Textdaten
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Autor: Sophie Junghans
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Titel: Unter der Ehrenpforte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10–21, S. 168-171, 181-183, 198-200, 213-215, 234-237, 249-252, 265-268, 281-283, 299-302, 314-316, 334-335, 348-351
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[168]

Unter der Ehrenpforte.

Von Sophie Junghans.

Zwei Reiter hielten auf einer Höhe, von welcher aus die Landstraße das weite, von hier einer Ebene gleiche Thal beherrschte, ehe sie sich senkte und den vollen Umblick nicht mehr gestattete. Man sah eine Anzahl Dörfer in der ausgedehnten, unregelmäßigen Fläche; so ziemlich in der Mitte des Gesichtskreises aber die stattlicheren Thürme und die dunklere Häusermasse der Stadt. Dieselbe hatte damals, vor dreihundert Jahren, kaum ein Viertheil ihres jetzigen Umfangs, aber der Thurm ihrer Sankt Martinskirche und unfern davon ein vereinzelter, kreisrunder Wartthurm von beträchtlicher Höhe ragten damals wie heute, und mit dem braunen Gestein der festen, in gutem Zustande befindlichen Umfassungsmauern hob sie sich kompakter und tüchtiger aus der grünen Umgebung hervor, als heutzutage, da sie sich, wie alle ihres Gleichen, mit weit hinaus liegeuden einzelnen Häusern und Häuschen unmerklich in die Landschaft verliert.

„Da liegt nun das Nest!“ sagte der Eine der Beiden mit einem halben Seufzer, bei dem er sich im Sattel dehnte und die bestiefelten und bespornten Füße in den Bügeln weit von sich streckte. „Da liegt es – drei Jahre lang bin ich fort gewesen, und wenn ich nun sagen sollte, daß mich der Anblick freut, so müßt’ ich lügen. Mich dünkt, ich schmecke schon wieder den Ofenrauch“ – er rümpfte die wohlgebildete Nase … „ich höre um mich her all das Weibergeträtsch und Gesumme, und bei Gott – die dumpfe Kellerluft in der engen Gasse … mir ist, als wehte sie mich schon hier an.“

Der Andere lachte nur zu den Worten. „Ich meine,“ sagte er nach einer kurzen Pause gleichmüthig, „Euch, als dem Bürgermeistersohn, müßte die Stadt ein ganz anderes Gesicht machen, als unser Einem. Wo ich die erste Violine spielen kann, da gefällt mir die Musik. Enge Gassen – sind sie in Padua und Bologna etwa breiter? Wo war’s, wo wir die blutigen Händel kriegten, als wir, unser vier Deutsche, Arm in Arm dergestalt den Borgo Ognissanti gesperrt hatten? Und der Winkel hinter dem Mercato Nuovo, allwo Euer letzter Schatz, Madonna Angelika, ihr Losament hatte –“

Auf eine Bewegung der Ungeduld seines Gefährten fuhr er gelassen fort: „Aber ich weiß wohl, es ist das freie, lose Leben, dessen Verlust Euch drückt, das Umherschlüpfen in diesen heimlichen, dunkeln, überbauten Ecken und Winkeln, in denen wir dahin fuhren, unserer Lust nach, und von dem, was wir begehrten, die Hülle und Fülle haben konnten, nicht anders, als die Mäuslein und Ratten auf dem Kornboden …“

Georg Philipp Tiedemars, der junge Bürgermeistersohn, lächelte ein wenig. „Du magst Recht haben, Bruder. Aber ich glaube, es war hohe Zeit, daß die Mäuse jenen Kornboden räumten, wollten sie anders das Leben oder doch eine gesunde Haut davon tragen.“

„Der Meinung war ich längst und hab’ es Euch auch, meines Wissens, nicht verhehlt,“ sagte sein Begleiter. „Und was Euch jetzt dort unten erwartet“ – er deutete mit ausgestrecktem Arm hinüber nach den Thürmen der Stadt, während sie die Gäule wieder in Bewegung setzten – „ist, dächt’ ich, so schlimm nicht. Hattet Ihr dorten, ehe Ihr auf Schulen zoget, als der erste unter den Bürgersöhnen den Vortritt bei Tanz und Spiel, so bringt Ihr jetzt mit, was Euch auch unter Männern Ansehen geben würde, selbst wenn Ihr nicht des Bürgermeisters einziger Sohn wäret. Drei Jahre habt Ihr zu Padua und zu Bologna das Jus studirt, und ich will Euch das Zeugniß geben: ganz umsonst habt Ihr Eures Vaters schwere Gulden alldort nicht verzehrt, wenn ihrer auch mehr als billig den hübschen Frauen in den Schoß gerollt sind. Bei den gelehrten Kutten und Talaren dort hattet Ihr den besten Leumund von uns allen, als ein Deutscher praeclari ingenii, morum elegantiorum – von hohem Geiste und edleren Sitten –“ er lachte – „mögt Ihr des Lobes, welches Ihr verbrieft und stattlich untersiegelt mit nach Hause bringt, so wohl und lange genießen, wie Ihr es der Wahrheit nach verdient, Georg! Aber wie gesagt, Ihr kommt keineswegs leer an juristischer Weisheit zurück, und es gebricht Euch nicht, wie manchem der Allergelehrtesten, an Witz, um dieselbe zu Ehren zu bringen. Die Jungfer Braut, oder die es doch bald sein wird, wird stolz auf Euch sein – Ihr seid von ihr und ihrer Sippe des liebreichsten Empfangs gewiß.“

Der etwas ältere Genosse sah ihn hierbei von der Seite an, als ob er von dieser Erwähnung der für den Freund geplanten Heirath vielleicht die Erklärung erwarte, weßhalb Georg mit anscheinend so geringer Freude nach dieser langen Abwesenheit die Vaterstadt wiedersah. Aber das hübsche Gesicht des jungen Tiedemars zeigte den vielleicht von dem klugen Gefährten erwarteten Ausdruck nicht, sondern blieb aufrichtig gleichgültig wie zuvor. Daher der Andere fortfuhr:

„Auch hier hat das Glück schier besser, als Ihr verdient, für Euch gesorgt. Die Rosine Külwetter ist von ehrbarem Gemüth und hat sich von jeher so gehalten, daß man sie nur loben konnte – so, wie es einer der besten Bürgerstöchter ziemet. Hübsch ist sie auch, und des ansehnlichen Heirathsguts halber, in welches ihre Person gleichsam wie ein Bild in einen vortrefflichen goldenen Rahmen gefaßt ist, werdet Ihr das anmuthige Bildniß selbst, eben ihre Person, nicht geringer achten.“

„Gegen die Rosine habe ich nichts – und Du brauchst sie mir nicht zu loben wie eine verlegene Waare: das hat sie nicht nöthig!“ – war alles, was Georg hierauf erwiderte. Sie hatten indeß das Flurgebiet der Stadt erreicht, ritten unter dem aufgezogenen Schlagbaum durch und bogen jetzt von der Landstraße ab in eine Art unregelmäßiger Gasse, von niedrigen ärmlichen Häusern gebildet. Die kleine Niederlassung lag außerhalb der Stadtmauer und zog sich bis hart an eines der Thore. Georg Tiedemars war stillschweigend vorangeritten und bog sich jetzt im Sattel um. „Dies ist der Weg, der uns über den Ahnebach hinter dem Pfarracker her an den Bürgermeistergarten führt. Die Pforte in der Mauer weiß ich zu öffnen; es war einer von unsern Jungenstreichen, auf diesem Wege aus der Stadt und wieder hineinzukommen, wenn die Thore nach dem Abendläuten geschlossen waren. Seid Ihr’s zufrieden, Hans, so ersparen wir uns den Anruf am Thore und das Begaffen und Befragen, und kommen durch den Garten beinahe ungesehen bei meinem Elternhause an.“

„Mir kann es gleich sein, wenn es den Gäulen nur eben so recht ist,“ sagte Hans Veit, sein Begleiter. Er sah sich [169] neugierig zwischen den ärmlichen, aber augenscheinlich noch nicht lange erbauten Wohnstätten zu beiden Seiten um. „Hier sitzt also das Webervölklein, dem der Landgraf des Glaubens wegen eine Freistatt gegönnt hat,“ meinte er dann. „Seht, Georg, es sind, seit Ihr nicht hier waret, wohl noch ein Dutzend Giebel hinzugekommen.“

Georg nickte und hielt zugleich einige Schritte von einem einstöckigen Bau, der sich, wenn man aufmerksam hinsah, vor den übrigen Häusern um ein weniges auszeichnete. Die Holzschindeln, die, wie bei den meisten der Nachbarhäuser, den Oberstock auf drei Seiten grauglänzend wie Atlas umkleideten, zeigten eine gefälligere Form, und die Stütz-Balken des vorspringenden oberen Geschosses eine nicht ganz kunstlose Schnitzerei. Die kleinen bleigefaßten Scheiben der Fenster glänzten ungewöhnlich sauber, und einige der Fensterlein boten Raum für jenen anmuthigen ersten Luxus der Armuth, die wenigstens über den bittersten Kampf mit der Noth hinaus ist: eine reichliche Blumenpflege.

Georg Tiedemars hatte auf dies Alles schwerlich Acht. Er betrachtete vielmehr das Häuschen unzufrieden, indem er sagte: „Sie haben Weg und Steg verbaut … ich wußte hier zwischen den Hecken und durch die sumpfigen Wiesen hindurch Bescheid, daß mir heller Tag und Mitternacht gleich war, und jetzt kann ich mich nicht mehr zurecht finden. Gerade hier auf dem Fleck, wo das Haus steht, muß der Pfad nach dem Bache hinunter geführt haben; kommen wir hier seitwärts nicht durch, so müssen wir umwenden und auf der Landstraße bleiben.“

„Und vom Umwenden waret Ihr nie ein Freund,“ brummte Hans, während Georg an dem niedrigen Lattenzaun, der den Krautgarten neben dem Hause umfaßte, entlang ritt und dann vom Pferde herab die erste Thür in dem Zaun, an die er kam, zu öffnen versuchte. Es gelang ihm; er winkte dem Hans Veit halb lächelnd mit dem Kopf über die Schulter, und sie ritten auf einem grasbewachsenen Pfade zwischen den Kohläckern des Besitzers hin, ein Vergehen, welches der Bürgermeisterssohn verantworten mochte, da es der Bologneser Jurist schwerlich gekonnt hätte.

Eine Hand griff nach dem Zügel. (S. 170.)

Im Garten war übrigens Niemand, um die unbefugten Eindringlinge zu berufen. Derselbe grenzte auf der anderen Seite an die Wiesen, deren sich Georg vorhin erinnert hatte, und hier befand sich kein Zaun; ein schilfiger Graben bildete den Abschluß. In dem Augenblicke, als die beiden Reiter über den Graben setzten, mochte die ungewöhnliche Erscheinung zuerst bemerkt werden; eine Weiberstimme stieß einen hellen Schrei aus und eine andere rief: „Gott schütze uns, Hilde, sieh da – sie sind in Euren Garten gebrochen!“

Der erste Blick auf die Wiese hatte den Reitern gezeigt, daß sie hier im Revier der Weiber waren. Lange Stücke Leinen waren an Pflöcken zum Bleichen straff über das Gras gespannt, und links zur Seite, gegen das durchströmende Flüßchen hin stand eine Gruppe Mädchen, die eben vom Schöpfen gekommen sein mochten.

Heimlich belustigt vom Schrecken der Dirnen redete Georg sie an, indem er den Gaul im Zügel hielt und höflich das Barett lüftete. Sein Ton, der, wenn er mit Männern redete, nicht leicht die etwas hochfahrende Gleichgültigkeit des Patriziers verleugnete, ward sofort, und ohne seinen Willen, ein anderer, sobald er Frauen vor sich hatte, mochten sie selbst der geringsten Klasse angehören. Er schien dem Geschlechte eine Rücksicht, eine Achtung zu zollen, die ihm gerade da, wo sie am wenigsten erwartet, vielleicht auch am wenigsten verdient war, schon viele Herzen gewonnen hatte.

Er entschuldigte, wenn etwa die Bewohnerin des Hauses neben dem Garten zugegen wäre, die Freiheit, die er und sein Begleiter genommen. „Ich war hier herum bekannt, ehe die letzten Häuser erbaut waren,“ sagte er lächelnd, „und suchte den Weg, den ich als Knabe oft gemacht hatte, um durch ein Hinterpförtchen in meines Vaters Garten zu gelangen.“

Einem der Mädchen, welches hinter den anderen stand, mochte in ihrer gedeckten Stellung der Muth gewachsen sein; mit halber Stimme, aber doch deutlich von allen vernehmbar, fuhr sie jetzt heraus: „Ist der wieder da! Das ist ja der Jürgen Tiedemars, der übermüthige Bürgermeisterssohn!“

Georg lächelte wieder, was ihm sehr gut stand: „Der die hübsche Jungfer wohl mehr als einmal auf dem Tanzplatz geschwenkt hat,“ sagte er, unter dem Kichern der übrigen Mädchen. Diejenige, welche vorhin von einer anderen als „Hilde“ angeredet worden war, hatte indeß vorn an, den Reitern gerade [170] gegenüber, gestanden und weder mit gelacht noch ein einziges Wort gesprochen, obwohl sie, als die Bewohnerin des Hauses und Gartens, dessen Gebiet gewissermaßen durch die Fremden verletzt worden war, am meisten zum Reden berechtigt gewesen wäre. Sie war eine große Gestalt, die sich auffallend gerade trug, und Georg, dem kein äußerer Vorzug eines Weibes so leicht entging, erkannte ihr diesen im Stillen zu, während er dem Gesicht im ersten Augenblick allen Reiz absprach. Uebrigens hielt er die kleine Scene für beendigt, oder glaubte sie zu beendigen, indem er noch einmal höflich die schwarze Kopfbedeckung in die Höhe hob und dann das Pferd dem Flüßchen zuwendete. Mit flüchtiger Verwunderung schaute er dabei noch einmal in das Gesicht der Hilde, welches ihn ruhig und ernsthaft, wenn nicht gar ein wenig finster, ansah und von der halb scheuen halb dreisten Bewunderung seiner, die er an solchen Mädchen geringeren Standes gewohnt war, auch so gar nichts verrieth.

„Der Henker auch, wie sollen wir da hinüber?“ ließ sich jetzt Hans Veit ärgerlich vernehmen. Auch Georg war betroffen da er gewahren mußte, daß die Veränderung, welche drei Jahre hier hervorgebracht hatten, sich sogar auf das Bett des wohlbekannten Baches erstreckte. Derselbe mochte seitdem nach Herbst- und Frühlingsregengüssen ungewöhnlich starke Wassermassen vom Waldgebirge hernieder geführt haben. Jetzt freilich floß das Wasser seicht, aber tief im Grunde einer häßlich aufgewühlten mächtigen Rinne, deren diesseits jähe abfallender Rand mit seinem nachbröckelnden Erdreich den Pferden, selbst wenn die Rinne minder breit gewesen wäre, keinen sicheren Raum zum Sprunge bot.

„Eine Ziege kann da hinunter und jenseits wieder hinauf, aber kein schwerer Gaul,“ sagte Hans Veit. „Das Stadtthor bleibt uns nicht erspart, Georg.“

„Meint Ihr?“ sagte der Bürgermeisterssohn trocken. Er war einige Schritt am Rande des Grabens entlang geritten und jetzt an eine Stelle gekommen, wo, nicht von der Wiesenfläche aus, da dort das Bett des Baches am breitesten war, sondern in halber Höhe der Grabenwandungen eine Art Steg hinüber geschlagen worden war. Man sah denselben nicht, bis man dicht darüber stand. Von der Wiese aus ging es hier steil hinunter, und die Brücke selbst war ganz roh von Pfählen und lose darüber gelegten Balken und Bretterm hergestellt.

Hans Veit war, wie man zu sagen pflegt, starr vor Staunen, als er die Absicht seines Freundes gewahren mußte, hier hinüber zu reiten. „Seid Ihr toll, Jürgen?“ rief er endlich. „Ihr bringt das Pferd gar nicht hinunter!“

Das schien in der That so. Das Pferd Georg’s, ein ziemlich derber Brauner, aber nicht von unedlem Schlage, scheute vor dem aus der Tiefe aufblinkenden Wasser und war zu dem Abstieg, der ihm überdies mehr von der Behendigkeit einer Ziege zumuthete, als ihm genehm sein mochte, lange nicht zu bewegen.

Mit dem Widerstande des Thieres aber erwachte eine Art von zähem Eigensinn bei Georg. Unermüdlich, mit mehr Geduld und größerem Aufwand an Reitkunst, als er bei manchem glänzenden Festspiel entfaltet hatte, wiederholte er den Versuch, das Pferd erst zurückzuwenden und bei jedem folgenden Male immer näher an den Grabenrand zu bringen.

Hans Veit hielt indessen kopfschüttelnd daneben. „Der hartköpfige Satan!“ brummte er in den Bart; laut sagte er nach einer Weile: „Und wenn Ihr den Gaul unten habt, Georg, was dann? Wenn Ihr noch den Hals aufs Spiel setztet! Ein solches Stücklein hat man Euch wohl schon mehrmals wagen sehen! Aber hier ist nichts zu holen, als daß Ihr dem Pferde die Beine brecht – schade darum ... der Braune tritt fehl, er geräth zwischen die Bretter – seht die handbreiten Spalten – Ihr bringt ihn nimmermehr heil hinüber.“

„Das ist meine Sache,“ erwiderte Georg zwischen den Zähnen. Eben drehte er, zum wer weiß wie vielten Male, des Pferdes Kopf gegen das Ufer. Das Thier zitterte an allen Gliedern, aber endlich überwand der stärkere Wille des Reiters, der mit angespannten Muskeln, die Falte eines hartnäckigen Entschlusses zwischen den Brauen, nicht nachließ ... die Faust, welche den Zügel hielt, fest wie Eisen während die andere Hand der Furcht des Geschöpfes gleichsam Zugeständnisse machte und ihm schmeichelnd und ermuthigend den feuchten Hals streichelte und klopfte.

Nun aber kam erst der schwerste Theil des wunderlichen Unternehmens. Das Pferd stand, die Vorderbeine steif, die vier Hufe eng zusammengedrängt auf einem Erdfleck, der ihnen kaum Raum bot, zwischen der hinten steil aufsteigenden Uferwand und dem Steg mit seinen klaffenden Bohlen; seine Flanken flogen, und in den starren vollen Augen lag das äußerste Entsetzen. Kein schmeichelndes Zureden des Reiters half, und Gewalt gegen das Thier brauchen, hieß es ohne weiteres hinabstürzen. War auch die Tiefe nicht beträchtlich, so war doch das nach unten immer mehr sich verengende steinige Bett des Baches gerade der Ort, aus dem ein Mann und ein schweres Pferd nicht ohne Schaden wieder herauskommen würden.

Sämmtlichen Zeugen der Scene war es klar, daß sich der junge Mann durch seinen sonderbaren Eigensinn in eine fatale Lage gebracht hatte. Mit einiger Schadenfreude, aber zugleich nicht ohne Besorgniß, blickte Hans Veit, der so nahe wie möglich an den Grabenrand herangeritten war, hinunter. Die Mädchen drängten sich ängstlich herzu, um mit einem nicht ganz unangenehmen Grauen zu sehen, was dem hübschen tollkühnen Menschen da alles zustoßen werde.

„Ich bitte Euch, Georg, steigt ab,“ rief Hans Veit endlich. „Am Zügel bringt Ihr ihn vielleicht hinüber!“ Er hatte die Worte längst auf der Zunge gehabt, sie aber immer noch zurückgehalten in der Voraussicht dessen, was nun auch eintraf: daß nämlich die Mahnung ihr Gegentheil bewirken und den hartnäckigen Vorsatz seines Gefährten nur reizen werde.

„Der Teufel soll mich holen, wenn ich dem feigen Racker den Willen thue,“ stieß Georg heraus. „Hinüber oder hinunter, aber ich bin auch dabei.“

Ein weiterer Versuch, das Pferd auf den Steg zu nöthigen, wobei es sich schnaubend bäumte, wurde von einem hellen Angstschrei der Mädchen begleitet. Hierdurch ganz scheu gemacht, stieg der Braune plötzlich kerzengerade auf den Hinterbeinen in die Höhe ... Die Vorderhufe hieben durch die Luft, und daß sie beim Niederfallen nicht auf die Planken des Steges treffen würden, sondern daß die nächsten Augenblicke einen gefährlichen Sturz des Reiters herbeiführen müßten, war offenbar. Allen Theilnehmern stockte der Athem; dem Hans Veit blieb ein ärgerlicher Fluch über den tollen Burschen zwischen den Zähnen stecken.

Da, als gerade das Thier das mühsam durch fortwährende Versetzung der Hinterhufe erhaltene Gleichgewicht verlor, glitt eine Gestalt pfeilschnell den Uferrand hinunter, eine Hand griff nach dem Zügel, hart ins Gebiß reißend, eine Schulter stemmte sich gegen die Flanke des Thieres und dräugte es zur Seite, auf den Weg – die Hand und die Schulter eines Weibes!

So blieb sie, dicht an den Gaul gedrängt, ohne die eisenbewehrten Hufe zu scheuen, und nur so fand sie auf den Planken Raum neben dem Thier, das ihre kräftige Hand in wenigen Sekunden hinüber geleitet hatte. Kaum fühlte das Pferd jenseits festen Grund, als es mit einem letzten Satze der Angst das steile Ufer nahm und oben zitternd stand. Das Alles war so rasch, so völlig unerwartet, vor sich gegangen, daß sämmtliche Theilnehmer bis auf die Eine, vielleicht die Hauptperson darin, den kleinen Auftritt eigentlich erst begriffen, als er schon vorüber war. Die Mädchen fanden, aufathmend, wie von einer Last befreit, plötzlich die Sprache wieder. „Hilde! Gott steh uns bei – was die alles macht! ich hätte den Tod vor Angst dabei gehabt!“ rief es durcheinander.

Hilde kam indessen ruhig über den Steg zurück, wobei sie den Kopf vielleicht nicht ganz so hoch hielt, wie sie sonst pflegte. Sie sah eher unmuthig aus, als zufrieden, und trat jetzt unter die übrigen Mädchen, wie um sich der ausschließlichen Aufmerksannkeit, die sie auf sich gelenkt hatte, wieder zu entziehen. „Kommt an die Arbeit,“ sagte sie und schnitt damit alle Ausrufungen über ihre kühne Hilfsleistung kurz ab, „oder es wird Nacht, ehe wir mit Gießen fertig sind.“

Hans Veit kam jetzt erst von seinem Staunen zu sich. „Brav, Mädchen!“ rief er halb lachend nach den Dirnen hin. „Bei Gott, der Herr Bürgermeister mag sich bei Dir bedanken, wenn ihm der Sohn heimgeritten kommt und nicht hinein getragen wird. Daß Du mir und meinem Gaul aber auch über den Teufelsweg hilfst, das wäre wohl zuviel verlangt, und ich denke, Jürgen, der längere Weg wird für mich der kürzere sein. Ich reite durchs Stadtthor hinein.“

Er grüßte nach dem Bürgermeisterssohn hinüber und wendete das Pferd um.

[171] „Ihr müßt mir schon gestatten, des Weges zurückzukehren, den wir unbefugter Maßen gekommen sind,“ sagte er, während er bei den Mädchen vorüber kam. Dabei blickte er sie aufmerksam an, um diejenige herauszufinden und noch einmal besser zu betrachten, die seinem Gefährten den wunderlichen Dienst geleistet hatte. Aber es war nicht möglich, ihrer Person gewiß zu werden, da sie sich geflissentlich zwischen den übrigen hielt.

Georg indessen hatte die letzten Augenblicke benutzt, um seines Pferdes völlig Meister zu werden. Dann spähte auch er scharf nach den Mädchen hin, lüftete das Barett und rief mit blitzenden Augen. „Meinen Dank bleibe ich einstweilen schuldig, Jungfer!“

Er folgte nun dem alten bekannten Pfad, der hier diesseit des Wassers wieder auftauchte. Hinter ihm in der Tiefe gurgelte der Bach. Er hielt sein Pferd an und sah sich um nach der Schlucht, mit der sonderbarsten Empfindung, die er je in seinem Leben gehabt hatte. Er hatte, was ihm noch selten oder nie geschehen war, einmal einen eigensinnig und tollkühn begonnenen Streich nicht auf seine Weise zu Ende gebracht. Er war sogar, so zu sagen, jämmerlich darin stecken geblieben. Und doch empfand er darüber keinen besonderen Aerger. Vielmehr beschäftigte etwas Anderes, als sein Mißlingen, seine Gedanken, und zwar auf keine unangenehme Weise. Er wiederholte sich immer von neuem die wenigen Augenblicke, da der Leib des Mädchens sich an sein Pferd gedrängt hatte, und besonders war es die Eigenheit ihrer Körperbildung, welche seine Einbildungskraft sich bemühte zu erneuern, ein schlanker Nacken und Rücken und edelgeformte Schultern. Ihr Gesicht hatte er kaum gesehen, er gedachte aber das Versäumte sehr bald nachzuholen.

[181] Der Bürgermeister, Doktor Jakob Tiedemars, bewohnte ein geräumiges Haus in der Nähe des Rathhauses. Dieses ältere Rathhaus, nunmehr abgebrochen und bis auf die Stätte, an der es gestanden hat, aus dem Gedächtniß des heutigen Geschlechtes verschwunden, befand sich mitten auf dem Markt der Landgrafenstadt, in demjenigen Theile derselben, in welchem damals das Leben aller ihrer Stände hauptsächlich pulsirte, während er heutzutage, unter dem Namen der Altstadt, nur dem geringeren Gewerbe geblieben ist. Das damalige Bürgermeisterhaus steht heute noch und blickt mit erneuten hellen Fenstern auf die veränderte Welt.

Am Morgen nach den erzählten Vorgängen saß Herr Doktor Jakob Tiedemars behaglich mit seinem Sohne in der Wohnstube beim Frühmahle. Er war ein beleibter Herr, dessen volles Gesicht im Profil etwas von einem klugen Vogel hatte. Uebrigens hätte man ihn in der würdigen schwarzen Tracht und seinem ganzen Habitus nach auch wohl für einen evangelischen geistlichen Herrn halten können. Er verstand es, mit weniger Worten, als die meisten Menschen zu machen pflegen, in Haus und Amt sich in Respekt zu setzen, und war allenthalben als ein kluger, tüchtiger Mann bekannt, auch bei dem Landgrafen als solcher wohl angeschrieben. Die Mutter ging ab und zu und bediente die Männer und machte dabei so viele Umstände um den gelehrten Herrn Sohn, daß sie diesen, der der Bräuche im elterlichen Hause sich indessen entwöhnt hatte, wahrhaft in Unbehagen versetzte. „Wollt Ihr Euch nicht auch zu uns setzen, Mutter?“ fragte Georg immer wieder.

„Nun, Rosinchen, wen suchst Du?“ (S. 182.)

„Ei, das wäre!“ sagte die Frau eifrig; „wer sollte denn indessen draußen zum Rechten sehen?“ Auch am Abend zuvor hatte sie sich kaum fünf Minuten ununterbrochenes Sitzen gegönnt, während der eben Heimgekehrte von seiner Reise erzählte. Sie schien des Sohnes nicht anders froh werden zu können, als indem sie sich die häusliche Mühe seinethalben so recht geflissentlich vermehrte. Ganz sonderbar berührte es den jungen Mann, wenn der Vater mit einem gebieterischen Wink oder einem kurzen Wort der Mutter die leere Kanne zum Füllen hinschob, als sei sie eine Magd; wollte Georg ihr aber die gleiche Dienstleistung für ihn wehren und sprang er gar auf, um ihr die Thür zu öffnen, so schienen sowohl Vater wie Mutter sich zu verwundern. Uebrigens mußte Georg sich gestehen, daß die Mutter in diesen drei Jahren den letzten Rest von Wohlgestalt, der ihr aus einer recht anmuthigen Jugendperiode immer noch geblieben war, abgestreift hatte, gealtert und in der That nicht viel anders als eine Magd aussah.

Das Gespräch der beiden Männer hatte sich endlich von den Zuständen der wälschen Hochschulen, von denen der alte Tiedemars mit vielem Antheil sich hatte erzählen lassen, ab- und heimischen Verhältnissen zugewendet. Da kam manches Vertrauliche zur Sprache, wobei der Bürgermeister, sobald seine Frau etwa in die Stube trat, die Stimme senkte und nur dem Sohne zum Gehör sprach. Dabei nickte die Bürgermeisterin dann wohl ihrem Georg zu, ganz stolz darauf, daß der Vater ihn nun auch in Dinge einweihe, welche für Weiber zu hoch waren.

„Wenn mich nicht alles trügt,“ sagte der ältere Tiedemars zuletzt, „so bist Du zur rechten Stunde hier eingetroffen, Georg, und kannst bald beim Aufsetzen eines Heirathskontraktes behilflich sein, wobei unserm fürstlichen Herrn Dein spitzfindiges italienisches Jus besser zu statten kommen mag, als er sich vielleicht jetzt noch träumen läßt.“

Georg sah überrascht zu den Worten seines Vaters auf. „So wäre es wahr, daß der Landgraf seines Wittwerstandes müde ist?“ sagte er.

Herr Jakob Tiedemars zuckte die Achseln und lächelte fein. „Seine Räthe haben ihm Vorstellungen gethan,“ sagte er mit der Miene eines Mannes, der genau unterrichtet ist, „und der Herr fügt sich dem, was die Wohlfahrt der Unterthanen verlangt. Bei einem fürstlichen Hofhalt ohne Frau pflegt mit der Zeit Aergerniß für das Land zu entstehen – selbst wenn der Herr keinen Anlaß giebt, geben ihn die Diener … Und dann haben die evangelischen Fürsten zur Zeit alle Ursache, sich vorzusehen, daß sie im Falle der Noth nicht allein stehen, daher die Verschwägerung mit einem ansehnlichen Fürstenhause desselben Glaubens erwünscht schien. Diesen Vortheil und noch manchen andern gewährleistet in ihrer zudem sehr schönen Person eine fürstliche Frau – die verwittwete Gräfin Sabine von Hennegau –“ hier unterbrach sich der ältere Herr, nickte dem Sohne zu und legte den Finger auf den Mund – „sobald ein derartiges Verlöbniß noch nicht publicirt ist, thut man wohl, bei den Leuten nichts davon zu [182] wissen, und es giebt da zuweilen wunderliche Haken, an denen manchmal zu guter Letzt noch alles hängen bleibt. Doch habe ich aus guter Quelle, daß die Sache schon ziemlich weit gediehen ist.“

In diesem Augenblick ging die Thür auf, und der Kopf eines Mädchens schob sich herein. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie gleich wieder zurückfahren, ließ sich aber durch den Zuruf des ältern Tiedemars: „Nun, Rosinchen, wen suchst Du? nur immer herein!“ aufhalten und sogar veranlassen, in ganzer Figur in der Stube sich zu zeigen. Doch blieb sie dicht an der Thüre stehen, sagte, sie habe die Frau Muhme aufsuchen wollen, und that, als bemerke sie Georg gar nicht, obwohl er als die eine der beiden breit am Tische sitzenden Personen eigentlich nicht zu übersehen war.

Er sprang übrigens jetzt auf und ging auf sie zu. Das war also die ihm bestimmte Braut – sein Schicksal für die noch vor ihm liegende Lebenszeit, wie man die künftige Ehegattin doch wohl bezeichnen konnte! Sie war ein auffallend schmuckes Mädchen; das Gesicht von hellem Weiß und Roth. Als er vor ihr stand und die Hand zum Gruße bot, sie also nicht mehr umhin konnte, ihn anzusehen, da schlug sie endlich ein Paar schön blaue vielleicht allzuhell bewimperte Augen zu ihm auf, blickte aber so rasch seitwärts zu Boden, daß ihn das Spiel, welches ihm übertrieben vorkommen mußte, ein wenig zu verdrießen anfing.

„Ihr thut, als stände ein Fremder vor Euch, Rosine,“ sagte er – das Mädchen empfand eine angenehme Bewegung; wie wohlklingend und tief war seine Stimme in den drei Jahren geworden! „Ihr müßtet doch wissen, wer ich bin und daß ich gestern Abend zurückgekehrt. Heute noch hätte ich Euch aufgesucht“ – er lächelte: „es ist hübsch von Euch, daß Ihr Euch hier sehen lasst.“

Mit feuerrothem Gesicht und zuletzt ordentlich ärgerlich vertheidigte sich Rosine gegen den Verdacht, als habe sie von Georg’s Anwesenheit etwas gewußt. „Hast ihn auch nicht erkannt und konntest Dir gar nicht denken, wer das wohl sei, als Du ihn da am Tische sitzen sahest,“ meinte der Alte und blinzelte seinem Sohne zu … „Schon gut, Rosinchen … komm, setz Dich hierher … trink uns einmal zu und laß Dir von dem Vetter, wie sichs gehört, zum Willkommen einen Kuß geben – denn daß er’s ist, magst Du mir glauben.“

Den Kuß, dessen Georg sich zunächst versicherte, ließ sich Jungfer Rosine nehmen – einen Kuß von frischen Lippen, die der Sache nicht ganz ungewohnt schienen, und bei dem er die Gestalt, die nun bald so völlig ihm zugehören sollte, auf einen Augenblick ohne sonderliche Bewegung umfaßt hielt – zum Niedersetzen aber war das Mädchen nicht zu bringen. „Wir haben Birnmus auf dem Feuer,“ sagte sie, „Ich habe die Magd beim Rühren gelassen –“.

„Und die könnte die Finger hineinstecken“, ergänzte der Bürgermeister trocken.

„– Und ich kam nur hinüber gelaufen um einen Hafen, den die Muhme unlängst von uns geliehen hat, denn es giebt heuer mehr Mus als wir dachten.“

„Den irdenen Hafen! Ei, Rosinchen, den habe ich Euch ja die vorige Woche zurückgeschickt, und Du selbst hast ihn der Lisbeth abgenommen!“ rief hier die Frau Bürgermeisterin, die bei den letzten Worten hereingekommen war. „Hast Dir dem Georg einmal angesehen? Nun?“ und sie stieß das Mädchen scherzhaft mit dem Ellenbogen in die Seite: „Das ist jetzt doch noch ein ganz ander Ding als vor drei Jahren, wie? Aber die Rosine hat sich auch heraus gemacht! Hättest Du sie denn wieder erkannt, Georg?“

Dabei sagten die Augen der Alten, wie sie zwischen den beiden jungen Leuten hin und her gingen, noch viel mehr als ihre Worte, doch schien Rosine dadurch nicht besonders in Verlegenheit gesetzt zu werden. Als Georg lächelnd erwiderte: „Gewiß, denn so schön das Bäschen geworden ist, so hat sie doch nur gehalten, was sie versprach,“ da streifte sie ihn, von den Alten unbemerkt, mit einem wunderlich dreisten Blicke. Dafür aber schlug sie jetzt beim Abschied die Augen gar nicht noch einmal auf, sondern hatte sich, ehe man sichs versah, hinter der Bürgermeisterin zur Thür hinaus gedrückt.

Diese blieb, die Hand auf der Klinke, noch stehen und deutete mit einem Kopfnicken hinter der Verschwundenen her. „Wie sich das zierte!“ sagte sie. „Aber so machen sie’s alle. Bist Du einmal mit ihr selbander, so wirst Du ihr schon die Zunge lösen. Denn reden kann die Rosine, trotz Einer … und das ist gut … man hat es wahrlich nöthig bei dem trägen Gesind! Ich bin jetzt schon hinter den Dirnen draußen her … wir müssen Lebküchlein backen und Gewürzwein ansetzen … nächsten Sonntag ist der Vetter Külwetter mit Frau und Tochter bei uns zu Gaste … und mir schwant, wir werden bald noch größere Gastereien im Hause haben … da muß man sich bei Zeiten vorsehen, daß es an nichts fehle.“

„Schon gut, schon gut,“ fiel der alte Herr mit einer gelind abwehrenden Handbewegung ein, worauf die Mutter, dem Sohne noch einmal bedeutungsvoll zunickend, sich entfernte.

„Sobald nur etwas wie eine Freierei von fern im Anzug ist, sind die Weiber rein aus dem Häuschen,“ sagte der Doktor, wie unzufrieden mit der Unterbrechung, welche das Gespräch erlitten hatte. Georg sah den Vater forschend an. Er selber hatte noch nicht anders gedacht, als daß Hochzeit und Ehestand seiner Heimkehr in die Vaterstadt folgen müßten, als eine Art von nothwendigem Uebel, gegen welches jeder Versuch der Abwehr thöricht sein würde, während in der angenehmen Person der Braut wie in ihrer ansehnlichen Mitgift das Schicksal gewissermaßen legitime Linderungsmittel der auferlegten Plage bot. Daß der Vater besonders seine baldige feste, bürgerliche Niederlassung wünsche, hatte Georg ohne Weiteres angenommen. Jetzt fühlte er sich mit einem Male merklich erleichtert, da ihm schien, als ob es der alte Herr damit nicht allzu eilig habe.

Hans Veit, Georg’s Studien- und Reisegenosse, pflegte nunmehr häufig im Bürgermeisterhause vorzusprechen. Er war der Sohn eines verstorbenen Rathsverwandten, nicht wohlhabend, aber mit guten Bürgerhäusern verschwägert und dazu als gesetzt und fleißig bekannt, so daß ihm eine auskömmliche Stelle im Dienste der Stadt gewiß war. Die Bürgermeisterin, die früher dem Sohne der Wittwe ein wenig die Gönnermiene gezeigt hatte, begegnete ihm jetzt mit einem Theile des Respektes wenigstens, welchen sie dem gelehrten Stande ihres Sohnes zollte. Hans war ein trockner, bedächtiger Geselle, wie man schon daraus sieht, daß er ohne irgend welche Abrede mit Georg des Vorfalls auf der Wiese vor dem Stadtthore im Bürgermeisterhause mit keiner Silbe erwähnte.

Georg war seit einer Woche etwa wieder im elterlichen Hause, als er eines Abends, da es schon stark dämmerte, in einen langen Mantel gehüllt, den Weg nach den Wiesen nahm, welche die Weberniederlassung begrenzten. Es war nicht das erste Mal, daß er hierher zurückkam; ohne Weiteres hatte er sich gleich anfangs der Neigung überlassen, mit dem beherzten Mädchen aus dem Weberdorfe nähere Bekanntschaft zu machen. Als ihm dies bei wiederholten Versuchen nicht glücken wollte, wurde er eifriger. Es war eine angenehme Beschäftigung, sich Tags über trotz allem, was um ihn vorgehen mochte, ihr Bild, das auf ihn einen eigenen leisen Reiz ausübte, zu vergegenwärtigen. Und gerade wenn er mit Rosinen zusammen war, trat dies andere Bild deutlicher hervor. Wenn Jungfer Rosine, sich etwas in den derben Hüften wiegend, an ihm her durch das Zimmer ging und schon in der Art, wie sie sich trug, das Bewußtsein, daß sie gefallen müsse, merken ließ, so sah er neben ihren tüchtigen breiten Schultern den schlanken Rücken und feinen Hals des fremden Mädchens. Diese Formen hatten sich ihm so eingeprägt, daß der Wunsch, sie wiederzusehen, zuletzt den Mittelpunkt seiner Gedanken bildete.

Drei-, viermal war er schon vergebens gegangen, und jeder Tag getäuschter Hoffnung stachelte das Verlangen, sodaß es ihn heute wie ein heftiger freudiger Schreck durchfuhr, als er, dem Bache sich nähernd, auf der anderen Seite desselben eben eine Gestalt vom Schöpfen sich aufrichten sah, die, ihrer Höhe nach, keiner andern als der Gesuchten angehören konnte.

Ob sie ihn gesehen habe oder nicht, konnte er nicht wahrnehmen; sie hob ihr Wassergefäß in die Höhe und entfernte sich ohne Zögern. Er war im Nu über den Steg und folgte ihr über den Wiesenboden, wo sie ihn nicht hören konnte, und da nicht viel fehlte, daß sie ihm auch diesmal entkommen wäre, war dies endliche Zusammentreffen ganz anderer Art, als er es sich wohl ausgedacht hatte.

Er beugte sich neben ihr vor und legte plötzlich die Hand auf ihren Arm. Das Mädchen stand still, anscheinend ohne zu [183] erschrecken, aber in ihrer ganzen Haltung lag sofort etwas wie Protest gegen seine Annäherung.

Voll Verlangen hatte der junge Mann mit den Blicken ihr Antlitz gesucht. Dasselbe wurde ihm ruhig zugewendet und schien ihm heute, in diesem Halblichte, mit diesem Ausdrucke, ganz anders als zuvor und zwar so, daß er ein leises Entzücken sich ins Herz schleichen fühlte.

Hilde blickte in ein Paar unruhig flackernde Augen, in ein erregtes Gesicht. „Mädchen“ – stieß Georg hervor – „Du weißt, daß ich Dich tagelang gesucht habe. Was dünkst Du Dich zu sein, daß Du Dich so spröde mir entziehst?“

Er bereute die Worte, sobald sie gesprochen waren. Wie verkehrt, wie wenig am Platze waren dieselben gewesen! Hilde schüttelte leicht seine Hand von ihrem Arme und sagte: „Ich wohne dort in dem Hause, Herr, mit meinem Vater. Zwar weiß ich nicht, was Ihr von mir wollen mögt, wer mich aber sucht, kann mich daheim allezeit finden.“

„Vergönnt Ihr mir, daß ich zu Euch ins Haus komme?“ fragte Georg, wie in freudigem Schreck.

Sie aber sagte: „Weßhalb? Was wollt Ihr bei uns?“ so kühl und gleichsam wie von ferne, daß ihm das Blut ins Gesicht schoß. Er nagte an dem blonden Bärtchen und schwieg einige Sekunden, ehe er in einem ganz anderen Tone wieder begann.

„Verzeiht mir,“ sagte er mit Herzlichkeit. „Die Befürchtung, Euch nicht mehr zu erreichen, ehe Ihr ins Haus ginget, ließ mich so hastig reden, daß meine Worte Euch unsinnig vorgekommen sein müssen. Ich wollte Euch danken für Eure Hilfe neulich.“

„Nun gut, Herr, so thut es, und dann laßt mich weiter,“ sagte Hilde. Von einer Andern gesprochen, hätten die Worte vielleicht wie eine kecke Herausforderung geklungen und des Mädchens kurze abweisende Art nur wie darauf berechnet erscheinen lassen, den Patriciersohn zu reizen. Bei Hilde aber, die dazu aus so ernsten Augen schaute, kam das Alles ganz anders heraus, so, daß die Empfindung dabei für Georg eine völlig neue war. Er fuhr auch ganz anders fort, als sie oder er selber erwartet haben mochte:

„Ich will Euch nicht lange aufhalten. Eins sagt mir, wenn es Euch gefällt: Warum halfet Ihr mir?“

„Ich half Eurem Pferde, Herr, dem that das Noth,“ sagte Hilde.

„Geht“ – Georg wandte sich ärgerlich ab – „Ihr seid wie die andern alle.“ Sie schwieg und ging weiter. Er war mit einigen Schritten doch wieder neben ihr und konnte bei dem schwindenden Tageslichte gerade noch sehen, daß ihr Gesicht einen fast bekümmerten Ausdruck trug. Was mochte sie nur denken? Gleichviel, so lange er noch neben ihr bleiben konnte, denn ihre Nähe verlockte und beruhigte ihn zugleich, so, daß er nichts wünschte, als die gegenwärtigen Minuten möchten ebenso zu Stunden werden.

Und doch verkürzte er sich, was ihm so überaus wohl gefiel. Hilde zuckte mit einem Male zusammen und stand dann in ihrer stolzen geraden Haltung still: er hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt.

Sein Arm glitt herab, während sie ihn groß ansah. „Das duld’ ich von niemand, Herr,“ sagte sie. „Und ich bitte Euch, mich jetzt meiner Wege gehen zu lassen. Was Ihr gesagt habt, will ich für Euecrn Dank nehmen; es braucht weiter keinen.“

Sie ging weiter, aber Georg holte sie noch einmal ein, als sie eben den um das Haus herumlaufenden Garten, der hier von der Wiese begrenzt wurde, betreten wollte.

„Gönnet mir noch ein Wort: Sagt mir Euren Namen“ – bat er heftig, und dabei hingen seine Augen wie verzehrend an der vor ihm stehenden Gestalt.

Sie zögerte, als ob sie überlegte. Da sich aber, was er verlangte, kaum verweigern ließ, sagte sie nach einer kurzen Pause: „Ich heiße Hilde; Hilde Vanderport. Mein Vater ist Lukas Vanderport, der Weber.“ –

Und nun neigte sie ernsthaft das Haupt gegen ihn, und er – er riß das Barett herunter und grüßte sie wie eine Edeldame, und dann stand er und sah der hohen, so frei und schlank getragenen Gestalt nach, er draußen, und sie, sich sicher und ruhig hinbewegend über den Grund und Boden, auf dem sie Hausrecht hatte, und den der sonst so Kecke nicht zu betreten wagte. War das die Dirne geringen Standes, der er mit einer dreisten Liebkosung sich hatte nahen wollen? Und er? Er kam sich selber wie ausgewechselt vor, daß er sie so leichten Kaufes hatte entkommen lassen.

Sie war kaum verschwunden, und kaum hatte die Gewißheit, daß das heutige kleine Abenteuer beendet sei, sich seiner völlig bemächtigt, als er sofort neue Pläne, wie er das Mädchen wieder sehen könne, in Gedanken hin und her zu wenden begann. Dabei wickelte er sich fester in den Mantel, rückte das Barett tiefer in die Stirn und schritt in der entgegengesetzten Richtung von der, in welcher er gekommen war, über die Wiesen im Rücken der Weberniederlassung hin, bis er am Ende derselben die Landstraße erreichte. Auf dieser wendete er sich nun der Stadt zu.

Er kam dabei an dem schindelgedeckten Häuschen vorüber, in welchem, wie er nun wußte, der Weber Vanderport mit seiner Tochter wohnte. Der Abend war vollends hereingebrochen; durch die kleinen Scheiben der Häuser links und rechts sah er den trüben Schein der Oellampe, die meist in der Nähe des Fensters, wo der Webstuhl stand, aufgehängt war.

Auch die Fenster jenes kleinen Hauses waren erhellt und man konnte von der Straße aus bequem in die Stube hinein sehen. Das eine der Fenster nahm auch hier der Webstuhl ein, und Georg erblickte in demselben einen weißen Kopf und ein klares Greisenantlitz. Das Gemach schien wohnlich. Die Blumen auf dem Simse des zweiten Fensters sollten wohl unberufene Blicke von außen ausschließen. Georg, dem neulich schon diese damals noch weniger als heutzutage gepflegte Gärtnerei wie ein gewisser Luxus aufgefallen war, verwünschte sie jetzt. Nur undeutlich konnte er in der Tiefe der Stube eine Gestalt sich hin und her bewegen sehen, und als dieselbe jetzt nach vorn kam, da wollte es das Mißgeschick, daß ihm zwischen den Levkoyenstöcken und durch die kleinen Scheiben hindurch nur gerade ihre Hände sichtbar wurden, wie sie sich am Tische zu schaffen machten und das zinnerne Eßgeräth aufstellten.

Georg hatte sich dicht an das Fenster gedrückt und starrte wie gebannt auf diese Hände. Sie waren schlank und von einem gewissen Adel der Form, aber eigentlich nicht ganz jugendlich. Das paßte, denn Hilden selber gab er drei- bis vierundzwanzig Jahre, so viel, wie er selber zählte. Und wie alles an ihr, reizte ihn auch diese volle Reife, der Ernst, den, wenn man wollte, schon diese ruhig sich bewegenden länglichen Hände ausdrückten. Dem jungen Menschen stieg das Blut zu Kopfe, etwas wie ein rasendes Verlangen nach dem Besitze des Mädchens ergriff ihn.

Er hatte vergessen, daß er auf offener Straße stand, wenn auch durch die abendliche Dunkelheit ziemlich geschützt. Da fühlte er sich nicht ganz sanft an der Schulter gefaßt und ein Mann rief ihn an:

„Was thust Du da, Gesell? Pack Dich Deiner Wege! Wir brauchen hier kein Gesindel – kein Volk, das anders, denn durch die Thür, ins Haus zu kommen denkt!“

Georg hatte sich umgedreht und mit einer herrischen Bewegung die Faust des Mannes abgeschüttelt. Dabei streifte der Lichtschein aus des Webers Stube sein Gesicht, und nun sprach eine zweite Stimme etwas gedämpft:

„Laß ihn, das ist kein Landfahrer, Dieter. Es ist des Herrn Bürgermeisters Sohn –“

Georg murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen, als er sich erkannt sah, aber er mußte den übeln Zufall hinnehmen. „Das kann ihm der Teufel ansehen,“ brummte seinerseits der, welcher zuerst gesprochen hatte, ein Mann mit großem Hut und langem Spieß, sonst aber ziemlich friedlichen Aussehens. Es war offenbar der nächtliche Wächter der Niederlassung. „Nichts für ungut,“ fügte er jetzt etwas höflicher hinzu. „Ich habe Euch angerufen, wie meines Amtes ist …“

„Das war Euch unbenommen. Und mir scheint, daß die Leute, wo Ihr wacht, ruhig schlafen können,“ sagte Georg mit einem kurzen ärgerlichen Lachen. Es blieb ihm nichts übrig, als sich zu entfernen, und er that dies auf dem Wege, auf dem er gekommen war, um den Thorwärter am Stadtthore zu vermeiden und einer etwaigen Erzählung des Burschen da oben, der ihn erkannt hatte, keine weitere Bestätigung zu liefern.

[198] Im Elternhause Rosinens wurde nunmehr zu Ehren des heimgekehrten jungen Bürgermeistersohnes ein stattlicher Schmaus veranstaltet, zu dem die ganze Freundschaft der beiden Familien geladen war. Es würde wohl keinen der Gäste gewundert haben, wenn das Verlöbniß Georg’s mit der Tochter vom Hause schon an diesem Tage vor sich gegangen wäre. Das Mahl verlief indessen, ohne daß etwas verlautete. Doch zweifelte kein einziger der Anwesenden daran, in Georg und Rosinen ein für einander bestimmtes Paar zu sehen, und am wenigsten vielleicht diese beiden Hauptbetheiligten selber. Daher es denn auch an Anspielungen, feinen und gröberen, an scherzhaften Ellbogenstößen von Seiten der Weiber und an derben Späßen und lärmendem Gelächter der Männer bei solchen Anspielungen nicht fehlte.

Herr Peter Külwetter war ein dürrer kleiner Mann, dem man im Vermessen der brabanter Tuche, die er in seinem Gewölbe am Schloßplatz verkaufte, eine besondere Fertigkeit nachrühmte. Keiner seiner Gadendiener maß so flink und so knapp wie er; und schien er im Allgemeinen mit sehr mäßigen Geistesgaben bedacht, so mußte er doch gut rechnen können, denn er war bei seinem Tuchmessen mit der Zeit ein noch einmal so reicher Mann geworden, als sein Vater gewesen war, von dem er den Handel überkommen hatte. Er saß im Rathe der Stadt und war, wenn gerade kein Triebrad, so doch eine Art von regulirendem Pendelgewicht an dieser Maschine, da er gegen all und jede Ausgabe, welche dem Stadtsäckel zugemuthet werden konnte, zu stimmen pflegte.

Er sprach sonst bei Gastereien weder viel noch laut, denn er hielt bei solchen Gelegenheiten nicht mit Unrecht das Essen und Trinken für die Hauptsache. Heute, da ihn das Essen sein eigenes Geld kostete, war er vielleicht nicht ganz so angelegentlich beschäftigt wie sonst, doch hatte er dem guten alten Wein, den sein Keller hergegeben, um so weniger widerstanden, als ihm seine einfache Logik sagte: getrunken wird er doch, und ich habe am meisten von dem, was durch meine eigene Gurgel läuft. Daher man seine dünne und, wenn er lebhaft wurde, etwas quiekende Stimme heut . vielfach vor den anderen hörte, zum stillen Aerger seiner Frau, die diese ungewöhnliche Redseligkeit nicht leiden konnte.

„Sag einmal, Georg,“ schrie Herr Külwetter einmal den ihm gegenüber sitzenden künftigen Schwiegersohn an, „was ist denn das bei Deiner Heimkehr noch zu guter letzt für ein Abenteuer gewesen? he? Schöne Geschichten … hast Du das dem Herrn Vater auch gebeichtet? Ja, Frau Gevatterin,“ hier war die Bürgermeisterin gemeint, „das laßt Euch doch einmal erzählen! Siehst Du, wärest Du mein Junge, für so etwas wollt’ ich Dir den Brotkorb höher hängen, daß Dir der Uebermuth verginge.“

Er hatte die übrige Gesellschaft so lange überschrieen, bis jetzt alles schwieg. Niemand wußte so recht, ob das noch Scherz sein sollte, und aller Augen waren in etwas unbehaglicher Spannung auf den dergestalt Angefallenen gerichtet. Frau Külwetter wechselte einen erschrockenen Blick mit Rosinen; sie wußten offenbar beide nicht, wo der Alte hinaus wollte.

Georg hatte sich indessen völlig gefaßt. „Was meint der Herr Vetter eigentlich?“ fragte er. „Unseren Streit mit der bösen Wirthin in Gudensberg, die unseren Pferden den Hafer so kärglich vorschütten ließ, daß wir ihrem Schalksknecht dafür ein paar zumaßen, da wir uns an ihr selber doch nicht wohl vergreifen konnten? Ist die Kunde von der Art, wie wir da gemessen haben – nicht ganz so knapp, wie man es Euch nachrühmt, Herr Vetter – schon zu Euch gedrungen? Das Weib schwur, sie wolle uns hier vor die hohe Obrigkeit bringen, und wir sagten ihr, daß wir ebendahin unterwegs wären. Oder des Hans Veit Wettlauf mit dem lahmen Manne, auf dem Jahrmarkt in Gundelfingen, eine Tagereise jenseit der Grenze? Da seid Ihr schnell, aber nicht richtig berichtet worden. – Das war mein guter Geselle, Hans Veit, und der Lahme gewann, gewann ihm zwei Stüber ab.“

„Was redet der Junge da alles?“ rief Herr Külwetter, der mit offenem Munde zugehört hatte. „Was Wettlaufen und was Wirthin? Und wer spricht von Gudensberg und Gundelfingen? Sag uns doch einmal, wie Du jüngst in die Stadt gekommen bist? Wer hatte die Wache unten am Thor, he?“ Er drohte mit dem dürren Zeigefinger. „Ein solcher Tollkopf! Wär ich Dein Vater, ich wollte Dir bald vom Gaule helfen!“

Nun blieb dem jungen Manne keine Wahl. Er mußte vor der ganzen Tischgesellschaft den Ritt über den Steg erzählen und fühlte wohl, daß er nun auch nicht mehr die Freiheit habe, irgend einen Hauptumstand wegzulassen, denn wer konnte wissen, wie genau der spürnasige alte Külwetter unterrichtet war!

Natürlich zog er die Sache ins Lächerliche und – mit heimlicher Scham und Reue schon während er sprach – stattete auch die Gestalt Hildens, wie sie sich herabgeworfen und gegen das Pferd gestemmt hatte, mit einigen komischen Strichen aus. Sich selber schonte er freilich auch nicht: als er geendet hatte, lachte alles auf seine Kosten, bis auf die Bürgermeisterin, welche die Spaßhaftigkeit eines Unternehmens, bei dem Einer so leicht den Hals, oder wenigstens seinem Pferde die Beine brechen konnte, nicht einzusehen vermochte. Aber von der naheliegenden Frage: warum in aller Welt er ihnen den Vorfall nicht längst erzählt habe, war auch sie glücklich abgelenkt worden.

Uebrigens hatte noch Jemand nicht gelacht, und das war Rosine. Die Blicke Georg’s fielen, als er zu Ende erzählt hatte, auf ihr Gesicht, und er erstaunte über den finstern Ausdruck desselben. Die vollen Wangen waren ungleich geröthet und eine böse Falte saß zwischen den Brauen. Mit einem vertraulichen Worte beugte er sich zu ihr, die neben ihm saß, und wollte den Arm um sie legen, aber sie wehrte ihn mit einer heftigen Bewegung ab. Georg war erstaunt, doch ließ er sich nicht abschrecken. „Vermerkt Ihr einen tollen Streich so übel, Bäschen?“ fragte er. „Vergönnt mir, Euch zu sagen, daß das nicht ganz klug gethan ist, denn da verliert man die Lust, Euch zu beichten, und doch seid Ihr ja die Stelle, an welcher ich von Rechts wegen mir Absolution für diesen und so manchen anderen Streich holen müßte.“ –

Rosine war klug genug, um zu merken, daß sie einlenken müsse. Sie wendete ihm langsam ihre runde, reizend gefärbte Wange wieder zu, doch hielt sie noch immer das Kinn auf den Busen gesenkt, eine Art, die sie hatte, wenn sie schmollte oder die Spröde spielte, und hatte den hübschen Mund so fest geschlossen, als ob sie nie wieder reden wollte.

Er betrachtete sie unverwandt. Wer ihr so nahe saß, konnte nicht umhin, sich an dem köstlichen Jugendschmelz des Antlitzes zu weiden, und sah, selbst wenn sie böse wurde, vielleicht nur einen Reiz mehr in dem Zusammenpressen des schwellenden Mundes und den Fältchen der sonst so hellen, glatten Stirn. Georg hatte, einen Ellbogen auf den Tisch gestützt, die andere Hand auf der Lehne ihres Stuhles, sich ganz zu ihr gewendet. Lächelnd sagte er jetzt: „So würdet Ihr, schöne Rosine, wenn Ihr neulich zur Hand gewesen wäret, mir nicht so eilig zur Hilfe herbeigesprungen sein?“

Da hob sie endlich den Kopf und begann zu lachen, und immer mehr, je fragender er sie dabei ansah. „Darf man nicht wissen, was Euch so vergnügt?“ fragte er zuletzt. Sie konnte vor Lachen kaum herausbringen, daß es die „Lange“ sei. „Wie die da so herabgeflogen ist – ich hätte sie sehen mögen! Kein Wunder, daß sie Eures Pferdes mächtig geworden ist – mit solchen Fäusten! Man sagt ja von den Weberdirnen da draußen, sie kämen nicht umsonst aus dem brabanter Lande, sie sähen selber wie brabanter Gäule aus.“ –

Das klang nicht fein, offenbar aber hatte die hübsche Rosine nicht das mindeste Arg daraus, daß sie eben etwas Anderes, als sehr witzig gewesen sei. Sie fuhr fort, ihre wunderschönen, nur etwas großen Zähne zu zeigen, und gerieth zuletzt in ein so unmäßiges Lachen, daß sie sich die Seiten halten mußte, und die Nachbarinnen Georg ermahnten, ihr den Rücken zu klopfen, es könne ihr sonst etwas zustoßen.

Georg hatte mit einiger Ungeduld das Ende dieses Anfalls lärmender Heiterkeit bei seiner Zukünftigen abgewartet, da einige Worte eines Gesprächs an sein Ohr gedrungen waren, welches sein Vater, der Bürgermeister, mit einem ihm zunächst sitzenden [199] ernsthaften Manne zu führen begann. Die Beiden sprachen von der Weberniederlassung und ihrer in unruhigen Zeiten gefährdeten Lage außerhalb des Schutzes der Stadtmauer.

„Sie glauben, das tausendjährige Reich sei vor der Thür,“ hörte Georg den Nachbar geheimnißvoll sagen. „Da brauchen die Städte keine Mauern mehr, denn Krieg und Waffen haben ein Ende.“

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. „Bis dahin hat es gute Weile. Giebt es einen Alarm, so müssen sie mit ihrer beweglichen Habe hinein in die Stadt und die Häuser preisgeben.“

„Sie haben aber gut gebaut,“ warf der Andere ein.

Doktor Tiedemars zuckte die Achseln. „Wir leben ja auch jetzt mit den Nachbarn in Frieden,“ sagte er vorsichtig.

„Die Leute kommen Einem aber doch wie bethört vor,“ meinte der Tischnachbar wieder, „mit diesem Glauben, daß Gott der Herr um sie und ihres Gleichen noch alle Tage Wunder thun müsse. So hoch vermißt sich unser Einer nicht, sondern denkt, wenn der Herrgott bei dem gewaltigen Weltregiment nur dann und wann einmal Zeit finde, einen Blick in unser Ecklein hinein zu werfen, so genüge das, um unsere Händel alle wieder auf eine Weile in Gang zu bringen.“

„Soviel ich wahrgenommen habe, vergessen sie aber über dem Beten wenigstens das Arbeiten nicht,“ sagte Herr Jakob, der Bürgermeister.

„Nein, sie sind brav und fleißig,“ gab der Andere zu. „Dazu friedfertig und ohne Arg. Und ihr Gemeindeältester, Meister Lukas, dem sie eine Art Schiedsrichteramt bei sich einräumen, hat etwas gar Erbauliches in seinem Wesen – es müßte schon ein grober, roher Klotz sein, der dem Manne widerstrebte. – Ihr waret ja auch unter denen, Tiedemars, die dem Herrn Landgrafen zuriethen, den Leuten hier eine Freistatt zu gewähren. Manche waren dagegen und fürchteten allerlei Mißbrauch. Gut, daß der Versuch so ausgefallen ist.“

Der Bürgermeister nickte behaglich; Maßregeln, zu denen er rieth, pflegten gewöhnlich gut auszuschlagen. Sein scharfer Blick hatte damals, vor etwa einem Jahrzehnt, jene Verhältnisse bald durchdrungen und richtig vorausgesehen, daß diese Leute, die, von einem fanatischen Bischof in der Ausübung ihrer Religion behindert, um des Glaubens willen auszuwandern beschlossen hatten und ihren ernsten Sinn und ihren Kunstfleiß mitbrachten, für ein jedes Gemeinwesen nur ein wünschenswerther Zuwachs sein konnten. Sie kamen von der flandrischen Grenze. Der Landgraf hatte ihnen Grund und Boden vor der Stadt geschenkt und ihnen das Holz zum Bauen unentgeltlich zufahren lassen, wobei die Bauern der nächsten Dörfer abwechselnd Frohnfuhren thun mußten.

Die Fremden waren in der Pfarrkirche der Altstadt eingepfarrt und ließen es an fleißigem Besuche des Gottesdienstes nicht fehlen. Doch hatte es sich bald ergeben, daß sie eine kleine Gemeinde in der Gemeinde bildeten. Die öffentlichen Gottesdienste genügten der Inbrunst eines lange unterdrückten Glaubenslebens nicht; sie kamen unter einander zum Gebet und Lesen der Heiligen Schrift zusammen. Von den Altangesessenen, die solche geistliche Bedürfnisse nicht hatten, wurde hier und da darüber gespottet, und so schlossen sich die Fremden nur mehr ab.

Doktor Tiedemars, der Bürgermeister, der in seinem Bereiche mit der Unparteilichkeit eines Herrschers waltete, hatte es gut mit den Fremden im Sinne, und etwaige Anliegen aus ihrer Mitte pflegten bei ihm ein williges Ohr zu finden. Doch kamen die Leute selten; sie schienen ihre Angelegenheiten, so weit dies nur immer anging, unter sich zu schlichten. Und das war das Einzige, was der Bürgermeister an ihnen auszusetzen hatte. Er hätte das fleißige Völkchen der Stadt gern völlig einverleibt.

Alles dies kam jetzt zwischen den Männern zur Sprache. Georg war zu ihnen gerückt; der Bürgermeister wunderte sich im Stillen über den verständigen Antheil seines Sohnes. Georg dagegen hatte niemals vor der Einsicht und der wohlwollenden Klugheit seines Vaters einen größeren Respekt empfunden. Und wer geliebt hat, kennt den heimlichen Reiz, den ein Gespräch ausübt, welches sich gewissermaßen in einiger Entfernung um den geliebten Gegenstand herumbewegt, der dabei nicht genannt, von allen Theilnehmern außer dem einen nicht geahnt, vielleicht nicht einmal gekannt ist, auf den für diesen aber im Stillen alles, was gesagt wird, Bezug gewinnt. Am Abend, als das Gastmahl vorüber war, war es dem jungen Mann nicht anders zu Muthe, als habe er sich in größerer Nähe der heimlich Ersehnten befunden.

So war sie tagelang der Mittelpunkt seiner Gedanken, und in Wirklichkeit hatte er noch nicht einmal ihre Hand berührt. Aber er war keineswegs entmuthigt, und die Verzögerung der Erfüllung eines zärtlich brennenden Verlangens war eine Erfahrung, so neu, daß seine kräftige Natur auch diesen bittersüßen Trank mit einer Art von Genuß schlürfte. Hilde mußte ja sein werden … früher oder später.

Und das Verhältniß zu Rosinen? Dasselbe blieb, was es von Anfang an gewesen war, durch diese heimliche Neigung Georg’s ziemlich unberührt. Denn der junge Mann hatte sehr bald wahrgenommen, daß, was er dem Mädchen zur Zeit an Theilnahme bieten konnte, sowohl seinen wie ihren Eltern genügte, und noch obendrein ein Anderes: fügte er dem freundlichen Betragen gegen sie dann und wann, wie es die Gelegenheit bot, einen gewissen Beisatz einer nicht immer bescheidenen Vertraulichkeit hinzu, so war auch Rosine selber völlig zufriedengestellt. So viel hatte er immer für sie übrig – und überdies sollte sie ja seine Frau werden. Er hoffte, es werde sich ganz leidlich mit ihr leben lassen.

Aber bis dahin war es noch lange hin und jetzt, jetzt handelte es sich um ein ganz Anderes: jetzt galt es, Hilden zu besitzen. Darüber hinaus dachte er nicht. Jede Erwägung der Folgen, alles das, was in Gestalt moralischer Hindernisse in diesem Falle hätte wirksam sein können, wurde verschlungen in dem leidenschaftlichen Verlangen. –

In der Stube des Meister Vanderport schnurrte der Webstuhl, in dem der alte Mann von früh bis spät seinem Tagewerke oblag. Hilde saß unweit des andern Fensters; auch sie rührte fleißig die Hände. Sie war mit einer Arbeit beschäftigt, in der die Frauen der Niederlassung fast alle große Geschicklichkeit besaßen, während dieselbe in der Gegend, in der sie sich jetzt befanden, wie überhaupt im größten Theil von Deutschland unbekannt war. Es war dies eine kunstreiche Herstellung durchbrochener Borden und Säume leinener Gewebe, indem Fäden ausgezogen, andere zu bestimmten Figuren zusammengefaßt und so die reizendsten Muster hergestellt wurden. Durch Ausnähen mit bunter Seide konnte diesen Verzierungen noch größere Mannigfaltigkeit und Reichheit gegeben werden. Es gab bestimmte, so zu sagen altberühmte Muster, schon an den Altardecken der Klöster aus dem frühen Mittelalter befindlich, und viele begnügten sich, diese nachzuahmen. In andern Arbeiterinnen aber war neben der Geschicklichkeit der Finger ein selbständig künstlerischer Trieb thätig. Sie erfanden neue Figuren und Zusammenstellungen, und ihre Arbeiten wurden besonders geschätzt und erzielten an den alten Absatzorten, in den reichen flandrischen Städten, hohe Preise.

Unter diese geschicktesten Stickerinnen gehörte Hilde. Man sah es der aufrechten Haltung und dem frei und leicht getragenen Oberkörper nicht an, wie viele Stunden täglich sie über eine mühsame Arbeit gebeugt saß. Bei einigen etwas sauern Gemüthern unter der frommen Gemeinde galt des Meister Lukas Tochter sogar dafür, daß sie im Grunde des Herzens doch wohl von weltlicher Hoffahrt angesteckt sein müsse, da sie den Kopf allzu hoch trüge. Ihr Vater aber hatte, sobald solche Besorgnisse laut wurden, nur sein mildes Lächeln, oder er sagte auch wohl:

„Ihr wißt doch, Nachbar, sie hat den aufrechten Gang von ihrem Großvater, ihrer Mutter Vater, überkommen, der ein Kriegsmann war, aber ein einfältiger Christ dazu. Die Bibel mit den dunkeln Flecken, die das Blut seiner letzten Wunde darin zurück gelassen hat – denn er trug sie stets bei sich – hat Hilde als Erbstück erhalten. Ich habe nichts Besseres für sie zu erbitten gewußt, als daß sie dem guten Manne nacharten möge, in Herzenslauterkeit wie in so vielem Andern. Laßt uns hoffen, daß ich erhört worden bin.“

Es ging auf den Abend und Hilde hob den Kopf von der Arbeit in die Höhe, gegen das Fenster, dessen kleine Scheiben nicht mehr Licht genug für ihre feinen Stiche durchlassen wollten. Eben verdunkelte auch noch der Schatten eines Vorübergehenden ihren Platz. Sie sah gerade noch die dunkle Kleidung eines Mannes, und Hilde seufzte ein wenig.

Es war ein gar ernsthaftes, stilles Leben in der frommen Gemeinschaft gewesen, für die Jugendjähre einer lebensvollen [200] Natur wie die ihre. Für manches hatte die große Liebe zu ihrem Vater, die trauliche, nach ihrem Anordnen geregelte Haushaltung, aber auch eine gewisse herrschende Stellung, die sie unter den übrigen Mädchen der Gemeinde einnahm, sie entschädigt. Auch in den Stand der Ehefrauen einzutreten hatte es ihr nicht an Gelegenheit gefehlt. Einer der wohlhabendsten und angesehensten „Nachbarn“, wie sie sich alle nannten, Jeremias Delft, hatte um ihre Hand angehalten, nicht ein, sondern viele Male. Sie hatte erwidert, sie wünsche, noch ledig und beim Vater zu bleiben, der ihr darin nicht entgegen war, worauf der lange und trockne Jeremias immer von Zeit zu Zeit sein Anliegen erneuerte, da er nicht mit Unrecht annahm, ein solcher Wunsch könne bei ihr im Lauf der Zeit sehr wohl einem andern den Platz räumen.

So war die Zeit vergangen bis vor wenigen Wochen. In diesen Wochen aber hatte Hilde etwas Neues erlebt, etwas, das sie allemal unruhig aufsehen ließ, sobald ein Schatten das Fenster kreuzte, und seufzen, wie sie jetzt eben that, wenn draußen die Schritte des Vorübergehenden nach und nach verhallten. Es war ihr zu Muthe, als ob sie etwas erwarte, was aber, wußte sie nicht. Und besonders, seit sie neulich gerade denjenigen an den sie fortwährend denken mußte, so kurz und spröde abgewiesen hatte, als er sie in der Dämmerung ansprach. Das aber lag in ihrer Natur, und sie vermochte sich nicht zu ändern. Sie hatte eine Art von hungriger Sehnsucht nach dem Tone seiner Stimme. Wenn er aber wieder hinter dem Hause in der Dämmerung an sie herangeschlichen wäre wie ein Dieb, oder wenn sie ihn dort nur von ferne gesehen hätte und seine Absicht erkannt, sich ihr heimlich zu nähern, so würde sie sich ihm wieder entzogen und ihn herb zurückgewiesen haben. Etwas in ihr verlangte, daß er nicht, als ob er sich fürchte oder schäme, ihr begegnen sollte. Das kann aber nie geschehen, sagte eine Stimme in ihr, wahrscheinlich die des Verstandes. Es ist jetzt alles aus, Du wirft ihn nie wieder zu Dir reden hören. Und deßhalb seufzte Hilde.

„Wer seid Ihr, Herr, und was begehret Ihr von mir?“

Derjenige, welcher eben am Fenster vorübergegangen war, mußte aber doch den Weg nicht weiter verfolgt, sondern dies Haus zum Ziele gehabt haben. Die Hausthür ging und auf den Flur fiel ein Schritt. Das Herz des Mädchens klopfte, eine wilde Hoffnung des Unwahrscheinlichen, ja Unmöglichen bemächtigte sich ihrer. Der alte Lukas hatte über dem Geräusch des Webstuhles nichts gehört. Er blickte jetzt zufällig in die Höhe und sah, wie seine Tochter sich langsann erhob, die Augen mit einem so sonderbaren Ausdruck nach der Thür gerichtet, daß er fast erschrocken sich nun auch hastig umwendete. Denn der Alte war in seinem langen Leben an Anfechtung gewöhnt. Mehr als einmal, während er in einem seinem Glauben feindlichen Lande lebte, hatten die Vorboten von Gefahr und Noth in mancherlei Gestalt seine Schwelle überschritten und die Erinnerung daran ließ ihn auch jetzt Aehnliches fürchten.

Der nächste Augenblick zeigte ihm seinen Irrthum und führte ihn in die Gegenwart zurück. Ein gut gekleideter Fremder stand in der Stube, ein junger Mann, dem die Natur ihren Empfehlungsbrief deutlich lesbar in seiner Person mitgegeben hatte. Er fragte mit höflichem Gruße nach dem Meister Lukas Vanderport, worauf der alte Mann den Webstuhl verließ und ihm in seiner freundlich würdigen Art entgegentrat.

Georg, denn dieser war es, schaute in flüchtiger Ueberraschung von der Tochter zum Vater und wieder zu jener, denn der greise Weber war von schmächtiger Gestalt und stand gebückt, und seine Tochter mit ihrer prächtigen Höhe und Haltung schien einem ganz anderen Menschenschlage anzugehören. Ein zweiter Blick aber in das scharfe, feine Gesicht des Alten zeigte ihm eine Aehnlichkeit, und zudem in Antlitz und Wesen des Vaters dasselbe, was ihn neulich genöthigt hatte, Hilden so ganz anders, als er anfänglich gedacht hatte, zu begegnen. Als Meister Lukas jetzt mit der Einfachheit, die an den ersten Christengemeinden geherrscht haben mag, seinen Besucher fragte: „Wer seid Ihr, Herr, und was begehret Ihr von mir?“ da trat Hilde vor, denn es schien ihr wie eine Art Lüge, wenn sie den Vater beim Glauben ließe, sie kenne den Gast nicht. „Es ist Herr Georg Tiedemars, der Sohn des Herrn Bürgermeisters, Vater,“ sagte sie.

Meister Lukas sah seine Tochter fragend an, bis ihm einfallen mochte, was er kürzlich von dem Ritt durch seinen Garten und dem darauf folgenden Abenteuer erzählen gehört hatte – denn wie hätte in der kleinen Gemeinde dergleichen unerörtert bleiben können! Er lächelte gutmüthig und bat Georg, sich zu setzen. Hilde rückte ihm einen Stuhl, wandte sich aber dann rasch ab, halb unwillig über den flammenden Blick in ihre Augen, mit dem der Gast den Dank für die kleine Höflichkeit begleitet hatte.

[213] Georg kam zu dem alten Weber, um mit demselben im Auftrage seines Vaters etwas zu erörtern. Es handelte sich um die indessen thatsächlich beschlossene landgräfliche Vermählung mit der Gräfin von Hennegau. Die Stadt bereitete Geschenke für die Braut, die ihr am Tage des Einzuges, zum Willkommen, gereicht werden sollten. Auch die neuen Einwohner sollten aufgefordert werden, in ihrem eigenen Interesse sich an diesen Gaben, und zwar mit einem Erzeugnisse ihres Kunstfleißes, zu betheiligen. Der Bürgermeister hatte den Lukas Vanderport zu sich rufen lassen wollen, da erbot sich Georg, diese Besorgung zu übernehmen und zugleich vorläufig mit dem alten Manne sich zu besprechen. Er machte kein Hehl daraus, daß er besondern Antheil an der Weberniederlassung nehme. Der alte Tiedemars erblickte hierin einen Beweis für die Fähigkeit seines Sohnes, ein Gemeinwesen zu verwalten und in einem größeren Kreise zu wirken, und war im Stillen recht damit zufrieden.

„Steht auf, Georg, was thut Ihr?“ (S. 214.)

Nicht lange und die drei, Meister Lukas, Hilde und Georg, saßen um den dunkelbraunen Eichentisch, über welchem Hilde die Lampe aufgehängt hatte, in ernstlichem Gespräche. Man merkte, daß das Mädchen gewohnt war, auch in wichtigen Dingen um ihre Meinung gefragt zu werden, denn ohne sich mit derselben vorzudrängen, griff sie im richtigen Augenblicke ein und zwar so, daß, was sie sagte, die Aufmerksamkeit sofort fesselte. In diesem Falle schien ihr Rath noch besonders erwünscht: handelte es sich doch um Dinge, die einer Frau gefallen sollten.

Hilde schlug dem Vater als Geschenk für die landgräfliche Braut die prächtige Decke eines fürstlichen Lagers vor. Ein Muster, beinahe ein Wunder vom feinsten Gewebe mußte das werden, und reich verziert mit den Borden, welche die Frauen der Niederlassung so kunstreich anzufertigen verstanden. Sie gerieth förmlich in Eifer, während sie das Meisterwerk beschrieb, wie sie es sich dachte. Der alte Mann wiegte beifällig, aber noch etwas zweifelhaft den Kopf. Georg seinerseits schien sehr genau zuzuhören, denn er hing an ihrem belebten Gesicht. Als sie aber fragte. „Wie dünkt Euch, Herr – eine Borde etwa zwei Hände breit, um den äußeren Saum ... am Kopfende aber muß sie herüberfallen, das sieht reicher aus – oder meint Ihr nicht?“ da fuhr er wie verlegen auf, und seine Antwort ließ erkennen, daß er doch so recht nicht bei der Sache gewesen sein mußte. Die Wahrheit zu sagen, hatte er allerdings an ihren Lippen gehangen, aber nur um auf die Wiederkehr eines reizenden, kindlichen Zuges zu warten, der, während sie sprach, ein paar Mal um dieselben erschien. Es war schwer, Lippen, die so aussehen konnten, ungeküßt zu lassen, und er hatte in Gedanken eben wer weiß wie viele Male die seinen darauf gedrückt. Als ihn nun aber Hilde so ehrlich ansah und sich gleich darauf an dem vielleicht zu beredten Ausdruck seiner Augen verwirrte, da geschah ihm das Gleiche. Dem Einen entging die Empfindung des Anderen nicht, und es war nach diesem Augenblick fast, als hätten sie ein Geheimniß mit einander vor dem Vater, der so arglos zwischen ihnen saß.

Georg hatte selten ein angenehmeres Gefühl gekannt. Hilde aber war für die nun noch folgende Dauer seines Besuchs scheuer; freilich nicht so, daß es der alte Weber gemerkt hätte. Dem jungen Manne jedoch entging die leise Veränderung nicht, und er hatte große Lust, sich innerlich dagegen aufzulehnen. War es denn möglich, daß man so mit diesem Mädchen auf der Hut sein mußte? Zum Teufel auch, wie sollte er ihr da jemals näher kommen? Und dazu fühlte er sich jetzt mehr als je gefesselt, ja wie von einem Zauber umfangen, dessen Macht die ganze Atmosphäre dieses friedlichen altväterischen, aber durchaus nicht ärmlichen Gemaches zu verstärken schien.

Georg stand endlich auf, da die vorläufige Erörterung der Angelegenheit nicht wohl länger ausgesponnen werden konnte. Hilde hatte sich zugleich erhoben und die Hängelampe losgehakt, um ihm zu leuchten. Sie würde mit hinauskommen, jetzt mußte sich endlich ein Augenblick finden für eine Berührung ihrer Hände, nach der er fieberte, für ein leises, süßes Wort!

Aber Meister Lukas begnügte sich nicht damit, dem vornehmen Gast bis an die Stsubenthür das Geleit zu geben; er schlürfte vielmehr mit bis an die Hausthür, die zu dieser Abendstunde hinter dem Besucher sorgfältig verschlossen werden mußte. Hilde dagegen blieb etwas zurück; der Vater hatte sogar zu mahnen: „Leuchte doch besser, Kind!“ und Georg mußte sich mit dem ungestillten Verlangen nach einen verstohlenen traulichen Gruße entfernen.

[214] Der Bürgermeister war sehr zufrieden über das Ergebniß dieser Rücksprache mit dem alten Weber, wie es ihm Georg mittheilen konnte. Er legte sich jetzt häufig im Stillen zurecht, welche Geschäfte dem Sohne nach und nach übertragen werden sollten, damit, wenn er ihn nächstens dem Landgrafen als Gehilfen in der Kanzlei vorschlüge, man gleich ausdrücklich die Materien nennen könne, für welche Georg sich schon zum Referenten brauchbar gemacht habe.

Recht unerwüuscht war es ihm daher, daß, als wenige Tage später Meister Lukas Vanderport zum Behuf weiterer Besprechung jener Angelegenheit bei ihm erschien, Georg im Hause nicht zu finden war. Er mußte dasselbe erst vor Kurzem verlassen haben, denn die Mutter schwur darauf, er sitze ja in seiner Stube, wo sie eben noch mit ihm geredet habe. Gerade in dieser Sache, die Georg schon so geschickt eingeleitet hatte, wünschte der alte Tiedemars den Sohn auf dem Laufenden zu halten, daher ihm das Fehlen desselben bei dieser Unterredung mit dem Weber sehr ungelegen kam. „Es wird meinem Georg leid thun, daß Ihr ihn nicht antrefft, Meister Lukas,“ meinte er, während er dem alten Manne artig einen Sitz anwies. Hätte der Bürgermeister gewußt, wie die Sache sich verhielt, so würde er sich verwundert haben.

Georg hatte in seiner Stube gesessen, einem Eckzimmer im zweiten Stock, dessen Fenster im Erker in die Straße hineinsprang. Dort stand sein mit Büchern und Papieren bedeckter Arbeitstisch, und er träumte gerade über seinen Skripturen, als sein Auge, durchs Fenster die Gasse hinunter schweifend, auf die Gestalt des alten Webers fiel. Der Alte kam auf das Bürgermeisterhaus zu, wahrscheinlich wollte er zum Vater. Jedenfalls aber trug ihn sein Schritt in der seiner eigenen Behausung entgegengesetzten Richtung fort, und einem raschen Gedanken folgend sprang Georg auf, raffte sein Barett vom Nagel und eilte die Treppe hinunter, bei aller Hast aber mit einer gewisseu Vorsicht, fast als wäre es ihm gerade recht, wenn ihm Niemand begegnete. Unten im Flur wendete er sich nicht rechts, der Straßenthür zu, sondern nach links in den Hof und Garten. Der Garten aber, wie wir wissen, erstreckte sich bis an die Stadtmauer, welche denen vom Bürgermeisterhause hier durch ein besonderes Pförtchen den Ausgang gewährte. Dieser Weg vors Thor war beträchtlich kürzer als der durch die Stadt; dem jungen Manne aber kam er lang vor. Dabei beschäftigte ihn nichts als der Gedanke, ob er Hilden antreffen und ob er sie – endlich einmal – allein finden werde. Ihr Vater war in der Stadt und der wahrscheinliche Fall der, daß sie indessen das Haus hüte. Wie aber, wenn der Unstern etwa eine Nachbarin hingeführt hätte!

Jetzt war er endlich am Hause und suchte durch das Blumenfenster zu spähen. Drinnen schien alles still, aber auch leer. Er klopfte an die verschlossene Hausthür, und die Minute, während der er im Hause nichts sich regen hörte, schien ihm endlos. Endlich ein leichtes Geräusch – sein Herz pochte ungestüm vor Lust – das Haus war nicht verlassen, der Schritt, der sich jetzt von innen näherte, der ihre! Die Freude darüber schien ihm so hell vom Angesicht, als er jetzt dem Mädchen wirklich Auge in Auge gegenüber stand, daß ein Abglanz davon auch auf ihren lieben stillen Zügen aufgehen mußte! Kaum wußte Georg, was er sagte, als er die Frage hervorbrachte, ob Meister Lukas zu Hause sei ... der Vater schicke ihn ...

„So, seid Ihr meinem Vater nicht begegnet?“ fragte Hilde dagegen. „Er ist in die Stadt und just zu dem Herrn Bürgermeister, in derselben Sache, in der wahrscheinlich auch Ihr kommt; denn er hat indessen mit den Nachbarn Rücksprache genommen. Wie schade, daß Ihr den Weg umsonst gemacht habt!“

Sie hielt die Thür noch immer halb offen. Da aber Georg keine Miene machte, zu gehen, kam ihr die Unfreundlichkeit, ihn nach dem langen Wege, den er gefällig unternommen hatte, so zwischen Thür und Angel abzufertigen, doch allzu groß vor, und sie forderte ihn auf, herein zu treten. Doch klang ihre Stimme nicht so sicher wie sonst wohl, und als jetzt die Thür hinter ihm ins Schloß fiel und sie in dem halbdunkeln Flur seine brennenden Augen auf sich gerichtet fühlte, da kam eine plötzliche Angst über das Mädchen. Doch ließ sie sich nichts merken, sondern führte den Gast in die Stube ... „Wollt Ihr ein wenig verziehen, Herr?“ sagte sie, ihm einen Sessel rückend. Ihm war, als zitterten ihre Hände dabei. Er hätte sich auf sie stürzen und sie mit Küssen fast ersticken mögen, und er fühlte, daß die Leidenschaft, die ihn jetzt durchschütterte, jeden Widerstand überwältigt haben würde. Und doch zwang er sich gewaltsam zur Ruhe vor dem einen Gedanken, diesen Widerstand der stolzen keuschen Seele dieses Mädchens nicht in dem rücksichtslosen Ausbruch seines Gefühles zu besiegen, sondern gleichsam zu schmelzen, sie zu zwingen auch ihn zu lieben!

Und wenn er sie jetzt so ansah, die edeln Züge, die heute nicht den beinahe herben Ausdruck wie sonst wohl, die etwas Weiches, fast etwas Leidendes hatten, dann überkam es ihn wie eine Ahnung unsäglichen Glückes. Gesprochen hatten sie außer den wenigen ersten Worten noch nichts, und so heftig war bei beiden der Sturm der Gefühle, daß sie von diesem Schweigen gar nichts merkten. Er trat an den Sessel, den sie ihm hingerückt hatte, als wollte er sich setzen; Keines wagte das Andere anzusehen, aber endlich hob sie, wie von einem Magneten gezogen, langsam die Augen zu den seinen. Ihre grauen Augen waren dunkel bewimpert, und dies einer der eigenen Reize des etwas farblosen Angesichts. Aber Georg sah jetzt keine Schönheit der Bildung, er sah nur die Seele selber, die ihn aus diesen Augen ansah, nicht streng und auch nicht begehrlich, noch nicht einmal zärtlich, sondern mit einem tiefen, flehenden, um Schonung flehenden Blick ... und in der nächsten Sekunde war Hilde, von seinen Armen umfaßt, in den Sessel gesunken, und er, auf den Knieen vor ihr, barg das Haupt in ihrem Schoße.

Hilde beugte sich über den blonden Kopf, noch immer zitternd und mit leisen, flehenden Worten. „Steht auf, Georg, was thut Ihr? steht auf ...“ Dabei strich sie ihm kosend, aber mit der allerleisesten Berührung nur, über das kurze Haar hin.

Georg erhob sich endlich. Ein halbes, weiches Lächeln spielte um seine jungen Lippen, und eine solche Morgenröthe lichter Freude lag auf dem Antlitz, daß Hilde vor der siegenden Schönheit desselben leise erschauerte und ein Bangen empfand vor der Größe der Seligkeit, die mit der Liebe dieses Mannes ihrer wartete. Sie litt es, daß er sie jetzt zärtlich in die Arme schloß, daß er ihren Kopf zurückbeugte und ihr Lippen, Augen und Stirn küßte. Und diese Küsse! das war mehr, als nur eine Berührung seines Mundes – das innerste Wesen dieser leidenschaftlichen Natur schien sich durch dieselben mit dem ihren zu verbinden ... es war ihr, als empfinde sie dabei ihn selber, seine Seele, im tiefsten Innern der ihren, als sei sie eins mit ihm geworden.

Und dann – wie denn alles in dieser Liebesstunde anders war und anders kam, als es der Mann wenigstens fähig gewesen wäre, sich vorher auszudenken – dann saßen sie beide ganz schlicht nebeneinander auf einer hölzernen Bank an der Wand und plauderten! Und wie süß dies Gespräch, in dem man nachholt, was man vorher versäumt und übersprungen zu haben glaubt, wie das nun einmal so Gang und Art der Liebe ist! Aber wehe ihr auch, oder wehe ihrer Dauer, wenn sie nichts nachzuholen findet! wenn die spätere Bekanntschaft gleichsam die Annahme des Wechsels auf Sicht verweigert, welchen die wundergleiche Vertraulichkeit des ersten, leidenschaftlichen Entbrennens ausgestellt hatte!

Wie Hilde so leicht zurückgelehnt dasaß und träumerisch und halb vor sich hin erzählte, vom Vater, von der früheren Heimath und von ihrer Jugend, da hielt Georg, neben ihr, ihre Hand mit immer neuer Lust in der seinen und trank ihr die Worte von den anmuthigen Lippen. Sie lächelte ganz leise vor sich hin, wenn er sprach und ihr sagte, wie sie vom ersten Augenblicke an den besten Theil seiner Gedanken mit sich davongetragen habe. Fing Georg aber an, von ihrer Schönheit zu reden, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich schön?“ sagte sie mit einem Tone harmlosen und aufrichtigen Zweifels, der ihn entzückte. „Mich dünkt, mir wäre lieber, wenn Ihr mir sagtet, ich gefiele Euch wie ich bin.“

„Nicht ‚Ihr‘ – sage ‚Du‘, Hilde,“ bat er schmeichelnd.

„Nun denn; Du – Du,“ ihm war, als habe noch kein Liebeswort ihn je mit einer solchen Fülle inbrünstiger Zärtlichkeit überschüttet, wie dieses Du. Die Versuchung war groß, er lag wieder zu ihren Füßen, und sie umschränkte sein Antlitz mit ihren beiden Händen, wie wohl eine Mutter ihrem Kinde thut.

„Wer von uns Beiden schön ist, weiß ich wohl,“ sagte sie, diesmal mit ihrem alten, ernsten Lächeln. „Ach, nur zu gut.“ Er hatte sich erhoben, ihre Hände waren auf seine Schultern geglitten und sie stand vor ihm und blickte ihm still in das strahlende Gesicht. „Woran denkst Du, Hilde?“ fragte er.

[215] „Du wirst mich auslachen, an ein Bild denke ich, welches ich als kleines Mädchen gesehen und nie vergessen habe. Es war in herrlichen Farben an die Wand gemalt, im Stadthause in Mecheln, das früher der Palast des Erzbischofs gewesen und deßhalb so herrlich verziert war.“

„Nun?“ fragte er lächelnd, da sie innegehalten und ihn wieder nachdenklich angesehen hatte.

„Ein feuriger Wagen, von vier Rossen gezogen, obwohl ihn das Gewölk zu tragen schien. Die Pferde bäumten sich und schnoben heißen Dampf aus, wie lebend, alles so wild. Aber ganz ruhig, hell und schön stand oben auf dem Wagen derjenige, der sie lenkte, das Haupt ganz von Strahlen umglänzt, wie wohl die Heiligen auf den Bildern der Kirche, aber viel schöner, als je ein solcher gemalt worden ist. Und das war, so sagten sie mir damals, der Sonnenjüngling, die liebe Sonne selber – und so, Georg, so siehst Du aus!“

Georg vergalt ihr das Kompliment mit einem warmen Kusse. „Ja,“ sagte sie, sich sanft los machend, „Du die Sonne und ich –“

„Nun, und Du?“ fragte er scherzend. „Die holde Selene, die keusche Mondgöttin? meinetwegen.“

Sie sah ihn betroffen an, als ob er ihr die Worte aus dem Munde nehme. „Ja, ein anderes Bild war auch noch da,“ sagte sie. „Am dunklen Himmel, zwischen Sternen, stand ein umschleiertes Mädchen, mit verhülltem Haupte, über dem es wie eine kleine goldene Sichel glänzte. Nicht weiß ich, sollte sie den Mond oder die stille Nacht bedeuten.“

Er hatte sie wieder an sich gezogen, um sie zu küssen. „Du mein Mond, meine stille, süße Nacht, meine Erquickung,“ flüsterte er verliebt. Aber Hilde war noch nicht fertig und verweigerte sanft den Kuß. „Und wie sie gegen den strahlenden Sonnenjüngling, so, dünkte mich, sehe ich gegen Euch aus. Denn, Georg, sie gefiel mir gar nicht ... Der Maler hatte es mit ihr verfehlt“ – hier lachte Hilde schalkhaft. „steif und böse erschien sie, eine rechte alte Jungfer!“

Nun schalt Georg, in halb verwundertem Entzücken über eine Anmuth der Rede, die er noch bei keinem Weibe kennen gelernt hatte. „Laß Sonne und Mond, Hilde,“ rief er; „die beiden wären schlechte Schutzgötter für unsere Liebe! Der ganze weite Himmel trennt sie, sie kommen nimmermehr zusammen. Und ich meine, Dein lieber Mund, Du Böse, sollte zu dieser Stunde besseres zu thun finden, als Dich selber zu verunglimpfen.“

Er wollte sie wieder an sich ziehen, als der Schritt eines draußen, dicht am Fenster, Vorübergehenden sich vernehmen ließ. Georg horchte, während seine Hand herabsank. „Sollte das Dein Vater sein, Hilde?“ fragte er.

„Nein. Draußen geht es vorbei. Aber es ist jetzt um die Zeit, daß er heimkehren muß.“ Hilde war ganz ruhig geblieben, aber das Licht schwand aus ihrem Angesicht, als sie Unruhe und Hast sich ihres Freundes bemächtigen sah. Ihm war endlich das Verstreichen der Zeit zum Bewußtsein gekommen, und wie lästig, wenn ihn der Alte hier gefunden hätte!

„Ich muß fort, Hilde!“ Damit ergriff er sie bei den Händen und zog sie mit sich hinaus in den Flur. Nicht in der Stube, an deren Fenster Meister Lukas jetzt jeden Augenblick vorüber kommen konnte, wollte er seinen Abschied nehmen. Hilde war ihm schweigend gefolgt. Draußen fand sie sich noch einmal in seinen Armen, sie hörte sein von Leidenschaft gebrochenes Flüstern an ihrem Ohr. „Mein bist Du – mein –“ und dann war sie allein. Mit heißen Wangen und mit rasch klopfendem Herzen stand sie da, athemlos, wie Jemand, den ein mächtiger Sturm geschüttelt hat. Und jetzt streckte sie die Hand aus und griff nach der Wand neben sich, zur Stütze. So schwankte sie in die Stube hinein und dort saß sie wie halb betäubt auf der Bank nieder.

Aber der Vater kam jetzt wirklich heim. Hilde erkannte seinen Schritt draußen und stand auf, um ihm die Thüre zu öffnen. Dem Eingetretenen nahm sie Hut und Stab ab, während er ihre Hand behielt. Die Beiden trennten sich so selten, selbst nur für kurze Zeit, daß solch ein Heimkommen schon ein Ereigniß war.

„Nun, Vater, wie ist es ergangen?“ fragte Hilde. „Habt Ihr den Bürgermeister angetroffen?“

Meister Lukas hatte sich in seinen Lehnstuhl an den Tisch gesetzt, denn es war nun bald Zeit für das Abendbrot. „Freilich, und einen umgänglichen, braven und gescheiten Herrn habe ich an ihm gefunden, wie immer,“ sagte er behaglich. „Wir sind gut mit einander fertig geworden, denn wie ein kluger Regent weiß er jedem seine Ehre zu gönnen und sieht darauf, daß auch dem kleinen Manne seiner Zeit ein billiger Vortheil zugewendet werde.“

„Du sagst ja immer,“ meinte Hilde, „so lange er im Rathe der Stadt etwas zu sagen habe, werde es der Gemeinde an einem verständigen Fürsprecher nicht fehlen.“

Meister Lukas nickte. „Hast Du auch die Frau Bürgermeisterin gesehen, Vater?“ fragte Hilde, etwas leiser als zuvor. Ihr war heute jedes Wort kostbar, mit dessen Hilfe sie sich die Menschen besser vorstellen konnte, die mit einem Male eine solche Wichtigkeit für ihr Leben erlangt hatten.

„In die Stube kam sie nicht,“ erwiderte der alte Weber, „oder vielmehr, sie fuhr mit dem Kopfe zur Thür hinein, da dann ihr Herr und Gemahl sie, ein wenig herrisch wie mich dünkte, zurückwinkte. Die Frau hatte eine hastige übergeschäftige Art. Auf dem Flur hielt sie mich dann noch an, um mir zu verkünden, daß sie uns nächstens heimsuchen werde, da sie die Aussteuer beschaffen müsse. Und sie wisse, ein Gebild, wie wir es wirkten, für die großen Tafeltücher, finde man so leicht nicht noch einmal.“

Hilde hatte auf die letzten Worte nicht Acht gehabt; sie war von ihren eignen Gedanken zu sehr hingenommen. Der Vater fuhr fort: „Auch den Sohn sah ich nicht. Der Bürgermeister schickte nach ihm, als ich kam, denn er läßt, wie er mir sagte, den jungen Menschen, der ihm wohl viel Geld auf Schulen gekostet haben mag, an den Geschäften Antheil nehmen. Auch mir schien es billig, daß der Herr Georg den Verlauf unserer Sache höre, da er sich derselben neulich hier so verständig angenommen hatte. Wie es sich aber traf, hatte er gerade einen Ausgang gethan; den alten Herrn hat der Zufall recht verdrossen.“

Hilde, die eben das Tischtuch ausbreitete, hielt verwundert inne. „Sein Vater hatte ihn ja aber selber zu Dir geschickt,“ sagte sie. „Er kam und verlangte Dich zu sehen. Im Auftrage des Bürgermeisters.“

„Herr Georg Tiedemars war hier?“ Meister Lukas sah seine Tochter betroffen an.

„Ja, Vater.“

Dem alten Manne wurde das Herz schwer, als er seine Tochter bei den Worten langsam erröthen sah. „Das ist sonderbar ... im Bürgermeisterhause wußte Niemand ein Wort davon. Vielleicht –“ der Greis hatte mit den auffallend klaren, forschenden Augen noch einmal in das Gesicht seiner Tochter gesehen und fuhr nun bedächtig fort: „vielleicht kam er als ungeduldiger Bräutigam, in derselben Angelegenheit, von der seine Mutter zu mir sprach ... obwohl man freilich denken sollte, dergleichen wäre Sache der Weiber.“

„Was meint Ihr, Vater?“ fragte Hilde, mit einem qualvollen Bewußtsein davon, daß ihr heute das Verständniß ganz gewöhnlicher Worte fehle.

„Hast Du mich vorhin nicht sagen hören, Kind, daß er bald Hochzeit machen wird?“ fragte Meister Lukas dagegen. „Die Bürgermeisterin will ein paar Gedecke für den jungen Haushalt hier in der Gemeinde weben lassen. Nun, sie kann ein Stück Geld draufgehen lassen, denn da kommen viele Batzen zusammen. Des alten Külwetter einzige Tochter ist die Braut ... des reichen Kaufmanns, der Laden und Gewölbe am Schloßplatze hat.“

„Nein, Vater, die Braut bin ich!“ – Hilden war es, als müsse sie diese Worte überlaut hinausschreien – und im nächsten Augenblick schwamm und drehte sich Stube und Geräth um sie, und es brauste in ihren Ohren wie ein mächtiges Wasser. Als sie nach einigen Sekunden den Gebrauch ihrer Sinne wieder erlangt hatte, wußte sie nicht, ob sie jene Worte wirklich laut gerufen habe oder nicht. Aber ein Blick auf den Vater zeigte ihr, daß sie, Gottlob, nichts Ungewöhnliches gethan haben müsse. Er saß ruhig, wie zuvor, jetzt aber sah er sie an ... und der besorgte, forschende Blick enthielt eine Warnung für Hilden, sich zusammen zu nehmen. Mit unerhörter Anstrengung beschickte sie an jenem Abend alles, was ihr oblag, und wechselte Rede und Antwort mit dem Vater. Erst als sich, glücklicher Weise zu ziemlich früher Stunde, wie es in diesem Hause Sitte war, die Thür ihrer Kammer für die Nacht hinter ihr geschlossen hatte, da brach sie, hart an der Thür, auf den Dielen zusammen.

[234] Jungfer Rosine Külwetter wirthschaftete selbander mit einer Magd des Hauses in der großen Vorrathskammer hinter der Küche herum. Die Borde an den Wänden wurden geleert und dann abgestäubt und abgewaschen, denn in den letzten Tagen war Obst eingekocht worden und nun sollten hier die vielen frisch gefüllten Töpfe und Gläser – mit Vorrath bis auf den nächsten Herbst hin – ihren Einzug halten. Jedermann lobte es, daß Frau Külwetter die einzige Tochter allenthalben im Hause zugreifen ließ; schon als halbwüchsiges Mädchen war Rosine wenigstens eine scharfe Aufseherin des Gesindes gewesen, und ihre Mutter sagte wohl im Vertrauen: „Die Rosine paßt auf wie der Satan – die sieht es eher wie ich, wenn einmal zu viel draufgeht. Ich kann ruhig fort gehen, sobald ich die im Hause lasse ... Ihr solltet nur hören, Gevatterin, wie sie rapportirt, wenn ich nach Hause komme. Ja, ja – was ein Häkchen werden will – schon wie sie so hoch war“ – mit einer Handbewegung etwa drei Fuß über dem Boden – „hat sie angefangen.“

Den Mägden war die Wachsamkeit – um nicht zu sagen die Aufpasserei – Rosinens natürlich nicht eben so angenehm wie ihrer Mutter; sie wußten derselben aber nach und nach in ihrer Weise zu begegnen. „Der Jungfer, der muß man nur immer tüchtig um den Bart gehen und ihr sagen, was sie gerne hört,“ meinte eine von ihnen, eine verschmitzte Dorfdirne aus der Umgegend der Stadt. „Ich werde ganz gut mit ihr fertig, ich kenne sie. Bei der Arbeit thut sie, als wolle sie Bäume umreißen, aber sie macht sich doch nicht gerne die Finger naß.“

Natürlich brachten jene wirthschaftlichen Grundsätze ihrer Mutter Rosinen in sehr nahe Berührung mit dem Gesinde. Sie war zwischen den Mägden aufgewachsen und hatte an diesem Umgang von jeher Gefallen gefunden.

Auch heute ließen es sich jene Beiden, Rosine und das schon erwähnte Landmädchen, die Gertrud mit dem dicken rothen Gesicht und den kleinen Augen, recht wohl mit einander sein. Rosine that sich augenscheinlich bei der Arbeit nicht weh; sie hantirte in der Nähe des kleinen Fensters, welches, obwohl mit einem Drahtgitter versehen, doch einen Ausblick auf den Marktplatz gewährte, und da gab es fortwährend etwas zu beobachten.

„Laßt nur, Rosinchen, das mache ich schon allein,“ sagte die Magd jetzt zuthunlich, als Rosine mit einem kleinen Seufzer sich den Schemel zurecht rückte, um das oberste Sims mit ihrem Wischtuch erreichen zu können. Sie stieg hinauf und benutzte die Gelegenheit, hin und wieder einen Blick auf die Straße zu werfen, bis Rosine ihr das „Gaffen“ ziemlich mürrisch verwies. Aber Gertrud wußte sich zu helfen. „Mir war als säh ich – ja wahrhaftig, er ist’s, Rosinchen ... der Herr Georg – eben geht er über den Markt ...“

„Kommt er hierher?“ fragte Rosine, der schon die Rothe ins Gesicht gestiegen war.

„Er hat noch Einen bei sich ... den jungen Veit ... Da bleiben sie stehen und wollen Abschied von einander nehmen ... nein ... sie wenden um ... sie gehen zusammen die obere Gasse hinunter. Das garstige Mannsvolk ... Den Weg in den Rathskeller wissen sie immer zu finden – denn ich wette, von dort kommen sie eben! Er hätte sich wohl einmal wieder hier zeigen können!“

Rosine hatte mit einem Anschein von Gleichgültigkeit gegen einen Tisch gelehnt gestanden, die runden Arme übereinander [235] geschlagen. Jetzt aber richtete sie sich in die Höhe und stampfte mit dem Fuße auf, während ihr volles frisches Gesicht sich auffallend verdunkelte. Gertrud kam von ihrem Schemel herunter und trat näher. „Die Liese, das dumme Ding“ – eine Magd aus dem Nachbarhause – „meinte neulich, für Einen, der die Haustochter heirathen solle, mache sich der junge Herr doch auch gar so rar hier“ – sagte sie lauernd. „Und so ganz Unrecht hat sie nicht, Rosinchen.“

Rosinens große blaue Augen füllten sich bei diesen Worten mit zornigen Thränen, und sie ballte die Hände, ein Zeichen, daß ihre schwerfällige Natur, was diesen Punkt betraf, schon längst zur Empfindlichkeit aufgerüttelt war. „Er soll es mir noch entgelten,“ murmelte sie. „Wenn der öffentliche Verspruch nur erst gewesen ist ...“

An Meinungsverschiedenheit über die Mitgift konnte die Verzögerung nicht liegen. Rosine wußte aus gelegentlichen Aeußerungen ihres Vaters wie ihrer Mutter recht wohl, daß Ersterer Willens war, in Betreff ihrer Mitgift dem Bürgermeister weiter als irgend einem anderen Schwiegervater, der etwa in Betracht zu ziehen wäre, entgegen zu kommen. An den Külwetters lag es nicht, daß die Sache noch nicht weiter gediehen war. Und was die Bürgermeisterin betraf, so betrieb diese die Heirath, welche die beiden Familien verbinden sollte, schon seit Jahren, während ihr gestrenger Eheherr sich derselben wenigstens niemals abgeneigt gezeigt und unsere hübsche Rosine in der letzten Zeit mit unzweifelhaftem schwiegerväterlichen Wohlwollen behandelt hatte.

An wem also lag es, daß man noch nicht weiter war – von wem ging der geheime hemmende Einfluß aus? – Rosine, mit einem geringen Maße von Phantasie begabt, deren Einfluß die meisten Menschen in ihren Beobachtungen zu stören pflegt, und außerdem mit dem kräftigsten Egoismus ausgerüstet, sah vermöge dieser Eigenschaften in allem, was ihre eigenen Angelegenheiten betraf, weit schärfer, als es ihre Geistesgaben sonst vielleicht hätten vermuthen lassen. Und deßhalb irrte sich Georg, wenn er glaubte, Rosine Külwetter sei ganz zufriedeu mit ihm. War er zugegen und bezeigte sich galant und vertraulich, dann nutzte sie ihren heimlichen Groll aus, indem sie ihn reizte und beschäftigte und endlich dahin brachte, daß sein verwandtschaftlicher Abschiedskuß so feurig wurde, wie selbst sie es verlangen konnte. In seiner Abwesenheit aber konnte sie ihn beinahe hassen, noch viel mehr aber alles dasjenige, was, wie sie argwöhnte, ihn heimlich nach einer andern Seite hinzog und zu einem so säumigen Bewerber machte.

Jetzt preßte Rosine die frischen Lippen zusammen, und zwischen den Brauen grub sich eine tiefe Falte ein, wodurch sie so bitterböse aussehen konnte, wie es einem hellen Mädchengesicht nur selten möglich ist. Gleich darauf aber gab sie jeden Zwang auf und brach in lautes Weinen aus.

„Da haben wir’s,“ sagte Gertrud ... „der schlechte Mensch! Ich wußte wohl, daß Ihr schon lange was auf dem Herzen hattet, Rosinchen. Nur heraus damit ... macht Euch Luft!“

Zu einer Herzensergießung in Worten schien jedoch bei Rosinen noch kein übergroßes Bedürfniß vorhanden; sie fuhr nur fort, mit verzogenem Gesicht zu schluchzen, und stampfte gelegentlich mit dem Fuße. Jene sprach weiter:

„Man sollte es nicht für möglich halten. Eine Bürgerstochter wie Ihr ... ein Gesicht wie Milch und Blut, und alle Schränke voll – und da weiß der Herr nicht, ob er auch zugreifen soll, oder erst noch –“

„Das machen die wälschen Liebschaften,“ fuhr Rosine leidenschaftlich heraus. „Wäre er in Gottes Namen dort geblieben, anstatt uns hier zum Narren zu halten! Wer weiß, an was für eine schwarze Hexe er sich dorten gehängt hat. Ich wollte nur, ich dürfte so Einer einmal an das Gesicht“ – und Rosine spreizte kampfbereit alle zehn Finger ihrer kurzen, derben Hände aus – „oder ich könnte ihr ’was ins Waschwasser schütten –“

„Da braucht Ihr vielleicht nicht bis nach Wälschland zu gehen,“ stieß Gertrud heraus, dann aber schwieg sie mit einem Gesicht, als habe sie schon viel zu viel gesagt. Rosinens Thränen versiegten im Nu, und sie sah die Magd mit funkelnden Augen und erblaßten Wangen an. Als jene nicht weiter sprach, packte Rosine sie am Arm und schüttelte sie. „Willst Du gleich reden, unverschämtes Lügending!“ rief sie zornig.

Trudchen hörte diesen Zornesausbruch ziemlich gelassen an, strebte dann aber, ihren Arm von Rosinens Griff zu befreien, indem sie sagte: „Ihr seid nicht klug, Rosinchen! Gleich laßt mich los, oder ich sage kein Wort weiter. Was hat man wohl groß für Dank davon, wenn man zu Euch hält! Da fährt sie Einem um den Kopf mit spitzen Worten wie eine Hornisse ... laßt mich gehen – es ist Zeit, daß wir hier mit der Arbeit fertig werden.“

Jetzt zog Rosine andere Saiten auf und versprach sogar dem Mädchen den Strauß künstlicher Blumen, den sie auf dem letzten Rathhaustanze am Mieder getragen hatte. „Dann legt ihn nur gleich heraus, wenn Ihr über Euer Spind geht, sonst vergeßt Ihr’s doch wieder,“ schlug Trudchen vor. „Ihr braucht freilich die Blumen nicht mehr, die für unser Einen noch wunder was für ein Staat sind. Bis Ihr wieder zum Tanze aufs Rathhaus geht, auf die Fastnacht, da seid Ihr eine Braut und tragt das Schapel mit Gold und Silber ... denn es kann dem Herrn Georg mit der langen Weberstochter ja doch nimmermehr Ernst sein ...“

Die kleine Rache gelang; Rosine zuckte zusammen, als habe sie einen Stich empfangen. „Was ist mit der Weberstochter? Gleich sagst Du mir Alles, was Du weißt,“ zischte sie.

„So gar viel ist das auch nicht,“ meinte Gertrud, „aber man muß sich doch wundern, wenn man hört, wie oft der junge Herr sich dort unten herumtreibt. Daß er so ganz stillschweigend, wie heimlich, durch das Pförtchen in der Stadtmauer hereinkommt, das habe ich selber gesehen, als ich neulich in Bürgermeisters Garten war und der alten Kathrine die Kohlbeete umgraben half. Er wurde uns gar nicht gewahr, und ich sage zur Kathrine: ‚Ist denn das nicht Euer junger Herr? wo kommt denn der her?‘ ‚Ja,‘ sagt sie, ‚das möcht’ ich auch wissen; denn da draußen, jenseit der Stadtmauer, hört ja doch die Welt auf, da liegen nur noch die Bleicherwiesen. Gestern kam er auch des Wegs, und er muß das Pförtchen geschmiert haben; das knarrte sonst, daß man’s durch den ganzen Garten hörte!‘“

Rosine starrte mit verdüstertem Gesicht vor sich hin, dann sagte sie: „Ich hörte den Vater neulich sagen, daß der Oheim Tiedemars an dem fremden Volke, den Webersleuten, einen Narren gefressen habe; – jetzt, zum Einzuge der neuen Landgräfin wollte er ihnen auch etwas zuwenden. Der Vater schalt – das hergelaufene Pack brauche den alten Bürgern auch nicht die fürstliche Gnade vor dem Munde wegzuschnappen ... aber der Oheim Tiedemars habe immer seinen eigenen Kopf. Einen von den Betbrüdern, einen Alten, sah ich neulich selber in das Bürgermeisterhaus gehen ... man kennt sie ja gleich – an der Tracht.“ Sie stampfte mit dem Fuße. „Der Oheim hört und sieht nicht vor lauter Stadtregiment – er hat den Georg wohl gar selber zu dem Volk geschickt, damit ihn die freche Dirne nur recht beschwatzen kann.“

„So, wenn ihn sein Vater hinschickt, in Geschäften, dann braucht er wohl Abends um das Haus herum zu schleichen und am Fenster zu horchen, sodaß ihn der Wächter gerade für einen Landfahrer oder gar einen Dieb aufgreifen will!“ sagte die Gertrud. „Von wem ich das habe? das hat der Barthel Küfer drüben in der Schloßgasse mit eignen Augen gesehen, ja er hat noch dem Wächter, der den Bürgermeisterssohn durchaus hat packen wollen, ein Licht aufgesteckt, mit wem sie es eigentlich zu thun hätten. Ich kam gerade dazu, wie des Barthel’s Frau es der alten Schmidtin erzählte, und die Schmidtin sagte zu mir: ‚das schwatzt Sie aber nicht weiter, Gertrud, und macht Ihrer hübschen Jungfer das Herz nicht schwer! denn das Löffeln und Poussiren wird der Georg in Wälschland ja wohl aus dem Grunde gelernt haben, und wenn sie ihn nimmt, muß sie ihn nehmen, wie er ist!‘ Aber da hör’ ich die Frau Mutter kommen, Rosinchen ... laßt Ihr mich jetzt ausschelten, wie Ihr’s gewöhnlich thut, daß wir hier noch nicht weiter sind, so erzähl’ ich Euch mein Lebtag’ nichts wieder.“

Frau Külwetter trat gleich darauf ein und traf Tochter und Magd anscheinend in voller Thätigkeit, und da ihr Rosine weismachte, daß die oberen Simse schon gereinigt seien, so fand sie außer einigen Kleinigkeiten für jetzt nichts zu tadeln, und die beiden Mädchen konnten, nachdem sie wieder den Rücken gewendet, nachholen, was sie etwa bisher versäumt hatten. „Was braucht denn das Alles immer so aus denn Grunde gemacht zu werden,“ meinte Trudchen, indem sie rasch und oberflächlich mit ihrem Tuche über die Bretter fuhr ... „Es guckt ja doch Niemand in alle Ecken ... [236] wenn die Frau nur denkt, es wäre geschehen, so ist’s ebenso gut. Es ist Euch wohl in die Glieder gefahren, Rosinchen? bleibt nur sitzen, ich werde schon alleine fertig. Aber nehmt Euch die Sache nicht allzusehr zu Herzen ... Ihr bekommt ihn ja doch – und es ist doch ein gar zu schöner Mensch … Habt Ihr ihn erst, so könnt Ihr es ihm schon ein wenig eintränken …“

Rosine erwiderte auf alles dieses kein Wort; ihre Gewohnheit von Kind auf war, wenn ihr etwas Aergerliches widerfuhr, ein eigensinniges, verstocktes Schweigen gewesen, in dem sie manchmal auf die besten Worte nicht Red’ und Antwort gab … „Sie mault,“ nannten es die Mägde, und man wußte, daß alsdann nichts mit ihr anzufangen war. Gertrud sah von der Seite zu ihrer Jungfer hinüber, wie diese auf dem Schemel saß, die etwas breiten Schultern in die Höhe gezogen, die große vorliegende Stirn geneigt, den für das volle Gesicht fast zu kleinen Mund fest zusammengepreßt und mit jener bösen dunkeln Falte zwischen den Brauen – und sie dachte: wenn der Bürgermeisterssohn die erst einmal hat, so büßt er alle seine Sünden ab – sie wird’s ihm manch liebes Mal siedend heiß machen!

Das ganze Haus hatte an diesem Tage von Rosinens böser Laune zu leiden, merkwürdiger Weise aber schien sich dieselbe bis zum Abend völlig erschöpft zu haben. Georg Tiedemars kam nach dem Abendbrot auf ein Stündchen hinüber, und Rosine war so freundlich und zuthunlich gegen den „Herrn Vetter“, so ganz verwandelt, daß man in diesem hellen, lächelnden Mädchengesicht mit den kindlich runden Wangen, vom köstlichsten Weiß und Roth angehaucht, das verdunkelte böse Antlitz von vorhin, vor Leidenschaft erblichen, gar nicht wiedererkannt hätte. Georg fühlte sich freundlich angeregt durch ihr Behaben; mit dem heimlichen Besitz seiner köstlichen Liebe im Herzen war er so schon der ganzen Welt gut. Das arme Rosinchen – wenn sie wüßte! aber ein so einfaches, harmloses Ding ahnte dergleichen nicht, und das war gut, und später – in einer Zukunft, über deren Form oder Nähe sich Georg zur Zeit noch auf keine Vorstellungen einließ – sollte ihr ja auch seine brave, trockene, bürgerliche Liebe und Treue gehören und so sicher bei ihr verharren, wie sie ihm gewiß alle Mittag ein ordentliches Essen auf den Tisch bringen und die gute Mutter kleiner draller Jörgen und Rosinen werden würde. Dazwischen aber lag für ihn noch eine Spanne – ob kurz oder lang, darauf kam es gar nicht an, dieselbe war nicht mit dem gewöhnlichen Zeitmaß zu messen – unbeschreiblichen, unbegreiflichen Glückes … eines Glückes, das trunken machte. Und in den Zauberkreis dieser Glückszeit war er gestern eingetreten!

Das war es, was seine Stimme so sanft machte, seinen Augen ein so eigenes Leuchten verlieh, als er jetzt in der Dämmerung der tiefen Stube dicht neben Rosinen auf dem hölzernen Sitze an der von den Fenstern entferntesten Wand lehnte. Die beiden Alten saßen auch im Gemache, kümmerten sich aber um die jungen Leute nicht allzuviel. Das war ja Georg’s gutes Recht, daß er nahe zu Rosinen rückte und ihr allerhand zu sagen hatte, was nicht jeder zu hören brauchte, etwa wie ihre Augen alle Tage klarer und schöner würden und daß ihr Haar eine Farbe habe, um welche die schönen Damen im Land Italia sie bitterlich beneiden könnten, und andere dergleichen Neuigkeiten, wie sie Rosine nicht ungern hörte, trotz des heimlichen Grolles, dem dadurch ein Theil der ersehnten Nahrung entzogen wurde. Aber wenn Rosinens Gefühl für Georg der Art war, daß Aerger, ja Ingrimm und Verliebtheit sehr wohl in demselben nebeneinander bestehen konnten und der eine Bestandtheil nur immer mehr Kraft aus dem andern zog, so haßte sie dagegen um so nachdrücklicher und mit ungetheilter Kraft die dreiste, abgefeimte Verführerin Georg’s, denn als etwas Anderes hätte Jungfer Rosine sich die Weberstochter nicht vorzustellen vermocht.

Das Gespräch, welches bisher nur mehr eine in halblauten Worten hin- und herspielende Tändelei der Beiden gewesen war, wendete sich jetzt auf den demnächstigen Einzug der fürstlichen Braut. Am Eingange der Schloßgasse sollte ein Ehrenbogen errichtet werden. Dort würde der Rektor der gelehrten Schule, Doktor Avenarius, die hohe Frau mit einem lateinischen Carmen begrüßen, eine nicht unpassende Anerkennung des Umstandes, daß die Dame dieser klassischen Sprache kundig war – nach dieser gediegenen und etwas umständlichen Huldigung aber sollten junge hübsche Bürgerstöchter das fürstliche Paar mit Blumenketten umwinden.

„Was meint Ihr, Georg, unter den Blumenjungfern würde sich unser Rosinchen nicht schlecht machen, wie?“ krähte hier Herr Külwetter, von seinem Lehnstuhle am Tische, dazwischen.

„Nun, wenn man die Schönsten wählt, wird man an ihr gewiß nicht vorübergehen,“ sagte Georg.

„Sie nehmen aber zunächst nur die Zunftmeisterstöchter,“ erklärte Rosine und warf die Lippen auf.

„Wie, möchtest Du denn wirklich dabei sein, Rosine?“ fragte Georg lächelnd. Er hatte sich, ihre Hand in der seinen haltend, voll zu ihr herumgewendet. Sie antwortete, nach ihrer Art, nicht gleich, hatte die Augen gesenkt und das Kinn auf die Brust geneigt. „In einer Art von öffentlicher Komödie mit zu agiren – könnte Dir das gefallen, Rosinchen?“ fragte er.

„Nun, die Frau Landgräfin, oder die es sein wird, agirt ja auch mit und ist sogar die Hauptperson dabei,“ war Rosinens keineswegs ungereimte Entgegnung.

Georg lachte. „Wenn ich nun eifersüchtig wäre und es mir nicht behagte, daß mein schönes Bäschen an einem solchen Tage aller Blicke auf sich zöge?“ sagte er, sie betrachtend, indem er mit einem ihrer Zöpfe spielte. Während ihr unter seinem Blick das Herz klopfte, war Georg sich nicht ohne Behagen der inneren Freiheit bewußt, mit der er fortfahren konnte: „Nein, verhüte Gott, daß ich Dir die Freude verderbe, Kind. Und es müßte wunderlich zugehen, wenn des Bürgermeisters liebe Anverwandte nicht bei diesem Feste ihren Platz unter den Vertreterinnen der Bürgerstöchter finden sollte, dafern ihr Sinn darnach steht. Und daß Du Dich nur schön machst – aber es ist ja noch eine ganze Weile hin bis zum Einzuge … die Gewerke haben noch vollauf zu thun bis dahin …“

„Ja, und es wird allenthalben mehr Geld vergeudet, als nöthig ist,“ meinte Herr Külwetter. „Will sich doch sogar das lumpige Volk vor dem Thore, die fremden Weberleute, mit einem Geschenk an die Herrschaft breit machen! Da begreife ich Deinen Vater nicht recht, Georg! wo er nur den fremden Betbrüdern einen Vortheil zuwenden kann, da thut er’s. Glaub’ mir nur, es wird ihm von der Bürgerschaft mehr verdacht, als er selber meint.“

„Der Vater weiß, was er thut, Vetter Külwetter,“ nickte Georg zu dem Alten hinüber … „Ich würde mir an Eurer Stelle kein graues Haar darüber wachsen lassen. Seid Ihr einmal Bürgermeister, dann probirt nur gleich das Kunststück, es einem Jeden recht zu machen.“

„Wie spitz der Junge gleich wird,“ lachte Herr Peter Külwetter vor sich hin. „Ich Bürgermeister – damit hat es gute Wege … und es hat mir auch noch nie nach der Ehre gelüstet. Zum Stadtregiment gehören studirte Herren, wie Du ja jetzt auch einer bist, Georg – und wenn ein solcher räth und betreibt, was über den gewöhnlichen Verstand geht, nun so tröstet sich der Bürger damit, daß das alles wenigstens nach den Regeln juris geschieht und daß die Stadt die Ehre, einen gelehrten Bürgermeister zu haben, sich schon was kosten lassen kann!“

Das war eine der kleinen Tücken, wie sie viel gescheitere Leute, als er selber war, zu ihrer eignen Verwunderung von dem Männchen mit dem flachgedrückten Kopfe und der spitzen Nase immer einmal hinnehmen mußten. Georg hatte keine Lust, die meist wohl durchdachten, immer aber energischen und klugen Maßregeln seines Vaters gegen den Gevatter Külwetter ferner zu vertheidigen, und ließ ihm daher das letzte Wort, um so mehr als Rosine jetzt mit schmeichelnder Stimme begann: „Der Vater kann die fremden Weber nun einmal nicht leiden. Erzähl’ Du mir ein wenig von ihnen, Georg – sie sagen ja, Du seiest so oft dort unten zu finden … Ist es denn wahr, daß sie so wunderliche Bräuche haben – mit Essen und Trinken – einen Hasen hätte einmal eine von den Frauen mit Haut und Haaren abgesotten – Gemüse wüßten sie gar nicht zu kochen, das sei ihnen hier etwas Neues gewesen, und nun brächten sie es nur in Wasser gebrüht, so daß der Kohl gallenbitter schmeckt, auf den Tisch, und, pfui Teufel, ich möchte nicht dabei sein! Hunde und Katzen ließen sie, nachdem Einer vorgebetet, um Gotteswillen mit aus der eigenen Schüssel essen.“

Rosine hatte etwas ganz Anderes sagen wollen, aber die Bosheit war gewissermaßen mit ihr durchgegangen, und jetzt fühlte sie sofort etwas wie eine Entfernung Georg’s. War er wirklich von ihr fort gerückt, hatte er nur den Zopf, mit dem er [237] die ganze Zeit getändelt, aus der Hand gleiten lassen? Er sprach auch nicht gleich, und sie blickte zu ihm auf. Wie schade, daß es schon zu dämmerig war um zu erkennen, welche harmlose Miene Rosinchen trug! „Seid Ihr mir böse, Georg?“ fragte sie leise, und ihm war, als kichere sie dabei. Es war ein Scherz von ihr gewesen, das tolle Geschwätz über die Fremden, kein sehr zarter und ganz besonders wenig nach seinem Geschmack. Aber die Gründe für den letzteren Umstand kannte Rosine glücklicher Weise nicht. „Böse?“ wiederholte Georg daher trocken. „Warum sollte ich Euch böse sein, mein hübsches Bäschen? Um solchen Unsinn wirklich zu glauben, seid Ihr viel zu klug. Uebrigens habe ich niemals mit den Weberleuten gegessen – und wenn Euch daran gelegen ist, zu wissen, ob sie ihren Kohl sauer oder süß kochen, so müßt Ihr Euch an jemand Anders wenden.“

„Wie unfreundlich Ihr sprecht!“ sagte Rosine leise, und diesmal war sie es, die wieder ein wenig näher rückte. „Was kann ich dafür, wenn sich Jedermann über die fremden Hungerleider, wie sie hier sagen, lustig macht. Die Mutter meint, man müßte sich ja vor den Nachbarn fürchten, sonst ließe sie auch einmal ein Stück dort unten weben, wenn es ihr die Leute billig arbeiteten. Aber der Weg wäre so weit. Da habe ich gesagt, den Weg machtet Ihr oft genug, sie möchte Euch doch bitten, einmal eine von den Dirnen hierher zu schicken, daß sie das Garn abholt. Nicht wahr, den Gefallen thätet Ihr uns schon, wenn Ihr wieder einmal vors Thor geht – in Geschäften?“ fügte sie auf eine Bewegung Georg’s langsamer hinzu.

Georg hatte sich, ihre Hand in der seinen haltend, zu ihr herumgewendet. (S. 236.)

„Was Du alles von unsern Geschäften weißt, Rosinchen,“ sagte Georg leichthin, aber nicht ohne ein eben aufsteigendes unbehagliches Gefühl des Argwohns. „Meine Bekanntschaft in der Weberniederlassung ist kleiner, als Du meinst. Ich kenne kein Mädchen dort, welches herum geht und die Kundschaft bedient.“

„Nun, die Lange, die Dir damals in den Graben zu Hilfe gesprungen ist,“ fuhr hier Rosine unvorsichtig mit einem harten Auflachen dazwischen. „Du glaubst nicht, wie gerne ich das Wunder einmal sähe, Georg! Sie soll ja den Weg nicht umsonst machen ... sie mag ein paar Ellen von den geflickten Borden mitbringen, über denen, wie man hört, die Weiber dort Jahr aus Jahr ein sitzen. Da kauft man ein Stück, wenn man es auch nicht nöthig hat, nur damit sie ein paar Batzen mit heim trägt.“

Rosine hatte der Versuchung nicht widerstehen können, ihrer Zunge freien Lauf zu lassen, doch kam sie für heute nicht ins Klare darüber, ob sie sich oder der Nebenbuhlerin mehr bei Georg geschadet hatte. „Ihr wendet Euch an den Unrechten, Bäschen,“ sagte Georg kalt. „Ich kann Eurer Neugierde nicht dienen – und wenn Eure Mutter die Brabanter in Arbeit setzen will, so wird ihr der Weg, fürcht’ ich, nicht zu ersparen sein. Aber es ist spät geworden ... erlaubt, daß ich Euch eine gute Nacht wünsche.“

Wer weiß, ob er sie heute geküßt hätte. Aber indem sich Beide fast zugleich erhoben, fuhr Rosine unter einem leichten Ausruf mit der Hand nach ihrem Auge. Georg’s breite Krause hatte sie gestreift. „Hab ich Euch weh gethan, Bäschen?“ fragte er, natürlich zärtlich besorgt, indem er sich über sie beugte. Rosine antwortete nicht, sondern hing den Kopf und hielt die Finger über das Auge. Georg mußte ihr mit sanfter Gewalt die Hand wegziehen, wobei er mit den Fingern die Wange streifte, die sich wirklich wie ein Rosenblatt anfühlte. Gesprochen wurde von Rosinen wohlweislich kein Wort weiter, und doch bekräftigten ihre frischen Lippen auf eine überzeugende Weise ihre Verzeihung.

Denn mit einem Kunstgriffe, der wesentlich in ihrer Natur lag, hatte es Rosine dahin gebracht, daß es schien, als habe sie etwas zu vergeben, während sie doch die Angreiferin gewesen war. Georg verließ sie besänftigt. Sie war ein kindisches, liebes Ding und plauderte nach, was sie hörte. Das garstige kleine Nest von einer Stadt mit seinem Geklatsch! Es überflog den jungen Menschen heiß bei dem Gedanken, daß sein Verhältniß zu dem Weberhause ruchbar werden und ihn dem Gespötte aussetzen könnte. Er beschloß, vorsichtiger zu sein als bisher, und ein paar Tage verstreichen zu lassen, ehe er Hilden wiederzusehen versuchte.

[249] Während der selbst auferlegten Pause seiner Besuche bei Hilde wußte Georg seine heimliche Ungeduld und sehnende Unruhe noch allenfalls zu zügeln – als aber, ähnlich wie schon einmal im Anfange zwischen dem ersten und zweiten Zusammentreffen mit Hilden, auch jetzt alle Versuche, sie zu sehen, ein verborgenes, ungestörtes Zusammensein mit ihr zu verabreden, fehlschlugen, als er merken mußte, daß von ihrer Seite nichts geschah, um ihm zu begegnen – da verbrachte Georg schlimme Tage. Kaum wußte er die innere Rastlosigkeit und die Gleichgültigkeit gegen alles, was die Stunden brachten, noch im Elternhause zu verbergen. Die Mutter sah ihm zuweilen verwundert zu, wenn er nach einem rasch und zerstreut eingenommenen Imbiß wieder auf fuhr, nach dem Barett griff und davon eilte. Sie trat dann ans Fenster, um zu sehen, ob er den Weg nach Külwetters Hause einschlage, und kopfschüttelnd mußte sie wahrnehmen, daß er daran gar nicht zu denken schien, sondern mit langen Schritten quer über den Marktplatz sich entfernte. Der Vater war gerade jetzt von wichtigen Geschäften überhäuft, es galt, bei der bevorstehenden fürstlichen Vermählung alte weitreichende Privilegien der Stadt aufrecht zu erhalten und aufs Neue zu sichern – da durfte sie ihm mit häuslichen Angelegenheiten nicht dreinreden, die Bürgermeisterin hätte sonst gewiß ihrem Herzen Luft gemacht und als beste Kur für ihres Sohnes wunderliche Gemüthsverfassung den festen „Verspruch“ und die baldige Hochzeit mit Külwetters Rosine vorgeschlagen, damit er wisse, woran er sei, und Ruhe bekäme. So aber mußten die eigenen häuslichen Angelegenheiten nothgedrungen warten, bis jene öffentlichen zu einem Abschluß gediehen waren, und die Bürgermeisterin wünschte von Herzen, daß der Einzug, das fürstliche Beilager und alle dazu gehörigen Festlichkeiten erst vorüber wären, damit man endlich ernstlich an die Hochzeit in der eigenen Familie denken könne.

Einmal, als Georg, erfüllt von Plänen, wie er Hilden wenigstens eine Botschaft zukommen lassen könnte, aus dem Hause trat, sah er in geringer Entfernung den alten Weber heran kommen. [250] Sein erster Gedanke war: jetzt ist Hilde allein – und er zögerte in der Hoffnung, daß Meister Lukas, ohne ihn zu sehen, vorüber gehen und ihm so das Feld frei lassen werde. Da blickte der alte Mann in die Höhe und ein eigner, bekümmerter Blick haftete auf dem jungen Mann, der sich nicht enthalten konnte, den schlichten Greis mit einer Art Ehrfurcht zu grüßen.

Meister Lukas erwiderte den Gruß. „Nun, wie steht es, Meister Lukas? ist Alles bei Euch wohlauf?“ zwang sich Georg leichthin zu fragen, da er nun doch nicht wohl ohne Wort vorüber konnte. Sofort aber bannte ihn die Geberde des Alten an die Stelle, auf der er stand. Der Weber hatte langsam den Kopf geschüttelt und sagte: „Nein, Herr – bei mir ist die Sorge eingekehrt, denn meine Tochter Hilde liegt krank. Mir ist nicht anders, wie einem müden, schwachen Mann, dem der Stab, darauf er sich stützte, aus den Händen gewunden worden. Nun, Gottes Wille muß an ihr gescheheu ...“

Damit ging er langsam weiter, und Georg blieb wie ein Träumender steheu. Warum hielt er den Alten nicht fest, damit er ihm ferner Red’ und Antwort stehe ... welcher Art Hildens Erkrankung sei, ob, was Gott verhüten wolle, Gefahr vorhanden ... ob für guten ärztlichen Beistand und erfahrene Pflege gesorgt worden. Er that von dem Allen nichts, weil ihm sonderbarer Weise nicht anders zu Muthe war, als habe der alte Mann eine Anklage gegen ihn ausgesprochen mit jenen Worten. Der Weber hatte ihn so eindringlich und wie vorwurfsvoll bei denselben angesehen. Er wollte dem Altea nachgehen, wollte fernere Auskunft verlangen, wie sie ja schon die gewöhnliche Theilnahme an dem Mädchen, als an des Meister Lukas Tochter, fordern konnte – aber er fand jetzt nicht mehr den Muth dazu ... er mußte fürchten, sich durch seine Verstörtheit zu verrathen.

„Was zum Henker ist denn in Dich gefahren, Görge?“ fragte Hans Veit, als die Beiden einander wenig später antrafen. Sie waren nach kurzem Gruße eine Weile neben einander hergegangen, in einem Schweigen, von dem Georg gar nichts zu merken schien, während sein Genoß ihn dann und wann kopfschüttelnd von der Seite ansah. „Welch ein trübseliger stummer Geist ist über Dich gekommen! Hat Rosinchen dem Gadendiener einmal zuviel zugelacht? oder bist Du dahinter gekommen, daß sie zuweilen die Suppe anbrennen läßt?“

Georg hatte auf diese Fragen nur ein ungeduldiges Achselzucken. Hans Veit war von jeher sein Vertrauter gewesen, soweit Georg’s eigenmächtiger, zu raschem willkürlichen Handeln geneigter Charakter eines solchen bedurfte. In Bologna hatte Hans um Georg’s sämmtliche Abenteuer gewußt, um so mehr, da hier die deutschen Studenten immer bereit sein mußten, alle für einen einzustehen im Fall der Gefahr, an welcher es bei derartigen Händeln selten fehlte. Hilden aber hatte der junge Mensch seit dem Tage des Einritts in die Stadt mit keiner Silbe wieder gegen den alten Genossen erwähnt.

Hans Veit fragte niemals, aber er hielt die Augen offen, schon in dem kameradschaftlichen Gefühl, daß er im Falle der Noth oder Verlegenheit auch hier vielleicht eintreten müsse. Jetzt sagte er nach einer abermaligen ziemlich langen Pause gelassen: „Friß die Geschichte nicht länger in Dich hinein, Georg. Sie setzt Dir mehr zu als billig. So kenn’ ich Dich noch gar nicht. Die Weberstochter muß den Teufel im Leibe haben. Was ist’s mit ihr?“

Jetzt blieb Georg stehen und packte den Genossen am Handgelenk. „Sie ist krank, Hans!“ sagte er mit gepreßter Stimme.

„Krank!“ das Gesicht des Hans Veit verlängerte sich. „Nun, so wird sie wieder gesund werden. Ein krankes Liebchen – das ist allerdings ein schlechter Spaß.“

„Nenne sie nicht so,“ sagte Georg. „Du weißt nicht –“ er brach ab und zwang sich zu einem andern, dem Freunde verständlichern Ton. „Das ist eine Art, die wir noch nicht kannten ... Sieh mich an – das hat noch keine aus mir gemacht ... da mußte ich erst an eine halbe Heilige kommen! Tag und Nacht läßt es mir keine Ruhe ... und Wochen vergehen, ehe ich sie einmal zu sehen kriege.“

Er hatte dem Genossen das hübsche verstörte Gesicht zugewendet. Da waren allerdings deutliche Spuren ruheloser Tage und halb durchwachter Nächte. Die blauen Augen schienen tiefer zu liegen und sahen müde und doch schlaflos aus. Auf des Freundes halblauten Fluch, der des Hans’ wohlwollende Mißbilligung eines solchen Gemüthszustandes ausdrücken sollte, hatte Georg nur ein schwaches, rasch verfliegendes Lächeln. „Es thut nichts,“ sagte er, und nun leuchteten seine Augen auf. „Noch möchte ich keinen Tag aus meinem Leben missen. Aber jetzt mußt Du mir helfen, Hans! Noch vor heute Abend muß ich wissen, wie es mit ihr steht ... Du erfindungsreicher Odysseus bist mir nicht umsonst in den Weg gekommen. Mach Dir vor dem Thore etwas zu thun ... Du kannst in ihre Nähe gelangen, ohne daß Jemand Arg daraus hat. Vielleicht triffst Du auch eine Nachbarin ... der Alte ist in der Stadt, darum ist keine Zeit zu verlieren!“

Hans Veit zeigte sich willig, ging und traf verabredeter Maßen nach einiger Zeit im Rathskeller wieder mit seinem Freunde zusammen. Georg saß im dunkelsten Winkel des dämmernden Raumes hinter einem Kruge. Schweigend rückte er, um dem Andern Platz zu machen, mit zusammengepreßten Lippen die ungeduldige Erwartung niederhaltend. Hans Veit setzte sich zurecht und befeuchtete erst reichlich die Kehle. Dann erzählte er umständlich, wie klug er die Sache angefangen habe, so daß die Frau aus dem Nachbarhause Hildens, mit der er wie von ungefähr ins Gespräch gekommen sei, nicht den mindesten Argwohn habe schöpfen können, um was es ihm eigentlich zu thun gewesen. „Die frommen Weiblein helfen alle abwechselnd bei der Pflege,“ sagte er gemächlich. „Das ist so Sitte bei den Leuten dort unten –- aber es scheint, daß Dein armer Schatz nicht allzu viel Wartung bedarf. Sie liege stille vor sich hin und habe einen absonderlichen Widerwillen gegen alle Speise ... Ihr Vater meine, sie müsse einen Schrecken gehabt haben – die gute Frau gab mir aber zu verstehen, ihrer Ansicht nach sei die Jungfer in nächtlicher Stille einer überirdischen Erscheinung gewürdigt worden – dergleichen komme in der Gemeinde immer von Zeit zu Zeit einmal vor. Die Sache sieht übel aus für Dich, Bruderherz ... denn wessen kann man sich nicht alles versehen bei Leuten, die einen so ganz besondern Kredit dort oben genießen! Vielleicht hat sie von dorther eine Verwarnung erhalten, mit Dir räudigem Schafe fürderhin nichts mehr zu schaffen zu haben.“

Der versuchte Scherz verfehlte seine Wirkung. Georg senkte den Kopf in die Hände und vergrub aufstöhnend die Finger in das dichte Blondhaar. Hans Veit begriff ihn schon längst nicht mehr. Ihm wäre es verständlicher gewesen, wenn in einem solchen Falle, wo alles Verlockende am Weibe, die Schönheit, die Heiterkeit und Jugendkraft einstweilen wenigstens nicht zur Geltung kamen, auch die Neigung seines Gefährten gleichmüthig gestockt hätte. Georg aber liebte diesmal anders als bisher. Etwas in Hildens Wesen hatte seine innerste Seele berührt. Und vom ersten Augenblick an, da er von ihrer Erkrankung gehört, hatte ihn die Ueberzeugung nicht verlassen, daß er, daß der mächtige Eingriff in ihr Leben, dessen er sich schuldig fühlte, mit der Ursache derselben auch zusammenhing.

„Nun?“ fragte Hans Veit, da sich Georg endlich langsam, wie ein müder Mann, von seinem Sitze erhob. „Du kommst mir wunderlich vor, Georg. Sitzt die Sache so tief? Na höre einmal –“ als der Aeltere und Gesetztere von Beiden mochte sich Hans berufen fühlen, doch dann und wann auf Seite der gerechteren Sache, der künftigen Ehefrau, zu treten – „das könnte Dir die Rosine doch eigentlich übelnehmen!“

Georg erwiderte kein Wort; der Name der Rosine Külwetter war in diesem Augenblicke ein völlig tauber Schall für ihn. Sein Entschluß war gefaßt, da ihm in seiner derzeitigen Gemüthsverfassung nunmehr kein anderer übrig blieb. Er mußte Hilden selber sehen und sprechen, öffentlich, da es nicht heimlich sein konnte – wie wenn sie vielleicht nur daran krankte, daß er damit so lange gezögert hatte? –

Hilde hatte einer schweren körperlichen Mattigkeit nachgegeben, als sie am andern Morgen nach jener nächtlichen Ohnmacht, die vielmehr eine lange währende dumpfe Lähmung aller Sinne war, ihr Lager nicht verließ. Ihr guter Vater war tief erschrocken und bekümmert ... in seinen Augen las sie, daß sie krank sei, wirklich krank, nicht nur zum Sterben müde und jedes Tones und jedes Lichtstrahles, der die gewohnte Umgebung jetzt mit Tagesanbruch erhellte, unsäglich überdrüssig. Wie würde seine Sorge ihr sonst ins Herz geschnitten haben – jetzt aber gebrach ihr die [251] Fähigkeit, über seinen Kummer sich zu bekümmern. Was sich um sie bewegte, Vater und Freunde und Nachbarinnen, erschien ihr wie Schatten … alles Leben in ihr hatte sich gleichsam zurückgezogen in ein Gefühl dumpfen Schmerzes. Nur in sofern sie diesen empfand, lebte sie noch; von jedem anderen Antheil am Dasein, wie sie es bisher gekannt hatte, war sie abgeschnitten.

Der Schlag war zu schwer gewesen, den sie an jenem Abend so ahnungslos erhalten hatte: seine Folgen konnten kaum andere sein bei einer Natur von ursprünglich starkem und völlig unabgenutztem Empfinden. Da man ihr aber Zeit ließ, wieder zu sich selber zu kommen – und das wohlgemeinte, aber etwas trockene und sehr lange Beten einzelner besonders begnadeter Nachbarn an ihrem Bette hinderte sie daran nicht –, so begann ihre Natur sich langsam wieder aufzurichten. Und zuerst trat das Gefühl, welches in ihrem Leben vor dem Erscheinen Georg’s das stärkste gewesen war, die Empfindung für den Vater, wieder in seine Rechte. Wenn gerade Niemand von den Nachbarn in der Stube war, folgte Hilde dem alten Manne mit den Augen, wie er, gebeugter als sonst, im Gemache umherschlich und mit steifen Fingern sich das Geräth mühsam zusammen trug. Sobald sie einmal ganz allein war, versuchte sie sich aufzurichten und mit einem Seufzer, einer leisen Regung sehnsüchtigen Bedauerns, welches einem ganz anderen Ziel galt, dem sie sich nahe gewähnt hatte, mußte sie bemerken, daß ihre Kräfte wiederkehrten. Das Leben erschien ihr künftighin als eine Bürde, aber Hilde schickte sich an, dieselbe aufzunehmen, denn wie hätte sie die doppelte Last den müden Schultern des alten Mannes allein auflegen dürfen!

So trat denn Hilde eines Morgens zu früher Stunde völlig angekleidet wie sonst aus ihrer Kammer. Der Vater schlug zitternd die Hände zusammen, als sie mit einem etwas müden Lächeln auf ihn zukam. Er sah sie forschend an, dann nahm er die Bibel vom Sims, wo sie immer ganz nahe zur Hand lag, und während Hilde ruhig ihren gewohnten Platz an der Ecke des Tisches einnahm, schlug er auf und las mit bewegter Stimme in dem Berichte des Evangelisten Lukas die Auferweckung von Jairi Töchterlein. Das war, statt aller eigenen Worte, seine Weise, zu bezeugen, was er in einem wichtigen Augenblicke etwa empfand, und so waren das heilige Buch und der Lebensgang des Meister Lukas mit einander verwachsen, daß vermöge der Erinnerung besonderer Momente, welche sich daran hefteten, viele Abschnitte der Bibel für ihn als ebensoviel Kapitel seines eigenen Lebens gelten konnten.

Hilde hörte träumerisch auf die wohlbekannten Worte. Dem Vater war also zu Muthe, als sei sie ihm neu geschenkt … und sie, sie fühlte mit innerer Beschämung und Reue, daß sie doch lieber gestorben wäre. Der Tag schleppte sich hin … die Arbeit wurde ihr noch schwer; die Nachbarn kamen und verwunderten sich, doch merkte man wohl, daß sie der Kraft ihres Gebets die Genesung zuschrieben.

Gegen Abend, als die beiden im Stillen wieder noch inniger verbundenen Menschen an ihren gewohnten Plätzen saßen, der Vater am Webstuhl, Hilde in der Nähe des anderen Fensters ihm gegenüber, da fühlte das Mädchen ihren Blick in die Höhe gezogen. Ein Vorübergehender hatte draußen gezögert; jetzt verschwand er, aber Hilde hatte die Gestalt erkannt. Ihr Herz stockte. Als aber gleich darauf an die Hausthür gepocht wurde, trat sie zu dem Alten an den Webstuhl, hielt mit einer sanften Bewegung seinen Arm zurück und sagte ruhig: „Vater, der Sohn des Bürgermeisters ist draußen; da klopft er, hört Ihr? ich bitte Euch, gönnt mir eine Zwiesprache mit ihm … laßt uns allein.“

Meister Lukas sah seine Tochter betroffen an, aber er erhob sich. „Du bist meine gute Tochter, Du weißt, was Du thust …“ sagte er zögernd.

„Ja, Vater … er kommt zum letzten Male …“

Der Weber schüttelte bekümmert den Kopf. „Ich glaube, Hilde, uns beiden wäre besser, wenn er nie gekommen wäre –“ sagte er. „Bist Du auch auf dem richtigen Wege? hast Du um einen Fingerzeig von oben gebeten?“

Hilde wurde unruhig. „Lieber Vater, wenn Ihr mich nur jetzt nicht fragen wolltet!“ sagte sie flehentlich. „Die Sache liegt zwischen mir und ihm. Laßt mich sie zu Ende bringen.“

Meister Lukas machte keinen Einwand mehr … er wußte sich in ungewöhnliche äußere wie innere Vorgänge zu finden. Ohne weiteres Zögern stieg er die Treppe zu einer oberen Kammer des Hauses hinauf. Hilde wartete, bis sein Schritt verhallt war, dann zog sie den Riegel an der schon für den Abend geschlossenen Thür zurück.

Draußen stand Georg. Seine Augen drangen vorwärts in den dunkelnden Flur und leuchteten hell auf, als sie auf das seitwärts stehende Mädchen trafen. Sein ganzes Wesen athmete verhaltene Leidenschaft und mit einem Laut, der halb ein Stöhnen, halb ein Jauchzen war, wollte er auf sie zu stürzen, als er sich, seinem Auge kaum trauend, gleich darauf im Wohngemach mit der Geliebten ganz allein fand.

Aber Hilde hob sanft die Hand auf. Georg, der sie nicht verstand, ließ noch einmal die heißen Augen durch die schon dämmernde große Stube schweifen, in der er, nach der abwehrenden Geberde Hildens, den alten Weber noch irgendwo vermuthete. „Nein, Georg, wir sind allein und werden ungestört bleiben,“ sagte darauf Hilde mit der tieftraurigen Ruhe, die jetzt, in Georg’s Gegenwart und gerade beim Gewahrwerden seiner leidenschaftlichen Gluth, über sie gekommen war. „Wir sind allein – wollt Ihr mich anhören?“

„Alles will ich, alles, Liebchen,“ sagte Georg zärtlich, fast flüsternd. „Aber zuerst gönne mir einen Gruß – guter Gott, warum weichst Du zurück? die Sehnsucht nach Dir hat mich fast von Sinnen gebracht … und Du bist krank gewesen! ...“

„Ja, Georg, auch davon will ich Euch erzählen.“

Georg, von einer Ahnung von Unheil erfaßt, suchte in den lieben Zügen zu lesen und das seltsame, schattenhafte Lächeln zu enträthseln, mit dem sie gesprochen hatte. Er setzte sich auf ihren Wink … war es denn möglich, er setzte sich und hatte die liebe Gestalt noch nicht berührt, nach der ihn eine hungrige Sehnsucht Tag und Nacht fast verzehrt hatte! Aber Hilde hatte eine eigne Macht über ihn; schon ihre bloße Nähe beglückte ihn, schon die Luft, in der sie athmete, linderte und löste das brennende schmerzliche Verlangen.

Er hing an ihren Lippen, während sie, die einige Schritte weit entfernt vor ihm saß, nach Worten zu suchen schien. „Ich habe Euch zu sagen, was ein Mädchen beschämen muß,“ hob Hilde endlich mit gesenktem Blick und leiser Stimme an. „Seht, ich bin stille vor mich hin in unsern Bräuchen aufgewachsen … deren, die sonst in der Welt gelten, war ich ganz unkundig. Daher hattet Ihr es leicht, mich zu täuschen …“ jetzt hob sie die Augen, während er die seinen zum ersten Male in flüchtiger Verwirrung abwendete. „Eures Gleichen lacht wohl im Herzen über eine solche thörichte Dirne aber noch niemals war mir Aehnliches mit einem Manne begegnet … mich hatte noch keiner angerührt, Georg … und als Ihr neulich von mir ginget, da glaubte die Thörin, sie sei Euere Braut …“

Georg war aufgesprungen, glühend roth. Er brach in ein kurzes, halb verlegenes halb ärgerliches Lachen aus, dann aber war er dicht neben ihr und wollte sie umfassen. Sie aber entzog sich ihm, mit einem heiligen Ernste, ja mit einer Art Entsetzen in den großen Augen … „Und als der Vater nach Hause kam am nämlichen Abend noch, an dem ich so glücklich gewesen war, da erfuhr ich, Ihr seiet einer Andern versprochen. Ich meinte daran zu sterben, Georg –“ Georg stöhnte und hatte die Hand über die Augen gelegt – „denn bei uns ist es nicht Sitte, daß man eine Andere zum Liebchen begehrt, als diejenige, welche die Ehefrau werden soll. Das wollte ich Euch sagen …“

Sie stockte. Jetzt fuhr Georg mit einem plötzlichen Entsetzen auf. „Und nun verstößest Du mich, Hilde?“

Das Mädchen sah ihn an, ohne ihn zu verstehen. „Ich Euch? ich Euch …“

„Ja, Hilde, Du mich. Denn ich liebe Dich, Dich, Mädchen, hörst Du?“ –

Hilde sah ihn an, blickte lange in das schöne, aber von innerer Qual entstellte junge Gesicht, und nun glitt es wie ein Erbarmen über ihre Züge, und ein weiches, sehnsüchtiges Licht ging in den stillen Augen auf. Georg breitete zärtlich die Arme aus, aber wieder wich sie zurück, und er griff in die leere Luft, wie Einer, der einen Schatten zu umfassen strebt. Da fuhr er wild in die Höhe. „So sollt’ ich Dich nie mehr berühren, nicht ein einziges Mal mehr küssen dürfen? Aber ich will, Mädchen … und ich muß! sieh zu, ob Du mir es wehren kannst!“

„Ihr wollt – Ihr müßt?!“ Jetzt gellte auch Hildens Stimme laut durch das Gemach und zugleich ging von oben ein Geräusch durch das Haus. Georg achtete nicht darauf, seine [252] heißen Blicke verschlangen das Mädchen, in dem mit einem Male die Natur des kriegerischen Ahns erwacht schien.

Sie hatte sich wild umgewendet und blitzschnell etwas vom Tische gerafft. „Ihr wollt eine Wehrlose zur Schande zwingen? Pfui über Euch! Hütet Euch, daß nicht Eure Sünde dem Bösen Macht gebe über uns beide. Seht –“ sie hob halb die Rechte mit dem fest umklammerten Messer, welches sie ergriffen hatte – „ich glaube, ich würde Euch tödten, Euch und mir zum ewigen Verderben.“

In dem verzweifelnden Blicke Georg’s lag nichts von Todesfurcht. Es war die bittere Qual der über ihn kommenden Gewißheit, daß die Geliebte sich von ihm scheide, die in seinen Zügen wühlte. Als ihn das Mädchen so sah, schmolz ihre Härte ... mit einem leisen Wehruf warf sie das Messer von sich und schlug beide Hände vor das Antlitz. Da tönte, von einer leisen Stimme genannt, die sie nicht zu kennen schien, ihr Name an ihr Ohr. Georg war vor ihr auf ein Knie gesunken; er streckte die Hände gegen sie aus, aber ohne sie zu berühren. „Fürchte nichts, Hilde, ich schwöre Dir, daß ich Dich nicht gegen Deinen Willen anrühren werde. Aber habe Du Erbarmen ... einen Kuß gönne mir, einen einzigen, letzten ...“

„Seht, ich glaube, ich würde Euch tödten, Euch und mir zum ewigen Verderben.“

Hilde beugte sich über ihn; sie legte die Hände auf seine Schultern; einzelne schwere heiße Tropfen rannen über ihre Wangen und unendliche Sehnsucht bebte in den erschütternden Lauten, mit denen sie sprach: „Ja, Du magst es wissen, daß mir das Herz fast bricht, Du Süßer, immer noch Geliebter ... Wie gerne küßte ich Dich, zur Schmach mir – zu der Du heimlich kommst, die Du zu gering zur ehelichen Liebsten hältst. Aber wie darf ich einen Raub an Deiner verlobten Braut begehen!“

Georg stampfte mit dem Fuße. „Sie ist es noch nicht, Hilde,“ stieß er hervor. Eine plötzliche Gluth der Freude loderte in Hilden auf. Aber nur auf einen Augenblick, dann erstarb die Flamme wieder. „Nicht Deine angelobte Braut?“ fragte sie.

„Noch nicht.“

Der Ton seiner Stimme sagte ihr alles. „Die Stadt spricht davon. Euere Eltern sind lange schon einig. Sie sieht in Dir den künftigen Gatten, und Du bist ihr Liebe und Treue schuldig, wir müssen scheiden,“ sagte sie leise, mehr wie zu sich selber als zu ihm.

Fast schüchtern hatte sich Georg nun ihrer Hand bemächtigt, und nahe an ihrem Ohr flüsterte er leidenschaftlich: „Wir müssen scheiden, Du sagst es. Aber laß mich hoffen. nicht für immer, Hilde ... bei Gott, ich kann es nicht ... komm, Hilde, komm – laß uns Alles vergessen, nur das Eine nicht: daß wir uns lieben!“

Hilde hatte kein Wort weiter. Wie nach Erlösung aus dieser Qual dürstend, hilfesuchend, richtete sie das Antlitz empor, während Georg heiße Küsse auf ihre Hände drückte. Da endlich kam ihr Beistand. Die Thür wurde leise aufgeklinkt und ihr Vater trat ein.

[265] Du hättest mich früher rufen sollen, mein Kind,“ sagte der Weber mit ernster Stimme, deren Sanftmuth nichts Erkünsteltes, Erzwungenes hatte, sondern aus der Tiefe eines geläuterten Herzens kam. „Geh jetzt in Deine Kammer.“

Hilde ging still hinaus. Georg stand vor dem alten Manne mit fliegenden Pulsen und den Augen eines Fieberkranken. Wollte der Alte jetzt etwa predigen, ihn herunterkanzeln? Georg hatte so viel Geduld ihn anzuhören, wie der schwerverletzte Mann etwa, dessen Körper nur eine schmerzliche Wunde wäre, gegen eine rauhe Berührung empfinden würde.

Aber als Meister Lukas jetzt sprach, war seine Stimme noch immer ruhig ... traurig eher, als etwas Anderes. Und sogar noch einen gewissen gehaltenen Respekt vor dem auf der Stufenleiter irdischen Ranges von Gott höher Geordneten konnte man heraus hören.

„Euch, Herr,“ sagte er, „kann ich fürder diese Schwelle nicht mehr frei geben. Um Eures braven Vaters willen sage ich nicht mehr als nur dies: Geht, hebt Euch fort aus dem Hause des ärmeren Mannes, der Euch mit einfältigem Herzen aufgenommen hat, und dem Ihr als Gastgeschenk Kummer und Gram gebracht habt. Den Frieden meines Hauses habt Ihr versehrt. Geht, zum letzten Male hat diese Thür Euch eingelassen!“

Einem schonungslosen Angreifer gegenüber wäre Georg’s bitterer Schmerz wahrscheinlich in Grimm umgeschlagen. Aber für diese Weise des alten Mannes hatte er keine Waffen. Ein jedes Wort desselben traf, und traf schwer. Als Meister Lukas, die eingefallene Brust dehnend und gerader aufgerichtet als er pflegte, jetzt die Hand nach der Thür ausstreckte, da ging Georg völlig stumm, wie Hilde eben gegangen war. Er war schon minutenlang im Freien und stand in seiner dumpfen Gleichgültigkeit ungewiß, wohin er sich wenden sollte ... da erst wurde von drinnen langsam der Riegel vorgeschoben.

„Hilde! Hier ist Dein Platz!“ (S. 268.)

Und langsam wendete sich Georg, anstatt nach rechts, der Stadt zu, zur Linken, die Landstraße entlang und dann in die offene abendliche öde Gegend hinaus. Er wußte kaum, wo er ging. Das also wäre das Ende gewesen! Mit leichtem, frevlem Muthe begonnen, hatte das Abenteuer sich seiner völlig bemächtigt, ihn auf die Stelle hingedrängt, auf der er heute gestanden hatte, beschämt, ja erniedrigt vor jenem Manne. Und von der Stätte, an der er die Befriedigung einer flüchtigen Laune gesucht, da brachte er einen gebrochenen Muth und ein zerrissenes Herz mit. – –

„Warte nur, Rosinchen“ sagte Frau Külwetter zu ihrer Tochter, als sich das Mädchen in diesen Tagen schmollend über Georg’s finsteres Wesen beklagt hatte, „warte nur noch ein drei, vier Wochen, länger kann es ja bis zu dem fürstlichen Einzuge nicht mehr dauern. Und dann, wann in der Stadt wieder alles im Geleise ist und die Leute wieder richtig bei Sinnen – denn mehr als einer kommt Einem jetzt wie aus dem Häuschen vor, der Georg ist’s nicht allein – dann ruhe ich auch nicht länger, dann müssen wir mit Bürgermeisters ins Reine kommen. Es ist mir schon wegen der Kapaune, die sind bis dahin über und über fett und dürfen nicht älter werden – ein paar Schock Eier habe ich jetzt gerade billig kaufen können für die Kuchen, ich mag sie nicht erst einlegen ... und unser schönes Weizenmehl! wenn uns das auch nicht gerade wohlfeil kommt – Dein Vater hat den Sack voll von dem verschuldeten Bruchmüller an Zahlungsstatt angenommen für ein paar Ellen seines blaues Tuch – so haben wir doch nie ein feineres, weißeres Mehl im Hause gehabt – es ist wie geschaffen für die Hochzeitskuchen. Also ich sorge Dir dafür, daß wir bald Verspruch halten! Man merkt es ja an seinem Gesichterschneiden: den Georg ärgert das lange Hinziehen auch.“

Rosine verrieth weder durch Miene noch durch Worte, daß sie Anlaß hatte, was den Grund von Georg’s übeler Stimmung betraf, anderer Ansicht als ihre Mutter zu sein. Sie würgte den Eltern gegenüber ihren bittern Aerger schweigend hinunter, denn Rosine war, wie wir wissen, keine offene, freier Ergießung bedürftige Natur. Nur bei dem Dienstmädchen Gertrud ließ sie sich gehen, und Trudchen, um sich für diesen Beweis von Vertraulichkeit erkenntlich zu zeigen, trug ihr allerhand zu und hatte [266] auch den letzten Besuch Georg’s in dem Weberhause alsbald herausgeschnüffelt und haarklein darüber Wahres und Falsches berichtet.

Seitdem sann Rosine den ganzen Tag und mit Beeinträchtigung ihres sonst sehr gesunden Schlafes auch sogar einen Theil der Nacht hindurch darüber nach, wie sie sich an der Weberdirne rächen und zugleich auch dem Georg eins versetzen könne, gewissermaßen auf Abschlag, denn die volle Heimzahlung der erfahrenen Kränkung mußte für den Ehestand aufgespart bleiben, und Rosine konnte vor sich hin sitzen, das volle, weiche Gesicht in beide Hände gestützt, und ein wahres Vergnügen bei dem letztern Gedanken empfinden.

Aber auch für jetzt hatte sie endlich einen gar nicht übeln Plan ausgeklügelt. Sie mußte und sollte von den Handtüchern mit den gestickten Borden haben, wie sie die Frauen und Mädchen bei den fremden Weberleuten so geschickt auszuführen verstanden. Das war eine ganz gediegene Vermehrung der Aussteuer, und deßhalb zeigte sich auch die sonst so sparsame Frau Külwetter dem Ankauf nicht abgeneigt. Denn der Leinenschatz eines Mädchens war ja ein sicheres Kapital, und das Geld, welches man hineinsteckte, wohl angelegt.

Ehe sich aber eine Bürgersfrau von damals dazu verstand, einen Gang zu thun, wie der hinaus in die Weberniederlassung, jenseit des Stadtthores, aus dem man in seinem Leben kaum ein Dutzendmal heraus kam, da mußten schon am frühen Morgen die bessern Kleider und zur Fürsorge auch das Regentuch aus den lavendelduftenden Truhen genommen und bereit gelegt und das Haus auf einen ganzen Nachmittag bestellt werden. Die schlaue Rosine ließ die Mutter erst Tage lang bei dem Gedanken an ein solches Unternehmen seufzen, dann hatte sie mit einem Male die allerbequemste Auskunft bereit. Die Gertrud hatte es einer Nachbarin und diese wiederum einer andern gesagt, welche ihr Weg doch hinaus vors Thor führte, und, kurz und gut, die Mutter konnte ruhig zu Hause bleiben, eine der fremden Dirnen war bestellt und würde die Muster der schönsten Borden, darunter man dann eine Auswahl treffen konnte, zu Külwetters ins Haus bringen.

Daß sie, Rosine, die Gertrud in eigner Person mit einer ausdrücklichen Bestellung zur Tochter des Meister Lukas geschickt hatte, brauchte Frau Külwetter nicht zu wissen, und es glückte, ihr zur rechten Zeit etwas vorzumachen. Und da Rosine nun wußte, auf wann die Weberstochter zu kommen zugesagt hatte, so war es ganz einfach, in der weitern Verfolgung ihrer Absicht der Mutter einen andern Tag als den bezeichneten zu sagen und mit ein paar weitern kleinen Kunstgriffen sich das Feld für den Anfang wenigstens frei zu halten.

Das Schwierigste war, den Anlaß für die Anwesenheit Georg’s in ihrem Hause zu finden und sich diese zu sichern. Rosine aber war gesonnen, nichts unversucht zu lassen. Von ihrem Erkerfenster aus konnte sie sehen, wer bei Bürgermeisters aus- und einging. Die Spätnachmittagsstunde, in der Hilde zu kommen zugesagt hatte, nahte heran. Rosine saß mit klopfendem Herzen am Fenster und bewachte drüben die Hausthür. Georg war zu Hause, das wußte sie. Blieb er im Hause, so konnte sie zur rechten Zeit die Gertrud hinschicken und ihn herüber bitten lassen, damit er ihr zu dem Kaufe seinen Rath gebe. Da aber – ihre Augen begannen zu funkeln – da trat er aus der Thür, das Barett auf dem Kopfe, zu einem Ausgange bereit. Rosine sprang in die Höhe, nicht willens, den besten Theil ihres Planes zu opfern. Gertrud sollte hinunter, ihn aufhalten … der Vorwaud würde sich schon finden. Georg aber schritt langsam über den Marktplatz, das Glück war Rosinen günstig, er kam auf ihr Haus zu … Er kam, sie zu besuchen, gerade jetzt, von selber! Im Gefühl ihres Triumphs lachte das Mädchen laut auf, dann aber hob sie sich auf die Zehen, hinter dem Vorhang stehend, etwas ängstlich noch immer … wenn er nur nicht im letzten Augenblick andern Sinnes wurde!

Nein, die Hausthür ging, sein Schritt kam durch den Flur, und nun glitt Rosinchen geschwind durch die Stube, setzte sich auf den Stuhl vor ihr Spinnrad, dann aber, einem zweiten Gedanken folgend, trug sie das Rädchen vor die hölzerne Bank mit der Lehne, auf welcher zwei Personen Platz hatten. Und nun schnurrte das Rad auch schon, und Jungfer Rosine machte ein Gesicht, als ob sie den ganzen Tag dagesessen und gesponnen hätte.

Georg trat ein. Rosine hätte sein Klopfen überhört, so vertieft war sie. Erst als er vor ihr stand, bemerkte sie ihn, und wie sie nun lächelnd zu ihm in die Höhe blickte, während sie zugleich den runden Arm ausstreckte und, ein wenig vorn über gebeugt, in das Rad griff, um es aufzuhalten, sah sie wirklich ganz allerliebst aus.

„Laßt Euch nicht stören, Bäschen, das Radschnurren ist gar keine üble Musik,“ sagte Georg, indem er sich mit einem halben Seufzer der Ermüdung neben sie auf die Bank nieder ließ. Er hatte also keine Lust zum Reden, was eigentlich kein Kompliment für Rosinen war. Sie ließ sich aber, klug wie sie in diesen Dingen war, seine schweigsame Laune gefallen und that nach seinem Begehr. So neben ihr und etwas weiter zurück sitzend, konnte er aus nächster Nähe den rosigen Nacken, das kleine Ohr und einen Theil der runden Wange betrachten, was alles schon an sich eine zärtliche Sprache redete, ohne daß Rosine die Lippen zu öffnen brauchte. Es dauerte auch nicht lange, so stähl sich sein Arm um sie herum, und wenn er auch auf der Lehne der Bank ruhen blieb, so konnte er sie doch jeden Augenblick umschließen, und sie brauchte sich nur ein wenig zurückzulehnen, um der Stütze dieses Armes zu genießen.

So sah denn das Pärchen für einen etwa Eintretenden einig genug aus. Georg, in seine trüben Gedanken verloren, empfand Rosincns ruhige Nähe wohlthätig und blickte, als jetzt die Thür ging, etwas unwirsch über die Störung in die Höhe. Ganz anders Rosine, deren Herz stärker gegen das straffe Mieder klopfte. Sie hatte, während sie emsig spann, ebenso auf jedes Geräusch im Hause gelauscht, und das Oeffnen und Schließen der Hausthür, die Schritte draußen und dann eine fremde, ziemlich tiefe Stimme waren ihr nicht entgangen, indeß Georg aus dem Allen nicht das mindeste Arg hatte.

Trudchen, die Magd, war von draußen in die Thür getreten. Ueber dem Schnurren des Rades verstand Georg nicht, was sie ihrer Jungfer sagte. Rosine aber entgegnete über die Schulter zurück mit scharfer Stimme: „Sie kommt spät genug … sie mag warten. Laß sie sich in die Küche setzen, bis ich komme.“

Die Magd hatte sich wieder entfernt, Rosine spann weiter, und Georg hatte den kleinen Zwischenfall, den er kaum beachtet hatte, vergessen. Er ahnte nicht, daß das Mädchen neben ihm klopfenden Herzens ihre Zeit abmaß und schon jetzt ihrer Rache Genüge that an eben Derjenigen, bei deren reinem Bilde seine sehnsüchtigen Gedanken weilten. Ja, er dachte an Hilden, wie er Täg und Nacht that, so auch jetzt, in Gegenwart Rosinens und unter der Einwirkung ihres oberflächlichen Reizes.

Und Jungfer Külwetter war keineswegs ohne eine Ahnung dieser heimlichen Abtrünnigkeit, mit der sie sein träumerisches Schweigen in eine ganz richtige Verbindung brachte. Dasselbe ärgerte sie auch je länger je mehr, aber sie behielt sich in der Gewalt. Endlich fuhr sie herum, ließ das Rad stocken und lachte ihn an. „Wie redselig Ihr seid, Herr Vetter!“

„Ich?“ Georg war etwas beschämt … „Ihr habt Recht, mein hübsches Bäschen, ich bin ein allzu schlechter Gesellschafter; Ihr verdient einen besseren. Halte ich Euch etwa von einem häuslichen Geschäfte ab? Ist mir nicht, als hättet Ihr vorhin sollen abgerufen werden?“

„Ja, draußen ist Jemand, der feil hält,“ sagte Rosine mit angenommener Gleichgültigkeit. „Da Euch das Radschnurren behagte, wollte ich nicht abbrechen. Aber Ihr wißt es Einem auch gar so schlechten Dank!“

Das runde Kinn senkte sich auf den Busen, das gute Kind schmollte. Georg fühlte seinen Unwerth ihrer mehr als verwandtschaftlichen Güte. „Rosinchen –“ er hatte sich über sie geneigt und sprach leise, mit zärtlichem Vorwurf. In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür hinter den Beiden. Rosine, aufhorchend, veränderte ihre Stellung nicht, nur daß sie vielleicht ein klein, ganz klein wenig dichter an Georg herangerückt war. Sekunden lang blieb alles still; die Person, welche hatte eintreten wollen, schien beim Anblick des allem Anschein nach ganz vertieften Paares stutzig geworden zu sein. Dann ließ sich die laute Stimme Gertrud’s vernehmen. Die Dirne hatte die Verabredung geschickt befolgt. Jetzt rief sie von draußen, hinter der Fremden stehend: „Nur herein, Jungfer … Ihr dürft immer eintreten. Nicht wahr, Rosinchen? oder hab’ ich Euch falsch verstanden?“

Rosine war aufgefahren; wie verwirrt, tief aufathmend strich sie das Haar aus dem glühend rothen Gesicht. Georg wußte [267] selber kaum, wie es gekommen, daß er mit einem Male ihre Hand hielt. Beinahe hätte er dieselbe losgelassen, als Rosine jetzt in einem leichten, dreisten Tone sagte: „Ihr hattet es wohl eilig, daß Ihr nicht draußen warten konntet!“ – aber jene runde feste Hand schmiegte sich so warm in die seine; er hielt sie noch immer, als er sich jetzt langsam umwendete, um zu sehen, zu wem Rosine gesprochen habe.

Da stand er aber auch schon aufrecht, und die Hand der Jungfer Külwetter wurde so plötzlich fallen gelassen, als wäre sie ein Stück glühendes Eisen geworden. Er sah nichts, in dem ganzen weiten Gemache nichts, als zwei Augen, ein Paar graue tiefe Augen, die sich jetzt ohne Vorwurf, in schmerzlicher Ergebung vielmehr, Sekunden lang auf sein Antlitz richteten. Und seltsam, dieses traurige Entsagen in dem Blicke Hildens – denn Hilde war es, die dort an der Thür stand – fachte in dem jungen Menschen etwas wie eine plötzliche Wuth an. Hildens Augen sagten ihm so deutlich, wie es Worte nur gekonnt hätten: fürchte nichts, ich will dich deiner Braut nicht streitig machen – und nun loderte ein wilder Grimm in ihm auf, gegen sie, gegen sich selber, vor allem aber gegen Rosinen! Er hätte des Mädchens verlockende Gestalt zermalmen können, für dies abgekartete Spiel, wie er es plötzlich zu durchschauen meinte. Da sprach Hilde, und sofort wirkte der Zauber ihrer Stimme auf ihn, sodaß er wenigstens äußerlich ruhig blieb, anscheinend ein gleichgültiger Zuschauer der Weiberverhandlungen, die sich nun anspinnen sollten.

„Ihr habt mich rufen lassen und unsere Wirkereien zu sehen begehrt,“ sagte Hilde. „Ich habe Euch die schönsten Muster ausgesucht und hoffe, Ihr werdet etwas finden, was Euch gefällt … Erlaubt Ihr, daß ich sie hier aus einander lege?“

Hilde hatte ein kleines Bündel getragen und trat nun an den Tisch, die hohe Gestalt mit ihrem ruhigen Anstande, dessen Wirkung durch eine beinahe nonnenhaft einfache, sie aber wohl kleidende Tracht erhöht wurde. Rosine kniff die Lippen zusammen. Jene hatte ihre unartige Frage von vorhin, warum sie nicht in der Küche gewartet, gar nicht beachtet, vielleicht nicht einmal gehört, gewiß weil sie ganz hingenommen von der Anwesenheit des Bürgermeistersohnes gewesen war! Rosinens Fassung begann sie zu verlassen; ihre Augen, die sich auf die Fremde richteten in dreistem Anstarren, wurden grünlich – sie sah Hilden zum ersten Male in der Nähe und in dem Maße, als sie sich zugeben mußte, daß das Mädchen, ohne jeden Anspruch auf das landläufige Weiß und Roth achtzehnjähriger Jugend, etwas Besonderes, Ergreifendes in ihrer Erscheinung habe, kochten Gift und Galle höher in ihr. Kaum daß sie sich noch Mühe gab, ihre feindselige Absicht gegen den ahnungslosem Ankömmling zu verbergen.

„Ja, kramt immerhin aus – ich habe mich zwar derweil anders besonnen und werde Euch wohl nichts zu verdienen geben, aber man kann sich ja die Raritäten einmal ansehen!“ sagte sie wegwerfend.

Hilde blickte erstaunt auf; noch wußte sie diesen Ton nicht zu deuten. Auch zu Georg schweifte ihr Auge fragend hinüber, erhielt aber keinen Aufschluß. Georg hatte die Arme übereinandergeschlagen und lehnte gegen ein hohes Spind, dem Tisch gegenüber. Es zuckte um seinen bitter geschlossenen Mund bei den letzten Worten Rosinens, aber er öffnete die Lippen nicht. Still und stetig folgten seine Augen den Händen Hildens und jeder ihrer Bewegungen, als sie jetzt mit einer Geschäftigkeit, die bei dieser stillen Seele etwas Rührendes hatte, die Streifen gestickter Leinenborden, das Werk ihrer fleißigen Hände, sorgfältig neben einander auf dem Tische ausbreitete. Auf dem dunkeln Grunde seiner gebräunten glatten Eichenholzfläche kamen die durchbrochenen Muster sehr wohl zur Geltung, und Hilde, indem sie hier noch einen Streifen glätter ausbreitete, dort einen mehr ins Licht rückte, schien selbst jetzt ihre Freude daran zu haben. Auch waren wirklich manche der Stickereien schon in ihrem Entwurf wahre Kunstwerke.

„Diese breite Borde,“ sagte Hilde nun, „sticken wir um die besten Tafeltücher. Jene schmälere wird für Handtücher genommen; sie ist sehr haltbar in der Wäsche und Ihr werdet sicherlich zufrieden damit sein, wenn Ihr sie bestellt. Dies und das sind Borden, die wir meist für sich, nicht in das Stück hinein arbeiten, weil das Muster ein gar feines und schwieriges ist. Man benutzt sie dann als Einsätze für die feinsten Kissenbezüge, die mehr zur Zierde als zum Gebrauche dienen.“

Ihr ehrliches Auge suchte jetzt Rosinens Gesicht, wie um an ihr weibliches, doch sicher vorhandenes Verständniß für die schönen Arbeiten sich zu wenden. Aber Rosinens Blick, von Leidenschaft verdunkelt, sah kaum, was vor ihr war. Wieder drängte sich ein schnödes Wort auf ihre Lippen, doch nahm sie sich noch einmal zusammen. Georg machte ein so wunderliches Gesicht, daß auf Augenblicke dem Haß und Aerger in ihr sich eine unbestimmte Furcht vor dem, was sie heraufbeschwor, gesellte. Und doch konnte sie nicht innehalten. Sie wendete sich sogar zu ihm und sagte in einem Tone, der leicht und lustig sein sollte, aber schneidend heraus kam: „Das wäre nichts für uns; wie, Georg? die Betten mit Firlefanz aufzuputzen, das mag wo anders als in ehrbaren Bürgerhäusern Brauch sein.“

Georg begnügte sich damit, die Achseln zu zucken. „Immer noch so schweigsam! Wahrhaftig man muß Geduld mit Euch haben, Georg,“ fuhr das Mädchen fort. „Und ich hatte gehofft, Ihr solltet mir beim Kaufe hier guten Rath geben. Gerne schaffen die Mutter und ich an, was Euch gefällt –“ ein lauernder Blick Rosinens streifte ihn bei der dreisten Anspielung, und sie sah seine Stirn sich röthen, doch ungewarnt fügte sie hinzu: „Nun, vielleicht seid Ihr ein anderes Mal besserer Laune, und die Jungfer mag wieder kommen …“

„Ich muß Euch bitten, mich aus dem Spiele zu lassen,“ fiel hier Georg ein. „Kauft oder kauft nicht – folgt ganz Eurem Gusto, Jungfer Bäschen! ich hätte diese Gelegenheit, denselben kennen zu lernen, nicht missen mögen.“

Mißtrauisch sah ihn Rosine an. Da war es ja – was bedeuteten die abweisenden Worte anders, als daß er gemeinsame Sache mit der Dirne machte! Ihre Augen funkelten grünlich und es bebte unheimlich in der Stimme, mit der sie jetzt, zu Hilden gewendet, sagte: „Nun, wenn ich auch nichts gebrauchen kann – den Weg werd’ ich Euch ja wohl bezahlen müssen, man kann nicht verlangen, daß Eures Gleichen etwas umsonst thue. Was kostet die Elle von dem Krame hier?“

„Verzeiht“, sagte Hilde, sich zusammennehmend. „Diese Borden werden nicht nach der Elle vermessen; wir sticken sie in das fertig gewebte Stück ein, Handtuch oder Tafeltuch, je nachdem, und der Preis richtet sich nach dem Muster. Nur diese könnt Ihr, wie ich schon sagte, einzeln kaufen … es ist die feinste, mühsamste Stickerei von allen, und der Besatz um einen Kissenüberzug würde Euch wohl auf einen Gulden und mehr kommen. Es arbeitet Eines Wochen lang daran,“ fügte sie, wie zur Entschuldigung des Preises, hinzu.

„Haha“ – es war ein wildes Auflachen Rosinens. „Man müßte ja von Sinnen sein, wenn man so viel für den Plunder bezahlen wollte! Bei Gott, Ihr versteht zu fordern – aber was thut es denn, wenn man Abnehmer findet!“ Und fast schreiend stieß sie hervor: „Lässest Du Dir alle Deine Künste so gut bezahlen, freche Buhldirne Du?“

Ein dumpfer Ausruf tönte durch das Gemach, aber nicht Hilde hatte ihn ausgcstoßen, denn sie stand einen Augenblick wie versteinert. Und dann hätte man den Blick wegwenden mögen, um die bittere, qualvolle Scham der jungfräulichen Seele, ihr Zucken unter dem Stich der frechen Zunge nicht zu belauschen, nicht noch schmerzlicher zu machen.

„Unverdient gebt Ihr mir den schnöden Namen!“ stieß sie endlich mit bebenden Lauten hervor. „Gott richte zwischen mir und Euch – nur Gutes, ja mein Allerbestes hatte ich Euch gegönnt bis heute … aber ich kannte Euch nicht – Ihr seid böse von Grund aus!“

Und nun wendete sie sich von der Jungfer Külwetter ab und ihre Augen trafen auf Georg. Der stand da, jeder Nerv gespannt, in athemloser Erregung wie Einer, der im nächsten Augenblick in einem erbitterten Kampfe seinen Antheil nehmen wird; während aber tiefe Verachtung der einen der Gegnerinnen um seinen Mund zuckte, hingen die Augen leuchtend am Antlitze der andern, an Hildens Antlitz, in einer Art von Begeisterung.

Die arme Hilde aber sah davon nichts vor Thränen, die ihr plötzlich den Blick verdunkelten. „Und Schande über Euch, Georg Tiedemars!“ rief sie, nun erst leidenschaftlich, „der Ihr ruhig dabei steht und laßt mir so bittre Schmach anthun! Ihr – Ihr, der von allen Menschen am besten weiß, daß ich sie nicht verdiene. Aber paart Euch, paart Euch nur, Feigheit und Lüge! es ist wahrlich eines des andern werth!“

[268] „Hilde!“ – wie befreiend drang der Ruf, eine Beschwörung und zugleich ein Jauchzen entfesselter Zärtlichkeit, durch die Schwüle der letzten Minuten. Georg war auf das Mädchen zugestürzt und riß sie an sich, nicht achtend der Geberde der Abwehr, mit der sie ihm die Hand entgegengestreckt hatte. „Hier ist Dein Platz!“ rief er, sie dicht an seinem Herzen haltend, und seltsam bebte etwas in seiner Stimme wie ein wilder Triumph, nicht über ihr zitterndes Fortstreben, nein, über den Widerstand, den sein eigener Stolz bisher dieser Liebe geleistet hätte, Triumph über sich selber. Dann aber ging es wie ein unendliches, zärtliches Mitleid über das männliche Antlitz, als er ihr armes Herz an dem seinen noch immer beben und überlaut klopfen fühlte, ein Nachzittern der Pein, die sie eben um seinetwillen gelitten hatte, und er flüsterte ihr kosend beruhigende Worte zu, unbekümmert um die Gegenwart Derjenigen, die ihn freilich bisher mit keinem Laute unterbrochen hatte.

Rosine hatte wortlos dagestanden, weil ihr Ueberraschung und Wuth buchstäblich die Kehle zuschnürten. Endlich fand sie mit einem dumpfen Laut, einem heisern Lachen ähnlich, die Stimme wieder und nun trat sie ein paar Schritte auf die Beiden zu, weiß bis in die Lippen, mit sprühenden Augen und zuckenden Händen, und eine vor Leidenschaft unkenntliche Stimme zischte mehr als sie sprach: „Was soll die Komödie, Georg, hier in meines Vaters Haus? Wie weit denkt Ihr’s zu treiben … wer und was ist die Dirne?“

Wie zur Antwort für sie preßte Georg die Geliebte fester an sich, diesmal aber machte sie sich los, sodaß sie ihm in die Augen sehen konnte, und leise drang an sein Ohr ihre schmerzliche Frage: „Sie hat Recht; Georg – was bin ich Euch?“

Sekunden lang ruhte des Jünglings leuchtender Blick in dem ihren, ehe er hochaufgerichtet und mit klingender Stimme sprach:

„Die Jungfer dort will wissen, wer Ihr seid, Hilde … vom heutigen Tage an meine Braut, der all meine Liebe und Treue gehört, und bald mein Weib, so wahr mir Gott helfe! Aber nun fort aus diesem Hause … fort aus jener bösen Nähe!“ … Er faßte ihre Hand, legte auch noch den Arm wie zum Schutze um sie, die ganz stille blieb, und so schritten die beiden hohen Gestalten nach der Thür.

Aber nicht so, mit einem ganz anderen Nachklang noch sollte die Scene enden. Sie hatten das Zimmer noch nicht verlassen, als Rosine hinter ihnen in ein gellendes, halb wahnsinniges Gelächter ausbrach. Es war kaum noch ein Lachen, eher ein wildes Schreien, mit dem sie sich plötzlich, raubthierähnlich, auf den Tisch losstürzte.

Und nun folgte ein Reißen, ein Krachen, welches fast an die Mahlzeit eines solchen wilden Geschöpfes erinnerte. Doch waren nur Rosinens Hände geschäftig, die runden, kindischen Hände, denen die Wuth jetzt eine unnatürliche Kraft verlieh. Das riß und krachte, da flogen Stück um Stück jener Stickereien, das Werk zahlloser mühsamer Wochen, in Fetzen umher, und was größeren Widerstand leistete – und das feste Leinen und die dichte Stickerei setzten oft eine unerhörte Anstrengung voraus – das wurde um so wüthender zerfetzt, um so gründlicher vernichtet. Und dann packte sie mit beiden Händen in den Haufen von Lappen und hängenden Fäden, den wenige Augenblicke geschaffen hatten, hob die Arme hoch empor und schickte unter gellendem Hohngelächter und Rufen: „Da – da habt Ihr den Plunder – etwas zur Mitgift für die Betteldirne!“ einen Regen von Fetzen hinter den Beiden her, die der Abscheu über ihr rasendes Gebahren noch auf einen Augenblick an die Stätte gebannt hatte und hinter denen nun die Thür ins Schloß fiel. –

[281] Es war am Nachmittage des folgenden Tages, als in der Arbeitsstube des Bürgermeisters dieser und der alte Külwetter zusammen saßen. Sie hatten Geschäfte verhandelt, denn Herr Peter Külwetter hatte eine Lieferung leichten scharlachenen Tuches zum Ausschlagen der Gerüste für die Stadtmusici neben der Ehrenpforte in der Schloßgasse. Die Sache ging eigentlich das Oberhaupt der Bürgerschaft nichts an, sondern gehörte in den amtlichen Bereich des Stadtkämmerers. Aber Herr Külwetter nahm durchaus keinen Anstand, auf die Verwandtschaft pochend, seinen Herrn Vetter, den Bürgermeister selber, mit allen Einzelheiten des Geschäftes zu behelligen, weil er natürlich für den ausbedungenen Preis sich nicht wehe thun, sondern möglichst leichte Waare liefern wollte.

Das Geschäft war beendet; Doktor Tiedemars hatte mit seinem feinen Lächeln dem Gevatter noch zu guter Letzt anempfohlen, daß das Tuch aber wenigstens von Mittag bis Abend halten müsse, und Peter Külwetter den bürgermeisterlichen Witz gebührend belacht. Er war aufgestanden und am Hinausgehen, da wendete er sich noch einmal um und sagte, auch mit seinem trockenen, meckernden Lachen:

„Was ich noch sagen wollte – es hat da zwischen dem Georg und der Rosine, dem Gänselchen und dem Gänser, gestern einen kleinen Spahn gesetzt. Weßhalb? Je nun, Euer Leichtfuß scheint am unrechten Orte seine Weide gesucht zu haben, und die Rosine ist dahinter gekommen. Pah, nicht der Rede werth – unsereins ist ja auch kein Mönch gewesen, nicht wahr? Nun, mein Mädchen ist auch vernünftig und will ihm nichts nachtragen. Aber wär’s nicht doch gut, wir machten nun bald die Sache fest? Gleich nach dem Einzug, nicht wahr? Dann hört das Herumvigiliren des Burschen, was Euch ja auch nur Euer gutes Geld kostet, von selber auf.“

„Nun, bei Gott! Einen schlimmeren Streich hätte uns Dein vermessener Leichtsinn nicht spielen können.“ (S. 282.)


„Ich werde heute noch mit dem Georg reden,“ sagte Doktor Tiedemars gehalten; die Nachricht über seinen Sohn schien ihm nicht sonderlich gefallen zu haben. „Und dann – laßt mir nur Zeit bis nach dem Einzug, Gevatter, dann mögen Verspruch und Hochzeit so nahe, wie es nur statthaft ist, auf einander folgen. Die Weiber sind ja ohnedies mit Allem längst bereit.“

Herr Peter empfahl sich und rieb sich draußen zufrieden die Hände. „Wo steckt denn der Georg, Frau Gevatterin? Daß man den doch einmal zu sehen kriegte, wenn man hier ins Haus kommt!“ rief er, als er an der Küche vorüberkam, der drinnen wirthschaftenden Bürgermeisterin zu. Der sitze heute den ganzen Tag in seiner Stube über den Büchern, rief ihm die Frau hinaus.

„Ueber den Büchern? den ganzen Tag? so?“ meckerte der Alte vor sich hin. „Nun, ich lasse ihm meine Empfehlung machen, dem jungen Herrn!“ damit trollte er sich nickend und die Hände reibend hinaus.

Der Bürgermeister hatte sich nach dem Weggange des Gevatters wieder an die Amtsgeschäfte begeben, aber es war eine leichte Wolke auf seiner Stirn geblieben, und als gegen Abend Georg bei ihm eintrat, blickte er dem Sohne mit einer gewissen Zufriedenheit zwar, daß jene Angelegenheit nunmehr zur Erledigung kommen sollte, aber doch etwas ernster als sonst entgegen.

„Habt Ihr Muße mich anzuhören, Vater, in einer Sache, deren Aufschub ich nicht länger auf mich nehmen möchte?“ begann Georg.

Der Alte neigte langsam das große Haupt, und deutete, indem er seinen Sessel etwas vom Schreibtisch fortrückte, auf den noch in der Nähe stehenden Stuhl, auf welchem vorhin Herr Külwetter gesessen hatte ... „Es trifft sich, daß auch ich etwas mit Dir zu besprechen habe ... ich wollte Dich gerade rufen lassen,“ sagte er dabei.

Georg blickte rasch auf, in einiger Betroffenheit über den Ton des Vaters, und suchte dabei in dem klugen Gesicht desselben zu lesen. „Der alte Külwetter war hier, Vater ... hatte er ein besonderes Anliegen an Euch?“

„Ja,“ sagte der Bürgermeister trocken. „Er beklagte sich über Dich und bat mich, den Termin Euerer, das heißt Deiner und Rosinens, Hochzeit zu beschleunigen, was ich ihm auch zugesagt habe.“

Es ging wie eine Flamme über das Gesicht des jungen Mannes, aber er schwieg noch, preßte sogar die Lippen fester auf [282] einander, während er die Arme über der Brust kreuzte. Der Sturm war also im Anzuge, mochte er kommen ... jetzt hieß es, ihm die Stirn bieten.

Der Bürgermeister betrachtete seinen Sohn aufmerksam und begann dann in einem Tone, der viel milder war, als ihn Georg zu hören erwartet hatte:

„Ich gedenke Dir hier keine Lektion, wie einem Schulknaben, zu lesen, Georg. Aber eines will ich Dir nicht verhalten. Gerade weil Du nun drei Jahre hindurch Deine volle Freiheit gehabt hast, hätte ich nimmermehr zu hören erwartet, daß Du Dir hier in Deiner Vaterstadt, in der Du nun bald als einer der ersten Bürger sitzen sollst, noch jetzt einen übeln Leumund machen werdest und dem armen Ding, der Rosine, Grund zur Klage geben!“

Es blieb nicht unbemerkt von dem Doktor, daß bei den Worten, mit denen er Rosinens erwähnte, ein verächtlicher Zug um die Lippen seines Sohnes zuckte.

„Sprich,“ sagte er jetzt, um einen Schatten weniger gelassen, als er es bisher war, „ist es eine Kinderei von dem Mädchen, oder hast Du ihr in der That ein Recht gegeben, eifersüchtig zu sein?“

„Ja, Vater, allerdings: das beste Recht, den besten Grund von der Welt,“ war die Erwiderung des Sohnes, indem er die Augen zu dem Alten erhob und ihn fest ansah.

Der Doktor fuhr nun doch in die Höhe. Die Armlehnen seines Sessels mit beiden Händen haltend beugte er sich vor. „Was steckt hinter dieser wunderlichen Antwort, Georg? Beliebt es zu reden?“ rief er scharf.

Die Bürgermeisterin, die in der Nebenstube das Abendbrot herzutrug, hatte sich schon eine Weile geängstigt, was die Beiden nun wieder hinter verschlossenen Thüren zu stecken hätten. Sie ging öfter an dieser Thür vorbei, als eben nöthig gewesen wäre, und ärgerte sich, daß hinter den dicken Eichenholzpanelen derselben bis jetzt nur ein undeutliches Stimmengemurmel hervordrang. Jetzt aber fuhr sie ordentlich zusammen. Sie hatte einen zornigen Ausruf ihres Mannes gehört und zugleich ein Geräusch, als wenn einer der massiven Stühle drinnen heftig zur Seite geschleudert würde. Das war in dem Augenblicke gewesen, als drinnen über die Lippen Georg’s zum ersten Male der Name der Tochter des Lukas Vanderport gegangen war.

Der Doktor war aufgefahren, wie es dem Manne von erprobter Selbstbeherrschung selten begegnete. „Nun bei Gott!“ rief er, „einen schlimmeren Streich hätte uns Dein vermessener Leichtsinn nicht spielen können. Ich ebne den Leuten hier die Wege, wo und wie ich nur kann ... sie blicken auf mich als ihren stärksten Beistand – durch mich sind sie hergekommen, ich bin dem Landgrafen für sie verantwortlich ... und nun wird dem Hause des Mannes, dem die ganze Gemeinde anhängt, die schnödeste Unbill zugefügt ... und durch wen – durch mein eigen Fleisch und Blut, durch den Sohn des Bürgermeisters selber!“

Wie um seiner Erregung Herr zu werden, war der Doktor heftig im Gemache auf und abgeschritten; er blieb stehen, als Georg begann:

„Ihr irrt, Vater. Noch ist die Ehre der Weberstochter durch mich nicht gekränkt ... die ist bei ihr selber in guter Hut. Ich denke ehrlich um sie zu werben ... lassen kann ich nicht von ihr, noch sie von mir, und sie wird mein Weib – sie oder keine.“

Diesmal erfolgte kein lauter Zornesausbruch des Bürgermeisters, aber das volle, scharfe Gesicht veränderte die Farbe und gewann einen Ausdruck, wie ihn Georg noch nie gesehen hatte. „Ich glaube, Du träumst, Bursch!“ sagte der alte Herr eiskalt. „Seit Jahren haben die Külwetters unser Wort, und wie ich Dir vorhin sagte: sobald der Einzug der Herrschaft und die Festlichkeiten vorüber sind, wird zwischen Euch Verspruch und Hochzeit gehalten.“

Auch Georg war scheinbar ruhig geblieben, nur daß er die Arme fest über der arbeitenden Brust kreuzte. „So glaubt Ihr mich zwingen zu können, Vater?“ sagte er, „zwingen, ein Wort einzulösen, welches ohne mich gegeben wurde, dem ich als gedankenloser, keines bindenden Entschlnsses fähiger Knabe mich anbequemt haben mag, und welches auch von Euch, je nach Eurer Laune, einmal ernst genommen zu werden schien, dann aber auch wieder leicht, wie ein kindischer Scherz! Ich aber sage Euch, mit allem schuldigen Respekt, Vater, doch kraft der festen Entschließung des Mannes, zu der ich, bei Gott, jetzt ein Recht habe: jenes Mädchen, die Rosine Külwetter, heirath’ ich nimmermehr!“ –

„Georg! ...“ die Stimme des Alten donnerte durch das Gemach, so daß die Bürgermeisterin in der Nebenstube zusammenfuhr und sich dann kopfschüttelnd auf den nächsten Stuhl sinken ließ. Auch der Sohn war bleich geworden, aber dem scharfen Blick des Bürgermeisters entging nicht, daß er keineswegs nachgiebig aussah, vielmehr saß ihm zwischen den Brauen jene Falte eines hartnäckigen Entschlusses, welche man schon dann und wann an dem Knaben gesehen hatte, und welche dann immer als Vorzeichen einer Niederlage derer, die anders wollten, als er, gelten konnte.

Der Bürgermeister hatte viel vom Diplomaten; er erwog gedankenschnell, daß es nicht gerathen sein würde, den starren Willen in dem jungen Kopf da gegen sich zu waffnen. Weit ruhiger, als man nach seinem letzten Ausruf hätte erwarten sollen, begann er nach kurzer Pause:

„Du warest im Irrthum, mein Sohn, wenn Du jenes Uebereinkommen zwischen den Külwetters und uns, nach welchem die beiden Häuser sich durch Euch verschwägern sollten, allzu leicht genommen hast. Muß ich Dich daran erinnern: demselben wohnt jene bindende Kraft bei, die dem Worte eines Ehrenmannes in der gesitteten Gemeinschaft eigen ist und ihm den Werth eines Eides verleiht! Willst Du mich vor meinen Mitbürgern zum wortbrüchigen Lügner machen?“

Der kluge Herr war in ein gewisses Pathos verfallen, welches bei ihm nur sehr selten zur Anwendung kam. Aber er überschoß das Ziel; er vergaß, daß er in seinem Sohne ebenfalls einen Juristen vor sich hatte. „Da sei Gott vor,“ erwiderte Georg auf jene letzten Worte ziemlich kühl. „Aber es bleibt ein Ausweg, lieber Vater: beide Theile können von einem eingegangenen Vertrag zugleich und freiwillig zurücktreten. Der alte Külwetter kann, wenn er Alles erfährt, nicht umhin, Dir gegenüber von seinem Worte zurückzutreten.“

Der Doktor biß sich auf die Lippen ... „Er wird sich schwer dazu verstehen, Georg,“ sagte er und fuhr dann mit einem Anflug von Wärme fort: „Sie hängen an Dir, wie ich und Deine Mutter uns an das Mädchen wie an eine Tochter gewöhnt haben. Hör auf die Stimme der Erfahrung, der Klugheit, Georg ... beschwöre keine endlose Reihe von Widerwärtigkeiten über uns alle herauf durch eine flüchtige Laune! Rosine ist ein Mädchen wie für Dich geschaffen ... den Augen wohlgefällig, nicht klüger als nöthig ... und daß sie Geld und Gut mitbringt, ist wahrlich nicht zu unterschätzen ... auch sichert es ihr, wie es Dir zu Statten kommt, das nöthige Ansehen in der Stadt sowohl wie auch im eignen Hause –“

„Um Gottes willen, Vater!“ rief Georg schmerzlich aus, als der Bürgermeister sich hier unterbrach – „redet mir nicht länger von Rosinen! Was sie ist, was sich unter dem Taubengefieder verbirgt, das hab’ ich jüngst erfahren ... aber gleichviel, preist sie mit Menschen- und mit Engelzungen denen, die nach ihr und nach ihren Truhen fragen! Muß ich es wiederholen? für mich giebt es nur noch ein Weib ... sie, die ich Euch nannte, die Tochter des Mannes, dem auch Ihr Eure Achtung nicht versagt ...“

Er war mit einem Male ganz nahe an den Vater herangetreten, und dieser blickte nunmehr betroffen in das Gesicht des Sohnes und hörte auf das Beben tiefster Erregung in der unterdrückten Stimme, mit der jetzt die Worte kamen: „ich liebe Hilden Vanderport ... hört Ihr, Vater, ich liebe sie und will und kann nicht ohne sie leben. Vielleicht wißt Ihr nicht, was das heißt, denn ich selber habe es vor wenigen Wochen noch nicht gewußt.“

Der alte Herr hatte inzwischen seine Ueberraschung schon bemeistert, und als er jetzt sprach, war es in seinem trockensten, kältesten Tone.

„Das nimmt mich Wunder ... ich dächte, der Herr Sohn hätte eben jene Studia unter den Weibern in Padua und Bologna sehr eifrig betrieben und sei in der ars amandi kein solcher Neuliug mehr.“

Georg war blaß geworden, und der Alte sah einem heftigen Ausbruch entgegen. Aber er irrte sich; der Sohn wendete sich schweigend nach der Thür. „Wohin, Georg?“ rief der Doktor mit starker Stimme. „Gehst Du so von Deinem Vater?“

[283] „Es ist besser, Ihr laßt mich gehen, Vater,“ sagte Georg. „Jedes Wort, welches ich in dieser Sache noch redete, wäre zu viel.“

„Oho ... und darf man fragen, was Du zu thun gedenkst?“

Die beiden Männer standen einander gegenüber und maßen sich Sekunden lang wie Gegner mit den Blicken. „Du lebst unter meinem Dache, vergiß das nicht,“ stieß der Alte hervor.

Georg lächelte bitter. „Heute noch – ja. Das Haus aber, welches meine Braut, mein Weib nicht aufnimmt, ist meine Heimath nicht lange mehr.“

Eine Todtenstille folgte den Worten, und nun ging Georg langsam nach der Thür. Währenddeß aber war mit dem Bürgermeister eine Veränderung vorgegangen ... er schien zu einem Entschlusse gekommen zu sein. Welcher Art derselbe war, hätte man auf seinem undurchdringlichen Angesicht jedoch vergebens zu lesen versucht. Er ging jetzt rasch dem Sohne nach und legte ihm die Hand auf den Arm.

„Sei kein Narr, Görg,“ sagte er kurz, „und wirf Deinem alten Vater nicht gleich den Bettel vor die Thür. Setz Dich hierher und erzähle mir genau, was zwischen Dir und der Weberstochter vorgegangen ist.“

Georg sah den alten Herrn forschend an, fast als traue er dem Sühneversuche des klugen Gegners nicht recht. Und als er sprach, geschah es mit einem Zwang und einer Zurückhaltung, die nach dem, was vorhergegangen, wohl begreiflich war. Aber gegen seinen Willen brach nach und nach die Wärme durch, und auch bei dem Doktor kam, da er sich durch den Bericht in einem Punkte sehr erleichtert fühlte, eine aufrichtigere Theilnahme zum Vorschein, als er vielleicht selber beabsichtigte.

Als der Sohn geredet hatte, wiegte der Alte den Kopf hin und her. „Das scheint allerdings etwas Besonderes zu sein. Schade daß sie nicht wenigstens eine Bürgerstochter ist. Denn leider muß ich in der Hauptsache auf meiner Ansicht verharren. Das Mädchen zu Deiner Frau zu machen, wäre, um das Geringste zu sagen, eine Seltsamkeit, die in unserer verantwortlichen Stellung nicht zu statuiren ist. Du mußt begreifen, daß der Stand Verpflichtungen auferlegt, und daß es dem bessern Bürger, ja dem ersten Bürger eines Gemeinwesens, eben so wenig vergönnt ist, in diesen Dingen ungezügelter Neigung zu folgen, wie einem Fürsten ...“

Er hielt inne und sah den Sohn an, als erwarte er eine Antwort. „Nun?“ fragte er, da jener schwieg, endlich mit scharfer Stimme.

„Eure Gründe mögen an sich Gewicht haben, Vater,“ sagte Georg kalt, mit der Ruhe des unerschütterten Entschlusses. „Für mich aber sind sie hinfällig, denn – Ihr kennt Hilden nicht. Sie hat nicht ihres Gleichen, ist mit dem gewöhnlichen Maße nicht zu messen. Wir vermögen sie nicht einmal zu erheben – sie selber adelt das Haus, in welches sie eintritt.“

Gut, daß Georg den wunderlich faunischen Zug nicht wahrnahnn, der bei diesen Worten über das kluge Gesicht des Doktors glitt. Nach einer Pause begann dieser wieder: „So müßten wir uns also noch der Ehre bedanken, die uns die Weberstochter anthäte, wenn sie Dich nähme. Eine absonderliche Zumuthung, das wird der Herr Sohn vielleicht zugeben. Uebrigens – laß Dir noch etwas sagen, Georg, und expecto crede Ruperto! Es ist schon manch einem klugen Manne mehr als fraglich erschienen, ob ein Ehegespons von besondern Gaben des Leibes oder des Geistes für ein wirkliches Glück im Hause zu halten sei. Sieh Deine Mutter an: am Kochherd und in der Vorrathskammer, da füllt sie ihren Platz und da sucht sie ihres Gleichen. Außerdem aber hat sie mir nichts drein zu reden ... früher versuchte sie es wohl einmal, das Handwerk habe ich ihr aber aus dem Grunde gelegt. So hatte ich freie Hand für meine Geschäfte, und, glaube mir, ich wäre der Mann nicht geworden, der ich bin, hätte ich es in meinem Hause nicht so gehalten. Aber ich sehe, ich predige tauben Ohren –“ unterbrach er sich nach einem Blick auf das Gesicht seines Sohnes. „Enden wir also ...“ Er hatte sich erhoben und trat auf Georg zu. „Du siehst, ich habe mit mir redeu lassen ... dafür aber verlauge ich auch von Dir jetzt ein Versprechen ...“

„Welches, Vater?“ fragte Georg, und wieder maßen sich die beiden Männer wie zwei vorsichtige Gegner, während sie auf Augenblicke die Klingen senken.

„Du unterlässest jeden Schritt in dieser Sache, bis der Einzug und das Fest des Landgrafen vorüber sind. Unsere Entschließung, wie sie nun auch ausfalle, erfordert eine reiflichere Ueberlegung, als ich sie jetzt, bei der Unruhe, die uns bevorsteht, darauf zu verwenden vermag. Ich verlange nur wenige Wochen Geduld von Dir –“

„Und dann, wenn die Frist, die Ihr stellt, verstrichen ist, glaubt Ihr mich etwa andern Sinnes zu finden?“ fragte Georg mit finsterem Lächeln.

„Ich glaube gar nichts ... ich stelle eine Forderung an Dich, die Du nicht weigern kannst, ohne wie ein unbändiger Knabe zu erscheinen. Her Deine Hand – versprich mir, die Sache zu lassen, wie sie jetzt ist ... es kann das Euch Beiden wenig ausmachen! Ueberdies haben die Dirnen jetzt während des Festes sich zu putzen, zu gaffen, da wird sie Dich nicht vermissen.“

„Halt, Vater,“ rief Georg, die Hand, die der Bürgermeister ergriffen hatte, hastig zurückziehend. „Verlangt Ihr von mir ein Versprechen, Hilden während dieser ganzen Zeit nicht zu sehen, sie ohne jede Nachricht zu lassen? Das weigre ich ... Sie soll wissen, was wir zu hoffen oder zu fürchten haben, soll wissen, daß sie mein ist und bleibt –“ fügte er leise hinzu – „und das durch mich.“

Der Alte strich sich überlegend das Kinn, wie ein Schachspieler, dem ein Zug durchkreuzt worden ist. Endlich hob er den Kopf, auch hier war ein Ausweg gefunden. „Wie ich den Meister Lukas kenne,“ sagte er, „öffnet er sein Haus nur dem ehrlichen Werber. Als solcher aber jetzt schon zu kommen, verbietet Dir der Pakt, den wir eben gemacht haben. Das magst Du die Jungfrau und ihren Vater wissen lassen, magst es ihnen selber sagen, daß ich meine Entscheidung einstweilen noch hinausschiebe; ich habe nichts dagegen.“

„Gut,“ sagte Georg nach einer Weile gepreßt.

Der Alte hob leicht warnend den Finger. „Nun aber ruhig Blut, Georg, keine Gewaltstreiche, keine Thorheiten ... ein Mann ein Wort ...“

„An mir zweifelt nicht; was ich versprochen habe, das halte ich!“ sagte Georg stolz, „Euch, mir und Anderen.“

Der Alte nickte und der Sohn ging. Die Unterredung war beendet.

Als der Bürgermeister allein war, lehnte er sich aufathmend in seinen Stuhl zurück ... „Zeit gewonnen, Alles gewonnen,“ murmelte er dabei, „und, Herr Landgraf, hab’ ich Euch geholfen, so müßt Ihr mir wieder helfen.“ Als er sich eine Weile darauf im Familiengemach einfand, war auf dem behaglichen, meist lebhaft gerötheten Angesicht mit den scharfen Augen von einer ungewöhnlichen Erregung nichts mehr wahrzunehmen.

Die nächsten Tage waren die unrunhigsten, die das Bürgermeisterhaus vielleicht je gesehem hatte. Das war ein beständiges Gehen und Kommen, ein Fragen und Schicken ohne Ende. Wer den Herrn nicht auf dem Rathhause antraf, der suchte ihn hier, oder ging auf Anweisung der Bürgermeisterin, um ihn an irgend einem Punkte der Stadt, wo der Rath sich vielleicht gerade zusammengefunden hatte, um die Ausschmückung eines Platzes an Ort und Stelle zu berathen, noch anzutreffen. Der Doktor hatte vom frühen Morgen bis zum späten Abend kaum einen Augenblick Ruhe, daher denn ganz von selber etwaige häusliche Angelegenheiten, die nicht in die Stimmung dieser Tage paßten, in den Hintergrund gedrängt wurden.

Seit Menschengedenken hatte kein Bürgermeister der Hauptstadt mit dem landgräflichen Herrn so gut gestanden und dabei jeden gerechten Vortheil der ihm anvertrauten Stadt so klug zu wahren gewußt, wie Doktor Tiedemars. Man wußte, daß gerade in Sachen der nun vor sich gehenden Vermählung das diplomatische Geschick des Bürgermeisters und freilich zugleich seine Vertrauensstellung bei dem fürstlichen Herrn diesem wesentliche Dienste geleistet hatte. Doktor Tiedemars konnte die glänzende Verbindung zu einem gewissen Theile mit als sein Werk betrachten, kein Wunder daher, daß sein kluges Gesicht jetzt den Ausdruck einer eignen Genugthuung trug, kein Wunder auch, daß unter seinen Anordnungen und seinem Einfluß die Vorbereitungen der Stadt für den Einzug und das fürstliche Beilager einen ganz unerhörten Umfang annahmen.

[299] In den Vorbereitungen für den Einzug fand sich der würdige Doktor Tiedemars von seiner Bürgerschaft aufs Beste unterstützt und von einem allgemeinen guten Willen gleichsam an jedes einzelne seiner Ziele getragen. Es lag etwas in dem Gedanken gerade dieser Vermählung, was den Leuten förmlich zu Kopfe stieg. Hier handelte es sich ja nicht um den künftigen Besitz einer blutjungen Fürstin, die außerhalb ihres Hofes Niemand so recht kannte, da sie sich als schüchternes Jungfräulein anders als etwa bei Vertheilung eines Turnierdankes noch nicht öffentlich hatte bethätigen können. Nein, die Gräfin Sabine war eine glänzende, gereifte Frau, war lange der Mittelpunkt eines prächtigen Hofes gewesen, den sie mit Geist, Lust und Leben erfüllt hatte wie kaum eine andere Fürstin ihrer Zeit. Sie war bekannt als eine Meisterin in jeder ritterlichen Kunst, an der damals die Frauen theilnahmen, sie beizte den Reiher und hetzte den Hirsch mit den Besten, aber bei all diesem lustigen, freien Leben hatte nie ein Hauch die Reinheit ihres Namens getrübt; muthig, klug und jeder Lage gewachsen, hatte sie sich immer den besten Leumund zu wahren gewußt, denn ein derber Scherz, wie man deren wohl ihr nacherzählte, konnte denselben nicht beeinträchtigen.

Auch darin hatte sich die Fürstin tüchtig und der Vorliebe ihrer nunmehrigen Landeskinder ganz besonders werth gezeigt, daß sie manchen ganz in ihrer Nähe mächtigen, offenen und geheimen, Einflüssen zum Trotze nicht nur selber eine gute Protestantin geblieben, sondern auch stets, wo es noththat, rücksichtslos für ihre Glaubensgenossen eingetreten war und dem lutherischen Bekenntniß in den Landen ihres ersten Gemahls zu einer gesicherten Stellung verholfen hatte.

Unter allen diesen Eigenschaften, so recht danach angethan, die Einbildungskraft des Volkes mit ihrem glänzenden Bilde zu füllen, darf aber eine sehr wesentliche nicht vergessen werden, und das war: der große Reichthum der gräflichen Wittwe, davon die Legende, zugleich mit der ihrer fürstlichen Freigebigkeit, schon lange vor ihrer Ankunft in allen Stuben, hohen und niedrigen, ihres neuen Landes heimisch war.

Und nach dem Spruche: „Wer da hat, dem wird gegeben,“ bereiteten Stadt und Land der neuen Herrin zum Willkommen Geschenke, die noch einmal so reich und werthvoll waren, als man sie einer minder begüterten und daher für solche schönen Dinge vielleicht um so empfänglicheren künftigen Landesmutter zu Füßen gelegt haben würde. Alle Gewerke waren in den letzten Wochen in einer fieberhaften Thätigkeit gewesen, denn man hatte ja, seitdem der Abschluß der vorbereitenden Verhandlungen bekannt geworden war, nicht allzu viel Zeit gehabt. Jede Zunft bereitete ein Meisterstück vor, so weit ein solches in der nicht langen Frist nur irgend herzustellen war. Da gab es Schatullen und Schränkchen von der köstlichsten eingelegten Arbeit, schwer mit Silber beschlagen, Arbeiten, zu denen sich Kunstschreiner, Drechsler, Gold- und Silberschmiede vereinigt hatten, da prangte Bibel und Gebetbuch in köstlichem gepreßten Lederbande oder in Sammet mit Beschlägen von ciselirtem Edelmetall und Zieraten von Juwelen. Da bogen sich die Kredenztische fast unter der Last der schweren getriebenen Gefäße, während wundervolle geschliffene Gläser und Kelche auf den oberen Borden in einem märchenhaften Glanze strahlten. Gar nicht genug zu beschreiben war die Pracht und der Werth der Stoffe und Gewänder, von dem schweren Fürstenmantel an, von silbergesticktem Sammet und mit Hermelin umsäumt, bis zu dem mit Goldfäden durchwirkten Schleier, der sich, wie die Zaubergabe im Märchen, beinahe in eine Nuß falten ließ und wirklich für das Geschenk der Feen hätte gelten können.

Dazwischen fehlte es weder an Hemden, das Linnen aus jenem Flachse gesponnen, davon ein Schock durch den Goldring eines Mägdleins geht, noch an Strümpfen und Schuhen. Und das Geschmeide, die Halsketten, Ringe, goldenen Haarreife, Gürtel und Spangen hätten allein schon einen würdigen Mahlschatz für eine reiche Braut gegeben.

Und dies Alles nun, diese Herrlichkeiten, für den flüchtigen Blick nicht nur, sondern die ihr hoher Werth, des Materials sowohl wie der darauf verwendeten Kunst, für Diejenigen, die sie darboten, zu kleinen Heiligthümern machte, sollte am Einzugstage der Fürstin auf glänzende Weise zuerst vor die Augen geführt, [300] sollte mit einem Schaugepränge, welches der Geschenke, wie der Empfangenden würdig war, ihr in endlosem Zuge entgegen getragen werden! Wie viele Personen gab es da nicht auszustatten! Und nicht im oberflächlichen Maskeradenputz – der lag nicht in der Weise der damaligen Zeit und wäre den Bürgern auch wie ein Ermangeln an der dem Fürstenpaare schuldigen Achtung erschienen, sondern in köstlichen, neuen Festkleidern, von denen jedes einzelne Stück der Gelegenheit würdig war.

Jedes Gewerke hatte längst unter Gesellen und Lehrbuben die stattlichsten und geradesten zu Bringern der Geschenke ausgesucht, und daß es da manch einen Jüngling von blühender Wohlgestalt gab, welche durch den prächtigen Anzug aufs Beste zur Geltung kam, wird man gerne glauben. Wie weit bei dieser Gelegenheit manche Zunft den Luxus und, wie man später sagte, den Uebermuth trieb, mag daraus erhellen, daß die Schuster zur Ueberreichung ihrer Ehrengabe an die Fürstin zwanzig Lehrbuben und Gesellen der Zunft, Jünglinge von fünfzehn bis zwanzig Jahren, in völlig gleiche neue Anzüge von echtem veilchenfarbenen Sammet, mit geschlitzten Aermeln und einer Unterlage von safrangelber Seide – in Puffen gebauschet, wie die Chronik meldet – gekleidet hatten.

Eine wunderliche Metamorphose dieser an Werkeltagen durch pechbewölkte Gesichter und schmierige Lederschürzen kenntlichen Burschen, die sonst Jahr aus Jahr ein mit nackten Fersen auf Schlappen daher schlurften! Wie das damals den Volkswitz lebhaft in Bewegung setzte, mag es ihnen selber nicht am wenigsten seltsam vorgekommen sein. Immerhin aber sah am festlichen Tage kein Mensch dieser schmucken Knappenschaar an, daß sie nicht etwa Edelknaben, sondern nur Schusterbuben waren.

Mehr und mehr gerieth nun die Stadt, je näher der Einzugstag heranrückte, in einen wirbelnden Taumel von Aufregung und Geschäftigkeit. Von dem, was im Innern der Häuser, der Stuben und Werkstätten vor sich ging, von dem Tag und Nacht kaum unterbrochenen Ameisenfleiße dort, gar nicht zu reden: aber auch auf Gassen und Plätzen trieb unablässig das Volk hin und her, zwischen Haufen von Arbeitern, die an den verschiedensten Stellen sägten, richteten und klopften und sogar in der Nacht beim Lichte von Pechpfannen ihre Thätigkeit fortsetzten. Denn der Weg, den der fürstliche Brautzug durch die Stadt nehmen würde, vom nördlichen, dem Einzugsthore, bis zum Schlosse, sollte in eine Via Triumphalis, mit mehrern Ehrenbogen und fortlaufendem Blumen- und Teppichschmuck der Häuser, verwandelt werden. Dazu die vielen Estraden für die Musiker, die Schranken gegen den Andrang des Volkes, und jedes Gerüst über und über mit Tuch beschlagen, mit Fahnen und Wappen geschmückt – kein Wunder, daß das Zimmergewerk Tag und Nacht zu schaffen hatte und sogar die Zünfte der Schlosser und Schmiede zu Hilfe nehmen mußte.

Ganz wunderlich mußte den damaligen Menschen in einer solchen Festperiode zu Muthe werden, anders, als wir es uns nur vorzustellen vermögen. Das brachte schon die lange Dauer der Feste mit sich, denn damals war es mit einem Tage nicht gethan, wie heutzutage. Eine ganze Woche hindurch pflegte ja schon eine vornehme Bürgerhochzeit die Stadt um und um zu kehren, mit der offenen Tafel, die Tag für Tag gehalten wurde, dem Uebermaß an Essen und Trinken, der Kurzweil an Possenreißern, die keineswegs nur für die geladenen Gäste berechnet war, sondern für das ganze in den Zugängen sich hin und her drängende Volk, welches an allem lebhaften Antheil nahm.

Und nun gar ein solches Ereigniß! genug für eine ganze Generation, um daran lebenslang zu zehren in genußreicher Erinnerung und dieselbe sogar noch ein paar folgenden zu überliefern! Der Einzug mit seiner unerhörten Pracht war ja nur der Anfang, das Vorspiel. Nach demselben ging man nicht ruhig nach Hause, in die stille Stube, zum nüchternen Abendbrot, um dann am andern Morgen etwas unlustig die Werkeltagsarbeit wieder aufzunehmen. Nein, da war in jedem Hause eine Art Fest, da gab es das Beste, was Küche und Keller vermochte, und die ehrbarsten Bürgerfamilien versetzten sich in eine Art Taumel, um desto besser zum Genuß der kommenden Herrlichkeiten, die das fürstliche Beilager begleiten würden, vorbereitet zu sein. Acht Tage lang zum allermindesten würde da kein Mensch zu sich selber kommen ... bei den Geringeren wurde gar nicht gekocht, denn der Landgraf bewirthete seine getreuen Städter, so viel ihrer kommen wollten, täglich mehrere Male im Schloßhofe. Die Zunftgenossen zechten in ihren Gewerkstuben und thaten sich nach der vorhergegangenen Anstrengung gütlich, und die Geschlechter tanzten allabendlich, ob sie nun mit glänzendem Bankett das fürstliche Paar auf dem Rathhause ehrten, oder ob dieses sie im Schlosse empfing, wo dann die Lust des Tanzes durch allerlei wunderbare Kurzweil, durch Mummereien und Komödien unterbrochen und erhöht wurde.

Dies Alles stand zur Zeit noch bevor und konnte, da die Aufeinanderfolge der Festlichkeiten Jedermann bekannt war, einstweilen vorahnend genossen werden. Kein Wunder, wenn Vornehm und Gering in diesem Taumel aufging, wenn sogar der Geringste auf eine Weile sich verwandelt fühlte und das eigne Los kaum empfand, so lange diese mächtige Lebenswoge ihn zugleich mit so viel Hunderten hoch fluthend über das Gewöhnliche hinwegtrug.

Vielleicht war in der ganzen Stadt in dieser Zeit nur ein Mann, welcher es bitter fühlte, daß er mit der allgemeinen Lust nichts zu schaffen habe, und der, während ein heiterer Rausch alle Menschen um ihn her ergriffen zu haben schien, ein Herz wie Blei in der Brust trug. Und dieser eine war Georg.

Die Vorbereitungen zu den Festen, die er allenthalben mit ansehen mnßte, waren ihm widerwärtig. Wenn er einen Wunsch hatte, so war es der, es möchte erst Alles vorüber sein, damit er der Entscheidung seines Schicksals um so viel näher gerückt sei. Er strich ruhelos durch die belebten Straßen, deren Treiben ihm keinen Antheil abgewann. Seine Augen suchten wohl umher, aber immer nur die Eine, die sie zu finden nicht erwarten durften. Einmal hatte er Hilden gesehen seit der Unterredung mit dem Vater, aber sein Herz war seitdem nicht leichter geworden. Ja, wenn es möglich gewesen wäre, hätte sich zu der Sorge – die der vom Glück Verwöhnte jetzt wie einen ihm noch ganz unbekannten, herben Trank kostete – etwas wie Groll gegen die heiß Geliebte gesellt.

Frei und offen, am Tage, war Georg in das Weberhaus gegangen, und Meister Lukas wußte jetzt, wie die Sachen standen. „Kommt Ihr von nun an hierher zurück mit dem guteu Willen Eueres Vaters, Herr, so sollt Ihr mir herzlich willkommen sein, aber auch nur dann,“ hatte der Alte ihm gesagt. Und Hilde? Sie war ihm hinaus in den Flur des kleinen Hauses gefolgt und hatte ihm einen Abschied gegönnt, der ihm noch jetzt, in der Erinnerung, alles Blut siedend heiß nach dem Herzen drängte. Als er sie dann aber, ein Lächeln auf den Lippen, aber mit einem düstern Lichte in den Augen, gefragt hatte: „Und wenn wir uns ohne diesen guten Willen behelfen müssen, Hilde? Die Welt ist groß, ein Dach für mein Weib und Brot für uns find’ ich auch anderwärts“ – da war sie blaß geworden. Immer wieder hatte sie auf sein heißes Drängen nur die Versicherung gehabt, sie sei sein, sie werde ihm treu bleiben, ob er nah oder fern wäre, Jahre lang, ein Leben lang – Georg aber hatte die böse Ahnung mitgebracht, daß die Art, wie er sein Glück gegen seinen Vater zu vertheidigen gedachte, sich mit der ernsten Pflichttreue dieses Mädchens nicht vertragen, daß er bei einem gewaltthätigen Schritt, wie er seiner Natur gemäß war, an ihr keine Gefährtin finden würde.

Dies Alles trug der Bürgermeisterssohn mit sich in den festlichen Straßen herum. kein Wunder, wenn die Gruppen der schwatzenden Nachbarn ihm kopfschüttelnd nachsahen, wie er schweigsam und mit seinem frendlosen Angesicht an ihnen vorüberschritt. Wie Georg seinen Vater kannte, war es ihm nicht ganz unwahrscheinlich, daß der Alte, wenn er merkte, die Külwetter’sche Hochzeit sei nicht durchzusetzen, versuchen werde, ihn, den Sohn, auf eine Weile zu entfernen. Und für diesen Fall besaß Georg dann freilich einen bittersüßen Trost in der Ueberzeugung, Hilde Vanderport werde sich eher auf die Folter legen lassen, als daß sie die Treue, die sie ihm versprochen hatte, verriethe.

Indessen war die Zeit heran gekommen, wo die vorbereitenden Schauspiele wenigstens ihren Anfang nahmen. Schon langten mancherlei vornehme Gäste an und wurden in der Stadt einquartiert; andere dagegen zogen einstweilen nur durch, um dem schon unterwegs begriffenen Fürstenpaare sich entgegen zu begeben und dann erst im Gefolge desselben ihren eigentlichen Einzug in die Stadt zu halten.

Unter diesen Durchziehenden befand sich Einer, den die getreue Stadt schon mit einem Vorgeschmack der dem Fürsten zugedachten Ehren zu empfangen sich anschickte, und dem sie ein [301] prächtiges Nachtquartier bereitete. Es war dies nur ein Knabe von acht Jahren, aber kein Geringerer als der Erbe des Landes, der einzige Sohn des Landgrafen selber.

Wäre dieser blühende Knabe nicht gewesen, so hätten bei der Wahl einer zweiten Gemahlin die Augen des Landgrafen wohl schwerlich auf die Gräfin Sabine, die in kinderloser Ehe gelebt hatte und nunmehr in reiferen Jahren stand, fallen dürfen, trotz aller sonstigen Vorzüge einer solchen Verbindung. In der Person dieses kräftigen Sprossen aber, der vor aller Augen zum echten Fürsten heranwuchs, war der Landgraf sozusagen seiner Verpflichtung gegen das Land quitt und hatte nach eigenem Behagen und Belieben wählen können. Uebrigens erwartete man von dieser Stiefmutter auch für den jungen Landgrafen das Beste. Er würde sich weit besser befinden an einem Hofe, an dem wieder eine Frau waltete, und sie, von keiner Vorliebe für eigene Nachkommenschaft in Anspruch genommen, konnte, indem sie mütterlich für den Knaben sorgte und sich ihm werth machte, ihm, dem Lande und nicht zum mindesten sich selber nützen.

Noch wurde, in der Vormittagssonne, die heute ungewöhnlich heiß hernieder brannte, eifrig an dem letzten Ehrenbogen, nach dem sogenannten Brüderthore zu, gehämmert, als die Kunde durch die Straßen flog, daß das fürstliche Kind mit seinen Begleitern vor eben jenem Thore im Anzuge und schon ganz in der Nähe der Stadt angelangt sei.

„Wollet uns die Ehre anthun, kleiner gnädiger Herr, und eine Erfrischung annehmen.“ (S. 302.)

Da fuhr ein Schrecken in alle Glieder, denn man war noch gar nicht fertig! unmöglich konnte doch dem Landeserben just bei seinem Eintritt in die Stadt das kahle Gerüst einer Ehrenpforte sozusagen in den Weg gestellt werden! Da hieß es Rath schaffen. Den Anordnern trat der Angstschweiß auf die Stirn während sie die Arbeitsleute antrieben, die nun ihrerseits den Kopf verloren und einer dem anderen in den Weg liefen, ohne daß die Sache merklich gefördert wurde.

Im Gegentheil, es ging Alles verkehrt. Die Guirlanden, die sie allzu eilig anbringen wollten, rissen auseinander unter den Händen; die Wappenschilder kamen an die unrichtigen Plätze und mußten wieder abgenommen werden; die Tuchstreifen, schon abgepaßt und zugeschnitten, erwiesen sich als zu kurz oder zu lang, wenn man sie schon an einem Ende angenagelt hatte. Die eine Seite war endlich doch nothdürftig fertig geworden, die andere aber immer noch das unerfreuliche Holzgerippe, und schon langte ein athemloser freiwilliger Bote nach dem anderen an, halbwüchsige Jungen und Lehrbuben, um zu melden, daß die Herannahenden nun in weniger als einer Viertelstunde hier sein würden.

Da hatte Einer den klugen Gedanken, man möge hinschicken und mit einem der ritterlichen Herren, die den Prinzen begleiteten, ein vernünftiges Wort reden lassen, daß sie vor dem Thore noch einen kleinen Aufenthalt nähmen, bis man zum Empfange des jungen Fürsten ganz bereit sei. Das geschah und war auch wirklich das Beste und Einzige, was man thun konnte.

Von derselben Höhe, auf der vor einigen Monaten Georg Tiedemars und Hans Veit gehalten hatten, war indeß der reisige Zug hernieder gekommen, voran auf einem kleinen kräftigen Pferde der fürstliche Knabe, der unter dem gerade geschnittenen Blondhaar hervor aus hellen Augen lebhaft um sich blickte.

„Seht, Herr Vetter,“ sagte er zu dem neben ihm reitenden Herrn Kurt von Berlepsch, indem er den kleinen stämmigen Arm nach der Stadt hin ausstreckte, „dort der Thurm der St. Martinskirche! den kenn’ ich noch wohl – und rechts ein wenig weiter die Dächer des Schlosses. Hei, ich wollte, wir wären erst dort, denn ich bin durstig!“

[302] Der Begleiter tröstete, daß es nun nicht lange mehr währen könne. Und wirklich war man, da die Ungeduld des kleinen Landgrafensohnes die ganze Gesellschaft noch einmal in einen kurzen Trab gesetzt hatte, in weniger als einer Viertelstunde bei den ersten Häusern der vor diesem Thore gelegenen Weberniederlassung angekommen. Hier aber gab es mit einem Male eine Stockung, einen Aufenthalt, dessen Grund wir schon kennen, der aber dem jungen Fürsten anfangs gar nicht einleuchten wollte. Doch fand er sich hinein, da er trotz seiner acht Jahre sich schon hatte gewöhnen müssen, dem Zwange des hohen Standes mehr als ein Opfer zu bringen. Die Kavalkade hielt mitten auf der Landstraße, die Herren tauschten, ihre Pferde neben einander bringend, gemächlich Red’ und Antwort aus, der Knabe sah sich aufmerksam und grüßend um und war natürlich indessen selber das Ziel aller Blicke, denn an Fenstern und Thüren und zur Seite auf der Gasse drängten sich die Anwohner, knixtcn die Weiber und Männer barhäuptig, die Kopfbedeckung in den Händen.

Hinter ihrem Fenster stand auch Hilde, kaum zehn Schritte von dem kleinen Fürstensohne entfernt, denn es traf sich, daß der Zug gerade dem Hause des Meisters Vanderport gegenüber zu halten gekommen war. Sie stand und war ganz verloren in die Betrachtung des Knaben, bei dessen Anblick sich etwas wie Wonne in ihr Herz einschlich.

Und wirklich war der Knabe, wie er da in sicherer Haltung auf seinem Pferde hielt, in dessen weich lockiger Mähne seine kleine kräftige Faust mit dem schlaff gehaltenen Zügel ruhte, ein Gegenstand, bei dem Einem wohl das Herz aufgehen konnte. Er war groß und wohl entwickelt für seine Jahre, doch mehr breit als schlank, und mit dem hellen schönen Angesicht, welches doch deutlich die kräftigen Züge seiner Rasse trug, und dem kühnen Blick sah er recht wie ein geborener Fürst, wie der echte Erbe eines uralten Geschlechtes aus.

Wohl möglich, daß das selber edel geartete Mädchen in diesen Augenblicken mit geheimer Lust einen Hauch der Luft von jenen freien Lebenshöhen einsog, die den erlauchten Knaben umgab. Aber auch schon die in ihr lebende Kinderliebe fesselte sie an seinen Anblick, und schon das Kind in ihm bewunderte sie von Minute zu Minute mehr, da er mit jener wahrhaft fürstlichen Abhärtung gegen Ungeduld und Langweile die Verzögerung und das Warten auf der staubigen heißen Landstraße so ruhig aushielt.

Die Sonnengluth war es, von der die Wartenden am meisten zu leiden hatten. Deckung dagegen war keine zu finden, der Schatten um diese Tageszeit an einer der Häuserreihen kaum handbreit. Das Gesicht des Knaben glühte; einmal schob er das Sammetbarett, an welchem nur eine kleine Juwelenagraffe vorn den Stand des Trägers verrieth, weit zurück, um sich das Blondhaar aus der erhitzten Stirn zu schieben. Dabei wanderten seine Augen umher und fielen auf einen der Obstbäume in des Meister Lukas Garten … „Ach seht, Vetter Berlepsch, die schönen Aepfel dort!“ rief er mit der Lust eines echten Jungen, und man konnte fast sehen, wie ihm darnach das Wasser im Munde zusammenlief.

Hilde hatte Ausruf und Geberde wahrgenommen und war im Nu vom Fenster fort. Daran hätte sie längst denken sollen!

Der geringste Wanderer hätte kaum so lange unerquickt an ihrer Thür gesessen! Sie eilte geschäftig im Hause umher, und es dauerte nicht lange, so trat sie über die Schwelle desselben, in der Hand eine Platte tragend, auf der ein geschliffenes Kelchglas voll Wein und eine Schale mit rothwangigen Aepfeln stand.

Scheu oder Verlegenheit zu empfinden hatte Hilde noch gar keine Zeit gehabt, da sie nur daran dachte, wie sie mit ihrer Gabe noch rechtzeitig kommen wolle, um den Kleinen zu erquicken. Ehe sie sich’s versah, stand sie an seinem Bügel und sagte, wie es ihr gerade in den Mund kam: „Wollet uns die Ehre anthun, kleiner gnädiger Herr, und eine Erfrischung annehmen! Die Aepfel sind gut und werden Euch gewiß schmecken.“

„Das glaube ich auch,“ sagte der kleine Fürst überrascht und fröhlich. „Ich greife zu, und Euch, liebe Jungfer, meinen schönsten Dank dafür. Was meint Ihr, Herr Vetter?“

Er drehte sich zu seinem Gouverneur um, und nun fiel es der Darbringerin erst ein, daß der künftige Landesherr zur Zeit vielleicht noch den Willen eines Andern befragen müßte, dem die Sorge um ihn anvertraut sei. Sie wandte sich mit einem gleichsam um Entschuldigung bittenden Blick an den bärtigen Herrn von Berlepsch, der etwas steif, aber doch nicht gerade unfreundlich drein gesehen hatte. „Die Aepfel sind ganz reif,“ sagte sie.

Nun lächelte der ritterliche Herr, und auch die übrigen Begleiter des Prinzen schienen die Sache nicht übel zu finden, wie man aus den neugierig und belustigt zuschauenden Mienen schließen konnte. „Ich bitte Euch, kostet auch den Wein,“ bat Hilde treuherzig aufschauend. Die Augen des Knaben lachten sie an; er ergriff den Becher, hob ihn und indem er das Barett abnahm, neigte er mit fürstlichem Anstand den Blondkopf gegen das erröthende Mädchen und brachte ihr dankend den ersten Trunk zu.

Den Becher, in dem nur ein kleiner Rest geblieben war, reichte er ihr wieder, die Schale mit Aepfeln aber hob er auf und sich im Sattel wendend reichte er sie eigenhändig den Herren vom Gefolge hin. „Greift zu, Junker Heinz,“ mahnte er den nächsten; „die Jungfer giebt es gerne, und wer weiß, wie lange wir noch auf das Mittagsbrot warten müssen.“ Nach einer solchen Aufforderung konnten die Herren die Aepfel nicht verschmähen, wenn sie auch vielleicht lieber den Becher die Runde machen gesehen hätten … Sie versorgten sich alle und die Jüngsten hinten folgten dem Beispiele des kleinen Landgrafen, der längst munter einhieb. Hilde lachte vor Vergnügen, als die Schale leer wieder zu ihr zurück kam.

Indessen war aber auch Botschaft aus der Stadt gekommen, daß dem hochfürstlichen gnädigen Einzuge nun nichts mehr im Wege stehe. Die Herren setzten sich in den Sätteln zurecht, rückten an Barett und Wehrgehäng und richteten die Augen auf ihren jugendlichen Herrn, des Aufbruchs gewärtig. Der nickte indessen Hilden freundlich zu: „seht, den stecke ich zu mir,“ indem er einen wunderschönen rothbackigen Apfel ins Gewand gleiten ließ, dann grüßte er sie noch einmal, nicht anders, als ob sie eine Edelfrau gewesen wäre, und einer nach dem andern neigten sich auch die Herren des Gefolges vor dem Mädchen, während die Reiterschaar sich nun in Trab setzte. Hufe und Waffen klirrten, und nach wenigen Minuten schon waren alle hinter einer mächtigen Staubwolke, die ihnen folgte, alsbald aber auch innerhalb des dunkeln Stadtthores vollends verschwunden. –

[314] Der junge Fürst zog am nächsten Morgen weiter, seinem Vater und dem fürstlichen Brautzuge entgegen, mit dem er eine halbe Tagereise von der Stadt zusammentreffen sollte. Das letzte Nachtquartier wurde von den hohen Reisenden im ehemaligen Kloster zum weißen Stein, kaum eine Stunde westlich vor der Stadt, genommen, damit am nächsten Morgen Pferde und Reiter frisch und ausgeruht, und ohne den Staub der Landstraße auf den Festgewändern, beim Einzuge erscheinen konnten.

Hierher hatte sich der Bürgermeister Herr Jakob Tiedemars zur ersten, man hätte sagen können vertraulichen Begrüßung seines fürstlichen Herrn begeben, denn hier erschien er gewissermaßen nur in eigner, privater Person, noch nicht in Vertretung seiner Stadt, nicht als Bürgermeister.

Der Landgraf hatte den ihm vertrauten Mann noch zu ziemlich später Stunde, nachdem der Hof die Nachtkost bereits eingenommen hatte, allein in seinem Gemache empfangen. Es war mancherlei, was den morgenden Tag betraf, zur Sprache gekommen, und der Doktor hatte nur Günstiges zu berichten gehabt, so daß der Fürst, nach seiner ernsthaften, etwas wortkargen Art, zufrieden und in behaglicher Laune erschien. Als ihm der Schlaftrunk in silberner Kanne gebracht wurde, schenkte er dem Bürgermeister eigenhändig ein und sagte dann, indem er seinen Becher zum Munde hob.

„Das bringt Euch Euer wohlgewogener Herr, Bürgermeister ... sprecht, kann ich Euch noch irgend was zu Liebe thun?“

Jetzt war der Augenblick gekommen, auf den der kluge Mann seit so manchem Tage unverrückt den Blick gerichtet hielt. Er gestattete es seinen beherrschten Zügen, einen sorgenvollen Ausdruck anzunehmen, während er begann: „Fast möcht’ ich sagen: leider ja ... Landgräfliche Gnaden, und nur Sie allein, können einem besorgten Vater das Herz erleichtern, wenn anders es Ihr fürstlicher Wille ist.“

Der Herr zog die buschigen Brauen in die Höhe. „Wie wäre das?“ fragte er in seiner kurzen Weise.

„Ich habe einen ungehorsamen Sohn, gnädiger Herr,“ sagte Tiedemars und seufzte. – „Nicht daß ich bisher über ihn zu klagen gehabt hätte. Eure Gnaden erinnern sich des Jünglings wohl, der vor drei Jahren am St. Michaelistage bei dem Festspiel aus Eurer hohen Hand selber den Preis für das Ringelstechen empfing und Eures fürstlichen Lobes vor Andern sich zu erfreuen hatte?“

Der Landgraf nickte bedächtig mit dem Kopfe. „Er hat seitdem gehalten, was er damals versprach,“ fuhr der Bürgermeister fort, „und auf den Schulen von Padua und Bologna gutes Lob davon getragen. Seit Kurzem ist er heimgekehrt, und ich dachte nun meines Alters Freude an ihm zu erleben. Denn der Bursche kann sich sehen lassen! Seinem Jus habe ich auf den Zahn gefühlt und mich schier verwundert ... er wird überall seinen Mann stehen. Aber ich dachte ihn als Adjunkten bei mir zu behalten und meinem gnädigen Herrn einen tüchtigen Diener an ihm zu ziehen, welcher dero Rechtssachen im Kopfe und am Herzen trüge ...“

„Nun?“ fragte der Landgraf, als Tiedemars eine Pause machte.

„Verzeihen Eure fürstlichen Gnaden, wenn ich zu breit werde. Aber Alles, was ich bisher vorgebracht habe, möge meinem gnädigen Herrn darthun, wie hart es mich ankommen muß, solche Hoffnungen sämmtlich in die Brüche gehen zu sehen. Ich will mich kurz fassen. Wir Alten sahen schon runde Enkel um uns herum ... seit Jahren ist es zwischen meinem und dem Hause eines achtbaren Bürgers und meines Gevatters, des Herrn Peter Külwetter, abgesprochen, daß unsere Kinder, mein Sohn – alles was ich von Nachkommen habe – und seine einzige Tochter, ein Paar werden sollten. Die Jungfer Külwetter ist unter unsern Augen aufgewachsen, ein Mädchen wie Milch und Blut und dem Georg von ganzer Seele ergeben. Er aber weigert sich jetzt, seines Vaters Wort einzulösen. Ich wußte nicht anders, als daß er der Dirne herzlich gut sei ... die Aussteuer liegt bereit, die Truhen sind gepackt, sozusagen, und das Kränzel gewunden – denn noch vor dem Herbste sollte die Hochzeit sein. Da läßt zur elften Stunde noch mein sauberer Patron von Sohn die Augen umherschweifen und siehe da, er entdeckt eine Andere, welche ihm besser als der alte Schatz gefällt ... und all das Hoffen der Alten – der Mutter auf die Herzensfreude an dem jungen Hausstand, des Vaters auf die Stütze, die er an dem ansässigen, als ehrbarer Bürger und geschickter Jurist neben ihm lebenden Sohn haben werde – das Alles bläst der frevle Eigenwille des Burschen wie ein Kartenhaus über den Haufen!“

[315] Es grollte so viel verhaltener Unwille und bitterer Verdruß in der Stimme des Bürgermeisters, als der Respekt vor der landesherrlichen Gegenwart nur irgend gestattete. Und wenn der Doktor, dem fürstlichen Herrn hiervon nur genau so viel zumaß, als, wie er wußte, an diesem Orte zulässig war, so spielte er damit keineswegs etwa nur eine Rolle, sondern sprach ziemlich genau aus, was er wirklich empfand. Denn allzu schwer kam es dem an das Befehlen gewöhnten, sich seiner guten oder doch wenigstens immer klugen Absichten bewußten Mann an, die althergebrachten Zukunftspläne für den Sohn von diesem so jäh durchkreuzt zu sehen.

Der Landgraf hatte aufmerksam zugehört und wiederholt den Kopf geschüttelt. Jetzt richtete er denselben in die Höhe, sah den Doktor eine Weile an und sagte dann mit starker Stimme: „Daraus wird nichts!“ und noch einmal „daraus wird nichts!“ während er nach dem Stock griff, der neben ihm lehnte, und denselben mehrmals heftig auf den Boden stieß.

Der Bürgermeister begriff, daß die Sache für ihn günstig stand. Er wartete noch eine Weile, ob von den landesherrlichen Lippen eine weitere Meinungsäußerung fallen werde. Diese erfolgte nach einer ziemlich langen Pause und zwar in Gestalt der kurzen Frage: „Und wer ist das Weibsstück?“

Der Bürgermeister wußte auf die Art des Herrn zu laufen. Er antwortete ohne Zögern: „Ein Mädchen geringen Standes, Euer fürstliche Gnaden … brav und unbescholten, so viel ich weiß, aber nicht einmal eine Bürgerstochter, und ihrer Herkunft nach zur Frau eines ansehnlichen Bürgersohnes wenig geeignet.“

„Und er will sie heirathen?“ fragte der Landgraf, ohne das Haupt, welches er mit dem Kinn auf seinen Stock gestützt hatte, zu erheben.

Doktor Tiedemars zuckte mit vielsagender Miene die Achseln.

„Er soll es bleiben lassen,“ fuhr der fürstliche Herr auf, um aber sogleich wieder in sein Schweigen zu verfallen.

Der Bürgermeister begann nach respektvoller Pause:

„Jedenfalls aber steht der thörichte Handel zwischen meinem Sohne und demjenigen, was, ihn betreffend, seiner Eltern wohlmeinender Wille ist. Nun begeb’ ich mich aber nicht ganz der Hoffnung, mit der Zeit den Trotz des Thunichtguts zu beugen, ihn auch, durch Anwendung väterlichen Zuspruchs wie väterlicher Strenge, wieder auf den Weg des Gehorsams zu bringen. Zu dem Ende aber, und damit er nicht etwa, was Gott verhüten möge, hinter meinem Rücken uns einen Streich spiele und sein Freien nach eigener, frevler Willkür durchsetze, möchte ich ihn auf eine Zeitlang entfernt wissen, und dazu wage ich um die Mitwirkung meines gnädigen Herrn Landgrafen zu bitten. Wollte ich, aus eigener Autorität, ihn gerade jetzt fortschicken, wer weiß, ob der Trotzkopf mir nicht den Gehorsam weigerte. Einem Befehle seines landgräflichen Herrn aber wird er folgen, um so eher“ – hier blickte der Bürgermeister den Fürsten mit seinem klugen Lächeln bedeutsam an – „je weniger er ahnt, daß hochfürstliche Gnaden von seinen Streichen unterrichtet sind.“

Der Landgraf nickte nur, und Tiedemars fuhr fort:

„Wohin wir ihn senden können, wollte ich mich ebenfalls unterfangen vorzuschlagen. So wie so werden Euer Gnaden nunmehr einen zuverlässigen Mann, im Aufsetzen von Urkunden und allen juristischen Bräuchen wohl erfahren, hinüber ins Schmalkaldische zu schicken haben, da Euer Gnaden Mitherr der nunmehr zurückgefallenen Rothenbüheler Lehen seid. Mein Sohn wäre dazu der rechte Mann, daher mein unterthäniges Anliegen ist, selbigen mit den nöthigen Vollmachten versehen in allernächster Zeit – und heute lieber als morgen – dorthin abfertigen zu wollen.“

Der Bürgermeister hatte wohl wahrnehmen können, wie der Landgraf auf seiner Seite war, und versah sich daher alles Anderen eher, als daß der fürstliche Herr jetzt mit einem Male wohlbedächtig und mit aller Entschiedenheit den Kopf schütteln würde. Das aber geschah zum Schrecken des Bürgermeisters – der Landgraf schüttelte das Haupt, und zwar zu wiederholten Malen, was bei ihm eben so gut war, als habe er die verschiedensten Gegengründe vorgebracht. Endlich sprach er: „Das wollen wir anders machen, Bürgermeister … das wollen wir besser machen. Fortschicken? wozu … daß er sich anderswo wieder in eine Andere vergafft? Nein ... Dein Sohn heirathet die Jungfer Külwetter – ich kenne den Alten wohl – so was von einem Pfennigfuchser, wie?“ – dabei nickte der Herr gutlaunig zu dem Doktor hinüber – „führt das knappste Ellenmaß in der Stadt und hat keinen schlechten Haufen Batzen zusammengebracht? Nun, um so besser für Dich – ich freie dem Burschen die Braut, und das morgen … laß mich nur machen ... laß mich nur machen! Wollen doch sehen, ob er dann noch aufsässig ist … Hübsch ist die Dirne, sagt Ihr? die Jungfer Külwetter mein’ ich … hübsch und sauber? ja, hübsch müssen die Weiber sein, das kann ein ordentlicher Kerl von Seiner verlangen. Und von gutem Hause, und reich? was will der Schelm mehr? Morgen Abend ist die Sache richtig, und gleich nach der unsern richtest Du die Hochzeit zu. Und wir sammt der Gräfin Sabine, alsdann unserem lieben Gemahl, bitten uns hiermit dazu bei Dir zu Gaste.“

Dem Bürgermeister war es heiß geworden, und der Kopf fing an ihm zu schwirren ob dieser kurzen, fürstlichen Art, mit seinem Handel umzuspringen. Aber er wußte, daß, wenn der Herr gerade in solchen Dingen, wo er es gut meinte, seinen Kopf aufgesetzt hatte, seinen fürstlichen Willen, um nicht zu sagen Eigenwillen, zur Geltung zu bringen, an keine Einrede zu denken war. Es half nichts, er mußte sich für die landgräfliche Huld bedanken und morgen dem Schicksal seinen Lauf lassen. – Und nun war der Tag endlich da, an dem schon seit Wochen die Gedanken von Tausenden voreilend gehangen hatten. Die Sonne selber, die von einem blauen, nur leicht und unmuthig bewölkten Himmel schien, lachte heller als sonst von den unzähligen bunten Wimpeln, den Teppichen und Tüchern nieder, durch welche die Gassen in oben offene Säle umgewandelt worden waren; sie küßte überall die warmen Farben noch wärmer, und selbst das graue Gestein verwitterter Mauern, ja verräucherte Dächer und Schornsteine überzog sie für heute mit einem goldenen Farbentone, sodaß sie aufs Beste in das prächtige Bild paßten.

Und unter diesem Himmel und umweht vom leisesten, frischesten Windhauch, der die Düfte der in den Kranzgewinden prangenden Blumen weit umhertrug, ging der Einzug des landgräflichen Herrn und der künftigen Landesmutter in die getreue Stadt, ging ferner Scene um Scene der längst vorbereiteten Feierlichkeiten unaufhaltsam von Statten, zog Schauspiel auf Schauspiel vorüber, um nicht mehr der Zukunft, nicht mehr der kurzen, für das gierige Schauen viel zu kurzen Gegenwart, dem flüchtigen Jetzt, sondern um von nun an der Vergangenheit und Erinnerung anzugehören und damit den Menschen eigentlich erst wirklich eigen zu werden.

Alles gerieth aufs Beste, nichts schlug fehl. Schon vom ersten Blicke auf das fürstliche Paar an hatte sich ein wahrer Taumel loyaler Erregung der sonst ziemlich hausbackenen Städter bemächtigt. That es doch schon jedem getreuen Herzen gut, die wohlbekannte Gestalt des allverehrten Landesherrn einmal wieder zu sehen, das biedere breite Gesicht, die kräftigen Schultern des ehrenwerthen, wenn auch etwas trockenen Herrn in der an ihm ganz ungewohnten Festtracht zu bewundern, mit den um den Werth eines Herzogthums nicht zu kaufenden Perlenschnüren am Hut und der Kette des goldenen Vließes auf der Brust. Freute man sich aber hier über das was man kannte, so war es wahrlich nichts Geringeres um das frohe Staunen, die befriedigte Neugier und die unbegrenzte Bewunderung, mit der aller Blicke alsbald an der neben dem Herrn reitenden hohen Frauengestalt hingen.

Das war sie also, das dunkelhaarige Weib in prächtiger Haltung, mit dem etwas vollen und stark gefärbten, aber doch nobelen und zugleich freundlichen Angesicht, den Augen voll Lebenslust und Heiterkeit, dem gutmüthigen, etwas spöttischen Munde! Ja, so sah eine echte Fürstin aus. Und wie sie auf dem Pferde saß und das feurige Thier ohne alle Anstrengung zügelte und regierte, nur nebenher, wie sich’s gehörte, und als ob sie davon nichts wisse!

„Ob die wohl spinnen kann?“ entfuhr es einem dürren, allzu bedenklichen Männchen. Hui, wie dem von den Danebenstehenden über den Mund gefahren wurde! „Unsere Landgräfin braucht nicht in der Stube zu sitzen! Die soll dem Herrn seinen Hof und sein Land wieder lieb machen, daß er sich nicht länger trübsinnig in seine ältesten Nester von Schlössern verhockt! Laß sie jagen und reiten, um so besser! Da kommen sie auf die Dörfer und sehen, wie der arme Mann wohnt und wie sein Getreide steht, und ob er auch den Zehnten zu erschwingen vermag! Und auch der Bürger kann ihnen eher einmal nahen und ein Anliegen vorbringen, als wenn sie kaum und nur zum Kirchgang an das Tageslicht kämen.“

[316] Hingen nun aller Blicke an dem Fürsten mit Vertrauen und Neigung, mit bewundernder Lust aber an der glänzenden neuen Erscheinung neben ihm, so war es ein ganz eigenes Hochgefühl, dem sich bei jedem Einzelnen etwas wie zärtlicher Stolz beimischte, mit welchem Alt und Jung den dem Fürstenpaare zur Seite reitenden Knaben, den „Sohn des Landes“ betrachtete. Der schien einem Jeden von ihnen anzugehören: Einer zeigte dem Anderen den herrlichen Jungen; man freute sich, wie er dem Vater und, nach der Behauptung der ältesten Leute, auch seinem kräftigen Ahn, dem Freunde des Doktor Martin Luther, wie aus dem Gesicht geschnitten war. Die Luft erbebte von dem immer erneuten Jubelgeschrei, mit dem die Menge den fürstlichen Zug begleitete, bis derselbe bei der am Eingange der Schloßgasse errichteten Ehrenpforte zuerst Halt machte.

[334] An der Ehrenpforte, mehrere Stufen über dem Boden erhöht, befand sich eine weite, ganz in Scharlach und Gold ausgeschlagene Estrade und darauf standen prächtige Sitze für das fürstliche Brautpaar und ihre vornehmsten Gäste; hier war es, wo, nachdem die erlauchte Gesellschaft Platz genommen hatte, die Ueberreichung der Geschenke der Stadt an die Landgrafenbraut stattfand.

Es nahm dieser Theil der Festlichkeiten, wie man denken kann, keine geringe Zeit in Anspruch, besonders da die Fürstin zwischendurch mit lateinischen sowohl als deutschen Reden und Gedichten, die keineswegs alle kurz waren, angesprochen wurde. Doch war man in jener Zeit an starke Dosen in Spiel und Scherz wie im Ernst, im Genießen sowohl als im Ertragen gewöhnt, und die hohe Frau hielt bewundernswürdig Stand; sie soll sogar zuguterletzt, das heißt nach Verlauf von mehr als drei Stunden, dem würdigen Doktor Avenarius für sein lateinisches Carmen mit ein paar wohlgesetzten Worten in der Sprache des Cicero, und zwar aus dem Stegreif, und dazu mit dem frischesten Lächeln, gedankt haben!

Die Herzen der Zünftler gewann Gräfin Sabine sämmtlich, wo dies nicht schon vorher geschehen war, durch die Art, wie sie eine jede Gabe aufnahm, ihrem Staunen und ihrer Freude darüber unverhohlen Ausdruck gab und zugleich sehr wohl merken ließ, wie sie den besonderen Werth eines jeden einzelnen Gegenstandes zu schätzen wisse. Ganz besonders gewinnend erwies sie sich auch gegen ihr eigenes Geschlecht, wo ihr dasselbe huldigend sich nahte, gegen die blumenspendenden jungen Städterinnen und die Töchter der fremden Weber, welche das Festgeschenk dieser Schutzbefohlenen ihres Gatten ihr überbrachten. Da hatte sie eine franke und zugleich mütterliche Art, welche alle Schüchternheit verbannte. Kosend fuhr sie der hübschen Rosine Külwetter, einer der Blumenspenderinnen, um das weiche Kinn und klopfte ihr die Wange, hieß auch die Mädchen in ihrer Nähe bleiben, diese sowohl wie die Webertöchter, die letzteren als halbe Landsmänninnen von ihr, wie sie freundlich sagte. Und so umgab denn dieser anmuthige Kranz die Stufen der Estrade, auf deren oberster die Fürstin noch immer unermüdlich verharrte, der Landgraf etwas hinter ihr.

Sogar das rechnete der allgemeine gute Wille der Gräfin hoch an, daß sie ihre helle Stirn, das fürstlich zarte Weiß und Roth ihres Angesichtes so lange der Sonne aussetzte und des Schutzes der weiter hinten über der Estrade aufgespannten seidenen Decken, sowie des hoch über allem aufsteigenden Ehrenbogens sich begab, um recht nahe an die Huldigenden herantreten zu können. Es war aber auch, als wenn die Sonne ihr das Dank wüßte und mit rechter Lust ein Bild bestrahlte, so reich und prächtig, so voll von heiterem kräftigen Leben, wie es ihr feuriges Auge selten begrüßen mochte – ein Bild, an dem nur Eines, nur die unabwendbare Vergänglichkeit, zu beklagen war.

Und schon jetzt nahte der Zeitpunkt, wo dies Bild sich auflösen und gleichsam zerrinnen sollte. Die Geschenke waren dargebracht und die Reden gehalten worden; eine Bewegung that sich kund, als ob nun bald ein anderer Akt dieses prächtigen Schauspiels beginnen werde. Nur Derjenige, von welchem erst der Anstoß für eine Veränderung der Scene ausgehen mußte, der Landgraf selber, zögerte noch.

Die Wahrheit zu berichten, war der hohe Herr, so wenig man dies seinem ruhigen, sogar etwas schwerfälligen Aeußeren ansehen mochte, innerlich in ungewöhnlicher Bewegung. Es war nämlich dieser Empfang durch die Bürgerschaft der wichtigsten Stadt des Landes, es waren diese Geschenke an die landgräfliche Braut so überraschend prächtig ausgefallen, und es überstieg das Alles soweit die Erwartung, daß es ihn förmlich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Doch kam ihm jetzt seine ruhige, schweigsame Art zu Hilfe: man war es an ihm gewohnt, daß er nicht viele Worte machte. Ein Mann war es, gegen welchen er seiner Bewegung, zum Theil wenigstens, in kurz hervorgestoßenen Sätzen, halben Ausrufen, Luft machte, ein Mann, der dieselben trotzdem wohl verstand und welchen sie mit frohem Stolze erfüllte, und dieser eine war der Bürgermeister der Stadt, der Doktor Tiedemars.

Der Landgraf hatte den Doktor die ganze Zeit über neben sich gehalten, hatte ihm bald zugenickt, bald, die Ueberreicher der Geschenke betreffend, eine kurze Frage an ihn gerichtet, hatte, mit einem Worte, vor allem Volk dargethan, daß er den Bürgermeister mit all diesem in Verbindung brachte. Denn das fühlte der Fürst wohl: insofern gerade der Werth und die Pracht der dargereichten Hochzeitsgaben die allgemeine Billigung seiner Wahl zum Ausdruck brachte, hatte er Niemand so sehr dafür zu danken, als dem klugen Manne neben sich. So fand er sich denn auch im weiteren, glänzenden Verlauf dieser Huldigungen von einem immer lebhafteren Gefühl überraschter Dankbarkeit gegen den Bürgermeister erfüllt, und gerne hätte er dieser Empfindung vor aller Welt einen so recht bedeutsamen Ausdruck verliehen.

[335] Eine schwere goldne Kette hatte er jetzt, da die Ueberreichung der Geschenke zu Ende war, vom Halse genommen und sie mit einem gnädigen Worte dem Bürgermeister umgehängt, zu der andern, von der kaiserlich römischen Majestät selber empfangenen, welche der Doktor schon über dem schwarzsammetnen Festwams trug. Den ehrerbietigen Dank des Bürgermeisters wehrte er kurz ab, mit den halblauten Worten: „Wir sind noch immer tief in Deiner Schuld, Jakob Tiedemars, aber wir wollen’s wett machen.“

Die Hand auf des Bürgermeisters Schulter gestützt, stand er da und ließ den Blick über das festliche Gedränge gleiten. Da blieb derselbe an einer jugendlichen Gestalt ganz vorne an den Stufen haften, der eines schlanken jungen Mannes, welchem die reiche Festtracht überaus wohl stand, wenn nur der Ausdruck des hübschen Gesichtes ein wenig besser dazu gepaßt hätte.

Mit rascher Frage wandte sich der Landgraf an den Bürgermeister; dieser bejahte und nun sah man alsbald den jungen Mann nach verwundertem Aufblick die wenigen Stufen ersteigen und erröthend vor dem fürstlichen Paare stehen.

Gar gütig begrüßte die Gräfin Sabine den Sohn des Bürgermeisters, denn dieser war es, welchen ihr Gemahl eben vor sie hin gewinkt hatte. Ihre muntern Augen hingen mit unverhohlenem Wohlgefallen an dem jungen Manne, während sie einige Fragen an ihn richtete. „Nur Eure eignen Augen, Herr, dürften festlustiger und minder ernsthaft dreinschauen,“ hatte sie eben neckend gesagt, als der fürstliche Gemahl sich mit leiser Rede an sie wendete.

Sie horchte lächelnd auf; Georg war indessen geziemend wieder zur Seite getreten. Dem Landgrafen war ein Gedanke gekommen. Mit kurzen Worten verständigte er die Dame, und auch ihr mochte die Sache nicht übel scheinen. Ihr Gemahl hatte ihre Aufmerksamkeit auf die ganz in der Nähe noch weilenden Jungfrauen gelenkt. Dort befand sich diejenige, welche der Bürgermeister dem Landgrafen auf seine Frage als die von den Eltern dem Sohne bestimmte Braut gezeigt hatte.

Nun traf es sich, daß dort allerdings Rosinchen Külwetter recht vorne an stand. Sie hatte diesen in die Augen fallenden Platz die ganze Zeit über tapfer behauptet, sogar mit einigen verstohlenen Ellbogenstößen nach hinten, die dem rosigen Jungfräulein gewiß Keiner von all den Vielen, welche sie heute bewundernd betrachteten, zugetraut hätte. Sie war aber auch gar zu reizend und appetitlich anzusehen in dem Festkleide von granatfarbenem Atlas mit weißseidenen Puffen, und aus der klaren Spitzenkrause hob sich die runde, feste Kehle und das apfelartige Angesicht mit solcher Frische und solchem Schmelz hervor, daß man hätte hinein beißen mögen, wie unter den Zuschauern auf der Gasse ein Alter mit wässerndem Munde behauptete.

Lag nun um die frischen, aber ein wenig zu fest aufeinander gepreßten Lippen ein gewisser Zug, der bei näherer Betrachtung zum „Anbeißen“ doch nicht gerade ermuthigte, so galt dieser nicht der allzu dreisten Bewunderung der Menge, sondern einzig und allein der Nachbarschaft, in welche Zufall oder Fügung Rosinen nun schon Stunden lang versetzte. Sie war nämlich, wie es sich traf, als Gräfin Sabine sie und ihre Genossinnen zur Seite winkte, hart neben die Tochter des Meister Lukas zu stehen gekommen.

Wer es hätte wissen können, wie Haß und Grimm im Busen Rosinens wühlten! und wie die Gluth auf ihren Wangen, welche sie noch schöner machte, da sie einen ihrer Hauptreize, den Farbenschmelz des Angesichts, erhöhte, eigentlich nur die Röthe des Aergers war! Ein Trost nur freilich, daß Rosinchen keinen Augenblick das Bewußtsein davon verlor, wie gut ihr die Purpurwangen standen. Und wenn ihr Bürgerhochmuth sich krümmte unter der Zufallstücke, die sie hier mit der von ihr so gering Geachteten auf eine Stufe stellte und sie und jene Stunden lang für das Volk zum selben Schauspiel vereinte, so kam es Rosinen während der ganzen Zeit doch kein einziges Mal in den Sinn, es könne Antlitz und Gestalt jener Andern neben ihr auch nur irgend einen Anspruch auf Beachtung erheben.

Und doch gab es unter den Zuschauern wenn nicht viele, so doch immerhin einzelne und nicht die schlechtesten Kenner, welche ganz anders dachten. Denn nicht nur daß die Festtracht der Brabanterinnen in ihrer strengen Eigenthümlichkeit etwas sehr Stattliches hatte – es konnte auch eine so edle, ebenmäßige Gestalt wie die Hildens in diesem für sie wenigstens kleidsamen Schmucke nicht anders als manchen staunenden Blick auf sich ziehen. Helle, heitere Farben freilich verbannte der ernste Sinn der kleinen Gemeinde, dem Eindruck aber, welchen Hildens stolz getragene Gestalt zu machen fähig war, that dies keinen Abbruch. Ja, man hätte sagen können, daß sie sogar neben der glänzenden Fürstin noch fürstlich aussehe in dem dunkeln Gewand von schwerem Stoffe und entsprechend reichem Schnitt; und ganz eigen und reizvoll erschien das klare Oval ihres Gesichts unter der schleierartig um Stirn und Wangen und über den Nacken niederfallenden Spitzenhaube, die von festanliegenden Silberplatten an den Schläfen gehalten wurde. Es war dies ein Schmuck, der die wunderschöne Form des für ihre schlanke Höhe kleinen Kopfes bei Hilden noch besonders hervorhob.

Wie dem auch sei, und ob auch dies Alles Vorzüge waren, welche nur dem feinern Auge auffielen – Einen gab es, der sie mit den Blicken nicht nur, der sie mit allen Sinnen empfand, und den sie gleichsam auf allen Punkten seines schmerzhaft empfänglichen Wesens reizten und verwundeten. Georg hatte diese ganze lange Zeit hindurch fast unbeweglich unten auf der Gasse, hart an den Stufen der Estrade, gestanden, wo er Hilden sowohl wie Rosinen etwas über sich und gerade gegenüber hatte. Er wollte leiden, heute noch ein Mal, mit ganzer Seele … er sog den Anblick der Geliebten in sich hinein unter schmerzlichem Genießen, etwa wie der Büßer, der den mystischen Rosenstrauch fest an sein Herz drückt, sodaß der Duft ihn fast berauscht, während zu gleicher Zeit die Dornen ihn zerfleischen.

Und wunderbar war es, wie in all dieser Menge etwas wie ein geheimer Zauber diese Beiden aussonderte, so daß sie eigentlich nur für einander da waren. Denn auch Hilde lebte während dieser Stunden allein im Empfinden der Nähe des Geliebten. Sie wurden nicht inne, wie die Zeit verging, noch achteten sie groß auf das glänzende Schauspiel vor ihnen, als sich die Scenen desselben lästig in den Raum zwischen sie und ihre Blicke drängten. Und von Blick zu Blick lebten sie nur. Auch Hilde, von dem erhöhten Daseinsgefühl dieses Tages getragen, gab sich willig in den Bann und tauchte wieder und wieder ihre schönen Augen wie zum Abschied sehnsüchtig tief in die heißen Jünglingsaugen, die sie immer dieses Blickes wartend fand. Ihr war zu Muthe, als möge noch heute kommen was da wolle; als dürfe sie an diesem einzigen Tage aus dem schäumenden Lebenskelche sich satt trinken, süßes Weh und bittere Lust, genug für ein Leben lang.

Bei all diesem konnte es geschehen, daß Rosine, die, wie gesagt, ganz nahe an Hilden stand und sich für das Ziel so vieler Blicke halten durfte, auch die beharrliche stumme Huldigung des hübschen Bürgermeistersohnes unten an den Stufen im Stillen auf ihr Theil setzte. Ihr Herz klopfte unter dem Atlasmieder und den kostbaren Spangen aufs neue höher auf in einer Hoffnung, die sie zuvor noch keineswegs ganz aufgegeben hatte. Zur selben Zeit aber achtete sie scharf auf Alles, was um sie her vorging, denn Rosine war nicht dazu gemacht, in Selbstvergessenheit zu versinken, selbst wenn ein Liebhaber im Spiele war. Und zugleich hatte sie die Gabe, unter gesenkten Lidern hervor mehr zu sehen als andere, wenn sie die Augen umher warfen.

Von den Mienen und Blicken, mit welchen das fürstliche Paar nach der Ansprache der Gräfin an Georg seine leise Wechselrede begleitete, war ihr nichts entgangen. Sie sah, wie das Auge des Landgrafen in ihrer Nähe suchte, sie aussonderte, wie er die Aufmerksamkeit der hohen Frau eben dahin richtete, und mit einem Male, unter stürmischem Herzklopfen, begriff Rosinchen, was der Fürst vorhatte. Wir wissen ja, daß in Allem, was sie selber betraf, ihr Verstand eine besondere Schärfe besaß. Blitzschnell reimte sie sich Alles in Gedanken zusammen. Der Landgraf wollte vor der ganzen Stadt dem Bürgermeister einen glänzenden Beweis seines Wohlwollens geben … Er hatte von der zwischen seinem und dem Hause Külwetter geplanten Verbindung gehört, und nun dachte er die Familie Tiedemars, die ihre und damit zugleich die ganze Bürgerschaft zu ehren, indem er die zwei ansehnlichen Stadtkinder hier auf der Stelle zusammen gab, und das bürgerliche Familienfest dadurch, daß er es mit seinem Feste gewissermaßen vereinte, aufs glänzendste zu erhöhen.

So ungefähr ahnte, bebte, hoffte die schöne Rosine, und wir wissen, daß sie das Vorhaben des Landgrafen ganz richtig deutete. Nun stand sie pochenden Herzens und harrte der weitern Entwicklung der Dinge. Und diese ließ nicht lange auf sich warten.

[348] Wenige Worte des fürstlichen Herrn hatten genügt, um die Dame an seiner Seite von der Idee, die ihm so plötzlich gekommen war, hinreichend zu verständigen, denn die Gräfin Sabine faßte rasch und wußte sich besonders ganz wunderbar dem Manne anzubequemen, dem sie gefallen wollte. Sie trat lächelnd vor; dabei aber hatte sie die Rechte um die Schultern ihres Stiefsohnes gelegt, den sie die ganze Zeit über so recht mütterlich dicht neben sich gehalten hatte. Die kluge Frau wußte sehr wohl, daß sie damit den Leuten ein Vergnügen bereite, doch war es wohl das nicht allein: die Kinderlose hatte von Anfang an ihre Herzensfreude an dem schönen Jungen gehabt, und dieser vergalt ihr das durch zutrauliche Anhänglichkeit.

Jetzt trat er, an sie geschmiegt, mit vor, und dadurch kam es der Fürstin, welche gerade die festliche Oeffentlichkeit solcher Scenen als ein ihr zusagendes und vertrautes Element vollkommen beherrschte, in den Sinn, der Sache noch eine besondere anmuthige Wendung zu geben. Sie löste sanft den Arm, welchen der Knabe ihr um den Leib gelegt hatte, und indem sie ihn, die Hand noch immer auf seiner Schulter, ein wenig vorschob, sagte sie vernehmlich mit ihrer klaren wohltönenden Stimme:

„Wie wär’s, kleiner Heinz, wenn Du heute einmal für uns den Freiwerber machtest? Laß sehen, ob Du klug genug bist, ein gar lustiges Räthsel zu errathen! Hier ganz in unserer Nähe stehen zwei, die sich längst lieb haben, doch fanden sie sich bisher nicht zusammen. Die suche Du mir heraus – ein kleiner Landgraf muß das können – und laß sie sich fest bei den Händen halten. Dann wollen Dein Herr Vater und ich ihnen gleich morgen den Weg zum Altare zeigen!“

Alles horchte auf: ein lächelndes Staunen trat auf den meisten Gesichtern hervor. Der Landgraf stand und strich sich behaglich das Kinn; etwas bedenklicher, aber gefaßt, als ein kluger Mann, auf Alles, was der wunderliche Tag bringen mochte, hielt sich der Doktor Tiedemars ein wenig hinter ihm. Die schöne Frau hatte sich indessen lächelnd zu dem Ohr des Knaben niedergebeugt und ihm etwas zugeflüstert, und es muß gesagt sein, daß dies Souffliren mehrere allzu gespannte Gemüther merklich beruhigte. Da war der kleine Fürst vorgetreten, über und über roth, aber mit einer sichern Art, die männiglich merken ließ, daß er einer solchen Rolle in einem öffentlichen Schauspiel wohl gewachsen sei, und hatte den seitwärts ganz in der Nähe stehenden Georg Tiedemars freundlich bei der Hand ergriffen. Ein rascher Blick auf die Eltern zeigte ihm, daß er den richtigen Mann habe; zugleich ging es wie ein frohes beifälliges Gemurmel unten durch die Menge.

Mit Georg, der kaum wußte, wie ihm geschah, und, wie manche bemerken wollten, ein gespanntes, aber durchaus kein freudiges Antlitz zeigte, trat der Knabe nun vor den bunten Kranz der Jungfrauen hin. Auch hier mußte er seiner Sache gewiß sein; hatte es doch die fürstliche Mutter an einem verständlichen Wink nicht fehlen lassen. Warum aber stockte er plötzlich – warum verflossen zwei, drei Sekunden, und wieder und wieder eine – so viele, daß die wunderlichsten Vermuthungen Zeit fanden, sich in den Köpfen der Zuschauer zu kreuzen – während Rosinens Herz, die ja ihr Glück näher und näher kommend wußte, indessen zum Zerspringen schlug!

Wie es in Augenblicken der Erregung ihre Gewohnheit war, hatte Rosine, da der kleine Fürst mit Georg herantrat, in einer Art von verstellter Gleichgültigkeit den Kopf gehängt und das Kinn auf den Busen sinken lassen. Schon eine Weile war es her, daß sie noch rasch den letzten Blick unter gesenkten Lidern hervorgeschossen hatte. Der Knabe hatte wohl zu wissen geglaubt, wer gemeint sei; als er aber jetzt von der hübschen Dirne nichts als eine vorgeneigte Stirn sah, als kein Blick von ihr ihm und dem, den er brachte, entgegen kam, da wurde er wieder unsicher. [350] Da fiel sein Auge auf Hilden, die er sofort erkannte. Fröhlich lachte das seine auf. Gewiß, das mußte die Braut sein! Wie sollte er ihr Beben, ihr Erglühen und Erblassen, wie die Bewegung, mit der sie ihm, dem Boten ihres Glückes, fast zu Füßen sinken zu wollen schien, anders deuten? Daß sie ihm schon einmal, und zwar in so freundlicher Weise, erschienen war, machte die Sache in dem Knabenkopfe nur wahrscheinlicher, wie vielleicht auch ihr eigenthümlicher Kopfschmuck ihm die Idee eines bräutlichen Putzes geben mochte. Und um den letzten Zweifel zu heben brauchte man nur einen Blick auf den Bräutigam zu werfen, der nicht anders aussah, als trete in ihr überwältigend eine himmlische Erscheinung vor seine Augen.

Und in der nächsten Sekunde war es geschehen! Der Fürstensohn hatte die Rechte Hildens in die Georg’s gefügt und beide mit seiner warmen Kinderhand fest zusammen gedrückt. Aber nur auf einen Augenblick, dann tönte ein erschütternder Jubelruf des Mannes, ein Name, durch die Luft; er öffnete die Arme weit und schloß sie fest, fest um die echte, die einzige Geliebte, die mit schluchzendem Aufjauchzen ihr Antlitz an seiner Schulter barg.

Natürlich war dies Alles viel zu schnell vor sich gegangen, als daß es irgend Jemand hätte verhindern können. Wohl hatte der Landgraf eine haftige Bewegung gemacht, als ob er dazwischen treten wollte, da fühlte er die Hand der Gemahlin auf seinem Arm und las in ihren sprechenden Zügen etwas, was ihn zurück hielt. Sie war mit gespanntem Blick der Scene gefolgt.

„Was sagt Ihr dazu, Herr?“ flüsterte sie jetzt. „Mich dünkt, unser Sohn hat, wie der kleine blinde Liebesgott selber, gleichsam mit verbundenen Augen doch die richtigen Leute zusammengebracht.“

Und unter den Zuschauern mochten nicht wenige ihrer Meinung sein, wenn sie die beiden schönen Menschen ansahen, ein Paar, welches die Mutter Natur selber in seltner königlicher Laune eigens für einander ausgestattet zu haben schien! Wie sie dastanden, schamhaft, daß ihr Glück so viele Zeugen hatte, und doch – wenigstens konnte man dies dem jungen Manne in jedem Zuge ansehen – gewillt, dies Glück, sei es ihnen nun gegönnt oder ungegönnt, zu ergreifen und festzuhalten auf Lebenszeit!

Es waren nicht viele Worte, die sie hastig einander zuflüstern konnten im Wirbel dieser wunderbaren Vorgänge.

„Was war das? hast Du es gewußt, Georg?“ flüsterte Hilde dicht am Halse Georg’s. „Nein!“ Er lachte leise auf und sie fühlte jeden Schlag seines Herzens, so fest hielt er sie. „Und ich glaube, es war ganz anders gemeint. Nun aber habe ich Dich und halte Dich, vor aller Welt. Die Hand des Knaben hat das Schicksal selber geführt ... ihm soll, wird er einst mein Herr, dafür mein letzter Blutstropfen gehören ...“

Der landgräfliche Herr indessen, der sich mehr durch die harte Wirklichkeit längst bekannter Thatsachen bestimmen zu lassen gewohnt war, als durch die Offenbarungen liebender Blicke und Mienen, sah noch keineswegs zufriedengestellt, vielmehr betroffen und verdrießlich aus. So wendete er sich auch zu dem Bürgermeister, und wenn es geschehen kann, daß der Fürst sich bei dem Unterthanen entschuldigt, so hätte man glauben können, etwas dergleichen gehe zwischen den Beiden jetzt vor.

Die Antwort aber, welche Herr Jakob Tiedemars darauf gab, mußte darnach angethan gewesen sein, den Mißmuth seines wohlgesinnten Herrn zu dämpfen. Der Landgraf richtete den Blick, der bei allem anscheinenden Phlegma des Herrn zuweilen eine durchdringende Schärfe annehmen konnte, lange aufmerksam auf die Jungfer Hilde, und diejenigen, welche sich auf den Ausdruck seiner Mienen verstanden, konnten merken, daß ihm der Gegenstand dieser Betrachtung keineswegs mißbehagte. Es fielen noch einige kurze Reden zwischen ihm und dem Bürgermeister ... die Zunächststehenden glaubten von den landgräflichen Lippen etwas wie die Worte fallen zu hören. „Der Junge hat Augen im Kopf, das muß man ihm lassen ...“ und ferner: „Der Meister Lukas ist ein braver, frommer Mann“ – worauf der Herr Doktor Tiedemars sich zustimmend verneigte. Und darauf betrachtete der Landgraf von neuem unverwandt das junge Paar, welches indessen vorgetreten war und nun vor der Fürstin kniete.

Diese hob sie nicht sofort auf, vielmehr schien ein gewisser gutmüthig spöttischer Zug um ihren Mund deutlich zu sagen: Kniet Ihr nur immer eine Weile – so viel wenigstens habt Ihr verdient. Uebrigeus war sie, mit einem echt fürstlichen Gedächtniß für Verhältnisse und Personen begabt, über das vermuthliche Vorspiel des wunderlichen Vorgangs sowie über die Folgen, welche man demselbeu am besten geben würde, bereits mit sich im Reinen. Sie wendete sich zurück zu den beiden Männern und zwar zunächst zu dem Bürgermeister.

„Wie Ihr seht, Herr,“ sagte sie heiter, „verlangen für ein Unheil, welches der lose Gott Cupido angerichtet hat, diese Zwei hier unsere Verzeihung, zugleich aber auch, so dünkt mich, unsern heilenden Segen. Uns aber steht es nicht zu, das Eine oder das Andere zu gewähren ohne Euern und des Meister Lukas Vanderport guten Willen. Euch frage ich zuerst: was sagt Ihr?“

Es war so still unter der dichtgedrängten Menge um die Bühne herum, als ob jeder Einzelne den Athem zurückhielte, als der Bürgermeister jetzt sprach. Wie der Mann, der er war, hatte sich Doktor Tiedemars in der letzten Viertelstunde mit den Umständen abgefunden, denen er es hingehen lassen mußte, daß sie dieses eine Mal mächtiger waren als er. Und nun sagte er, mit schuldiger Ehrfurcht gegen die hohe Frau in Ton und Haltung, aber mit fester, ringsum vernehmlicher Stimme:

„Ermuthigt durch so viel heute erfahrene fürstliche Huld wage ich nichts Geringeres zu bitten, als daß Eure hochgräfliche Gnaden geruhen möge, beim Meister Lukas Vanderport für meinen Sohn um seine Tochter zu werben. Meinem Hause wird es eine Ehre sein, die Jungfrau als Tochter zu empfangen, und – verzeiht mir – nicht nur um Eurer, sondern auch um ihrer selbst willen. Denn ich habe es aus guter Hand, daß sie in Sitte und Wandel ebenso untadelig ist, wie unser aller Augen heute in ihr eine Zier ihres Geschlechts erblicken.“

„Bei Gott, die haben Recht, die Euch einen klugen Mann nennen,“ sagte hierauf die Gräfin Sabine leise, nur dem Bürgermeister zum Gehör. Etwas wie Muthwillen blitzte in ihren Augen auf, als sie den Kopf wieder hob. Durch die Menge aber ging es wie ein verhaltenes dumpfes Brausen der Erregung. Als der Laudgraf jetzt, rasch vortretend, sagte: „Nun gut, mein Getreuer, so werben wir Deinem Sohne noch heute die Braut, und morgen richten wir, wenn Meister Vanderport sie nicht versagt, den Beiden mit der unsern die Hochzeit an –“ da brachen schon einzelne Jubelrufe des Volkes aus; doch wurden sie wieder gedämpft; noch einmal wollte Alles hören, denn die Gräfin Sabine sprach:

„Wenn mein fürstlicher Herr den Braut- und Hochzeitsvater macht, so wird man mir nicht verwehren, Brautmutter zu sein und die Braut auszustatten nach ihrem und meinem Landesbrauch,“ sagte sie. Da aber brach das Beifallsgeschrei der Menge herein, donnernd und unaufhörlich, wie eine losgedämmte Fluth, und übertönte den Rest ihrer Rede, den heitern Scherz, mit dem sie Hilden, welche sie indessen gütig aufgehoben hatte, darüber tröstete, daß man ihr den Mahlschatz nach der Hochzeit bereiten müsse. Verschlungen war in der allgemeinen Lust, in dem begeisterten Wohlgefallen am Thun und Behaben der Fürstin der Gedanke, daß diese hohe Gunst einer Fremden, keinem Stadtkinde, zu theil werde. Ein Anderes hatte sich Bahn gebrochen und schwellte den Jubelruf aus manch einer derben Kehle, daß er noch lufterschütternder hervorbrach – die Empfindung, wie in der Person des braven Vaters einer solchen Tochter zugleich der arbeitsame Stand, dem er angehörte, ja der ganze Handwerkerstand geehrt werde.

Wieder und wieder trug das brausende Jubelgeschrei die Namen des Landgrafen, der Gräfin Sabine und des jungen Fürstensohnes empor, dem übrigens nachträglich ein kleiner Schrecken nicht erspart blieb, als er zu begreifen begann, was er eigentlich angestiftet hatte. Doch wußte ihn darüber die Gräfin Sabine aufs Beste zu trösten, indem sie ihm vor aller Augen einen herzlichen Kuß gab. Dabei aber flüsterte sie lustig: „Das ist noch gut abgelaufen, Heinz, besser als Du und ich und Dein Herr Vater verdienten.“

Aber auch der Bürgermeister und endlich selbst Meister Lukas, der Weber, wurden durch jubelnde Rufe der erregten Menge geehrt. Die Külwetters waren vergessen oder man dachte ihrer wohl gar mit geheimer Schadenfreude, denn der Geiz des Alten war nicht geeignet, ihm viele Freunde zu machen. Uebrigens konnte, wie Rosine sich selber zum Troste sagte, von dem vollen Umfang der furchtbaren Enttäuschung, die sie heute erfahren hatte, Niemand etwas wissen. Dennoch suchte sie später manch ein theilnehmender [351] oder neugieriger Blick, und man sah sie auch noch, etwas erblaßt, aber doch mit leidlicher Fassung, unter den Gefährtinnen sich bewegen. Niemand ahnte, auf welche Weise Rosine verhindert hatte, in jenem schrecklichen Augenblicke ohnmächtig zu werden, indem sie nämlich eine Nadel aus ihrem Putz gezogen und sich die Spitze tief in den vollen Arm gebohrt hatte.

Am folgenden Tage wurden Georg und Hilde, nachdem die fürstliche Trauung glänzend vollzogen worden war, vor dem Altare der Schloßkirche zusammen gegeben. Der Landgraf selber führte dem Sohne seines Getreuen die Braut zu. Und die Frau Bürgermeisterin, obwohl sie vor Schrecken schier erkrankt wäre ob dieser so plötzlich über sie hereinbrechenden Hochzeit, soll sich unter diesen Umständen zufrieden gegeben und sich mit dieser sowie mit der neuen Tochter ausgesöhnt haben.

Doch das ließ sich am Ende erwarten, dagegen wunderten sich manche darüber, wie ruhig Meister Lukas Vanderport sich in all dies unerhörte Glück finde. Man nahm es ihm sogar übel, wenn er mit den so ruhig aus dem alten Gesicht hervorleuchtenden Augen sagte, seines Gleichen habe in diesem Pilgerstande auf Ehre wie auf Schande gefaßt zu sein und dürfe sich weder durch die eine noch auch durch die andere auf seinem Wege groß aufhalten lassen.

Von den beiden damals an ein und demselben Tage in der Schloßkirche geschlossenen Ehen aber hieß es noch lange nachher im Lande, es müsse wohl die eine der andern Glück gebracht haben.