oder 5 Gulden jährlich, 2) Beitrag als Mitglied: 50 Kreuzer jährlich, 3) Unterstützendes Mitglied: Zahlung nach Belieben, 4) Spenden, einmalige Gaben. Die drei letzteren Beitragsarten sind, nach der Absicht der Gründer, besonders geeignet, die Theilnahme am Verein in der Masse der Bevölkerung Wurzel schlagen zu lassen. Die Sendungen geschehen an die Adresse, die wir deßhalb oben angegeben haben.

Auch die mahnende Bitte des Kinderasylvereins-Vorstandes an seine Landsleute dürfen wir an die unseren richten: „Der Fortschritt der Menschheit erfordert es, daß die Gesellschaft nicht stehen bleibe in ihrer Entwickelung und in Zeiten der Noth und des Kummers vor allem ihren Nachwuchs nicht verkümmern lasse. Sache des Staats und der Gemeinde mag es sein, das Werk der humanen Pflege kraft ihrer Mittel zu vollenden, wozu die Gesellschaft in richtiger Erkenntniß des Bedürfnisses durch humanitäre Selbsthilfe pionierartig die Wege gezeichnet, auf denen eine Besserung der allgemeinen Verhältnisse und Zustände angebahnt werden kann und muß. Niemand entschlage sich dieser Mitwirkung, es ist ein Gebot der Nächstenliebe, eine Ehrenpflicht der Menschlichkeit, mitzuthun an dem täglichen Erlösungswerke Aller!“

Möge diese Bitte von dem Volke in Deutschland wie in Oesterreich, mit welchem wir doch in Allem, was deutsch und brav ist, treu zusammenstehen, recht warm beherzigt werden! Es giebt nichts Lohnenderes auf Erden, als aus verlassenen Kindern gute Menschen zu erziehen. Friedrich Hofmann.     


  1. Dieselbe soll am 10.Mai 11 Uhr im Saale der Loge „Apollo“ zu Leipzig stattfinden.