Der Stil in der Wohnung

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Autor: Ferdinand Avenarius
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Titel: Der Stil in der Wohnung
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aus: Die Gartenlaube, Heft 17–18, S. 278–279, 294–295
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Stil in der Wohnung.

Von Ferdinand Avenarius.


Nach langer Zeit kraftlos magerer Blässe zeigen unsere Wohnungen wieder Form und Farbe, und die Sonne des Schönen blickt wieder freundlicher in unser Heim. Das danken wir der Renaissance. Aber sn dem Versuch, mit ihr ein unserer Zeit Neues wenig vermittelt einzuführen, lag eine Gefahr. Von tieferem Verständniß des Geistes der alten Kunst kann nur bei Wenigen die Rede sein. Verhehlen wir’s uns nicht: sie ist gar oft zur platten Mode geworden. Daß aber was in die Mode gekommen, auch wieder aus der Mode kommt, ist ein alter wahrer Satz.

Heut seien der Umschau darnach, was im zeitgenössischen Geschmack Mode ist und was mehr, einige ruhige Betrachtungen gewidmet. Man spricht jetzt aller Enden von „Stil“ – möge uns der Begriff des Stils Führer bei dem Folgenden sein!

Zunächst aber fragen wir uns einmal ganz allgemein und scheinbar ohne Beziehung darauf: wie soll eine Wohnung beschaffen sein?

Zweckmäßig! Das ist die Hauptsache, denn entspricht sie dem Zwecke nicht, bewohnt zu werden, so ist sie eben keine Wohnung, und entspricht sie ihm schlecht, so ist sie eine schlechte. Zur guten gehört, daß sie gesund sei. Sie braucht Wärme, Licht, Luft, nicht zu viel und nicht zu wenig, sondern angemessen dem Ort, auf dem sie steht, den Bewohnern, die drin hausen, und ihren Bedürfnissen. Eine luftige Säulenhalle, die der Sonne Hitze mildern soll, kann zweckmäßig im Süden und unzweckmäßig im Norden sein. Die Wohnung soll auch den geistigen Verhältnissen genügen, unter denen wir leben, unsern Sitten und Anschauungen – auch das gehört zur Zweckmäßigkeit! Ein Römerhaus, das weltabgeschlossen in sich hineinsieht, können wir nicht brauchen, denn unsere heutige Häuslichkeit trennt sich minder vom Leben draußen. Manch Material früherer Zeiten entspricht heute seinem Zwecke schlecht, weil es zu theuer geworden – das giebt uns ein Minus in der Rechnung. Die moderne Technik, die modernen Verkehrsmittel setzen ihm ein gewaltiges Plus entgegen, das zu Gunsten eines alten Stils zu ignoriren das Pfund vergraben hieße, mst dem wir wuchern sollten.

Nun aber kommen wir weiter: die Zweckmäßigkeit thut’s nicht allein. Nur Aermlichkeit – materielle oder geistige – begnügt sich damit, Stühle zu haben, auf denen sich sitzen, Tische, auf denen sich schreiben läßt, wie sie sonst auch sein mögen, kurz, mit jenem bloßen „Praktisch-Sein“, das doch ein Geräth nie und nimmer entbehren darf. Und daß wir uns nicht damit begnügen, hat einen in unserem Innersten wurzelnden Grund: den Drang des Menschen, Alles, was er sieht, zu beleben.

Der Wilde legt in die todte und grünende Natur überallhin Seele: seine Religion und sein Aberglauben, seine Märchen und Sagen, seine Gebräuche sind Zeugen dafür. Aber auch der höher Entwickelte läßt sich von Wald und Flur anheimeln und anfremden, und nicht minder von Haus und Hof, Geschirr und Geräth, wenn er künstlerisch empfindet, und bewußt oder unbewußt dichtet auch er Seele in Alles, was ihn umgiebt. Indem er bildet, kann er das auf zweierlei Art. Entweder er wandelt den Stoff, um ein draußen oder im eigenen Kopfe Erschautes ohne anderen Zweck darzustellen, als den, eben ein Bild zu schaffen. Oder er formt aus dem Stoffe einen Gegenstand heraus, der einem bestimmten Gebrauche dienen soll, und sucht ihn so zu gestalten, daß er eben dies Dienen in seiner Form ausspricht. Im ersteren Falle – beim Werke der reinen Kunst – vermittelt der Stoff nur Schauen, Fühlen und Denken des Künstlers; im zweiten – beim Produkt des Gewerbes – soll der Gegenstand von sich selber sprechen und in seiner Erscheinung sagen: aus diesem Stoffe besteh’ ich und diesem Zwecke dien’ ich.

Ein Geräth aber, das unserem Auge sagt, was es ist und was es soll, hat Seele, Leben und Sinn – hat Stil!

Wir wollen beim Metallgefäß die Eigenschaften des Metalls aus der Form erkennen, seine Kraft, Härte, Zähigkeit, beim Glasgebilde die Sprödigkeit, doch auch die schmiegsame Grazie und Dehnbarkeit und Durchsichtigkeit des Glases. So darf die Form nicht wider die Natur des Stoffes sein: ein Dreifuß von Erz mag seine Füße biegen, ein Stuhl massiven Holzes darf es nicht, denn dessen Faserung läuft gerade, ein Stuhl aus Zweigen darf es, denn Zweige biegen sich. Ein Stuhl soll ferner sich behaglich öffnen, als lüd’ er uns ein zum Niedersitzen, denn dann spricht seine Form den Zweck aus; ein Tisch soll auf festen Füßen stehen, als sag’ er uns: belaste mich nur, ich breche nicht, ein Schrank sich kraftvoll verschließen, als wollt’ er sagen: vertrau’ mir Dein Gut, ich berg’ es sicher. Das Faß soll uns in seiner Formerscheinung schon andeuten, daß es seinen Inhalt nur [279] aufbewahrt, die Kanne, daß sie ihn ausgießen will, das Weinglas, daß es dem Schlürfen des Rebensaftes, das Bierglas, daß es dem reichlichern Trinken derberen Stoffes, dient.

Thun sie das, so sind diese Dinge stilgemäß, und was ihre Form sagt, ist wahr.

Stillos dagegen ist das Gefäß, das aus Thon besteht und doch in seiner Form den Charakter des Glases zeigt, oder aus Glas und doch die Form nachahmt, die der Natur des Thons entspricht. Stillos ist eine Porcellanschale, die nach Form und Farbe Holz nachmacht oder Korbgeflecht, stillos ein goldenes Armband, das einem in Gold verzauberten Lederriemen gleicht. Alle solche Dinge geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind – sie lügen. Am läppischsten aber lügen im Kunstgewerbe jene Produkte, deren Schöpfer sich womöglich einbilden, es am wenigsten zu thun: die sogenannten „naturalistischen“. Da sehen wir eine Schale aus Porcellan – aber nein, es ist ein riesiges Baumblatt, auf jedes Ritzchen und Riefchen genau nachgebildet. Aber das Ding soll doch nun einmal nicht die Nachbildung eines Blattes sein, sondern eine, zum bestimmten Gebrauch, dienende, Schale. Es als solche auszubilden, forderte deßhalb gerade die Natur der Sache, nicht aber über der Nachahmung eines fremden das eigene Wesen des Gegenstandes zu vergessen.

Doch nicht nur das Ganze soll sagen, was es ist und will, auch seine Theile sollen es. Haben wir eine Lampe vor uns, so wollen wir nicht nur aus ihrer Form als Ganzem ersehen, daß sie eine Lampe ist, nicht etwa – wie das freilich noch immer bei den meisten der Fall scheint – eine zum Brennen zugerichtete Vase oder gar einen Krug. Wir wollen auch deutlich den Fuß als fest zum Stehen bestimmten Fuß erkennen, den Griff als Griff, den Ballon als Ballon, den Brenner als Brenner.

Und auch der Schmuck muß unserer Forderung genügen, um wahrhaft stil- und somit sinngemäß zu werden. Ein Tischfuß, der als Kopf geschnitzt, ist ein Unsinn, denn auf dem Kopf steht nur der Narr. Ein Bild, das einen Teller ununterbrochen überzieht, ist stillos, weil es die Bedeutung des Randes am Geschirr verwischt; ein Ornament, das eben diesen Rand begleitet, stilrein, weil es ihn hervorhebt als den Theil, der von der Speise freibleiben soll. Nie darf dabei vergessen werden, welches unser Material. Soll Schmuck und Geschmücktes zur Einheit verschmelzen, so muß auch der Schmuck mit des Gefäßes Stoff verwandt erscheinen. Was bietet uns zum Ornament reichere und schönere Vorbilder, als Pflanzen- und Thierwelt? Aber nur so dürfen wir sie verwenden, daß wir den Typus, der in ihnen liegt, vom Stoff der Natur auf unsern Stoff übertragen, indem wir z. B. dem Typus des in Gold übertragenen Pflanzenbildes den Charakter zu geben suchen, der dem goldenen Metalle eigen. Auch dieses „Stilisiren der Natur“ ist nur eine Forderung innerer Wahrheit.

Der Widerspruch zwischen Form und Inhalt kann zwar in einigen Fällen künstlerisch berechtigt sein: dänn, wenn er witzig ist. Aber alsdann will er auch, nicht lügen; im Kontraste tritt er vielmehr gerade scharf hervor und weist darauf hin – und darin liegt ja eben der Witz – daß er nicht das ist, was er zu sein vorgiebt. Für witzig in solcher Art mögen zur Noth die jetzt so beliebten Bierkrüge in Gestalt eines Mönchs hingehen, aus dessen Schmeerbauch man trinkt; wenngleich der „Witz“ dabei jedenfalls weder fein noch geistreich ist. Ist’s aber witzig, wenn ein Aschenbecher die Gestalt eines Menschengesichts in vertiefter Arbeit zeigt? Und doch kenn’ ich einen, der nicht etwa eine architektonische Maske, der ein leibhaftig ähnliches Portrait eines berühmten Mannes darstellt, dem sein Verehrer vermittelst Abstäubens der Cigarre aufs Angesicht seine Huldigung darzubringen glaubt. Ist das viel besser, als die schönen Taschentücher von ehedem, mit welchen sich der patriotische Bürger ehrfurchtsvoll in seines Landesherrn aufgedrucktes Bildniß schnäuzte? Doch selbst ein Gefäß, das eine wirklich witzige Idee zum Ausdruck bringt, erregt durch den häufigen Anblick im täglichen Gebrauche leicht Ueberdruß. Wir werden eben schließlich auch des guten Witzes satt, wird er durch stetes Wiedererzählen abgehetzt.

Mit unseren Betrachtungen über den Stil haben wir schon einige Blicke ins Mode-Unglück geworfen. Der antike, gothische, Renaissance-, der „altdeutsche“ Stil spukt jetzt in allen Gesprächen – vom Stil schlechthin wissen die Wenigsten etwas. Und doch kommt alles in erster Linie auf ihn an, denn der Stil schuf sich die Stile. Und das ging so zu.

Die Verhältnisse, die über einem Volk in bestimmtem Zeitalter walten, gestalten sich ihre eigene Formensprache nicht minder, als ihre eigesie Wortsprache. Die Durchgeistigung eines Gegenstandes, daß er zu uns von seinem Sein und Sollen spricht – der Stil im allgemeinen Sinne – ward von allen natürlich empfindenden Künstvölkern aller Zeiten erstrebt, aber jedes wollte ihn zu sich sprechen sehen in der gerade ihm vertrauten Formensprache. Die antike Welt mit ihrem Schönheitssinn, mit ihrer heitern Vielgötterei, mit ihrem ganz andersartigen Leben als dem unseren, lehrte die kleine Welt ihrer Umgebung so zu reden, wie sie am liebsten sie sprechen hörte; das gothische Mittelalter, dessen ganzes Sein unter dem Banne kirchlicher Frömmigkeit athmete, wollte in seiner Formensprache auch dann religiöse Anklänge nicht missen, wenn nur vom Leben der Häuslichkeit zu erzählen war; die Renaissance mit ihrer Schönheitsfreude, ihrem versteckten Heidenthum, ihrer glühenden Bewunderung der Alten ließ wiederum Alles, was sie beseelte, in ihrem eigenen, durch alles das beeinflußten Idiome reden. Aber immer, wo wir echten Stil finden, war nur die Sprache verschieden, in der gesprochen wurde, nur die Formen des Ausdrucks wechselten nach dem Geiste der Zeit: das, was ein Geräth sagte, war stets dasselbe: dies bin ich und dies soll ich!

So liegt denn dort die Achillesferse unseres heutigen Kunstgewerbes, wo es dies Allgemeine vergißt, wo es die historischen Stile pflegt, ohne den großen einen Stil, wo es die Söhne verhimmelt, ohne sich viel um den Vater zu kümmern.

[294] Unsere Mode auf dem Gebiete des Kunsthandwerkes pflegt reinen Buchstabenglauben. Wir lernen Vokabeln und bilden uns ein, eine Sprache zu lernen. Das Lexikon aber, aus dem wir unsere Weisheit fischen, ist das „altdeutsche“.

Wer schert sich heute darum, daß unser Jahrhundert in seinem Denken, Fühlen, Streben, in seinen materiellen, politischen, künstlerischen Verhältnissen, in seinem ganzen Sein eben doch ein anderes ist, als das fünfzehnte und sechzehnte? Getrost wird das Alte auf das Neue geklebt, und der biedere Wohnungsausstatter hält es womöglich noch für ein Kompliment für seine Behausung, wenn sie „altdeutsch“ ist. Und doch ist sie dann unsinnig und verlogen und deßhalb stillos, so gut sie die einzelnen Wörtlein der todten Sprache auswendig gelernt haben mag, ja, um so stilloser, je besser sie das gethan hat. Denn was vielleicht trefflicher Ausdruck für eine Wohnung des 16. Jahrhunderts war, kann es gerade deßhalb nicht mehr für eine solche des 19. Jahrhunderts sein.

Aber es ist mal so Mode. Wie in der Litteratur die „Butzenscheibenpoesie“ florirt und würdige Pedantenherzen nach den Hopsern „altdeutscher“ Weisen springen läßt, wie unser Publikum solche Kindereien „frisch“ findet und das Maskengefiedel für Natur hält, so ahnen auch unsere altdeutsch stilvollen Wohnungsbesitzer nicht, daß sich Dürer oder Holbein den Leib vor vergnüglichem Lachen halten würden, sähen sie unserem permanenten Karneval zu. Leute, die sich über die Schweizergarde des Papstes in Rom vornehm belustigen, pflanzen sich Landsknechte aus Majolika unter Bronzeteller mit grimmigen Ritterbildnissen; friedfertige Kaufleute, denen das Schaufenster eines Gewehrladens schon Unbehagen erweckt, hausen daheim unter grausigen Hellebarden, Schilden, Schwertern und Morgensternen; Männlein und Weiblein gießen aus Apostelkrügen ihr Bier in altdeutsche Steintöpfe, denen womöglich noch vermittelst einer „echten Renaissance-Jahreszahl“ – etwa 1560 – in köstlicher Naivetät ausdrücklich bescheinigt ist, daß sie in unserem Jahrhundert eigentlich nichts zu suchen haben. Jede Dummheit, die ein altdeutscher Renaissancetischler aus Mißverständniß der Antike oder Gedankenlosigkeit einst verbrochen, wird um so freudiger nachgeschnitzt, je verrückter – ach nein: origineller – sie ist, denn der nachahmende Gewerbekünstler hat sie irgendwo gesehen, sie ist also „echt“, altdeutsch und somit – modern. Und wenn wir einen gescheiten Mann fragen, was er denn eigentlich mit den „altdeutschen Sprüchen“ anfange, die, an den Wänden angebracht, seine Augen zum ewigen Spazierengehen auf ihren Gemeinplätzen zwingen, so erfahren wir als Entschuldigung den Gebrauch unserer Vorfahren aus einer Zeit, da dergleichen eben beim Mangel an Büchern und Zeitschriften noch eine Hauptanregung für den Geist sein mußte!

Und warum richten wir uns nicht wenigstens ganz so ein wie die Altvordern? Ja, das ist eben der Hauptspaß, daß wir’s natürlich hübsch bleiben lassen, echt stilvoll in engen Gäßchen, schmalen Häuschen, dunkeln Stüblein zu hausen, bei Talglichtern oder Thranlämpchen die Abende zu vergähnen, Petroleum, Elektricität, Dampfschiffe, Eisenbahnen und was sie bringen, kurzer Hand aus der Welt zu werfen. Ach, man kann ja unserer altdeutschen Sucht nicht einmal nachsagen, daß sie, sei sie gleich Narrheit, doch Methode habe!

Es geht dem Altdeutschen also wie allem äußerlich Angezogenen: nachdem es eine Weile getragen, zeigt’s Fadenschein, beginnt zu platzen, und wenn der Körper darunter wächst, so zerreißt es schließlich ganz und gar. Es ist eben ein Rock und keine lebendige Haut, die sich mit dem Körper ändert und erneut, weil sie sich aus dem Körper nährt. Und ist es denn ganz unmöglich, daß sich auch unsere Zeit einmal einen Stil schaffe, der solcher natürlichen Haut entspricht, statt einem Anzug vom Schneider?

Es seien mir einige Bemerkungen darüber gestattet!

Nichts liegt mir ferner, als die hohe Bedeutung jener Bewegung schmälern zu wollen, welche die letzten Jahrzehnte auf dem Gebiete des Kunstgewerbes gezeitigt. Von dem gewaltigen nationalökonomischen Gewinne zu sprechen, den die kunstgewerbliche Arbeit durch das Umsetzen eines geistigen Faktors, des Geschmacks, in materiellen Werth mit sich bringt, wäre hier nicht der Ort. Wie hoch aber ist auch die ideale Bedeutung einer Strömung zu schätzen, die dem Volke die Wichtigkeit des Schönen fürs Alltägliche wieder nahelegt und es allmählich zum Genuß von deren Segnungen wieder erziehen könnte? Daß es auch der großen Masse wieder fühlbar geworden, daß nicht nur Wissen, daß auch Schönheit Macht ist – diese Thatsache ist großartig genug, um auch den verbissensten Pessimisten zu erfrischen. Und wenn der goldene Boden des Handwerks gründlich und gesund vom Jungbrunnen der Schönheit durchtränkt werden könnte, wär’ nicht zu hoffen, daß auch die hohe bildende Kunst wieder im festen Erdreich unseres Volkes wurzelte, statt, wie noch jetzt, ein Ziergewächs im Topfe zu sein?

Im Einzelnen hat unsere Bewegung viel, sehr viel Gutes hervorgebracht. Drei Viertheile unserer Zimmermöbel sind ungleich schöner als die früheren. Unsere Weberei, unsere Metall-, unsere Glasindustrie erzeugen Gutes, ja Treffliches. Aber eben deßhalb: wär’ es nicht doppelt schade, wenn alles das unterginge in öde Faxerei? Haben nicht Alle, die sich des Guten von Herzen freuen, das wir neben dem Schlechten erworben – haben wir nicht Alle die Pflicht, nach Kräften dem vorzubeugen, daß dereinst das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werde? Man darf’s nicht bezweifeln: unser ganzes „altdeutsches“ Schiff wird an der Klippe der Lächerlichkeit zerschellen – suchen wir das Schöne und Herrliche, das es trotz alledem birgt, aus dem Meere der Mode zu retten!

Und wie könnte das geschehen?

[295] Nur dadurch, daß wir immer und immer wieder statt der Stile den Stil in Betracht ziehen, daß wir statt eines blöden Nachäffens aller Schnirkel und Schnörkel lehren und fördern ein vernünftiges Prüfen, ob das, was für andere Verhältnisse gut war, für unsere Verhältnisse gut ist; daß wir vor Allem unsern Kunstgewerbetreibenden und uns, dem kaufenden Publikum, als erste und Hauptsache beim Schaffen oder Betrachten eines Gegenstandes die Frage angewöhnen: woraus besteht er und was soll er, und spricht sich die Antwort darauf klar und wahr in seiner Erscheinung aus? Lassen wir uns nicht durch Kinkerlitzchen bestechen, die unserem Auge vielleicht im ersten Momente schmeicheln – auf die Dauer werden wir nur das gern in unserer Umgebung sehen, bei dem wir auf jene Frage ein entschiedenes Ja zur Erwiderung haben. Denn auch hinter die Lügen und Hohlheiten der Form, wie hinter die des Menschencharakters, kommen wir bei täglichem Verkehr, und so elegant sie uns etwas vorflunkern – wir hören schließlich „von Allem nur das Nein“.

So lange sich uns noch nicht aus den alten eine eigene neue Formsprache entwickelt hat, müssen wir freilich die guten Werke studiren, die eben in den alten Formsprachen geschrieben sind. Und welche derselben können wir am besten brauchen?

Die gothischen nicht, denn so Treffliches die Gothik auch im Kunstgewerbe geleistet, so allgemein trägt sie den Stempel eines Geistes, der nicht der unsere ist, in den wir uns kaum noch hineindenken, aus dem wir aber jedenfalls nicht das erlernen können, was wir brauchen: Befreiung für uns selbst. Das Rokoko? Nichts wäre schädlicher, als wenn unser Kunstgewerbe – wie es da und dort leider den Anschein hat – sich in der Vorahnung des altdeutschen Bankerotts zu ihm hinüberflüchten wollte. Einmal wäre mit dem Sieg des Rokoko auch der Sieg des französischen Kunstgewerbes über das deutsche besiegelt, denn dem Volksgeist unserer Nachbarn drüben ist der Geist des Rokoko noch ungleich verwandter als uns. Dann aber warnt ein schlagender Grund vor seiner Wiedereinführung zur Vorsicht: das Rokoko war kein Stil. Ihm fiel es nicht ein, jenen allgemeinen Stilgedanken auf seine Weise zum Ausdruck zu bringen, an dem doch alles liegt – es war nur eine Manier, denn es lehrte den Gegenstand nicht, dem Stile gemäße von seinem eigenen Wesen sprechen, es ließ ihn mit erborgtem Leben bespiegeln, was davorstand. Freilich war dies Spiegelbild oft ein geistreiches, prickelndes, anmuthiges, aber an der Rokokomanier lag das nicht, sondern an der bespiegelten Rokokogesellschaft: sie ist’s, deren Widerschein uns in jenen Erzeugnissen anspricht, nicht die Schönheit jener Erzeugnisse selbst. So wäre die Wiederbelebung der Zopfkunst auch vom künstlerischen Standpunkt besehen ein Unglück. Denn abgesehen davon, daß wir mit Sicherheit wieder statt eines Verstehens des Geistes ein Abschreiben der Formen, statt der altdeutschen Maskerade eine Rakoka-Maskerade zu gewärtigen hätten, würden wir von unserem Ziele noch weiter abgebracht werden, als wir es jetzt sind. Wie könnte uns das Rokoko, das ja eben gar keinen Stil hat, zum Verständniß des allgemeinen Stils aus dem besondern, zum allmählichen Ablösen des Begriffs von der Erscheinung verhelfen?

Es bleibt uns von den historischen Stilweisen, die überhaupt bei uns in Frage genommen sind, die Renaissance. Und in der That ist sie von allen die, welche uns am meisten nützen kann, denn ihre Formensprache bildete ein Geist, der dem unseren verwandt, der vielfach geradezu unseres Geistes ist. Lehnen wir uns also vorläufig an ihre Kunst und zwar da, wo uns Klima, Anschauungen oder Sitte nicht von ihr trennen, an ihre reinste und schönste Gestalt, an das italienische „Rinascimento“. Unsere Vorfahren haben es ja auch so gemacht und aus dem italienischen den ihnen entsprechenden deutschen Stil gebildet. Verachten wir ihn nicht zur Bildung des uns entsprechenden deutschen! Sind die altdeutschen Meister nicht da gerade am weitesten gekommen, wo sie den Geist der Renaissance von drüben am besten verstanden? Warum sollen wir also, wo es angeht, nicht aus der Quelle schöpfen?

Bei unserem Anlehnen dürfen wir nur nicht vergessen, daß die Stütze am Rücken doch immerhin nur eine Stütze sein darf, daß uns hauptsächlich und später einmal ganz die eigenen Beine tragen sollen, und daß besagte Beine eben auf dem Deutschland des 19. Jahrhunderts stehen. Weil Vieles in der Renaissance unseres Wesens ist, so ist lange noch nicht Alles darin unseres Wesens. Prüfen wir also Alles nach der allgemeinen Regel von Fall zu Fall. Beispiele des Unpassenden aufzuführen, hab’ ich beim Schreiben dieser Zeilen Gelegenheit genug gehabt. Manches, was uns auf den ersten Blick so erscheinen mag, wird uns indeß bei genauem Hinsehen beweisen, daß es nur deßhalb uns unpassend schien, weil es uns ungewohnt war. Die Butzenscheiben z. B. sind doch wohl ohne Grund so oft verspottet worden. Ihre Wiedereinführung in alle Fenster unseres „lichteren Jahrhunderts“ wäre gewiß unsinnig; unbestreitbar aber ist, daß sie unendlich reizvoller sind, als unser abscheuliches Milchglas und somit gut befähigt, in Fenstern nach Corridoren, dunkeln Höfen etc. das letztere zu ersetzen. Und sollten wir des poetischen Duftes entbehren, den das magische Licht der Glasgemälde über ein Plauder-, Schlaf- oder Musikzimmer gießen kann – blos weil die Glasmalerei so lange im Argen lag? Man ersetze nur die ewigen Landsknechte und altdeutschen Fräuleins auf ihren Gebilden durch ebenso farbige, aber schönere und sinnvollere Schöpfungen!

So kommen wir schließlich von allen Seiten her doch auf den einen großen Hauptschaden unserer modernen Halbbildung hinaus: es muß mehr aufs Denken hingearbeitet werden, statt aufs Auswendiglernen. Wir haben Kunstgewerbemuseen und Ausstellungen – wie viel mehr werden sie leisten, wenn der Besucher vom allgemeinen Geiste sich anzueignen vermag, statt nur nach „echten Mustern“ zu suchen. Wir haben eine riesenhaft angeschwollene Kunstgewerbelitteratur mit stets sich mehrenden Büchern und Bilderwerken. Aber wie wenige behalten, wie Semper’s bahnbrechende Werke, wie Falke’s „Kunst im Hause“ und seine meisterhafte „Aesthetik des Kunstgewerbes“, wie Bucher’s „Reallexikon der Kunstgewerbe“ und seine streng wissenschaftliche „Geschichte der technischen Künste“, das Allgemeine über dem Einzelnen im Sinn! Die meisten lassen den Wald vor den Bäumen, den Stil vor den Einzelnheiten der Stilweisen aus dem Auge, und wenn ihre Wichtigkeit für den Gelehrten nicht geleugnet werden darf, so ist doch ihr Einfluß auf den mit wenig eigener Kritik arbeitenden Handwerker sehr oft vom Uebel. Deßhalb darf ein Aufsatz, der praktisch anregen will, den empfehlenden Hinweis auf Bücher, wie die genannten, nicht versäumen.

Freilich, alles Verstehen und Denken kann besten Falls dazu führen, ein sinn-, also stilzeigendes Gefäß zu schaffen – das Höchste der Kunst, echte Schönheit heraufzubeschwören, reicht es zunächst nicht aus. Einmal aber: wenn ein stilvolles Geräth noch nicht schön sein muß, so kann ein stilloses Geräth nicht schön sein, denn schönen Unsinn giebt es nicht. Und zweitens kann das Denken, auf das wir ja durch das Zerreißen aller Entwickelung angewiesen sind, doch wenigstens indirekt auch zur Neuschöpfung auf künstlerischem Gebiet von Nutzen sein. Es kann vom Auge mit allem, was klaren Forderungen der Kunst widerspricht, den Unsinn fernhalten und so dafür sorgen, daß das gesunde Menschengefühl fürs Schöne sich üben und ausleben kann, statt immer wieder von dem umgebenden Blödsinn abgezogen und verkränkelt zu werden.

Dazu gehörte freilich. daß unser Volksauge nicht blos an bevorzugten Stellen Sinnvolles fände, sondern überall. Bis jetzt aber wird der Stil, oder was man so nennt, nur auf der Table d’hôte für Reiche servirt – Hausmannskost ist das wenigste unter den Produkten unserer Kunstgewerbe. Und doch könnte der Hausrath des ärmeren Mannes ebenso gut durchgeistigter und sinniger sein, wie der des reichern, und ohne daß er darum einen Pfennig mehr kosten müßte als jetzt. Wir machen zu viel Prunk- und Protzgeräth, und wenn wir Billigeres machen, soll’s eben doch auch „nach etwas aussehen“, und so wird der Flitter über den Trödel gehängt. Es sieht dann freilich nach etwas aus – nach Verlogenheit und kunstreiterhaftem Geprahl nämlich, nach anderem aber nicht.

Dränge die Kunstgewerbeströmung tiefer in unsern Boden, so würde er durch sie – ich sprach schon vorhin davon – befruchtet zur Aufnahme einer wahrhaft nationalen, weil im Volke wurzelnden hohen Kunst. Käme es dazu, so dürften wir getrost der Früchte warten, die aus dem Samen aufgehen, den unser Kunstgewerbe ausgestreut. Es läge in gutem Grunde, von gutem Safte genährt und könnte vielleicht zu dem heranreifen, was wir alle ersehnen: zur künstlerischen Verklärung unserer Zeit und unseres Volkes – nicht zum altdeutschen, aber zum neudeutschen Stil!