Die Geschwister (Philipp Wengerhoff)

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Autor: Philipp Wengerhoff
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Titel: Die Geschwister
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38–52
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[629]

Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.


1.

„Lisbeth, putze doch noch den Kronleuchter blank, die Bronze sieht so blind aus! Was machst Du eigentlich jetzt da drinnen?“

„Ich reibe das Parkett auf, Mama,“ klang es durch die halbgeöffnete Thür zurück, „bin aber gleich fertig.“

„Schön,“ sagte die Frau Geheimrätin, „wir müssen uns auch eilen. Es ist schon elf Uhr. Papa wird bald zum Frühstück heraufkommen.“

„Der Frühstückstisch ist gedeckt und das Beefsteak für ihn steht hergerichtet. Sobald er sichtbar wird, kommt es schnell in die Pfanne. Ist Elfriede noch nicht aufgestanden?“

„O ja – aufgestanden wohl,“ antwortete die Mutter, stieg von der Trittleiter hinunter, auf der sie bis dahin gestanden, um leichter die hohe breitästige Palme, welche die Mitte des Blumentisches einnahm, abstäuben zu können, und guckte hinter die Gardine, welche in schweren Falten den Erker einrahmte.

„Du Faulpelz!“ sagte sie mit einem mehr zärtlichen als verweisenden Ton zu dem jungen Mädchen, welches aus der langhaarigen weißen Felldecke eines kleinen Diwans heraus in völligster Gemütsruhe die eifrige Mama anschaute, ohne ihre Stellung zu verändern. „Du Faulpelz, eben erst dem Bette entschlüpft, pflegst Du Dich nun hier weiter und wir müssen uns plagen!“

„Warum plagt ihr euch?“ kam es zurück, „dazu sind doch Dienstboten auf der Welt,“ und das Fräulein dehnte sich noch ein wenig, legte den Arm, von dem der weite Aermel des Morgenkleides zurückfiel, über den Kopf und senkte die langen Wimpern über die Augen, als beabsichtigte sie wirklich den Morgenschlaf hier fortzusetzen.

Die Mutter bestrebte sich, ein mißbilligendes Gesicht zu machen, dabei war sie aber von dem Anblick des jungen Geschöpfes so entzückt, daß die begonnene Strafpredigt in Vergessenheit geriet. Wie ein zierliches Kätzchen lag die Kleine hingeschmiegt: das dunkle Köpfchen hob sich reizend von dem silbergrauen Angorafell ab, ein himmelblaues Flanellkleid mit gelblichen Spitzen umfloß den schlanken Körper des Mädchens, dessen achtlos anmutige Stellung jedem Künstler zur Augenweide hätte dienen können. Warum mußte sie, die beglückte Mutter, allein den Anblick von so viel holdem Liebreiz genießen! Sie hätte ihn am liebsten mit aller Welt geteilt.

„Dienstboten!“ nahm sie nun endlich das letzte Wort auf, „ich möchte wohl wissen, wie weit die alte Hanne allein mit der großen Wohnung käme, wenn ich und Lisbeth es machten wie Du, faules Mädel!“

„Nun, das weiß ich sicher, ich an Deiner Stelle, Mama, thät’s nicht.“

„Du bist ein kindisches Geschöpf,“ ereiferte sich jetzt die Mama, „wenn ich das nicht dächte, würde [630] ich Dir ein solches Gerede ernsthaft übelnehmen. Es ist wirklich hohe Zeit, daß man Dich zum Mitanfassen bringt. Wie soll ich es denn sonst machen? Unsere Position in der Gesellschaft verlangt einen gewissen Aufwand, Papas amtliche Stellung eine derselben entsprechende Repräsentation.“

„Provinzial-Steuer-Direktor – Geheimer Oberfinanzrat,“ unterbrach sie die junge Dame mit leicht maskiertem Gähnen.

„Nun ja,“ sagte die Mutter, „mithin als Vorstand einer hohen Behörde eine der ersten Spitzen des Beamtentums und der gesellschaftlichen Kreise dieser Stadt. Man sagt immer, ohne Vermögen sei solche Stellung nicht auszufüllen. Nun – wir geben den Gegenbeweis, dafür müssen wir uns freilich im Hause einrichten.“

Fräulein Elfriede hatte sich langsam erhoben und war der Mutter in das anstoßende Zimmer gefolgt. Dort ergriff sie lässig eine Vase mit künstlichen Blumen und begann, die in Unordnung geratenen großen Mohn- und Sonnenblumen wieder zur schönen Wirkung zu ordnen. Dabei sagte sie rückwärts gewendet:

„Lisbeth sagt immer, Du gehst zu weit mit Deiner Hausfrauentugend, Mama, Du gäbest zu viel aufs Aeußere, man könnte es sonst viel behaglicher haben.“

„Ach, Lisbeth,“ meinte die Mutter zurück, mit einer leicht hörbaren Geringschätzung im Ton, „die hat eben gar kein Standesbewußtsein. Bei ihr habe ich’s von Anfang an dadurch versehen, das; ich sie ihren Umgang nach eigenem Belieben wählen ließ. Bei Dir habe ich’s klüger angefangen und Du bist gewiß froh darüber, daß alles einen feinen und vornehmen Anstrich in unserem Hause hat. Nicht wahr, Du möchtest es nicht anders haben?“

„Nein, Mama, ich könnte mir meine Umgebung auch gar nicht anders denken. Aber das müßte sich doch auch vereinigen lassen mit einem bequemen und behaglichen Leben für die Hausfrau.“

„O gewiß,“ lächelte die-Mutter, „Du mußt nur dazu klüger wählen, als ich gewählt habe.“

„Was heißt das?“

„Sehr einfach – Du mußt einen reichen Mann heiraten.“

Ein Zug, der gar nicht zu diesem kindlichen Gesicht paßte, erschien plötzlich darauf. „Das versteht sich für mich von selbst.“

„Wie gut,“ meinte bedeutsam die Frau Geheimrätin, „daß es Dir vom Schicksal so leicht gemacht wird, den Traum zur Wirklichkeit werden zu lassen.“

Aus dem Saal, in dem sie bis jetzt gearbeitet hatte, trat nun Lisbeth, die Bohnerbürste und das Staubtuch noch in der Hand.

„Eben kommt Papa,“ sagte sie, „möchtest Du ihm nicht beim Frühstück Gesellschaft leisten, Mama? Was dann noch zu thun bleibt, besorge ich schon.“

„Gewiß, Lisbeth,“ antwortete die Mutter, streifte schnell die Handschuhe, die sie bei der Arbeit an den Händen getragen hatte, ab, zog die Wirtschaftsschürze aus und ging mit freundlichem Lächeln ihrem Gatten entgegen, der, ins Zimmer tretend, den Seinen liebevoll zunickte.

„Na, Kleine, wie lange haben wir denn heute wieder in den Federn gelegen?“ fragte er sein Töchterchen, das von der kleinen Arbeit schon längst wieder im Lehnstuhl ausruhte. Sie sprang auf, ihm entgegen; er zog sie einen Augenblick zu sich heran, drückte ihr Köpfchen an seine Brust und wandte sich dann zu Lisbeth:

„Ich habe Dir da eine Arbeit in Dein Zimmer gelegt, wir sprechen hernach noch darüber. – Und jetzt mein Frühstück, bitte! Er gab seiner Frau den Arm und trat mit ihr und Elfriede in das benachbarte Speisezimmer, wo ein zierlich gedeckter Tisch sie erwartete. Wie alltäglich sorgte die gute Hausmutter nun für die kleinen Bedürfnisse ihres Gatten beim Essen und saß dann, mit einer Arbeit in der Hand, behaglich an seiner Seite.

„Höre einmal, Frauchen,“ begann der Geheimrat, während er sein erstes Ei aufschlug, „ich möchte Dir heute Schmidt erst um ein Uhr herauf schicken. Es ist so viel zu thun, Stöße von Akten liegen ungeheftet, es geht kaum anders. Schließlich gehört der Bote doch zuerst ins Bureau.“

„Liebster Mann, das ist unmöglich – ich wollte Dich gerade bitten, daß Schmidt vor zwölf Uhr herauf kommt. Wenn es sich nur um das Heften von Akten handelt, kann er sie ja herauf bringen und im Dienerzimmer daran arbeiten, nachmittags hilft ihm dann Lisbeth. Wir haben heute die Visite des neuen Obersten vom Kürassierregiment zu erwarten – Du willst doch nicht, daß Hanne ihnen aufmacht?“

„Nein,“ sagte kurz der Herr Geheime Oberfinanzrat, „dann muß es sein. Aber woher weißt Du es so bestimmt, daß sie gerade heute kommen?“

„Ich sprach gestern im Theater die Frau Rittmeister Fromm. Sie erzählte, daß Giersbachs mit ihren Besuchen beim Militär fertig seien und heute mit denen beim Civil beginnen. Da ist es bald ausgerechnet, daß sie um halb ein Uhr etwa hier sind. Sie fahren natürlich zuerst zum Oberpräsidenten, die Excellenz nimmt nie an, dann zum Regierungspräsidenten, da sind die Damen noch verreist, dann also zu uns.“

„Ja, aber warum willst Du sie denn annehmen, wenn es so gegen die Gepflogenheit ist?“

„Ich habe es mir überlegt, Erich, es paßt nach vielen Seiten hin besser, und – ich denke, ich darf es mir erlauben, auch einmal den Ton anzugeben.“

Ihr Mann sah sie fragend an.

„Es gefällt mir gar nicht,“ fuhr sie fort, „daß man bei der ersten Visite nicht angenommen wird. Wenigstens wir Spitzen untereinander sollten endlich von dieser Sitte absehen. Es ist doch nötig, daß man gleich etwas Fühlung miteinander bekommt, und nehmen wir sie nicht an, so können sie es doch auch nicht gut – so gehen Wochen hin, ehe man den neuen Kommandeur des Regiments kennenlernt. Und dann noch eins: Frau von Giersbach müßte doch, wenn eine Einladung von uns an sie kommt, abermals einen Besuch hier machen – kann ich wissen, ob das für uns so paßt? Vielleicht ist Schmidt nicht da, oder die Zimmer sind nicht geheizt und erleuchtet – und dann macht sich unsere neue Saloneinrichtung am Tage so viel schöner. Oeffne nun die Flügelthüren, Lisbeth; nicht wahr, Erich, es ist wunderschön bei uns, und wer so aus der Mietwohnung kommt, dem imponiert das immer mächtig.“

„Na, dann will ich Dir also den Schmidt schicken, Käthchen.“

„Kinder,“ wandte sich die Mutter an die beiden Mädchen, „macht schnell Toilette! – Elfchen, Du ziehst das weiße Kleid an.“

„Wo ist denn Leo?“ fragte der Vater im Gehen, „ich habe den Jungen seit gestern mittag nicht zu Gesicht bekommen.“

„Doch wohl in seinem Zimmer,“ kam die Frau Geheimrätin der Antwort ihrer Töchter zuvor. „Als ich um sieben Uhr ihm den Kaffee hinein brachte, saß er schon bei den Büchern.“

„Du, Liesel,“ flüsterte Elfe der Schwester zu, „als ich vor einer Stunde hier im Vorsaal die Ehre einer Begegnung mit ihm hatte, kehrte er schon von einem Spaziergange heim.“

Lisbeth seufzte ein wenig, ging über den Flur nach ihres Bruders Zimmer, und als dann auf ihr Klopfen kein Ruf ertönte, öffnete sie die Thür und schaute hinein.

„Natürlich, wieder fort,“ sagte sie leise und sorgenvoll vor sich hin, „nun frühstückt er wieder auswärts, kommt mit unfreiem Kopf nach Hause und hat später das Mittagsschläfchen gerade beendet, wenn er es an der Zeit findet, zum Abendschoppen auszugehen. Wie soll das nur werden? Ob ich’s nicht doch Papa sage – es wäre doch nur zu seinem Besten.“

Sie stand noch in unruhigem Sinnen, als die Mutter sich ihr näherte.

„Du bist’s, Lisbeth? – Sage nur Papa nichts davon, daß Leo fortgegangen ist. Er hatte eine notwendige Besorgung und –“

„Mama, Du solltest Leos Faulheit wirklich nicht immer beschönigen. Es wäre recht gut, wenn Papa ihm einmal ordentlich den Kopf wüsche. In wenigen Wochen soll er nach Berlin zum Examen – wie kann das enden, wenn er diese Zeit so wenig benutzt!“

„Ich begreife Dich nicht! Arbeitet er noch nicht genug? Immer kann doch solch’ ein junger Mensch nicht bei den Büchern sitzen. Er ist außerdem so gescheit, so vorzüglich beanlagt und – Papas Sohn, der wird doch wohl das Examen machen, auch ohne daß er sich krank studiert. Mache mir ja zu Papa nicht solche Bemerkungen, er kann es weniger ermessen, wie ungerecht Dein Urteil ist, und macht sich dann unnütze Sorgen.“

Es räusperte sich jemand auf dem Küchenvorplatz, die Frau Geheimrätin wandte sich schnell nach vorn. Ein älterer Mann stand in ehrerbietiger Haltung vor ihr und sah sie fragend an: der Herr Geheimrat hätte gemeint, er solle heute auch diese Stunden im Bureau arbeiten – ob die gnädige Frau damit einverstanden sei.

[631] „Nein, Schmidt, durchaus nicht; Sie müssen hier bleiben. Ich habe es mit dem Herrn Geheimrat schon abgemacht. Ziehen Sie nur schnell die Livree an, wir haben bald Visiten zu erwarten.“

Sie eilte nun in ihr Ankleidezimmer, und als sie eine halbe Stunde später in einfacher aber elegant sitzender schwarzer Seidenrobe in den Salon trat, fand sie Lisbeth schon vor, die gleichfalls in modischer und gefälliger Toilette war.

„Hast Du nach der Küche gesehen, Lisbeth? Hanne ist mit den Hasen beschäftigt, da bleibt ihr wenig Zeit für das Mittagessen.“

„Die Hasen? Sollten die nicht erst zu morgen sein?“

„Ja, aber nun wir Gäste haben, essen wir sie heute abend.“

„Gäste? Wer kommt denn?“

„Groß und Walden haben sich angemeldet.“

„Walden schon wieder? Was heißt das nur?“

Die Frau Geheimrätin zuckte die Achseln und lächelte. „Wir müssen hier doch wohl einen Magnet haben, der ihn anzieht.“

Lisbeth sah sie verständnislos an; in dem Augenblick trat die jüngere Schwester ins Zimmer, in dem weißen Kleide in der That noch schöner, noch pikanter und reizender als vorher. Lisbeth blickte sie zärtlich an, sah unwillkürlich zur Mutter hin und las in ihren Augen die Fortsetzung ihrer letzten Worte. „Um Gottes willen!“ rief sie erschreckt, aber die Frau Geheimrätin legte sehr energisch den Finger auf den Mund – „stillgeschwiegen“ las sie gleichzeitig in ihren Blicken.

Da trat der Diener ein, auf einem silbernen Teller mehrere Visitenkarten überreichend.

„Ich lasse bitten,“ sagte die Frau des Hauses – und leiser fügte sie hinzu: „benachrichtigen Sie hernach schnell den Herrn Geheimrat und den jungen Herrn.“

Eine kleine erwartungsvolle Pause, dann begrüßte man die Neuangekommenen. Der Oberst war ein älterer aber noch sehr stattlicher Herr, der immer in einem gewissen poltrigen Ton redete, seine Gattin viel jünger und, wie es schien, etwas verängstigt durch seine Art, und dann das Töchterchen, so klein und zierlich, so rosig, zart und blond, wie ein Rokokofigürchen anzusehen.

Man ging durch den Salon in den Saal, und die Frau Geheimrätin hatte die Freude, daß ihre Gäste sofort die herrlichen Räume bewunderten und Frau von Giersbach bei der Frage nach der hier von ihnen bezogenen Wohnung über den Vergleich einen leisen Seufzer ausstieß. –

Nun kam auch der Geheimrat – eine neue Begrüßung erfolgte, man setzte sich wieder, und kaum hatte ein Gespräch über die Sitten und Gewohnheiten der hiesigen Gesellschaftskreise begonnen, als etwas sehr geräuschvoll aber mit den gewandtesten und elegantesten Allüren ein junger Mann in den Saal trat.

„Mein Sohn Leo,“ sagte der Geheimrat, „Referendar bei der hiesigen Regierung,“ und über sein Gesicht flog, schwer unterdrückt, der Ausdruck väterlichen Stolzes.

Auch auf dem Antlitze jedes der drei Gäste las man den gleichen Gedanken: welch’ ein schöner Mensch! – und auf dem der Frau von Giersbach noch klarer ausgeprägt den: welch’ eine schöne Familie! – Unwillkürlich flogen ihre Blicke von einem zum anderen: die Mutter mochte wohl in ihrer Jugend ebenso ausgesehen haben wie diese entzückende Elfe, und dieses blonde, große, schlanke Mädchen war ja ganz des Vaters Ebenbild, während der Sohn mit dem schönen, dunkeln, feingeschnittenen Kopf der Mutter und mit der schlanken, hochragenden Gestalt dem Vater nachgeartet war. Er hatte, nachdem er sich im Kreise umgesehen, mit einer geradezu überraschenden Wendung seinen Stuhl neben Fräulein von Giersbach geschoben und plauderte nun so lebhaft mit ihr, daß der Herr Oberst ein Mal über das andere Mal verwundert seine Blicke dorthin richtete, wo man jedoch von diesem Zeichen der Mißbilligung gar keine Notiz zu nehmen schien.

Die Damen auf dem Sofa waren auch viel eingehender in ihrer Unterhaltung geworden, als dieses sonst bei der ersten Visite zu sein pflegt. Die Frau Oberst fragte, die Frau Geheimrätin gab Auskunft und verstand es sehr gut, so anspruchslos sie that, ihre Stellung und ihre Bedeutung in der Gesellschaft ins rechte Licht zu setzen. Doch während sie sehr ernsthaft über allerhand Verhältnisse „in unseren Kreisen“ sprach, verfolgte sie die ganze Zeit über der eine Gedanke: die macht Visite im Schleppkleide – ist das in Berlin jetzt üblich? und wie arrangiere ich dann danach meine Toilette?

Endlich brach man auf. Der Oberst schlug vor jeder der Damen sporenklirrend die Hacken zusammen und verneigte sich tief und tiefer. Frau von Giersbach reichte jedem freundlich die Hand und flüsterte der Frau des Hauses allerlei Schmeichelhaftes zu, und das kleine Fräulein Annie errötete immer und immer wieder, denn jetzt besann sie sich erst, daß sie über der fesselnden Unterhaltung, die der Sohn ihr bot, mit den Damen kein Wort gewechselt hatte. Sie versuchte es noch im letzten Augenblick auszugleichen, aber er wich nicht von ihrer Seite.

[„]Gnädiges Fräulein, der erste Tanz beim ersten Ball im ,Klub’, ich bitte inständig um die Zusage!“

Sie sah ihn ängstlich an und unsicher auf ihre Umgebung. „Ich weiß wirklich nicht –“

Der Herr Referendar war gar nicht unsicher. „Verehrter Herr Oberst, gnädigste Frau Sie werden doch dem ,Klub’ die Ehre erzeigen, den ersten Ball dort zu besuchen?“

Fräulein Annie, feuerrot im Gesicht, schaute zweifelnd auf den Vater und unendlich bittend die Mutter an.

„Nun, mein werter Herr Referendar, da möchte ich mir die Entscheidung doch noch vorbehalten.“

Jetzt mischte sich das geheimrätliche Ehepaar ins Gespräch und versicherte, das ginge doch gar nicht anders, man würde es zu sehr beklagen, bei der ersten Winterveranstaltung einer Gesellschaft, zu der sie alle gehörten, den Kommandeur des Kavallerieregiments zu vermissen, und sogar seine Gattin gewann den Mut, ihm zuzureden: „Wir haben doch nun eine erwachsene Tochter, Männchen, und müssen deren Jugend wohl einige Konzessionen machen.“

Kurz, nachdem er Einiges undeutlich gebrummt hatte, entschied er: „Wir wollen sehen – wollen sehen!“

Der Herr Referendar strahlte über seinen Sieg und verbeugte sich tief vor der kleinen Dame.

„Ich nehme dies als Ihre Zusage, gnädigstes Fräulein.“

Sie errötete und erblaßte und errötete noch einmal.

„Ich freue mich so sehr darauf, wenn es doch ein Walzer wäre –“ und hinaus war sie und schneller die Treppe hinunter, als Schmidt ihr folgen konnte, der dann aber doch vom Wagen aus noch einen ganz warmen Blick von ihr erhielt.

„Ist das einmal eine angenehme Familie!“ sagte die Frau Oberst zu ihrem Gatten, als sie davon rollten, „ich freue mich recht dieser Bekanntschaft. Wie schön alles da ist: die Menschen und die Räume und die Einrichtung.“

„Ja,“ bestätigte der Oberst, „es war alles sehr schön. Das Gebäude ist prächtig, da ist es leicht, solche imposante Dienstwohnung zu schaffen. – Ja, für solche Bauten ist immer Geld da. Unsereiner muß sich in Mietwohnungen herumstoßen.“

„Es sind gewiß sehr reiche Leute, diese Geheimrat Brückners,“ meinte Frau von Giersbach wieder, „was für eine prachtvolle Saloneinrichtung! Ueberhaupt macht alles solchen gediegenen, soliden Eindruck. Schon der alte Diener in der geschmackvollen Livree – wenn ich dagegen an unsere ewig anzulernenden Bauernburschen denke! Ja, die Civilbeamten haben es doch gut.“

„Ich bin auch sehr für Civil,“ mischte sich jetzt Fräulein Annie in die Unterhaltung.

„Was hast Du für Civil zu sein, Du Kick-in-die-Welt!“ polterte der Alte sie an, daß sie, über die eigene Dreistigkeit erschreckt, zusammenfuhr, während er amüsiert ihre Verlegenheit beobachtete.

Droben in den eben verlassenen Räumen gab es inzwischen einen kleinen Sturm. Mama Brückner ärgerte sich zu sehr über ihren Sohn, und da er pfeifend auf und ab schritt und gar nicht zu ahnen schien, wie sehr und womit er ihren Zorn gereizt hatte, brach sie endlich damit hervor: „Du könntest auch etwas Besseres thun, als Dich sofort bei dem Baby als Courmacher aufzuspielen,“ sagte sie, vor ihm stehen bleibend, da er sich nun in die Sofaecke geworfen hatte.

„Ein süßer, kleiner Fratz, nicht wahr, Mama? Es machte mir riesigen Spaß, wie sie bei jedem Wort erglühte – hernach, wie sie erst so ordentlich im Zuge war, genügte schon ein Blick, und das Blut stieg ihr bis unter die blonden Stirnlöckchen.“

„Du bist ein ganz frivoler Mensch mit Deinem ewigen Süßholzraspeln!“ schalt sie weiter. „Sieh Dir doch wenigstens die an, denen Du das anbietest. Mit diesem alten brummigen Oberst ist nicht zu spaßen, wir kommen noch in des Teufels Küche durch Deine Keckheit. Was sollte das nur wieder mit dem Tanz? Wenn das erst Grimms hören, Du verscherzest Dir noch alle Aussichten durch Deinen Leichtsinn.“

Der Herr Referendar lachte laut auf, und der Geheimrat, der in der anderen Sofaecke lehnte und schweigend den Reden seiner Frau zugehört hatte, verlor seine Gleichgültigkeit.

[632] „Grimms? – was ist’s mit Grimms?“ fragte er.

Leo lachte noch immer.

„Das weißt Du noch nicht, Papa? Nun, Fräulein Dora Grimm ist die zukünftige Schwiegertochter unserer Mama!“

„Schwiegertochter? – Leo – Du –? – Und davon hörte ich bis jetzt nichts?“

„Ich weiß ja auch nichts weiter, Papa, und bin zunächst ganz unbeteiligt dabei. Besagte junge Dame ist mir eben von Mama zu diesem Ehrenamt ausersehen.“

„Ach, Du dummer Junge,“ lachte nun jene, „thu’ doch nicht so! Sein Hofmachen,“ fuhr sie zu ihrem Gatten gewendet fort, „wird da eben sehr freundlich aufgenommen, wie ich mit eigenen Augen sehe, und ich denke, er sollte nichts thun, sich das zu verscherzen.“

„O, über diese sorgsame Mutter! Höre einmal, Papa, sie hat es auch herausgebracht, daß Fräulein Olga Grimm, die älteste Schwester ihrer Schwiegertochter, eine halbe Million Mark zur Mitgift bekommen hat; das reizt sie so, daß sie sogar diesen ihren einzigen Sohn dafür losschlagen will.“

„Na, eine halbe Million ist ein Posten“, meinte der Geheimrat, in den Scherz einstimmend, „damit wärest Du am Ende über und über bezahlt. Aber bedenk’s Dir nur, Mamachen, der Heiratsthaler hatte schon in unserer Jugend nur fünf Silbergroschen, und danach hat die erheiratete Mark heutzutage sicher nur fünf Pfennige.“

Er lachte lustig und sein Sohn stimmte ein.

„Lacht nur!“ sagte die Mutter, wieder ganz ernst geworden, „es ist in der That Zeit, daß ich mich darum kümmere. Schließlich seid ihr verwöhnten Kinder doch alle darauf angewiesen. Kannst Du von Deinem Assessorengehalt eine Frau ernähren oder Dich auch nur selbst? Ich möchte Dir diese Erkenntnis und etwas Zielbewußtsein beibringen, dann kämen solche dummen Geschichten, wie die eben mit dem blonden Baby, nicht vor.“

„O weh – o weh – das Gewitter zieht noch einmal auf – ich rette mich!“ rief Leo mit munterem Ton aber mißvergnügtem Gesicht und lief eiligst zur Thür hinaus.

Während der Vater nun mit Lisbeth eine private Geschäftsangelegenheit besprach, folgte die Geheimrätin ihrem Sohn in sein Zimmer, setzte sich dort neben ihn auf das Sofa, und nachdem sie einige Fragen wegen seiner demnächst bevorstehenden Abreise an ihn gerichtet hatte, sagte sie plötzlich: „Du solltest wirklich verständig sein, Leo, und die Sache mit Dora Grimm perfekt werden lassen, ehe Du nach Berlin gehst.“

„Aber Mama, ich bitte Dich, wie kommst Du darauf?!“ meinte Leo unwillig, „ich habe nicht im entferntesten die Absicht, mich jetzt schon zu binden.“

„Und wenn Dir jemand zuvorkäme, Leo? Du solltest das wohl bedenken. Sie ist ohne Frage ein sehr reizendes Mädchen.“

Er pfiff plötzlich einen Gassenhauer vor sich hin.

„Eine kleine widerborstige Kröte ist sie,“ sagte er.

„Nun, die Widerspenstigkeit läßt sich bei einem Mädchen leicht zähmen, das so verliebt in den Mann ist wie sie in Dich“ - er lächelte geschmeichelt – „was hast Du denn sonst gegen sie?“

„O - weiter nichts, als daß sie nur ziemlich gleichgültig ist und ich ihr meine Freiheit noch nicht opfern möchte.“

Die Mutter zuckte die Achseln. „Solcher Unsinn! – Freiheit opfern – Du bist mir der Rechte!“

„Ich möchte erst einmal mein Leben genießen, wenn die dumme Examensgeschichte vorbei ist, und wie sich das mit der Bräutigamsstellung verträgt, das weiß man.“

„Leo, wie kannst Du so reden! Denken darf man so etwas allenfalls, aber aussprechen“ – sie machte eine geringschätzende Bewegung. „Gut, daß Papa Dich nicht hörte; ich weiß auch nicht recht, wie Du Dir das mit dem Lebensgenuß vorstellst, bei so beschränkten Mitteln. Hoffentlich überlegst Du es Dir mit Dora Grimm noch anders. Da ist wirklich solider Reichtum, und Du würdest Deine Zugehörigkeit zu solcher Familie wohl bald merken. Zumal jetzt in Berlin, meine ich, könnte Dir das recht lieb sein.“

„Was kann mir das nützen?“

„Was Dir das nützen würde? Aber, Kind! Meinst Du, die Kenntnis von Deiner Verlobung mit einem Mädchen aus so reichem, angesehenem Hause schaffte Dir keinen Kredit? Und mit dem, was Papa Dir geben kann, wirst Du dort wohl, wie ich Dich kenne, schlecht reichen.“

Er sah sie starr an.

„Potz Blitz, Mama,“ spöttelte er dann, „Du imponierst mir, was hast Du für einen anschlägigen Kopf! Da muß jeder gewiegte Geschäftsmann den Hut vor Dir abnehmen. Eine Braut zur Erweiterung des Kredits – das ist nicht ohne Schneid!“

„Drehe mir das nur nicht gleich wieder anders, als ich es gemeint habe,“ fiel die Mutter hastig ein. „Leichtfertige Schulden sollst Du keine machen, das versteht sich! Aber die Differenz zwischen einem ängstlichen Zurückhalten, wie es nun leider einmal unsere Verhältnisse gebieten, und einem standesgemäßen Auftreten – diese Differenz deckt ein reicher Schwiegerpapa mit Freuden, wenn er sein Töchterchen glücklich sieht.“

„Ob dieser Sachverhalt Fräulein Doras Glück gerade sehr steigern würde, das fragt sich noch,“ erwiderte er leichtfertig.

„Du würdest Dich wohl hüten, sie davon wissen zu lassen! Und wenn sie es nun später erfährt, was soll es schaden? Diese reichen Mädchen sind ja so ungeheuer eitel. Keine glaubt, daß man sie wegen des Geldes nimmt, jede hält sich allein für die Ausnahme. Von Kindheit auf werden sie mit Schmeicheleien aufgepäppelt, wo soll da die Selbsterkenntnis herkommen? Ich denke immer, es drückt geradezu auf den Verstand – wie könnten sie sonst stets gerade auf den Schlimmsten verfallen.“

Leo lachte laut auf und nahm scherzend seine Mutter in die Arme. „Na, liebe Alte, nun wirst Du aber anzüglich. Laß uns lieber abbrechen!“

„Und Deine Antwort?“

„Es ist bis nach Berlin Zeit damit,“ sagte er, führte die Mutter gravitätisch bis zur Thür und machte ihr dort eine tiefe Verbeugung – „bis dahin müssen die Muttergroschen ausreichen.“

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 39, S. 649–652
[649]
2.

Wie hübsch und behaglich es am Abend wieder bei Geheimrats aussah! Der Erkersalon, das rote Boudoir und das Speisezimmer waren erleuchtet. Die große Lampe brannte über dem Eßtische, der mit dem gemalten Tafelservice, dem glänzenden Krystall und Silber und dem geschmackvoll geordneten Bouquet aus Herbstlaub, Astern und Vogelbeeren einen gar einladenden Anblick bot, und vor den Kamin hatte man schon einen Korb mit Tannenzapfen gestellt, um im rechten Augenblick ein helles Flackerfeuer zu entzünden. Lisbeth legte noch die Servietten in eine zierliche Form und plauderte dabei mit der Schwester, die, sich im Schaukelstuhl wiegend, wieder die Zuschauerin bei der häuslichen Arbeit abgab.

„Wo steckt denn Mama eigentlich, Liesel?“

„In der Küche.“

„Aber was thut sie da nur immer? Es ist doch wirklich, als ob wir, wie den Diener, auch die Köchin geborgt hätten. Ich begreife euch nicht. Ihr beide habt wirklich entsetzlich plebejische Neigungen.“

„So unüberwindlich wäre diese Neigung wohl nicht, aber wenn eine billige Köchin ein feines Souper liefern soll, da braucht es Nachhilfe. So ist es ja mit allem andern auch, überall stehen wir eben vor der Notwendigkeit.“

Elfriede wollte etwas erwidern, da wurde die Thür geöffnet und die Frau Geheimrätin trat ein.

„Ach, Lisbeth, Du bist flink dabei gewesen, aber ich bin auch fertig. Das Aufgeben und Tranchieren mag Hanne besorgen, ich muß mich nun abkühlen. Das Herdfeuer erhitzt zu sehr, und schließlich sehen es die Gäste einem noch an, daß man selbst Kochfrau gespielt hat.“

„Wäre das so schlimm, Mama?“

Die zuckte die Achseln. „In meiner Stellung – allerdings. Umstände bestimmen die Sache. Als eines Kanzlisten Frau würde ich mich wahrscheinlich zur Frau Kollegin mit dieser Arbeit brüsten.“

„Das letztere,“ meinte Lisbeth, „wäre ja wohl nicht nötig. Aber, daß wir es so ängstlich verbergen müssen, was unser eigentlicher Frauenberuf ist, das kann ich nun auch nicht begreifen. In erster Reihe bist Du doch Hausfrau, und Papas amtliche Stellung kann doch erst in zweiter Linie in Frage kommen.“

„Wir wollen dieses Thema lassen,“ gab die Mutter zurück. „Du bist nicht so beschränkten Geistes, daß Du das Gegenteil von dem, was Du eben behauptest, nicht wüßtest. Es ist nur der Widerspruchsgeist in Dir, der sich immer gegen die gesellschaftliche Ordnung wendet. Kann denn eine Gattin diese Pflichten trennen? Glaubst Du, daß Papa überhaupt in dieses hohe Amt gekommen wäre, wenn ich nicht von Anfang an mit ganzer Kraft danach gestrebt hätte, unser äußeres Auftreten dieser Stellung entsprechend einzurichten? Die Frau [650] fördert den Mann oder sie hindert ihn, ein Anderes giebt’s nicht bei solchem engen Zusammenleben. Ich kann mir wohl das Zeugnis geben, daß ich das erstere gethan.“

„Unterschreibe ich,“ sagte der Geheimrat, der, ins Zimmer tretend, die letzten Worte gehört hatte. „Aber was habt ihr mir? Es klang fast wie eine Kammerdebatte!“

„Ach,“ meinte seine Frau, die offenbar nicht angenehm durch sein Dazwischentreten berührt war, „Lisbeth lehnte sich nur wieder einmal gegen gebotene Rücksichten auf.“

„Aber Mama, das that ich doch nicht!“ sagte diese und setzte, zu dem Vater gewendet, hinzu: „Ich meinte nur, da Mama doch solch’ eine musterhafte Hausfrau, so unermüdlich fleißig, so praktisch, so außerordentlich geschickt ist, warum wir dieser Eigenschaften nie vor anderen erwähnen dürfen?“

„Nun,“ sagte der Geheimrat mit einem leichten Lächeln, „wenn Du Deiner vortrefflichen Mutter große Vorzüge so gebührend zu schätzen weißt, dann ordne Dich auch ihrer besseren Erkenntnis unter und nimm an, daß es so richtig ist, wie sie es zu haben wünscht.“ Damit trat er ins Nebenzimmer.

Lisbeth seufzte leise, dann wandte sie sich an die Mutter:

„Es ist noch eine halbe Stunde, bis unsere Gäste kommen, und es ist alles besorgt, da möchte ich noch auf einen Augenblick fortgehen – es ist heute Tante Römers Geburtstag.“

Man sah es der Geheimrätin wohl an, daß ihr ein Verbot auf den Lippen schwebte, aber sie mochte finden, daß sie um des lieben Friedens willen schweigen müßte; so neigte sie stumm den Kopf, leichtfüßig eilte Lisbeth über den Vorplatz, die Treppe hinunter und zum Hause hinaus.

Neben dem an einem mit hübschen Parkanlagen geschmückten Platze gelegenen Gebäude der Provinzial-Steuerdirektion zog sich ein schmales Gäßchen hin, welches man zur Abkürzung des Weges nach der nächsten Straße benutzen konnte, und trotzdem es dunkel und wenig belebt war, lief Lisbeth, ihr Tuch fester um die Schultern ziehend, eilig hindurch und trat nach wenigen Minuten Gehens in ein großes, kahl und einfach aussehendes Haus, das an der Mittelfront die Bezeichnung „Volksschule“ trug.

Beim Oeffnen der Eingangspforte ertönte eine dünne, schrille Glocke, und auf dieses Signal wurde auch gleich von innen die Zimmerthür, die direkt auf den Hausflur führte, geöffnet und eine ältere, weißhaarige, freundliche Frau leuchtete mit einer hellbrennenden Lampe der Eintretenden entgegen.

„Ach, Lieschen, Du bist’s? Willkommen, Kind! Ich fürchtete schon, nach Deinem schriftlichen Gruße von heute morgen, daß ich Dein liebes Gesichtchen an diesem Tage nicht mehr sehen würde.“

„Nein, Tantchen, das ließe ich mir nicht nehmen, und wenn’s auch nur ein paar Minuten sein können.“

Sie traten ein und Lisbeth freute sich an der Blumenfülle, die zu Ehren dieses Festes auf Fensterbrett und Tischen Platz gefunden hatte und welche das hohe und geräumige, aber sonst aufs einfachste ausgestattete Zimmer sehr anmutig schmückte.

Wie heimatlich es ihr entgegen wehte – ihre schönsten Kindheitserinnerungen verbanden sich mit diesem Raum, und ein zarter Hauch, wie aus jenen sonnigen Tagen hinüber gerettet, lag für ihr Empfinden hier über allem.

Gertrud, die Pflegetochter des Volksschullehrers Römer, war schon ihre liebste Gefährtin gewesen, als sie beide noch kaum die Kunst des Gehens und Stehens gekannt. Drüben in dem großen Hause hatten ihre Eltern gewohnt. Die Frau Assessor war aber schon damals so viel mit Standesrücksichten beschäftigt gewesen, daß sie für ihr Töchterchen wenig Zeit übrig hatte und das kleine Lieschen herzlich gern der Frau Römer überließ, die sich für das früh verwaiste Kind ihrer Schwester auch keine liebere Gesellschaft wünschte. Ihr eigener Sohn, Arnold, der einige Jahre älter als die kleinen Mädchen war, hielt es erst mit seiner männlichen Würde für unvereinbar, deren Spiele mitzumachen, um dann doch von Jahr zu Jahr immer fester ihnen anzuhängen. Wie köstlich hatten die drei Kinder miteinander gespielt und wie bald war der Altersunterschied vergessen, als die Mädchen lesen gelernt und sie nun zusammen in Robinsons Abenteuern schwelgten, ja diese auf dem weiten Dachboden des Hauses in der großartigsten Weise in Scene setzten!

Später fiel ein Schatten für Lisbeth auf dieses Kinderglück; sie mußte sich die erst so bereitwillig gestatteten Besuche bei ihren Freunden allmählich erbetteln, dann erkämpfen. Die Frau Regierungsrat fand, daß der Umgang mit den Kindern des Volksschullehrers nicht passend für ihre Tochter sei, und die Frau Geheime Oberfinanzrätin gar hielt es für unmöglich, einen weiteren Zusammenhang zwischen jenem Hause und dem ihren zu dulden. Aber so nachgiebig und fügsam Lisbeth in allem anderen ihren Eltern gegenüber war, hier fand die kindliche Unterordnung ihre Grenze, und obwohl diesem Freundschaftsverhältnisse niemals eine Berechtigung zugestanden wurde, hielt die Mutter es schließlich doch für geraten, dasselbe um des häuslichen Friedens willen zu ignorieren, auch als Gertrud Arnolds glückliche Frau geworden und Lisbeth ihre liebste Vertraute geblieben war.

„Lege das Tuch ab, Lieschen, Du könntest Dich sonst auf dem Rückweg erkälten, und ich habe so viel auf dem Herzen, was Du mir tragen helfen mußt.“

„Das klingt ja ganz trübe, Tantchen!“

„Es sind auch Sorgen ins Haus gekommen, Kind, und Dir kann ich es ja sagen: es beängstigt mich ordentlich, daß das neue Lebensjahr so beginnt.“

Lisbeth sah sie erschreckt und fragend an.

„Ist denn Gertrud nicht hier? Ich glaubte sie doch bestimmt hier zu finden!“

„Die Kinder waren zu Tische bei uns, nun ging Arnold aufs Bureau und Gertrud auf ein Stündchen nach Hause, um sich ein wenig zu ruhen, und es ist mir auch lieb so, damit wir allein miteinander reden können.“

„Nun?“ fragte Lisbeth voll Erwartung.

„Nun – Arnold ist avanciert, und diese Nachricht brachte er mir als Geburtstagsgeschenk. Aber mit der Beförderung ist leider auch eine Versetzung verbunden. Er kommt an die Oberpostdirektion nach D., und wenn ich auch darauf gefaßt war, unsere Kinder nicht immer hier zu haben – jetzt gerade ist es doch gar zu ungelegen.“

Lisbeth war ganz erblaßt.

„Arnold versetzt? In welcher Eigenschaft denn?“ fragte sie mit leisem Beben in der Stimme.

„Er ist Revisionsbeamter geworden – zunächst Kassenkontrolleur, hat aber die Anwartschaft, in einem Jahre Postinspektor zu sein, und meint dann, in weiteren zwei Jahren als Rat angestellt zu werden. Es ist eine große Auszeichnung bei seiner Jugend, und Du kannst glauben, daß es mich sehr beglückt, ihn, der doch nur aus Rücksicht für uns das Studium aufgab, sein Leben nicht in subalterner Stellung hinbringen zu sehen. Ich würde natürlich gern unseren Verlust ruhig tragen und ihm das Scheiden nicht schwer machen – aber jetzt gerade, Lieschen! Gertrud erklärte sofort, sie ginge unter allen Umständen mit. Sie wollte lieber in einer Kammer wohnen, als sich von ihrem Manne trennen – und recht hat sie ja auch. Wir gehen dem Winter entgegen, kann sie jetzt nicht mit, so wird es Frühling, bis sie die Reise wagen könnte, und das hielte sie gar nicht aus.“

„Ja, das trifft freilich ungünstig zusammen,“ sagte Lisbeth nachdenklich. „Die Anstrengungen des Umzugs sind zu viel für Gertrud. Wie wird sich da abhelfen lassen?“

„Das ist mir ganz klar, Lieschen: ich muß auch mit, zunächst hier den Umzug, dann dort die Einrichtung besorgen, und dann mein Trudchen und ihr Baby pflegen, denn hoffentlich tritt mein Enkelchen nicht eher an, als bis wir alles zum Empfang bereit haben. Das ginge schon – aber hier – mein lieber Alter – wir sind seit dreißig Jahren nicht getrennt gewesen, wie wird er mich vermissen!“

„Nun, Tantchen, da springe ich alle Tage ein Stündchen heran und spreche ihm von Dir und seinen Kindern.“

„Gutes Kind, das ist Dir auch zugedacht. Du warst ja immer unsere liebe zweite Tochter – also tritt eben Dein altes Amt wieder an und sorge nur dafür, daß mein guter Mann nicht zu schwer unter der dreifachen Trennung leidet. Für sein leibliches Wohl sorgt ja unsere alte Dore.“

Lisbeth lächelte sie zärtlich an und schlang die Arme um ihre Schulter.

„Mein Mütterchen,“ sagte sie innig, „sei unbesorgt, ich werde ihn schon guter Dinge erhalten. Wir stehen ja auch vor Beginn der Wintersaison: an den meisten Abenden sind die Eltern mit Elfriede in Gesellschaft, und der Fünfundzwanzigjährigen mutet man es gar nicht mehr zu, die Soireen und sonstigen Tanzgelegenheiten alle mitzumachen. Da kann ich oft genug hier sein, dem Onkel seine Pfeife stopfen, ihm die Zeitung vorlesen und mit ihm von [651] euch plaudern. Ich freue mich ordentlich darauf. Nicht wahr – ihr geht bald?“ schloß sie mit bebenden Lippen und ihre Augen wiederholten angstvoll die Frage.

„Natürlich, Lieschen, in den allernächsten Tagen. Es wird noch tüchtig zu thun geben bis dorthin. Aber mußt Du schon gehen?“ fragte sie, als Lisbeth aufstand und das Tuch um die Schultern schlang. „Möchtest Du nicht Gertrud abwarten? Sie muß bald hier sein.“

„Wir haben Besuch zum Abendbrot,“ entschuldigte sich jene, „Regierungsrat von Walden hat sich angemeldet, und Mama wird mich schon jetzt vermissen.“

„So geh, mein Kind – und ‚Walden’ sagst Du? Ist das eine neue Bekanntschaft?“

„Er arbeitet auf der Direktion unter Papa und ist erst im Frühling hierher versetzt worden. In der ersten Zeit ist er nur ganz offiziell in unserem Hause gewesen, jetzt kommt er öfter. Mir ist er nicht sympathisch, ich weiß daher auch wenig von ihm.“

„Walden – Walden – ach ja – das ist ja wohl der Regierungsrat, dessen Frau Eichberg einmal erwähnte. Er ist in der Kaltwasserheilanstalt, welche Hermine im Frühling besuchte, mit dieser dort zusammengetroffen, und sie haben dann viel miteinander musiziert, so daß er sie auch hier gleich aufsuchte. Frau Eichberg war von ihm sehr eingenommen: er soll von sehr angenehmen Umgangsformen sein und ist steinreich.“

„Ach so!“ erwiderte Lisbeth mit einer gewissen Ueberraschung. Nun wußte sie, weshalb sich der Beamte einer so großen Bevorzugung bei ihrer Mutter erfreute. Ohne ein weiteres Wort darüber nahm sie Abschied von der alten Freundin und eilte heim.

Sie kam wirklich zu spät, denn die Gäste waren bereits eingetroffen, und man wartete nur auf sie, um zu Tische zu gehen. Um den Kamin im Salon saßen Vater und Mutter, Referendar Groß und Leo in lebhafter Unterhaltung, während am anderen Ende des Gemachs Elfriede, im Schaukelstuhl ruhend, sich von einem Herrn, mit dem sie ebenfalls im muntersten Gespräch begriffen schien, langsam auf und nieder wiegen ließ. Ihr Antlitz war dabei lebhaft gerötet und ihr Mund lachte ihn an, während in ihren Augen ein Ausdruck von kühl berechneter Koketterie lag, wie Lisbeth ihn noch nie auf diesem jungen Gesicht gesehen hatte.

Er, dem dieses galt, war ein mittelgroßer, hagerer Mann, der eben durch diese schlanke Figur ein gewissermaßen jugendliches Ansehen sich bewahrt hatte. Aber das magere, blasse Gesicht, die wenigen sehr sorgfältig geordneten Haare, der schlaffe Zug um den Mund und die vielen kleinen Fältchen, welche die meistens sehr matt blickenden Augen umkränzten, führten schnell von dieser Täuschung zurück. Jetzt blickten diese Augen freilich nicht matt – ein wahres Entzücken lag darin, Entzücken und ein heißes Begehren, und er hielt es nicht für nötig, sein Empfinden zu verbergen.

In der Thür stehend, sah Lisbeth zuerst auf diese Gruppe und wieder war es ihr, als ob eine kalte Hand sich auf ihr Herz legte.

„Um Gottes willen,“ bebte es angstvoll in ihr, „nur dieses nicht – nur dieses nicht!“ – und als sie wenige Stunden später an das Bett der schlafenden Schwester trat, die mit der Unschuldsmiene eines Kindes sich in die Kissen gedrückt hatte, hauchte sie einen Kuß auf die klare Stirn und gab sich heimlich das Gelübde: ich will dich behüten, ich will dich schützen, mein Liebling, das sind keine Hände, die dich auf den richtigen Weg zum Glück führen können. – –

Im Schlafzimmer des Ehepaares herrschte in eben dieser Zeit noch lebhafte Unterhaltung. Der Herr Geheimrat hatte sich zwar zu Bett gelegt, aber die Abendzeitung, die durch den Besuch zu kurz gekommen war, lag auf dem Nachttisch und mußte jedenfalls heute noch durchgesehen werden. Vorerst hatte er die neuesten Telegramme gelesen und unterbrach seine Lektüre nun, denn daß seine Gattin sich auf die Chaiselongue hingekauert hatte und schweigend vor sich hin sann, war so gegen ihre Gewohnheit, daß es ihm die Ruhe raubte.

„Was sinnst Du, Käthchen?“

„Sag’ einmal, Erich, was hältst Du von Walden?“

„Nun, ich denke, er ist ein ganz angenehmer Gesellschafter. Mir wäre es freilich lieber, er spielte Skat statt Klavier. Ich finde, er ist ein wenig freigebig mit dieser Kunst – aber ihr seid ja stets sehr entzückt davon. Spielt er denn gut?“

„Ausgezeichnet – völlig künstlerisch: aber das meinte ich nicht. Wie steht er amtlich da? Ist er tüchtig, leistet er etwas, und wie sind seine Personalakten? Meinst Du, daß er Aussicht hat, Carriere zu machen?“

„Na, das ist solche Sache. Ein gescheiter Mensch ist er ja, ohne Frage. Wenn er auf seine Arbeit sich hätte stützen müssen, dann würde er es sicher zu etwas gebracht haben. Aber ohne den Willen, ohne das Streben danach macht niemand Carriere, auch nicht der klarste Kopf. Nun hat er das Malheur, sehr reich zu sein, und ist sein Leben lang in Berlin gewesen – da kommt denn der Dienst in zweiter Linie, erst heißt es immer: leben, genießen! Jetzt scheint er aber wohl davon genug zu haben, sonst wäre er nicht hierher gekommen – vielleicht also, wenn Berlin ihn nicht zu müde gemacht hat, rafft er sich noch auf.“

Die Frau Geheimrätin zog etwas verdrießlich die Stirn kraus. „Den Eindruck von Ruhebedürftigkeit,“ hob sie an, „macht er gar nicht auf mich. Im Gegenteil, ich finde, er hat etwas sehr Frisches, Jugendliches in seinem Wesen. Außerdem ist er doch schon Regierungsrat – er kann sich also gar nicht so lange bei den Studien Zeit gelassen haben, denn – wie alt wird er sein? Mitte – vielleicht Ende der Dreißig.“

„O bitte, Liebe, Du irrst, er ist fünfundvierzig Jahre.“

„So – das sieht man ihm nicht an, durchaus nicht. Auch das spricht also entschieden dagegen, daß er bisher nur dem Genusse gelebt hat. Das glaube ich auch nicht, wir Frauen haben ein sehr feines Gefühl dafür.“

„Nun, Käthchen, ich wollte ihm damit weiter nichts Böses nachsagen. Solche reiche Leute, wenn sie jung und unabhängig sind –“

„Brauchen darum doch nicht im Taumel des Genusses dahinzuleben, und davon kann hier auch gar nicht die Rede sein. Er hat seinen Dienst versehen, hat seine Kunst gepflegt – und sehr gepflegt, das alles spricht für ihn. Aber sage einmal, ist er wirklich reich?“

„Sehr reich, unzweifelhaft! Ich sah noch letzthin seine Steuerveranlagung, er ist jedenfalls der wohlhabendste unter allen hiesigen Beamten.“

„Nun, wenn das in der That alles so stimmt, dann wird er im Amt schon vorwärts kommen,“ sagte beruhigt die Frau Geheimrätin. „Ein kluger Mensch findet sich schon zurecht, und hier, wo ihn so viel weniger das äußere Leben abzieht, wird er sich, wenn man ihn nur darauf hinweist, durch seine Arbeiten schon bemerkbar machen, außerdem, sobald er erst verheiratet ist, auch durch die Repräsentation seines Hauses.“

„Verheiratet!?“ fragte ihr Mann verwundert, „hat er die Absicht, und sprach er Dir davon?“

„Aber, Erich, glaubst Du wirklich, daß Deine oder meine Gesellschaft ihm so verführerisch ist, daß er nun das vierte Mal in drei Wochen den ganzen Abend hier bei uns sitzt?“

Er sah sie starr an, und als ob ihm plötzlich ein Licht aufginge, so schnell richtete er sich in die Höhe.

„Mein Himmel, das ist mir noch gar nicht eingefallen! Ja, wer kommt denn gleich auf solche Dinge! – Und Du meinst, daß er ihr gefällt?“

„Ich habe sie noch gar nicht danach gefragt: dazu ist ja später noch Zeit.“

„Nun,“ sagte nachdenklich der Geheimrat, „er ist allerdings eine sehr gute Partie, eine bessere könnte sie, wenn wir die äußeren Verhältnisse erwägen, gar nicht machen; aber diese dürfen uns in solchem Falle doch nicht allein bestimmen. Ich will mich erst mehr um seinen inneren Menschen kümmern, ehe ich meine Meinung sage, es spricht doch auch viel dagegen, schon der große Altersunterschied: er fünfundvierzig – sie fünfundzwanzig Jahre!“

„Fünfundzwanzig!! – mein Gott, Erich, Du denkst doch nicht, daß es sich um Lisbeth handelt?“

„Nicht um Lisbeth – Frau? Also um unsere Elfe, um das siebzehnjährige Kind? Und da meinst Du, daß die Sache einer Erwägung wert wäre? Für mich nicht, das sage ich Dir, für mich ist sie abgeschlossen, und ich werde bei nächster Gelegenheit ihm das zu verstehen geben.“

„Dann würdest Du sehr unbesonnen handeln, Erich. Einmal hat er uns noch gar nicht gefragt, und dann – war ich denn älter, als ich Dir mein Jawort gab?“

„Aber, das ist doch ein gewaltiger Unterschied, Frauchen. Wir verlobten uns aus heißer, unbezwinglicher Liebe füreinander und waren beide jung genug, um es abzuwarten, bis wir das ferne Ziel des eigenen Herdes erreichten.“

„An und für sich ist das ganz das Gleiche. Ich fühlte mich [652] doch reif genug, um über mein ganzes künftiges Leben zu entscheiden, warum soll sie es denn nicht sein? Daß sie nie die gemeinen Sorgen des Lebens kennenlernen, daß sie ihr Schmetterlingsdasein weiter führen wird, kann doch nur für die Partie sprechen.“

„Aber diese Unnatur, Käthchen, bedenke doch nur! Er ist beinahe dreimal so alt als das Kind und hat sein Leben reichlich ausgekostet, während sie demselben erst entgegenträumt. Dieses späte Aufflackern einer Leidenschaft kann den Unterschied nicht ausgleichen, der notwendig in den: Empfinden der beiden entstehen muß.“

„Elfe ist eine sehr kühle, reflektierende Natur, von Leidenschaft ist in ihr nichts vorhanden.“

„Noch nichts, sage: noch nichts! Wehe ihr, wenn die in ihrem Herzen erwacht und sie sich an einen alten Mann gebunden fühlt!“

„Alten Mann – und das von Walden! Aber, Erich, ich bitte Dich, Dein Vorurteil macht Dich blind. Ist das eine Bezeichnung, die auf diesen flotten, schneidigen Kavalier paßt? Ich will nicht gerade sagen, daß solch ein großer Altersunterschied mein Ideal ist, aber zwölf bis fünfzehn Jahre mag der Mann immer älter sein, wir Frauen verblühen ja so schnell.“

Er stöhnte laut und legte sich in die Kissen zurück. „Wenn man Dich so reden hört, man könnte an Deiner Liebe zu unserem Kinde zweifeln!“

„Im Gegenteil, man kann in dieser Sorge um ihre Zukunft nur die wahre Liebe erkennen. Ich möchte sie vor Mühen und Sorgen, vor Einschränkungen und Entbehrungen bewahrt wissen. Kann man einen sichereren Weg dazu wählen, als wenn man sie einem reichen Manne zur Frau giebt? Ich möchte sie auf den Höhen des Lebens sehen, und da er ein gescheiter Mensch ist und sie den notwendigen Ehrgeiz besitzt, so wird sie günstig auf ihn wirken und so die treibende Kraft werden, die ihn vorwärts führt. Ich möchte sie behütet, gehegt, gepflegt und hochgehalten wissen; giebt mir das jugendliche Empfinden eines Menschen von vierundzwanzig Jahren mehr Berechtigung, auf die Erfüllung dieses Wunsches zu rechnen, als die tiefe Liebe eines reifen Mannes?“

Ihr Gatte hatte den Kopf nach der Seite gekehrt und schwieg.

„Ich will Deiner Entschließung nicht zuvorkommen, Erich, und Du weißt es, ich bin die erste, die sich stets derselben unterordnet. Du bist immer ganz und gar der Herr in Deinem Hause gewesen und wirst es auch in diesem Falle sein; aber es ist doch meine Pflicht, bei einer so ernsten Angelegenheit alle Seiten derselben zu betrachten. Sieh, welche Aussichten für ihre Zukunft haben überhaupt die Töchter hochgestellter Beamten, welche kein Vermögen besitzen? Sie erwachsen in einem gewissen Luxus, die häuslichen Einrichtungen, die Gesellschaft verwöhnt sie – was soll ein solches Mädchen machen, wenn es nicht heiratet? Mit der Nähmaschine oder einer der modernen Erwerbsthätigkeiten kann sie sich nicht ernähren, ihr fehlt die Bedürfnislosigkeit und die Energie, die nur in einem Menschen sich entwickelt, der von Anfang an seine Zukunft auf die Arbeit gestellt sieht. Nur in Ausnahmefällen ist das anders. Und die Partien, die sich ihr bieten? In erster Reihe ist es der besitzlose Lieutenant und Referendar, die im Hause ihres Vaters Eingang finden, eine ausgezeichnete Figur bei allen Gesellschaften machen und im übrigen, ebenso wie sie, auf eine reiche Heirat angewiesen sind. Du solltest Dir die Sache zweimal überlegen, Erich! Sieh, nicht nur für Elfe, auch für uns persönlich wäre die Verbindung sehr wünschenswert. Walden hat eine große, prachtvoll möblierte Wohnung, einen vollständigen aufs eleganteste eingerichteten Haushalt. Heutzutage kostet solche Ausstattung ein kleines Vermögen – hast Du dieses für solche Zwecke liegen? In nächster Zeit geht Leo nach Berlin; der Junge war immer Dein Verzug; was wird er Dir dort kosten, nachdem Du ihn daran gewöhnt hast, daß Du ihm keinen Wunsch abschlagen kannst?“

Der Geheimrat hatte sich ihr wieder zugekehrt und hörte ihr gespannt zu und mit einer gewissen Zustimmung in den Mienen.

„Es wird doch nicht gegen ihre Neigung sein?“

„Dann, Erich, wäre ich doch gewiß die erste, die sich dagegen sträubte.“

„Hat Walden sich schon zu Dir ausgesprochen, Käthchen?“

„Behüte – mit keinem Wort hat er daran gerührt. Wer weiß, ob er überhaupt die Absicht hat?“

„Aber das ist doch kaum zu bezweifeln,“ sagte der Geheimrat eifrig, „er ist doch kein Student, der so gedankenlos den Courmacher spielen kann. Ein Mann in seinen Jahren und seiner Stellung würde ja geradezu frivol handeln, wenn er ohne ernste Absichten sich einem Mädchen in der Weise, wie Du sagst, nähern wollte. Nein, das scheint mir doch nach der ganzen Sachlage völlig ausgeschlossen. Und Du hast recht, das übrige können wir ja wohl ruhig abwarten!“

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 40, S. 669–674
[669]
3.

Den zweiten Stock des neuen, zwar kleinen, aber sehr geschmackvoll erbauten Hauses gegenüber der Volksschule bewohnte die verwitwete Baumeister Eichberg mit ihrer Tochter Hermine, und an diesem Abend, in der Stunde, in welcher Lisbeth im Römerschen Hause weilte, waren Mutter und Tochter in dem geräumigen und freundlich ausgestatteten Wohnzimmer bei einander. Der Raum zeigte die Einrichtung eines Damenzimmers, das weniger durch Kostbarkeit als durch Zierlichkeit wirkt. Viele schöne Malereien und Stickereien sprachen von dem Fleiße der Bewohnerinnen, und die Fülle wohlgepflegter Pflanzen und Blumen erhöhte den Eindruck des Behagens und der Gemütlichkeit darin.

Ein schöner Flügel nahm die Längswand des Zimmers ein. Er war geöffnet und die niedrigen Klavierlampen, die neben dem bereits mit Noten belegten Pulte brannten, schienen des Spielers zu harren. Durch die geöffnete Thür sah man im Speisezimmer einen mit drei Couverts gedeckten Theetisch, an dem sich ab und zu die Mutter zu schaffen machte.

Hermine saß am Fenster und sah auf die dürftig beleuchtete Straße hinaus. Ein Zug von Unruhe lag auf dem blassen Gesichte des Mädchens, dem die dunkelblonde, glatte Haartracht und die großen, schwarzen Augen ein fast krankhaft zartes Ansehen verliehen. Wenn sie eine Frage der Mutter beantwortete, bemühte sie sich, ihren Zügen einen gleichmütigen Ausdruck zu geben; aber mit jeder Minute, bei jedem Geräusch auf der Straße oder im Hause wurde ihre Erregung sichtbarer.

„Eben schlägt es acht Uhr, Hermine,“ sagte die Frau Baumeister, „jetzt kommt er nicht mehr. Laß uns zu Abend essen, Kind!“

Eine minutenlange Pause – dann erwiderte jene vom Fenster her, ohne den Kopf zu wenden: „Wir sind so sehr durch seine Pünktlichkeit verwöhnt. Es kann doch auch einmal etwas dazwischen kommen, und er hat noch stets abgeschrieben, wenn er verhindert war.“,

„Das heißt,“ meinte die Mutter zurück, „er hat die letzten drei Freitage sich brieflich entschuldigt, ohne Zeit zu finden, es persönlich zu wiederholen, da nimmt er es wohl als selbstverständlich an, daß wir ihn nicht mehr erwarten.“

„Du bist empfindlich, Mutter!“

„Es war doch sonst anders,“ gab diese zurück, „versäumte er je eine Höflichkeit? Benutzte er nicht jede Gelegenheit, um anzusprechen? Und diese verabredeten Freitage für euer vierhändiges Spiel hielt er [670] fest, trotz aller Sommerhitze. Nun plötzlich, ohne sichtbaren Grund diese Aenderung – ich meine, da hat man doch Ursache zur Empfindlichkeit und zum Nachdenken!“

Hermine war aufgestanden, näherte sich der Mutter und schlang ihre Arme um sie, mit ihrer fast überschlanken Gestalt die kleine, rundliche Frau beinahe um Haupteslänge überragend. Diese seufzte. „Ich hätte nie einwilligen sollen in diese Verabredung,“ sprach sie im Tone des Selbstvorwurfs.

„Aber, Mama! Sind Dir diese Freitagabende nicht auch lieb geworden? Waren wir nicht froher und lustiger hier als in jedem Konzertgarten, und freutest Du Dich nicht auch schon immer vorher auf die Plauderstündchen bei Tische?“

„Nun ja, das will ich ja gern zugeben, er ist ein amüsanter und interessanter Gesellschafter, und – – “

„Und ein lieber Mensch, Mutti, nicht wahr, ein lieber Mensch!“ sie drückte den Kopf der Mutter fest an ihre Brust, wobei sie vermied, ihr ins Antlitz zu sehen.

Diese seufzte laut und entwand sich der Umarmung.

„Das ist’s eben, da liegt’s!“ sagte sie, mit Anstrengung einen harten Ton annehmend. „Warum mußte er hier eindringen und unseren Frieden stören? Es fiel mir wie eine Ahnung kommenden Unheils aufs Herz, als Du mir damals im Mai aus Ilmenau von dieser Bekanntschaft schriebst. Und wie ganz anders war dort Deine Meinung von ihm! Schriebst Du mir nicht als das allgemeine Urteil seiner Berliner Bekannten, er sei berüchtigt durch sein gewissenloses Spiel gerade mit ernsteren, schwer zugänglichen Mädchen, die er mit allen Mitteln für sich zu interessieren verstehe, um dann, wenn wieder eine Eroberung geglückt ist, mit klingendem Spiel zu einer anderen Fahne überzugehen. Und dieser gewissenlose Roué – –“

„Aber, Mama, dieses böse Wort habe ich doch wohl nicht gebraucht! Ueberhaupt hätte ich Dir nichts davon schreiben sollen, wenn ich auch zunächst den Mitteilungen der Berliner Damen Glauben schenkte. Denn als ich ihn selbst kennenlernte, wußte ich sofort, wie ungerecht ihr Urteil war. Dieser ernste, zurückhaltende Mann, der nur seiner Kur lebte, trotzdem gerade der große Kreis junger und hübscher Damen im Hause viel Geselligkeit bot, ein Mädchenjäger – wie lächerlich! Erst als wir einmal an einem Konzertabend eine längere Unterhaltung über Richard Wagner gehabt, schloß er sich dem musikalischen Teil der Gesellschaft mehr an und ergötzte uns nun oft durch sein herrliches Spiel.“

„Und dann musiziertet ihr täglich zusammen, er wurde Dein Begleiter auf allen Spaziergängen, und als in jener Zeit seine Versetzung von Berlin verfügt wurde und ihm die Wahl zwischen zwei Städten blieb, entschied er sich für Deinen Wohnort.“

„Aber doch nicht um meinetwillen, Mama – ich bitte Dich! Er pries allerdings den freundlichen Zufall, der es ihm nun gönnte, wie er sagte, die gemeinschaftliche Ausübung der geliebten Kunst und“ – um ihre bleichen Lippen spielte ein glückliches Lächeln – „die angenehme Bekanntschaft fortzusetzen; aber er hat doch wahrlich nichts gesagt, was mir irgendwie Berechtigung gab, mehr anzunehmen.“

„Nein, sicher – gesagt nicht, wohl aber gethan.“

„Besinne Dich nur, Mutti, wie schnell Dein Urteil über ihn sich wandelte, als Du ihn kennenlerntest. Wie freundlich schon bei seinem ersten Besuch Du ihn empfingst!“

„Ja, was blieb mir denn anderes übrig, nach den vielen Aufmerksamkeiten, die er für Dich gehabt, nach der Art, wie er Dich auf der Reise umsorgt hatte! Nach meinem Wunsche waren wahrlich diese regelmäßigen musikalischen Abende nicht – ich denke, Hermine, das weißt Du noch?“

„Und Du hattest doch hernach auch so viel Freude und Interesse daran!“

„Ja, freilich. Nachdem er es so lebhaft zeigte, wie wertvoll sie ihm waren, wie er jede, auch die lockendste Aufforderung ablehnte, um sie nicht zu versäumen, wie er um jede Minute geizte, die er länger bleiben durfte – da vergaß ich leider jene Warnung.“

„Ach – Mutter – – “

„Ich sah ja auch, wie es um Dich stand – wie Du nur in dem Gedanken an ihn, nur für diese Stunden des Beisammenseins lebtest, und wie die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft Dein ganzes Wesen erfüllte. Konnte ich da noch zwischen euch treten, konnte ich da noch den Versuch machen, Dein Herz von ihm zu lösen?“

Hermine war auf einen Stuhl gesunken und barg ihren Kopf zwischen den Händen.

„Ich habe ihm auch geglaubt,“ fuhr die Mutter fort, „ich gestehe es, ich habe mich trotz allem und allem durch sein Thun täuschen lassen. Er schien so glücklich hier, war so unermüdlich in jenen zarten Galanterien, die mehr Liebe verraten als alle Worte, und er sah es doch, wie Du dabei fühltest – konnte ich denken, daß ein Mann in seinen Jahren ein solch’ frivoles Spiel mit dem Herzen eines Mädchens treiben würde?“

Das leise Zittern, das Herminens Körper überflog, verriet es, daß sie weinte, aber obwohl das Mitleid, mit dem der Blick der Mutter auf ihrem Kinde ruhte, sich vertiefte, fuhr sie, ihrer Stimme Festigkeit gebend, fort: „Freilich hat mir immer zu denken gegeben, daß er es stets vermied, öffentlich mit uns zusammen zu sein. In den Konzertgärten, auf der Promenade wurde uns immer nur ein Gruß, nie ein Wort zu teil. Aber, was man hofft, glaubt man so leicht; ich dachte, gerade weil er es ernst mit Dir meinte, wollte er Dich vor etwaigem Gerede schützen. Aber es war nur die Vorsicht des herzlosen Egoisten!“

„Wie hart bist Du, Mutter,“ schluchzte das Mädchen leise.

In dem Augenblick ertönte im Flur die Glocke; Hermine sprang auf und machte eine Bewegung, als wollte sie dem Einlaßbegehrenden entgegen eilen. Die Mutter hielt sie zurück und ging hinaus, um selbst die Thüre zu öffnen. Vor derselben stand ein Diener in Livree und reichte mit den höflichen Manieren eines gutgeschulten, herrschaftlichen Lakaien ihr einen Brief hin.

„Vom Herrn Regierungsrat von Walden mit seiner ergebensten Empfehlung.“

Frau Eichberg trat ins Zimmer zurück und warf, während ihre Lippen vor Erregung zitterten, mit einer Miene der Geringschätzung den Brief auf den Tisch.

„Also einer Entschuldigung würdigt er uns doch noch!“

Ein vorwurfsvoller Blick aus Herminens Augen traf die Mutter, während sie hastig nach dem Couvert griff, es öffnete und halblaut las:

„Hochverehrte, gnädige Frau! Leider muß ich wieder für mein Nichterscheinen um Verzeihung bitten. Dringliche amtliche Arbeiten und eine Einladung, die, vom Chef kommend, doch mehr ein Befehl ist, zwingen mich – etc.“

Hermine atmete auf, ihre blassen Wangen hatten sich gerötet. „Siehst Du, Mutti, sind das nicht Gründe genug? Ist ein Mann denn so frei wie wir Frauen? Im Sommer konnte es leicht anders sein, weil die Geselligkeit ruhte. Nein, nein,“ rief sie und schlang die Arme um die Mutter, „Du sollst mir das Vertrauen auf seine Redlichkeit nicht nehmen. Ich will – will nicht an ihm zweifeln –

Kannst Du des Freundes Thun nicht mehr begreifen,
Dann fängt der Freundschaft frommer Glaube an.“


4.

Heute war endlich der erste Ball im Klub, und in allen zur Gesellschaft gehörenden Familien der Stadt rüstete man sich zu dem Vergnügen.

Auch in der Familie des Geheimen Oberfinanzrat Brückner herrschte zu Ehren dieses Festes eine heitere Geschäftigkeit. Lisbeth hatte den ganzen Vormittag an den zierlichen Unterkleidern Elfriedens geplättet, nun wirbelte diese auf weißen Atlasschuhen in den kurzen, spitzenbesetzten Röckchen im Salon auf und ab, um sich, wie sie versicherte, die Glieder für den Tanz geschmeidig zu machen. Dabei lachten ihre Augen so kindlich froh, das ganze Persönchen atmete so viel Lust und Leben, daß die ältere Schwester mit sichtlichem Wohlgefallen ihrem Treiben zuschaute. Endlich warf sich die unermüdliche Tänzerin hochatmend auf den Stuhl, der vor den großen Spiegel gerückt war.

„Schnell, schnell, Lisbeth, frisiere mich nun! Jetzt hast Du mich fest – hernach habe ich wieder keine Geduld.“

Lisbeth trat auch eilig hinzu, löste die langen, schwarzen Flechten und ließ den Kamm durch das glänzende, seidenweiche Haar gleiten; dabei schalt sie lächelnd: „Wie thöricht, Elfe, Dich so abzujagen! Als ob’s heute abend nicht ohnehin genug der Anstrengung würde! – Ueberhaupt! Wie viel wirst du noch tanzen in Deinem Leben!“

„Wer weiß!“ meinte jene. „Und als Frau hat man doch nur die halbe Freude davon –“

„Was fällt Dir ein, Kind? – als Frau!? Freue Dich Deiner Jugend und denke noch nicht an Heirat! So gut wird’s Dir doch nirgend, wie Du es im Elternhause hast.“

[671] Elfe rümpfte leicht das Näschen. „Ich würde ja doch nur heiraten, wenn ich es besser bekäme – das ist doch selbstverständlich.“

„Aber wenn Dein Herz dagegen Einspruch erhebt?“

„Man muß sein Herz mit seinem Verstande in Einklang zu bringen suchen, sagt Mama, und ich finde, sie hat recht. Warum seufzest Du, Lisbeth?“

Die Schwester machte eine ablehnende Bewegung.

„Sieh, Lisbeth,“ fuhr das junge Mädchen fort, „ich habe es gewiß gut hier, das weiß ich – ihr liebt mich ja alle so sehr und verhätschelt und verwöhnt mich, und es ist ja auch sehr nett bei uns – aber es ist doch auch vieles, was mir gar nicht gefällt –“

Lisbeth horchte auf und sah sie gespannt an.

„Dieses ewige Komödiespielen, als ob wir reich wären, und dabei das Sparen und Knickern! – Warum müssen die Weingläser auf den Mittagstisch gestellt werden, die man nie gebraucht, und die Flasche dazu, die niemals geöffnet wird? Warum muß der Bureaubote den Diener bei uns vorstellen, während er kaum mehr für uns thut, als die Visitenkarten herein bringen? Und Mamas falsche Diamanten ärgern mich auch so – darum will ich heiraten, damit alles echt bei mir ist: der Diener, auch der Wein und die Diamanten.“

„Und daß das Beste echt sein muß in der Ehe, daran denkst Du nicht?“

„Das beste – was denn?“

„Die echte Liebe muß man in die Ehe mitbringen, ohne die ist kein Glück.“

„Ach,“ meinte Elfe überlegen, „Papa und Mama haben sich aus Liebe geheiratet und lieben sich ja heute noch so sehr – darum sind Mamas Brillanten doch nicht echt geworden! Siehst Du, Lisbeth, weil Du solche altmodischen Ansichten hast, deshalb bist Du auch unverheiratet geblieben, und unverheiratet zu bleiben, das denke ich mir nun als das schrecklichste!“

„Wenn Dein Herz einmal erwacht, Du kleines, dummes Ding, dann wirst Du anders darüber denken, dann wirst Du sagen: Ihn oder keinen – und tausendmal lieber keinen als einen, von dem das Herz nichts weiß.“

Elfe sah sinnend vor sich hin, dann strich sie mit der Hand über die Stirn. „Das hilft nun alles nichts mehr – jeder muß wissen, was er kann,“ sagte sie, „aber wir wollen nicht weiter darüber reden.“

Die kunstvolle Frisur war nun auch vollendet, sie griff nach dem Handspiegel, beschaute sich von allen Seiten, rückte das Kränzchen ein wenig mehr zu Gesichte und schlüpfte dann schnell in das weiße, luftige, über glänzende Seide gearbeitete Ballkleid, das Lisbeth dann an Brust und Schultern mit Blumenranken besteckte.

Da wurde die Thür geöffnet, die Frau Geheimrätin rauschte herein, in hellgrauer Moirérobe mit endloser Schleppe, Taille und Rock reich mit wertvollen Spitzen garniert, und im Haar und an der Brust glänzten Sterne von geschliffenen Steinen, die wohl auch der Sachverständige mit bloßen Augen kaum als Nachahmung erkannte. Sie warf einen befriedigten Blick auf die liebreizende Gestalt ihrer Tochter und reichte ihr mit vielsagendem Lächeln ein unter rosa Seidenpapier verborgenes Bouquet, das diese sofort von seiner Hülle befreite, um eine zwischen die Blumen gesteckte Karte zu lesen. Während dem wandte sich die Mutter an Lisbeth.

„Für Dich ist eben dieses Telegramm angekommen.“

„Aus D.?“ rief diese erschreckt, riß das Blatt auf und stieß dann einen Freudenschrei aus.

„Bei Römers ist ein kleines Mädchen eingetroffen,“ sagte sie, ganz erfüllt von dieser frohen Botschaft.

Die Frau Geheimrätin nahm von dieser Mitteilung keine Notiz, aber Elfe schlang den Arm um die Schultern der Schwester.

„Da freust Du Dich wohl sehr. Zeige einmal her! – Eine kleine Lisbeth soeben angelangt“ – las sie halblaut; „sieh, Liesel, das ist doch nett, sie haben das Kind nach Dir genannt.“

Die Mutter war indessen an den Tisch getreten, hatte die Karte aufgenommen und blickte in größter Verwunderung und offenbar sehr enttäuscht auf dieselbe.

„Von Lieutenant Lüdeke – wie kommt der dazu?“

„Nun,“ meinte Elfe, „schließlich hat er gerade soviel Recht, sich niedlich zu machen, wie jeder andere. Ein entzückendes Bouquet, nicht wahr? Diese köstlichen Blumen – und nicht zu groß und nicht zu klein, so recht dazu geschaffen, in der Hand getragen zu werden.

„Das darfst Du aber nicht, Elfe!“ rief die Mutter erregt, „er könnte unliebsame Schlüsse daraus ziehen,“ und leiser setzte sie hinzu: „was würde Walden dazu sagen?“

„Das ist mir ganz gleich,“ meinte Elfe kurz und warf den Kopf in den Nacken; „wenn ich nicht die Blumen, die mir ein anderer schickt, tragen soll, müßte er diesem doch mit der gleichen Aufmerksamkeit zuvorkommen.“

Man klopfte – Lisbeth öffnete die Thür und reichte ein zweites Bouquet Elfrieden hin, wohl dreimal so groß als das zuerst erhaltene und mit überaus kostbarer Manschette von Atlas und Spitzen garniert.

Die Frau Geheimrätin strahlte, als sie die Karte gelesen, doch Elfe zog die Stirne kraus und machte ein böses Gesicht.

„Was fange ich mit dem Dinge an?“ sagte sie kläglich – „Walden scheint noch in seinem Leben kein Ballbouquet gesehen zu haben! Wie könnte ich mich wohl damit schleppen, das wäre ja die reine Last. Ich bin froh, daß ich schon versorgt war.“

„Aber, Herzchen, was fällt Dir ein?“ rief die Mutter lebhaft, „natürlich mußt Du dieses nehmen. Was geht Lüdeke uns an? Sage ihm ein paar höfliche Worte, dann hat er seinen Dank.“

„Nein,“ meinte Elfe eigensinnig, „ich thue es nicht; ich habe jenen Strauß zuerst bekommen, er gefällt mir viel besser, und – ich mag Walden nicht verwöhnen.“

„Sei nicht kindisch – Du verdirbst Dir den Abend – ich würde Dich eher zu Hause lassen, als solchen Fehler begehen.“

Sie legte leicht den Arm um Elfe, zog sie näher an sich heran und sprach leise auf sie ein.

„Nun,“ sagte diese darauf, „dann nehmt mir die künstlichen Blumen vom Kleide ab – wenn es denn sein muß, will ich alle tragen.“

Und mit zierlicher Handhabung zerpflückte sie das große Bouquet, bog sehr geschickt kleinere Sträuße zusammen, die sie selbst am Kleide und im Haar befestigte, und nickte nun wieder heiter ihrer Mutter zu, die völlig befriedigt diesem Wechsel zugesehen hatte. –

Im Ballsaal ertönte bereits die Musik und die Gesellschaft war fast vollzählig versammelt, als die Familie Brückner eintrat. Regierungsrat von Walden erwartete sie am Eingange und reichte nach den üblichen Begrüßungen der Frau Geheimrätin den Arm, während Elfe, trotz aller anderen Aufforderungen, den ihres Vaters genommen hatte.

„Sie sehen, ich habe mich mit Ihren Blumen geschmückt,“ lachte Elfe dann Walden an, „noch dankbarer kann man doch wahrlich nicht sein.“

Er blickte entzückt auf sie und den Blumenschmuck, murmelte einige Worte und machte sein Recht auf ihre Tanzkarte geltend. Sie guckte auf das Blättchen, als er seinen Namen schrieb.

„Nicht zu unbescheiden,“ mahnte sie schelmisch, als er einen zweiten Tanz notieren wollte, und legte den Fächer hindernd auf die Karte, um, nach einem bittenden Worte von ihm, denselben zögernd zurückzuziehen.

„So sagen wir also noch: die erste Quadrille,“ gab sie zu und erwiderte dann das freudige Aufleuchten seiner Augen mit solchem tiefen und zärtlichen Blick, daß er ein plötzliches Herzklopfen verspürte.

Ueber den Saal kam soeben mit federnden Schritten ein jugendlich schöner Offizier auf sie zu. Ihn erblickend trat sie von Walden fort und wendete sich um, damit dieser bei ihrem Gespräch mit jenem nicht ihr Gesicht beobachten könne. Sie hatte Lieutenant Lüdeke ihre Tanzkarte hingereicht und machte ihn auf verschiedene Zeichen aufmerksam, die sie an den einzelnen Stellen gemacht hatte.

„Das sind Ihre Tänze. Sind Sie nun zufrieden?“

„Glücklich bin ich, grenzenlos glücklich! – Und Sie tragen auch mein Bouquet -– ich danke Ihnen tausendmal! Hier auch,“ er zog verstohlen ein Papier hervor, „ein Poem, das die Blumen begleiten sollte, aber ich fürchtete Ihren Zorn.“

Sie lächelte, schlug die Augen auf und ließ diese eine Sprache reden, die er übersetzen konnte, wie er es sich wünschte.

„Stecken Sie nur das interessante Blatt weg,“ sagte sie lächelnd, „es findet sich später wohl Gelegenheit, es mir zu geben. Wir stehen ja gerade wie auf dem Präsentierteller. Und darum möchte ich auch bitten, strahlen Sie mich nicht so verliebt an – der ganze Saal sieht es ebensogut wie ich.“

„Wenn Sie wüßten, wie bezaubernd Sie sind, Elfe!“ und ganz leise hauchte er: „meine süße Elfe.“

Sie zog mißbilligend die Stirn zusammen.

„Das alles dürfen Sie mir morgen Nachmittag sagen, wenn wir uns zufällig um fünf Uhr in den Anlagen begegnen sollten. [674] Aber jetzt achten Sie doch wirklich ein wenig auf Ihre Mienen, und – bitte, bitte, bekümmern Sie sich heute so wenig als möglich um mich, sonst – müßten Sie morgen vergeblich warten.“ – Und wieder dieser innige Blick.

Er verbeugte sich und ging, während sie auf das kleine Fräulein Annie von Giersbach zulief, das eben vor der Geheimrätin einen Courknix, wie ihn der Tanzlehrer ihr eingeübt, vollführte.

„Ach, ich bin Ihrem Herrn Bruder so dankbar, daß er Papa diesen Ball für mich abgerungen hat,“ rief sie mit glückstrahlendem Lächeln Elfe entgegen, „es ist doch zu köstlich hier – und nun kommt gleich der Walzer. – Tanzen Sie auch so gern Walzer? – Freilich, einen tüchtigen Tänzer muß ich dabei haben – es ist doch eigentlich der schwerste Tanz – kommen Sie nie aus dem Takt?“

„Nein,“ sagte Elfe und kräuselte die Lippen etwas geringschätzig, „ich tanze nun den zweiten Winter, da macht man sich um den Walzertakt keine Sorgen mehr.“

„Wir haben immer geübt,“ erzählte Annie weiter, ohne von der Herablassung Notiz zu nehmen, „Mama und ich walzten an jedem Abend um den Eßtisch und gestern mußte sogar Papa heran, während Mama den Donauwalzer dazu sang.“

„Das muß ja ein köstliches Vergnügen gewesen sein,“ meinte Elfe und sah sich etwas gelangweilt um, „aber da kommt ja Leo – nun wünsche ich, daß es ihm glückt, ein würdiger Nachfolger Ihres letzten Walzertänzers zu werden.“

„O, er tanzt gewiß noch viel besser als Papa,“ flüsterte Annie und erwiderte die Verbeugung des Herrn Referendars nun auch mit einem so nach allen Regeln ausgeführten Knix, daß dieser etwas verblüfft auf diese Bestrebungen der kleinen Dame schaute.

Er reichte ihr den Arm und sie traten in die Reihen der Tanzenden, und bald war es seiner Unterhaltungsgabe geglückt, den offiziellen Ton, den sie, erfüllt von der Feierlichkeit des ersten Balles, angeschlagen hatte, in natürliche Bahnen zu leiten.

Die Frau Geheimrätin blickte immer wieder und wieder sehr mißfällig auf das plaudernde Paar, das über der lustigen Unterhaltung ganz seine Umgebung vergaß und dessen helles Lachen zuweilen sogar bis zu ihr herüber tönte.

„Nein, dieser Junge, was hat er nur an dem Backfisch,“ sagte sie ganz ärgerlich vor sich hin, „ich glaube wirklich, er kokettiert mit dem Kinde nur, um seine Unabhängigkeit von meinem Einflusse zu beweisen. Wie Grimms das wohl aufnehmen werden? Dora ist so empfindlich in diesem Punkte, ich fürchte wirklich, er verschlägt sich dort damit alle Aussichten. Und das nun so ruhig mit ansehen zu müssen! Ach, wie viel schwerer sind doch Söhne zu leiten als Töchter!“

„Also, wenn Sie wirklich nur noch einen Tanz über hier bleiben, dann müssen Sie mir noch eine Tour versprechen,“ bat Leo nach Beendigung des Walzers, während er seine Tänzerin in sehr, sehr langsamem Schritte zu ihrem Platz zurückführte.

„O, sehr gern,“ sagte Fräulein Annie, „das ist reizend, nun freue ich mich auch auf den nächsten Tanz! Ich dachte erst, ich machte mir nichts daraus, wenn Papa jetzt schon nach Hause ginge, das schönste ist ja doch vorbei – ich meine nämlich den Walzer,“ erklärte sie, voll Verlegenheit über ihre eigenen Worte erglühend.

„Aber wie wollen Sie das machen? Es schickt sich doch nicht, daß der Herr seine eigene Dame stehen läßt, um sich eine andere zu holen.“

„So, schickt sich das nicht? Haben Sie das auch in der Tanzstunde gelernt?“

Sie nickte ernsthaft. „Sie dürfen es auch nicht. Papa würde schelten, wenn ich die Veranlassung zu solcher Unhöflichkeit wäre.“

„So mache ich es anders. Mit dem Herrn Papa wollen wir es nicht verderben. Ich habe den Tanz noch frei und behalte ihn auch, dann kann ich mich wohl durch eine Extratour entschädigen.“

Ein herzliches Lächeln dankte ihm.

„Wie nett Sie immer sind; wirklich, so ist uns geholfen.“

Aber der Frau Geheimrätin war garnicht damit geholfen. Leo lehnte in der Thür zum Nebensaal, sah dem Tanze zu und holte sich dann einmal – nein, zweimal nach einander die kleine Giersbach zu einer Extratour. Das mußte doch auffallen! Da war ja völlig ein Gerede provociert! Was macht der alte Oberst wohl für ein Gesicht dazu, und – Grimms! Die Kommerzienrätin pflegte sonst sie immer zuerst zu begrüßen, heute war sie noch nicht heran gekommen. Was man für eine Not mit dem Jungen hat! – ach, welche Aufregungen solch ein Ball für eine Mutter mit sich bringt!

Endlich kam die Pause. Giersbachs traten alle an, um sich zu empfehlen, und Leo lehnte nun wieder an einer Säule, ohne sich um seine weiteren Verpflichtungen zu kümmern. Da plötzlich – die Geheimrätin atmete auf – schien er sich dieser zu erinnern, denn er schritt jetzt auf eine Gruppe zu, die am Ende des Saales neben einer Ottomane plaudernd stand. Ihr Mittelpunkt war Fräulein Dora Grimm, ein großes, blühendes Mädchen mit sehr voller, eleganter Figur und einem Stumpfnäschen in dem runden Gesicht, das sie so hocherhoben trug, als wollte sie damit sagen: wie schlecht es hier riecht! Sie unterhielt sich sehr lebhaft mit einem Hauptmann von flotter, schöner Erscheinung, der freilich schon im Kampfe des Lebens viel Haare hatte lassen müssen und für diesen Mangel nun durch einen schneidigen Schnurrbart, an dem er beständig drehte, die Mitwelt entschädigte.

Herr Leo Brückner trat grüßend heran. Man dankte, aber Fräulein Dora Grimm hielt das begonnene Gespräch mit dem Offizier fest und nahm keine Notiz von seiner Annäherung, ja sie ging so weit, sich auf das Sopha niederzulassen und dem Hauptmann mit einer Handbewegung den zweiten Platz anzubieten. Den interessierte aber offenbar ein anderer Kreis im Saale mehr, und nachdem er stehend das Gespräch zu Ende geführt hatte, beurlaubte er sich.

Leo war zu Seiten des Diwans getreten und wartete schweigend auf diesen Augenblick; nun jener gegangen, beugte er sich ein wenig näher und fragte mit einem etwas sehr sicheren Tone: „Und welche Tänze haben Sie für mich notiert, gnädigstes Fräulein?“

„Daß ich nicht wüßte,“ war die kühle Antwort, „ich erinnere mich nicht, darum gebeten worden zu sein.“

Er lachte, und sie wandte ihr Gesicht ganz von ihn: ab.

„Wollen Sie mir nicht gütigst Ihre Tanzkarte gestatten, ungnädigstes Fräulein?“

„Warum?“ tönte es zurück, „sie wird mit der Ihren doch wohl nicht in Einklang zu bringen sein; auf diese hat für den heutigen Abend wohl ganz und gar Fräulein von Giersbach Beschlag gelegt?“

„Aha,“ er pfiff leise durch die Zähne, „nun verstehe ich erst: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“

Eine dunkle Blutwelle flog über ihr Gesicht.

„Was heißt das nun wieder auf Deutsch?“

„Sehr einfach, meine Gnädigste: Sie sind eifersüchtig, Schönste der Schönen!“

„Sie sind unverschämt, Herr Referendar!“

„Herr Gott, es fällt nur gar nicht ein. Ich will nur das, was Sie mir verwahrt haben. Geben Sie mir schnell Ihre Karte, ich kann sie Ihnen doch nicht aus dem Gürtel ziehen; da kommt eben Dorguth an, der bettelt Ihnen, wenn Sie sich länger zieren, noch einen Tanz ab, und dann ärgern Sie sich ja wieder den ganzen Abend darüber, daß Sie ihn selbst sich so verkümmert haben.“

Herr Assessor Dorguth war näher getreten und beeilte sich, seine ergebenste Bitte um einen Tanz ihrer Berücksichtigung zu empfehlen.

Sie hatte die Karte hervorgezogen und hielt sie verdeckt in der Hand.

„Nichts mehr zu haben, Herr Kollege, bereits alles ausverkauft,“ antwortete statt ihrer Leo.

„Wirklich, gnädiges Fräulein?“ beharrte der andere. Sie zog die Schultern hoch mit einem bedauernden Lächeln, obwohl sie noch einen Augenblick vorher entschlossen war, den dreisten Usurpator zu strafen, und der Assessor nahm daraufhin seinen Rückzug. Dann aber wandte sie sich scheinbar sehr entrüstet an Leo: „Was soll denn das eigentlich heißen? Mit welchem Rechte erlauben Sie sich, über mich zu verfügen?“

„Einen Augenblick!“ erwiderte er kaltblütig, zog aus ihrer Hand die nur lose gehaltene Karte und als er darauf an drei Stellen ein L. B. eingeschrieben fand, nickte er ihr mit herausforderndem Selbstbewußtsein zu.

„Na, natürlich!“ sagte er, „und da beginnt auch gerade meine Quadrille. Warum sperren Sie sich dann erst, wenn Sie doch so gütig an mich gedacht.“ Und er ergriff ihre Hand, zog sie durch seinen Arm und ging, immer dieselbe festhaltend, durch den Saal.

Und die Frau Geheimrätin lächelte jetzt ganz beruhigt: „Dieser Leo, wie er sich seinen Platz ertrotzt! – wahrhaftig er ist unwiderstehlich, mein lieber, schöner Junge!“

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 41, S. 690–692
[690]
5.

Darf ich Dich einen Augenblick stören, Papa?“ mit diesen hastig gesprochenen Worten trat Lisbeth, wenige Tage nach dem Balle, in ihres Vaters Arbeitszimmer. Er warf einen Blick in ihr erblaßtes und heftige Erregung verratendes Antlitz und sprang von seinem Stuhle auf.

„Wie siehst Du aus! Ist ein Unglück geschehen?“

„Hoffentlich noch nicht, aber ich möchte eines verhüten.“

„Die Mama!??“

„Nein, nein, Papa! Ich habe traurige Botschaft von Römers.“

„Von Römers? Und da erschreckst Du mich so!“ rief er vorwurfsvoll.

„Es sind meine besten Freunde, Papa. Ihr Leid fühle ich wie ein eigenes.“

„Du bist in diesem Punkt merkwürdig sentimental,“ sagte er kurz, „ich finde, die Mama hat nicht unrecht, wenn sie sich über die Ueberfülle dieser freundschaftlichen Gefühle beschwert. Aber erzähle, was hast Du und was willst Du?“

„Du weißt es wohl, Papa, daß Gertrud seit Montag ein kleines Baby hat. Tante Römer ist zu ihrer Pflege dort. Nun hat diese vorgestern das Unglück gehabt, durch einen Sturz in den Keller das Bein zu brechen, und zu gleicher Zeit fing Gertrud an zu fiebern. Die Dienstboten sind noch fremd am Orte, Gertruds Krankheit steigerte sich rasch und Arnold ist durch sein Amt gezwungen, fast immer im Bureau zu sein. Er schreibt mir völlig verzweifelt über die augenblickliche Lage –“

„Und wünscht, daß Du hinkommst,“ unterbrach sie der Geheimrat.

„Das spricht er nicht aus, ich soll eine Pflegerin besorgen, darum schreibt er. Aber, Papa, ich bin fest entschlossen, ihnen beizustehen und mit dem nächsten Zuge abzureisen, und ich komme, Dich um die Erlaubnis und um Deine Vermittelung in dieser Angelegenheit bei Mama zu bitten.“

„Aber, Lisbeth, was ist das für eine Leidenschaftlichkeit! Ich weiß nicht, ob Mama – –“

„Es sind meine besten Freunde, Papa! Tausendmal bin ich in diesen langen Jahren ihnen das schuldig geworden, und ich werde sie nicht allein lassen, wenn ich ihnen wirklich nützen kann. Denke doch nur, wenn Gertrud stürbe, nie in meinem Leben könnte ich darüber wieder ruhig werden“ – die Thränen stürzten dabei plötzlich über ihre blassen Wangen – „und Tante Römer, wie mag sie in dieser hilflosen Lage leiden!“

Das Mitleid über ihre Ergriffenheit ließ den Geheimrat die schon auf seinen Lippen schwebende Bemerkung über dieses so höchst überflüssige „Tantenverhältnis“ unterdrücken.

„Nun, nun,“ meinte er, „es wird ja so schlimm nicht sein, und was ich thun kann, um Mama zu bewegen –“

„Nein, Papa, gehe noch nicht! Wir müssen uns erst verständigen. Ich reise unter allen Umständen, für mich liegt darin eine Pflicht. Ich bin hier leicht ersetzbar, dort nicht. Ich wäre Mama unendlich dankbar, wenn sie einwilligte, aber –“

„Ah,“ meinte kurz und kühl der Vater, „ich verstehe. Um jenen gefällig zu sein, wärest Du imstande, uns den kindlichen Gehorsam aufzusagen.“

„Papa,“ sie warf sich an seine Brust und umschlang ihn mit den Armen, „hast Du je Ursache gehabt, über mich zu klagen? Versetze Dich jetzt in meine Lage, vertritt dieses Mal meine Interessen, und ich werde gewiß mein Leben lang Dir nie Grund geben, Dich über den Mangel an kindlicher Unterordnung zu beschweren.“

„Du bist so aufgeregt,“ erwiderte jener und wehrte leicht ihre Umarmung ab. „Diese Stimmung soll bei mir zu Deiner Entschuldigung sprechen. Wann willst Du fahren?“

„Der nächste Kurierzug geht um fünf Uhr.“

„So gehe und besorge Dein Gepäck und dann komme zu Mama, ich werde indessen die Sache mit ihr vereinbart haben.“

Als Lisbeth nach einer halben Stunde das Wohnzimmer betrat, fand sie die Eltern noch bei einander. Sie brachen das sehr lebhaft geführte Gespräch ab und der Vater sagte, eine Aussprache zwischen Mutter und Tochter verhindernd, zu ihr: „Mama erlaubt Dir die gewünschte Reise nach D., bedanke Dich bei ihr. Ich will derweil Schmidt nach einem Wagen schicken.“

Lisbeth näherte sich der Mutter, ergriff ihre Rechte und küßte sie, und diese bedeckte ihre Augen mit der anderen Hand und sagte klagend: „Fremden Menschen gehst Du beizustehen und mich lässest Du allein, trotzdem Du die täglichen Arbeiten in unserem Haushalte kennst.“

„Durch Leos und meine Abreise verkleinert sich die Familie fast um die Hälfte, und während seiner Abwesenheit fallen natürlich auch alle größeren geselligen Veranstaltungen bei uns fort – das wird Dir die Zeit erleichtern, Mama!“

„Ach ja, Leos Abreise!“ unterbrach die Mutter sie, „wir wollten heute noch gemeinsam seine Sachen packen.“

„Ich habe es schon gestern abend gethan. Die Bücher- und Wäschekiste ist fertig. So hat er einzig noch seine Kleider in den Koffer zu legen, und das macht er allein.“

„Und welche Kosten werden wieder aus dieser Reise entstehen, während wir wegen Leos Aufenthalt in Berlin doch wirklich Ursache haben, alle unnützen Ausgaben zu vermeiden.“

„Ich werde dritter Klasse fahren, Mama: es ist ja ein Kurierzug, da kann man es ruhig thun.“

Die Frau Geheimrat überlegte sich dieses Anerbieten schnell.

„Du mußt aber ein Zuschlagbillet bis zur nächsten Station lösen, damit Du hier in die zweite Klasse einsteigst. Es könnte jemand, der Dich kennt, am Bahnhofe sein.“

„Ja, gewiß, wenn Du es wünschest, obwohl das Umsteigen nach einer Viertelstunde stets sehr unbequem ist.“

„Darauf kann man keine Rücksicht nehmen. Wirst Du dort erwartet?“

„Nein, es ist bei dem gegenwärtigen Zustande niemand von Hause abkömmlich. Außerdem will ich mich auch nicht anmelden.“

„Das ist auch besser: so weiß es niemand, welche Klasse Du benutzt hast. Bei der Rückfahrt aber, wenn man Dich begleitet, nimmst Du wieder dieses Zuschlagbillet. Hörst Du, Lisbeth?“

„Ja, Mama – aber Römers benutzen immer die dritte Klasse.“

„Was sich für Römers schickt, schickt sich für die Tochter Deines Vaters noch lange nicht, also folge meinen Anordnungen!“

*               *
*

Lisbeth hatte ihre Reise mit der Hoffnung angetreten, den Freunden eine Stütze in der Not zu werden, aber sie ahnte doch nicht, in welchem Maße dies der Fall sein würde. Der erste, dem sie am Abend ihrer Ankunft begegnete, als sie, der Droschke vorsorglich schon am Straßenanfang entstiegen, mit ihrem Handgepäck beladen, beim trüben Schein der Laternen nach der Hausnummer suchte, war der eben aus dem Hause tretende Arnold. Er drückte ihr tiefbewegt die Hände, zu vielen Worten war nicht Zeit, und führte sie gleich hinein zu seiner Mutter, die im Gefühl ihrer hilflosen Ohnmacht und in der Angst um Gertrud seelisch noch stärker litt als durch die Schmerzen des gebrochenen Beines, obgleich auch diese quälend genug waren.

Auch sie begrüßte Gertruds Kommen wie das eines rettenden Engels vom Himmel, und es war leicht zu sehen, wie Lisbeths sofortiges Eingreifen und ihre geschickte zärtliche Fürsorge einen Ausdruck von seliger Erlösung auf dem vorher so kummervollen Gesicht der alten Frau hervorriefen. Mit Gertrud stand es nicht schlechter, doch war es geboten, sie vorsichtig auf Lisbeths Kommen vorzubereiten. Während Arnold in ihr Zimmer trat, ging Lisbeth in die Küche und fand dort ihre Hilfe womöglich noch notwendiger als in den Krankenzimmern. Die Köchin saß schluchzend am kalten Herd, tief unglücklich über den fremden Ort, über die Krankheit der Frau und noch vieles andere Schreckliche, namentlich aber auch darüber, daß der Herr seit Tagen eigentlich gar nichts zu sich nahm vor lauter Sorge und Aufregung. Darüber war ihr der Mut zum Kochen vergangen. Ihren Braten hatte er nicht angerührt, die guten Suppen ebensowenig, niemand sagte [691] ihr, was sie sonst machen sollte, da konnte sie eben nichts thun als weinen.

Lisbeth tröstete sie, hieß sie das Tuch von den Augen nehmen und Feuer anmachen und versprach, selbst zu kommen und mit Hand anzulegen. Dieser Zuspruch wirkte Wunder. Auguste versicherte, es sei ihr jetzt schon ganz leicht ums Herz, und Lisbeth wandte sich von ihr weg dem Krankenzimmer zu.

„Tritt näher, Lisbeth,“ sagte die junge Frau mit bebendem Ton, „ich will Dich umarmen. Ach, mein geliebtes Herz, wie danke ich Dir – nun weiß ich Mann und Kind und die arme kranke Mutter geborgen, da Du bei ihnen bist!“

„Nun, Gertrud, wir wollen uns Mühe geben, daß sie alle bald wieder Deiner Sorge unterstellt sind. Sei nur recht ruhig und denke nicht an die augenblickliche Kalamität, sondern erquicke Dich an dem Gedanken, wie sich Dein Glück und Dein Reichtum vergrößert hat! Ist es denn frisch und kräftig, Dein Baby?“

Die Kranke nickte und ein mattes Lächeln flog über ihr Gesicht, das in dem schwachen Schein des Nachtlichtes bis auf die fieberroten Wangen weiß erschien wie die Kissen, in denen sie lag.

„Es ist zu niedlich,“ flüsterte sie dann, „und es sieht Arnold so ähnlich, sogar der blonde Haarbüschel lockt sich schon jetzt auf der Stirn, wie bei ihm.“

„Nun, siehst Du, es ist Dir leicht gemacht, an Heiteres zu denken. Jetzt lege ich Dich auf die Seite und Du versuchst ein wenig zu schlafen. Mit dem Süppchen, das ich Dir kochen werde, komme ich dann und wecke Dich.“

„Und Arnold? Ich glaube, seit Mutterchen liegt, hat er noch nichts Vernünftiges zu essen bekommen.“

„Bekommen wohl, aber aus Sorgen um Dich nichts gegessen. Nun sei aber darum ruhig, jetzt ist das meine Sache, mein Schatz!“

„Lisbeth!“

„Was ist’s, Trudchen?“

„Ich möchte Dir gern noch etwas sagen.“

„Später, Liebste, jetzt ruhe Dich aus von der Aufregung, in der Du Dich den ganzen Tag befunden. Ich will nun sehen, daß die Deinen zu ihrem Recht kommen.“

Nach einer halben Stunde zeigte sich die Lage des Hauses Römer schon wesentlich gebessert. Die Kranken hatten ihr Süppchen genossen, und wenigstens die Frau Rektor schlief fest und sanft, während Arnold im Gefühl, daß jetzt jemand seine Sorgen mittrug, ruhiger geworden war und leichter geneigt schien, Lisbeths Trostesworten zu glauben.

So brachte die Nacht Frieden und Ruhe für die verängstigten Gemüter und der Sorgenbrecher Schlaf vollendete die Wohlthat der Natur und schloß allen die Augen.

Nur Lisbeth wachte. In einen Lehnstuhl gedrückt saß sie an Gertruds Bett, hielt die fieberheißen Hände der jungen Frau in den ihren und betrachtete mit stummem Schmerze dieses in den wenigen Tagen so verfallene Gesicht. Die Kranke stöhnte, warf sich hin und her, focht mit den Händen in der Luft und murmelte leise Worte. Endlich, nach einigen angstvoll verbrachten Stunden, öffnete sie plötzlich die Augen, sah Lisbeth mit leeren Blicken an und schloß sie dann wieder, um nach einigen Minuten mit dem Ausdruck völligen klaren Bewußtseins sie wieder aufzuschlagen.

„Lisbeth!“

„Ich bin’s, Trudchen, wünschest Du etwas?“

„Ja, ich muß zu Dir reden, lasse mich sprechen, sonst finde ich keine Ruhe!“

„Sprich, mein liebes Herz!“

„Lisbeth, ich werde sterben, ich fühl’s.“

„Liebste Gertrud, ist es nicht unrecht, Dich durch solche Gedanken aufzuregen! Du wirst in wenigen Tagen frisch und gesund sein – der Arzt hat’s noch abends Deinem Manne versichert.“

„Nein, Lisbeth, täusche Dich nicht – er irrt – hier sitzt’s“ – sie legte ihre schmale Hand auf die Brust – „ich werde nie mehr frisch und gesund sein. Aber Lisbeth – ich fürchte mich nicht. Jedem Menschen ist sein Teil Glück zugemessen – mir ist ein vollgeschüttelt Maß geworden – nun gehe ich – mag auch Arnold glücklich werden –“

„Aber, Gertrud – Gertrud!“

„Ja, es ist so, Lisbeth. – Er ist der beste, der edelste der Menschen – er hat mich namenlos glücklich gemacht in den Jahren, da ich ihm angehörte – und jetzt erst habe ich begriffen – daß er es nicht ist. – Er nahm mich an sein Herz, weil er sah, wie grenzenlos ich ihn liebte – das seine gehörte einer anderen, gehörte ihr von Jugend an – – gehörte ihr ganz allein. – – Sei ruhig, Lisbeth, halte still – laß mich ausreden! – Deiner Mutter Stolz hatte ihn so tausendmal aufs bitterste verletzt, und daß Du nur dulden, nicht handeln konntest, ließ ihn an Dir zweifeln. Er glaubte wohl, er bezwinge sein Herz leichter, wenn er sich Pflichten auferlege – aber Lisbeth – er hat es nie bezwungen – nie – – niemals – –“

Der Freundin Antlitz war blasser fast als das der Kranken, als sie sich nun über sie beugte.

„Mein armes Herz,“ sagte sie sanft, „Du fieberst, Du phantasierst, mache Dich los von diesen bösen Träumen. Ich will Dir ein Schlückchen Wasser geben und Dich höher betten, vielleicht kannst Du dann besser schlafen!“

„Ich phantasiere nicht, Lisbeth, jedes Wort ist überlegt, das Du gehört. Ich habe Gott immer gebeten, daß ich es Dir sagen darf, und er hat es mir gegönnt. Ich will kein Versprechen – ich will auch keinen Wunsch äußern – nur sagen wollte ich Dir, was ich gesagt habe, Dir ganz allein – und nun ich das gethan, bin ich ruhig – ganz ruhig – nun werde ich auch schlafen!“

Lisbeth nahm sie schweigend in ihre Arme, richtete die Kissen höher, reichte ihr den erfrischenden Trunk und setzte sich wieder ihr zu Häupten.

„Gieb mir die Hand, Lisbeth!“

Diese nahm die kleine, fiebernde Hand der Freundin in die ihren, die so kalt waren, als wären sie innerlich erstarrt. Wie das Blut in dem schwachen Körper jagte und glühte, wie jeder Pulsschlag drin kämpfte mit dem dunklen Ueberwinder Tod! Gott – Gott – nur dieses nicht – nur dieses nicht! Stundenlang saß sie so, ohne sich zu regen, ihre Glieder wurden steif durch die unbewegliche Stellung, eisige Schauer flogen über ihren Leib, sie merkte nichts, dachte nichts, fühlte nichts als die Angst, die Todesangst um das junge, fliehende Leben der Freundin. Und immer noch ging der Atem so heiß und schnell über die heißen Lippen, immer noch drang der röchelnde Ton aus der Tiefe der Brust, und wenn die nur halbgeschlossenen Augen sich plötzlich öffneten, war es ein leerer, verständnisloser Blick, der auf Lisbeth fiel.

Endlich ging die qualvolle Nacht zu Ende – ein blasses Frührot tauchte schon im Osten auf – da spürte sie die heiße Hand kühler werden, auch die fieberroten Wangen erblaßten allmählich, die Glieder streckten sich, und wie die Lider tief und fest über die Augen fielen, verwandelte sich diese zitternde, fiebernde Bewußtlosigkeit in die tiefen, langen, regelmäßigen Atemzüge einer Schlafenden.

Der Arzt, der am Morgen seinen Besuch machte, war äußerst überrascht und erfreut.

„Das gnädige Fräulein ist als ein rettender Engel hier erschienen, ich habe kaum auf diesen günstigen Ausgang gehofft.“

„Darf ich ihr, wenn sie erwacht, ihr Kindchen bringen?“

„Nein, keinesfalls. Sie wird aber auch nicht danach verlangen; ihre Mattigkeit wird so groß sein, daß sie noch längere Zeit keinerlei Interesse verrät.“

Und so war es auch. Fast immer lag die junge Frau in festem Schlaf und dieser wechselte dann mit leichtem Schlummer ab. Sie ließ sich Nahrung einflößen, öffnete wohl auch die Augen und begrüßte mit einem freundlichen Blick oder einem liebevollen Worte ihre Umgebung, um dann wieder in den dämmernden Halbschlaf zu sinken.

Im ganzen Hause hörte man keinen lauten Ton, alle Glocken waren abgestellt, die Uhren angehalten, man bewegte sich nur langsam und leise, sprach nur flüsternd und zitterte schon vor jedem Geräusche auf der Straße, das diese verheißungsvolle Ruhe stören könnte. – So gingen viele, viele sorgenvolle Tage und Nächte hin; endlich an einem Morgen erwachte Gertrud mit völlig klaren Augen und rief Lisbeth zu sich heran.

„Ich lebe wieder, Lisbeth!“

„Dem Himmel sei dafür gedankt, mein Liebling!“

„Ja, ich will ihm danken jeden Tag und jede Stunde. Ach, ich lebe ja so gern! Und Deiner treuen Sorge, Lisbeth, verdanke [692] ich es nächst Gott. Du warst stets bei mir - ich habe Dich immer gesehen, am Tage und in der Nacht, und Deine Gegenwart gab mir die Ruhe.“

Sie langte nach der Hand der Freundin und hielt sie mit ihren blassen, abgezehrten Händen fest, während sie still vor sich hin sann.

„War ich sehr krank, Lisbeth?“

„Ja, Trudchen, recht sehr, aber denke nicht mehr daran, das ist ja nun vorbei!“

„Habe ich sehr gefiebert und phantasiert?“ fragte sie weiter, während eine hohe Röte über ihr Gesicht zog und ihre Augen mit forschendem Ausdruck auf Lisbeths Antlitz hafteten.

„Nur eine Nacht, und schon gegen Morgen kam die Wendung zum Besseren.“

„Und es hat niemand gehört, was ich phantasierte?“

„Niemand sonst, wir waren allein – und ich weiß es auch nicht mehr, womit sich Dein Geist beschäftigte. Wer kann die unzusammenhängenden Worte eines Fieberkranken festhalten?“

Die Spannung auf dem blassen Gesicht verschwand, ein Lächeln fand darauf Platz: „Du Gute, Liebe – wir wollen nie mehr von diesem bösen Tage reden. Nun hole mir meinen Mann und mein Kind!“

Von dieser Stunde an ging es sichtlich vorwärts. Bald stand die Wiege neben ihrem Bette, Arnold durfte die ganze Zeit, die er seinen Amtsgeschäften abmüßigen konnte, bei ihr zubringen, und sogar die alte Frau Rektor wurde an jedem Morgen, in einem Lehnstuhl sitzend, in dieses Zimmer gerollt und auf dem Sopha gebettet, denn auch bei ihr hatten diese Wochen so günstig gewirkt, daß sich in nicht ferner Zeit eine völlige Genesung erwarten ließ.

Mittlerweile waren die Briefe von Hause, die an Lisbeth kamen, von Mal zu Mal dringlicher geworden und verlangten immer stürmischer ihre Rückkehr. Die Frau Geheimrätin schrieb, Leos Examen stünde in allernächster Zeit bevor, und sobald er wieder zu Hause sei, sollte der große Ball zur Eröffnung der Saison vom Stapel gehen, der nur wegen seiner Abreise aufgeschoben worden sei. Von ihrem Vater erhielt sie einen Brief mit allerlei Andeutungen, die sie sich nur so zu erklären wußte, daß der Berliner Aufenthalt ihres Bruders den Vater mit außergewöhnlichen Sorgen belastet haben müsse, und Elfe würzte die Briefchen, die sie nur in den seltensten Fällen zu verfassen pflegte, so sehr mit geheimnisvollen Hinweisen auf ein kommendes wichtiges Ereignis, daß Lisbeth sich schließlich völlig beunruhigt fühlte und selbst dringend heim verlangte.

Im Hause ihrer Freunde war sie ja wohl nun abkömmlich, da die junge Hausfrau wieder auf ihren Füßen stand und auch die alte Frau Römer mit Hilfe eines Stockes im Zimmer zu gehen vermochte.

Es war aber doch ein schweres Scheiden. Solche in Angst und Schmerzen verlebten Zeiten ketten die Herzen fester aneinander als jedes andere gemeinsame Erlebnis. Sie liebte ihre Eltern und Geschwister zärtlich, aber Rat oder Stütze würde sie nicht von ihnen verlangt haben. Desto mehr davon erwartete dort jeder von ihr, immer war sie die Gebende, die nicht Zeit finden konnte, an sich selbst zu denken. Welch’ ein Segen, neben einem Manne wie Arnold zu stehen, der das Bewußtsein des Rechts so unerschütterlich fest in sich trug und dem das Gute und Rechte immer das Selbstverständliche war – neben einer Frau wie seine Mutter zu leben, die so viel Milde mit Klugheit verband und stets das richtige Wort fand, um das verzagte Herz aufzurichten und auf den rechten Weg zu führen! Und dann das Kleine, ihrer lieben Gertrud süßes Baby – gewiß, dem galten in erster Reihe die Thränen, die bei der Rückreise unaufhörlich ihr Gesicht befeuchteten und sich gar nicht stillen lassen wollten. Wie lieblich es war, wie rund und zart und rosig! Wie wohlig es sich streckte und dehnte, wenn sie es in das warme Wasser gelegt und dann frisch gebettet hatte! Und wie das Mündchen sich schon zum Lächeln verzogen und die Händchen, die winzigen, weichen Händchen so sanft über ihr Gesicht gestreift hatten! Ach, die Händchen – die Kinderhändchen – wie fest sie halten, was sie ergreifen, am festesten wohl das Frauenherz! Ob das ihre noch einmal aufhören würde, so zu schmerzen, ob wohl einmal die Sehnsucht nach diesem kleinen Wesen, welches sie mit seines Vaters Augen angesehen hatte, sich mildern würde? – –

Die Ihrigen empfingen sie nicht am Bahnhof, aber Schmidt war da, in Livree, besorgte den Wagen und brachte sie mit einer strahlenden Triumphmiene nach Hause. „Endlich – endlich!“ scholl es ihr dort von allen Seiten entgegen, geöffnete Arme streckten sich nach ihr aus, und als sie, gehätschelt und geliebkost, von einem zum andern ging, empfand sie eine drückende Reue darüber, daß nicht die gleiche Sehnsucht, die man hier nach ihr empfunden, sie zurückgeführt hatte ins Elternhaus.

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 42, S. 709–714
[709]
5.

Der Regierungsrat von Walden schritt trotz der unfreundlichen Witterung und der vorgeschrittenen Nachmittagsstunde zwischen den in winterlicher Oede daliegenden Parkanlagen, die den Platz vor dem Provinzial-Steuerdirektorium schmückten, spazierend auf und ab. Es wurde ihm sichtlich schwer, ein gleichmäßiges Tempo dabei festzuhalten. Zuweilen verlangsamte er seinen Gang und dann beschleunigte er ihn wieder; er focht mit dem Spazierstöckchen, das er in der Hand trug, durch die Luft, sah alle fünf Minuten nach seiner Uhr und hob sie dann sogar in die Höhe, um zu prüfen, ob sie auch gehe. Dabei blickte er unablässig nach den hellerleuchteten Fenstern des ersten Stockwerks des Direktionsgebäudes, hinter welchen man durch die Spitzengardinen verschiedene Personen sich bewegen sah. Ab und zu trat eine Gestalt bis dicht an die Scheiben, lehnte sich gegen das Fensterkreuz und schaute auf die dunkle Straße, dann klopfte ihm plötzlich das Herz ganz laut und er machte eine Bewegung, als wollte er einen Gruß hinauf senden.

So mochte eine halbe Stunde vergangen sein; immer war er den Begegnenden ausgewichen, nun hörte er plötzlich ganz dicht hinter sich Schritte, und eine muntere Stimme rief auch schon, ehe er sich noch umgewandt: „Also richtig gefunden, Walden! Erst traf ich Sie nicht mehr im Bureau, dann suchte ich Sie in Ihrem Heim – ebenfalls ohne Erfolg – um Sie nun glücklich hier zu treffen! Merkwürdige Tageszeit, die Sie sich für Spaziergänge wählen! Man sieht bei diesem trüben Himmel und der zu Ehren des heute im Kalender stehenden Mondscheins verringerten Laternenbeleuchtung wirklich nicht die Hand vor den Augen.“

„Man muß die Feste feiern, wie sie fallen,“ gab der Angeredete darauf zurück; „wer am Tage nicht Zeit für eine Promenade hat, muß die Abendstunden dazu benutzen. Uebrigens liegt es auch in der That nur an der Bewölkung, daß es so spät scheint – es kann kaum sechs Uhr sein.“

„Lassen Sie sie nur stecken,“ sagte der andere, als jener eine Bewegung machte, um die Uhr hervorzuziehen, „es ist in der That noch nicht voll Sechs, also gerade die [710] Stunde, in der man in unserem cabinet séparé das Löwenbräu ansticht. Sie gehen doch mit? Darum folgte ich so beharrlich Ihren Spuren. Sie sollen uns heute nicht wieder vergebens warten lassen, Sie, der Stifter dieses Vorabendschoppens!“

„Ich weiß wirklich nicht, Kollege,“ meinte Walden zögernd, „ich habe heute abend noch viel zu thun. Der Chef hat mir ja zu meinem ohnehin umfangreichen Decernat noch eine Vertretung aufgepackt, und – da muß ich noch einen Bericht –“

„Als ob nicht morgen dafür Zeit wäre!“ unterbrach ihn der andere. „Thun Sie doch nicht so! Ihr verwöhnten Herren von der Direktion beklagt euch schon, wenn ihr einmal drei Stunden am Tage festsitzen müßt! Kommen Sie einmal auf die Regierung und sehen Sie sich die Aktenberge an, die jetzt mein Zimmer zieren – na, und es muß auch gehen. Man muß rasten, um zu hasten, wo käme man sonst hin! Also Sie gehen mit – wie? Die schöne Sophie wird sich ihre schwarzen Augen über ihren ungetreuen Ritter schon blind geweint haben –“

Walden, der ein paar Schritte neben jenem gegangen war, blieb plötzlich stehen.

„Sehen Sie, Kollege, so lächerlich es ist, es ist wahrhaftig auch ein Grund, weshalb ich unserem Kreise fern blieb. Solcher Person fehlt doch gänzlich das Feingefühl, es zu merken, wann der andere nicht mehr will. Sie attackiert mich ja förmlich mit ihren Blicken – was müssen die anderen denken? Und obenein hier in diesem Krähwinkel – unter diesen Philistern! Man hat noch zu riskieren, daß es publik wird, und dann –“

„Ja, was wollen Sie?“ gab jener zurück, „unsere kleinbürgerlichen Verhältnisse übersahen Sie doch bald, denen können Sie nicht den Vorwurf machen, daß sie sich Ihnen verhüllten. Und was die Sophie betrifft – sie hält sich wohl, weil sie eine Verwandte des Wirtes ist, für etwas Besseres als die anderen Bierheben – da spuken denn immer gleich weiß Gott was für romantische Ideen in dem Köpfchen. Na, und sie ist auch noch sehr jung und weiß noch nicht, daß – im Wechsel das Glück liegt. Aber kommen Sie nur mit; der Gefahr nicht ausweichen, ist ja schon halber Sieg.“

„Ich hätte immerhin nur ein knappes Stündchen. Eine Einladung zum heutigen Abend vom Chef –“

„Ah – ich verstehe!“ er pfiff durch die Zähne, „die schöne Elfe zieht! Ja, da können wir freilich nicht mit. Aber ein Stündchen ist besser als kein Stündchen. Und mit nehme ich Sie nun jedenfalls – was ist das hier für eine vertrackte Situation für Sie, in diesem feuchten, nebligen Wetter!“ Er klopfte ihm neckisch auf die Schulter und parodierte mit launig pathetischem Ton:

„Und so stand er viele Tage,
Stand viel Monde lang – –

– wahrhaftig, Walden, da ist sie! Sehen Sie hin! Wirklich reizend, ganz reizend die Silhouette! Dieses feine Profil, dieses ganze entzückende Persönchen, so dunkel abgehoben von dem lichten Hintergrunde! Na, haben Sie nun genug? Dann also zum Schoppen!“ Er lachte lustig: „Ja, Walden, wenn das nicht Schwärmerei ist?! Und da sagen die Menschen noch, daß unserer materiellen Zeit alle Poesie fehle!“ – –

Schrägüber jenen hellen Fenstern hatte man jetzt, kaum fünf Minuten, nachdem die Herren vorübergegangen, etwas verspätet eine Laterne angezündet, die in dieser dichten Atmosphäre ihren Schein nur auf einen geringen Umkreis warf. Aber sie genügte doch, die glänzenden Knöpfe an dem Mantel des jungen Mannes, der sich fest darin eingewickelt und die Mütze tief in die Stirn gedrückt hatte, heller blinken zu machen, als er für einen kurzen Augenblick in diesen Lichtkreis trat. Er sah erwartungsvoll in die Höhe. In dem Augenblick erschien jene Gestalt wieder am Fenster, das zierliche Köpfchen neigte sich nah’ und näher an die Scheiben, dann trat sie zurück und der Offizier verschwand im Dunkel einer Baumgruppe.

Eine kurze Weile später wurde die schwere Eingangsthür des großen Hauses ein wenig geöffnet und durch die schmale Spalte schlüpfte eine kleine Gestalt. Das schwarze über die ganze Figur gebreitete Tuch, das sogar den Kopf und teilweise das Gesicht verdeckte, ließ, wenn in der herrschenden Dunkelheit ihr jemand begegnet wäre, nicht erkennen, wer unter der Hülle steckte.

Die Vermummte lief eilig über den Fahrdamm dem blätterlosen Gebüsche zu, und als sie niemand dort erblickte, rief sie leise: „Fredi!“

„Hier,“ antwortete eine Stimme halblaut, und der junge Offizier trat neben sie, ohne ihre suchende Hand zu ergreifen.

„Hast Du meinen Brief erhalten?“ fragte sie im Flüsterton.

„Ja, darum bin ich hier, obwohl es mich einen Kampf gekostet hat, Dich unter diesen Umständen noch zu sprechen.“

„Warum? Ich gehöre mir doch noch selbst und kann thun, was ich will!“

Sie hatte sich zu ihm herangetastet und lehnte sich nun leicht an ihn.

„Du bist nicht ehrlich mit mir gewesen, Elfe. Allem Gerede zum Trotz hast Du mich immer glauben lassen, es sei nichts an der Sache, und nun –“

„Willst Du mir aus unseren Verhältnissen einen Vorwurf machen? Leide ich nicht mehr darunter als Du?“

„Du wirst mir wohl erlauben, daran zu zweifeln,“ antwortete er. „Wie sollte ich wohl jetzt noch an Deine Liebesversicherungen glauben, wo ich von Dir selbst erfahre, daß Du in kurzer Zeit die Braut eines anderen wirst!“

Sie drängte sich fester an ihn: „Hast Du mich lieb, Fredi?“

„Leider nur zu sehr – viel zu sehr!“

„Und Du fühlst es nicht, wie mein Herz nur Dir gehört?“

„Ich habe eben den Gegenbeweis erhalten. Kann man den einen heiraten, wenn man den anderen liebt?“

„Doch, Fredi, doch, wenn es sein muß!“

„Ich kann mich diesem ,Muß‘ nicht fügen.“

„So will ich den Mut für uns beide haben.“

„Vermutlich weil es Dir nicht schwer wird, weil Du nun genug hast an dem Vergnügen, mir armem Kerl den Kopf zu verdrehen!“

„Fredi, Fredi, Du bist grausam!“ Sie hatte beide Arme um ihn geschlungen, drückte ihren Kopf an seine Brust, und er fühlte es an dem Beben ihres Körpers, daß sie heftig weinte. Ein inniges Mitgefühl stieg plötzlich in ihm auf und er legte seine Arme wie tröstend um ihre Gestalt.

„Verzeih’,“ sagte er, „meine Empfindung riß mich hin; aber wie soll ich es ruhig ertragen, wenn Du Dich von mir trennen willst!“

„Ich verliere Dich doch auch,“ schluchzte sie, „aber Du denkst nur an Dich!“

„Du bist vor mir im Vorteil, denn Du hast dieses Ende kommen sehen; mich trifft es unvorbereitet.“

„Unvorbereitet?“ sie hob den Kopf und sah ihn verwundert an. „Du hast es Dir doch sagen können, daß es über kurz oder lang so kommen mußte!“

„Weshalb?“ fragte er erstaunt.

„Ich, die Tochter eines vermögenslosen Beamten, und Du, ein armer Lieutenant, können wir uns je erreichen?“

„Mein Gott,“ gab er zurück, „wir sind ja jung genug, um zu warten.“

„Ja, worauf denn? Aendert die Zeit etwas an diesen Thatsachen?“

„Nun, andere Leute haben doch auch aufeinander gewartet, und mit der Zeit werde ich doch auch Hauptmann.“

Sie zuckte leicht die Achseln.

„Fünfzehn Jahre warten, und dann, wann wir alt und grau geworden sind, eine Häuslichkeit, die von der Hauptmannsgage bestritten wird – wirklich, Fredi, das ist kein Ziel.“

Er richtete sich straffer auf und diese Bewegung veranlaßte sie, sich etwas zurückzuziehen.

„So bleibt mir also nichts, als Dir die Dauer alles Guten zu wünschen und – Dir Lebewohl zu sagen, Elfe!“

„Lebewohl?!“ sie stieß es angstvoll heraus, „jetzt schon, Fredi? Kannst Du nicht noch ein wenig bei mir bleiben?“

„Was hätte das für einen Zweck? Laß uns scheiden, Elfe, ich fürchte, daß meine Fassung nicht stand hält, daß ich bittere Worte nicht länger zurückdrängen kann. Leb’ wohl! Und nun gieb mir die Hand zum Abschied, ich will danach streben, daß ich Deiner ohne Groll gedenke.“

Sie stand schluchzend vor ihm und bedeckte ihr Antlitz mit den Händen. „Nimm mich noch einmal an Dein Herz, Fredi!“

„Wozu noch? Einmal müssen wir ja ein Ende machen!“

„Fredi – –“

Der klagende Ton überwältigte ihn, er nahm sie stumm in seine Arme und drückte sie an seine Brust. Dann riß er sich los – „Leb’ wohl!“ – und ging hastig ein paar Schritte vorwärts.

„Fredi – Fredi –“

Und noch einmal kam er zurück, noch einmal umarmte er sie stürmisch, nahm dann ihr Köpfchen zwischen seine Hände, und [711] seine Lippen auf die ihren drückend, als wollte er ihren Atem aufsaugen, murmelte er: „Leb’ wohl, Elfe, leb’ wohl für ewig!“ –

Wenige Minuten später war sie wieder oben. Sie fand die Thür des Vorsaales nur angelehnt, wie sie dieselbe gelassen hatte, und an der Thür zum Wohnzimmer lauschend, hörte sie der Eltern und Lisbeths Stimme in ebenso lebhafter Unterhaltung wie vorhin. Man hatte sie also gar nicht vermißt! Wie gut, daß sie gerade den Tag von Liesels Rückkehr sich für das Rendezvous ausgewählt! Lautlos huschte sie in ihr Stübchen und warf sich hochatmend in den Stuhl. Gottlob, das war vorüber! Wie sie sich davor gefürchtet hatte! Der Fredi, der arme, liebe Fredi – sie hatte ihn doch sehr lieb – schade, schade! Sie warf einen Blick in den Spiegel. Himmel, wie sie aussah! Das Gesicht gerötet vom Weinen, die Frisur zerzaust, und die Stirnlöckchen hingen von der feuchten Luft wie Zwirnstränge hernieder. Wenn sie nun jemand so sah und nach der Ursache fragte! Schnell steckte sie die Spirituslampe an, legte die Brenneisen auf und griff einstweilen zur Puderquaste.

Da öffnete die Frau Geheimrätin die Thür.

„Ach, Elfchen, Du bist schon bei der Toilette? Nun, mache Dich nur recht niedlich, und hörst Du, bleibe hier, bis er da ist, und dann kommt ihr zusammen hinein und stellt euch vor!“

„Wie wird Lisbeth es aufnehmen, Mama?“ fragte Elfe unsicheren Tones, ohne sich umzuwenden, und beugte sich tiefer über die Spirituslampe, damit der Flamme die Röte ihres Gesichtes zuzuschreiben sei.

„Wie soll sie es aufnehmen?“ tönte es zurück. „Wenn Du sie vorher um Rat gefragt hättest, würde sie wohl allerlei dagegen zu sagen gewußt haben; aber in eine vollendete Thatsache findet sich ein vernünftiger Mensch immer. Uebrigens, was kann man ernstlich dagegen einwenden? Walden ist ein prächtiger Mensch, er hat Dir in Wahrheit eine Zukunft zu bieten, und ihr liebt euch – sind da nicht alle Bedingungen erfüllt?“

Sie ging und setzte sich wieder zu ihrem Gatten, der eben vor Lisbeth allerlei Briefe von Leo ausgebreitet hatte und, über deren Schulter mit einsehend, genauere Erklärungen zu den einzelnen Bemerkungen gab. Auch die Geheimrätin griff nach einem Blatte. „Er schreibt doch reizend interessant, unser Junge,“ sagte sie mit so viel mütterlichem Stolz im Ton, als sich nur irgend hinein legen ließ. „Was sind das für flotte Schilderungen vom Berliner Leben! Wie schneidig kritisiert er die neuen Bühnenstücke und wie pikant scherzt er über die allzu freien Amüsements der Spezialitätentheater hinweg. Wirklich, man könnte jeden dieser Briefe direkt zum Druck geben! Das wäre doch etwas anderes als diese sogenannten Plauderbriefe der professionsmäßigen Zeitungsschreiber.“

„Das ist alles sehr schön,“ sagte Lisbeth, indem sie einen Brief zusammenfaltete; „ich dächte nur, es wäre besser, wenn Leo dieses Studium des Berliner Lebens bis nach dem Examen ließe. Was wird ihm für Zeit dadurch verloren gehen und wie sehr wird ihn das zerstreuen! Hernach wäre es ein wohlverdienter Lohn für die Anstrengung, und er könnte es auch mit viel leichterem Herzen genießen.“

„Nach dem Examen soll er nicht dort bleiben,“ erwiderte die Mutter, „ich brauche ihn dann zu nötig wegen unserer gesellschaftlichen Verpflichtungen und sehne mich auch schon zu sehr nach ihm. Außerdem ist auch noch eine andere da, die schwer unter der Sehnsucht nach ihm leidet; hoffentlich kommt auch das nach seiner Rückkehr schleunigst in Ordnung!“

Der Geheimrat erhob sich.

„Aha, nun sind wir wieder bei dem richtigen Thema. Du mußt nämlich wissen,“ wandte er sich lächelnd an Lisbeth, „diese letzte Bemerkung geht auf Fräulein Dora Grimm. Sie hat es herausgebracht, daß Mama an jedem Sonntag ihren Brief von Leo bekommt, und seitdem macht es sich immer so zufällig, daß sie Montags hier eine Visite zu machen oder irgend etwas zu besprechen hat – kurz, sie tritt hier an, läßt sich ,von ihm‘ erzählen, erwidert seinen Gruß, und wenn dann schließlich der Brief hervorgeholt und ihr vorgelesen wird, lauscht sie eifrig wie einem Evangelium. Du siehst also, hier diese unsere Mutter verbirgt unter ihrem Kleide ein paar echte, richtige Engelsflügel, die sie sich von dem berüchtigten, neckischen Götterknaben geliehen hat, und ist sozusagen der postillon d’amour der beiden.“

Die Mama lächelte geschmeichelt.

„Ja, ja,“ meinte sie, „und doch, was hat mir der Junge mit seinem Leichtsinn in diesem Punkte schon für Sorgen gemacht! Noch die letzten Tage seines Hierseins! Erstens bekam ich ihn nicht dazu, bei Grimms eine Abschiedsvisite zu machen, das sei nicht üblich, das thäte man nicht, wenn man zum Examen ginge, sagte er, und dabei blieb er. Als ob man in solchem Fall, wo so viel auf dem Spiele steht, nicht eine Ausnahme machen könnte; gerade dadurch wird sie doch bedeutungsvoll. Und dann, denke Dir nur die Geschichte: bei seiner Abreise begleite ich ihn also nach dem Bahnhof. Wir haben uns verabschiedet, er sitzt schon im Coupé, da reicht er mir ein Blatt Papier aus dem Fenster zu: ,Begleiche doch die Rechnung bei dem Gärtner, Mamachen‘, und leiser flüstert er hinunter: ,Für Fräulein Dora‘. Ich drohte ihm wegen dieser bequemen Manier, seine Rechnungen los zu werden, und freute mich doch im Herzen, daß er auf solche feine Art sich empfiehlt; und wie ich dann im Wagen sitze, schlage ich das Blatt auseinander – was ist das? – zwei Bouquets vom heutigen Tage stehen da notiert! Ich hielt es natürlich für einen Irrtum, es war doch nicht möglich, gleich zwei Bouquets zu schicken: das wäre ein bißchen knüppeldicke Galanterie, auch ein wenig knüppeldick für meinen Geldbeutel! Aber im Geschäft, wo ich, die Sache zu ordnen, vorfahre, erwartet mich ein neuer Schrecken: denke Dir, die Rechnung stimmte! Zwei Bouquets je fünfzehn Mark, das eine für Fräulein Dora Grimm, das andere für Fräulein Annie von Giersbach, jedes von seiner Karte begleitet, mit einem: ,Auf Wiedersehen!‘ Wie findest Du das? Ich war außer mir. Was hatte nun diese ganze zarte Aufmerksamkeit für einen Wert, wenn Dora es hörte, daß er dieselbe noch für eine andere gehabt? Und wie leicht konnte das geschehen! Ich habe wirklich ein paar Nächte nicht geschlafen und ihm dann einen Brief geschrieben – solch einen hat er von mir noch nicht erhalten! Hernach machte es sich besser als ich geahnt: die kleine Giersbach hat niemand von diesem Bouquet etwas gesagt. Wahrscheinlich hatte sie Angst vor dem brummigen Alten und hat es in ihre Schieblade gesteckt, um es dort in aller Heimlichkeit zu bewundern. Wir waren acht Tage später bei Grimms zu einem Diner geladen, da wußten weder der Oberst noch seine Gattin etwas von Leos Abreise, und als Dora das Gespräch darauf brachte, saß die Kleine so verschüchtert und so verlegen dabei wie ein verflogenes Hühnchen auf der Stange; da wußte ich, was die Glocke geschlagen hat.“

„Das arme, kleine Ding,“ sagte Lisbeth mitleidig. „Es ist abscheulich, daß Leo so mit ihrem Herzen spielt!“

„Ach ja, es ist nicht recht von ihm,“ erwiderte die Mutter, „aber so ein wenig Flirt glauben sich die jungen Herren von heute erlauben zu dürfen, und es ist ja auch weiter nichts dabei. Wenn jede Galanterie sogleich als ein Grund zum Herzbrechen aufgefaßt würde, könnten sie schließlich gar nicht mehr in Damengesellschaft gehen. Nach einer Seite verlangt man so viel Ritterlichkeit und Höflichkeit als möglich, und nach der anderen erklärt man das für ein frivoles Spiel mit Herzen. Was sollen sie denn thun, um allen Ansprüchen gerecht zu werden? Man kann es ihnen nicht verdenken, wenn sie es schließlich vorziehen, nur noch ins Gasthaus zu gehen!“

„Es ist schon etwas Wahres daran,“ meinte Lisbeth beschwichtigend, „er müßte sich aber doch diejenigen ansehen, denen er so kommt, ob sie es auch verstehen. Sieh, wenn er sich mit Fräulein Dora so amüsiert, die hat es selbst oft geübt, die verträgt’s schon, auch wenn es ihm nur ein Spiel wäre –“

„Da wird er sich schön hüten,“ schaltete die Mutter ein, „so unvernünftig ist er nicht, wenn er auch immer so thut.“

„Aber dieses junge Kind, das noch an jedes Wort glaubt, ist doch wohl zu gut, um als Versuchsobjekt für seine Unwiderstehlichkeit zu dienen.“

Draußen hatte die Glocke eben hell und laut angeschlagen, nun hörte man flüsternde Stimmen auf dem Korridor. Das Ehepaar sah sich verständnisinnig an und dann lächelnd auf Lisbeth. Da wurde die Thüre weit aufgeschlagen, Regierungsrat von Walden trat ins Zimmer, und an seinem Arm hing, ebenso strahlend und glücklich aussehend wie er – Elfe.

„Liebste Lisbeth,“ sagte der Geheimrat heiter, „laß Dir das neueste Brautpaar vorstellen und begrüße unseren lieben Walden als Deinen künftigen Schwager!“

Lisbeth stand noch ganz erstarrt und blickte wortlos auf das Paar, da fiel ihr Elfe um den Hals.

„Lieb’ Schwesterherz, gratuliere uns doch, Du siehst es ja: Wir lieben uns und sind glücklich!“

[714] Und Walden beugte sich über ihre Hand, führte sie an seine Lippen und wiederholte: „Wir sind glücklich – unaussprechlich glücklich.“

„Nun,“ sagte Lisbeth, die sich gewaltsam gefaßt hatte, Elfe in ihre Arme schließend, „dann kann ich nur einen Wunsch für euch haben: Gott erhalte euch immerdar die Liebe füreinander!“

Die Frau Geheimrätin zuckte leicht die Achseln. „Wie steif und gezwungen,“ dachte sie, „hätte sie nicht auch ein wärmeres Begrüßungswort für solchen Schwager haben können!“

Elfe aber hielt ein schimmerndes Kleinod gegen die Lampe und rief triumphierend: „Papa, Mama, seht her: wieder ein neues Armband, welch eine Pracht – ist es nicht entzückend?“

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 43, S. 725–731
[725]
6.

Auf besonderes Verlangen der Frau Geheimrätin hatte man von der Veröffentlichung der Verlobung vorläufig abgesehen. Ihr Leo fehlte ja – wie konnte man da Freudenfeste im Hause feiern! Aber sobald er nach dem Examen heimgekehrt sein würde, dann war auch der große Tag da, an dem sie die Gratulationen für beide so wichtige und so erfreuliche Ereignisse in ihrer Familie gleichzeitig entgegennehmen wollte.

Elfe murrte zwar anfangs über diese Anordnung, denn sie brannte darauf, alle die schönen und wertvollen Sachen, mit denen ihr Bräutigam sie in ganz verschwenderischer Weise überschüttete, ihren Bekannten zu zeigen, aber schließlich siegte über diesen Wunsch die Erwägung, daß Lieutenant Lüdeke dadurch Zeit gewänne, sich über ihren Verlust zu trösten, und somit die Gefahr vermindert werde, eine unbedachte Gefühlsäußerung könnte ihn und sie verraten.

So brachte das neue Verhältnis zunächst keine äußere Veränderung mit sich. Ein paarmal in der Woche verlebte Walden seine Abende im Brücknerschen Familienkreise; aber um diese dann für ihn ganz frei zu halten, verabredete man im voraus sein Kommen, wodurch die Frau Geheimrätin auch in stand gesetzt wurde, für diese Besuche die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Er selbst hatte sich in die Verzögerung dann erst gefunden, als man ihm zugesagt, seine Hochzeit solle durch dieselbe keinen Aufschub erleiden, und man würde sogar in dieser verhältnismäßig stillen Zeit schon viele dafür notwendigen Arbeiten erledigen können.

Für Lisbeth hatte sich nun ein so großes Feld der Thätigkeit im Hause gefunden, daß sie wirklich in Verlegenheit war, die Zeit, die sie vor ihrer Fahrt nach D. dem alten Herrn Römer geschenkt hatte, auch weiter zu erübrigen. So war es meistens das Dämmerstündchen, in dem sie neben dem alten Manne saß, ihm von seinen Kindern und der Hauptperson des jungen Haushaltes, seinem süßen, kleinen Enkelchen, erzählte und sich die Briefe vorlesen [726] ließ, welche von völliger Besserung und baldiger Heimreise der alten Frau Rektor berichteten.

Es war wenige Tage vor dieser Heimkehr, und eben war Lisbeth von ihm gegangen, als der Rektor durch einen Besuch überrascht wurde. Die Dame nannte sich Frau Baumeister Eichberg und kam in Frauenvereinsangelegenheiten, sich zu erkundigen, wie bald man wieder auf die Teilnahme seiner Gattin rechnen könne.

Der alte Herr wurde etwas ausführlich in seinem Bericht über das Mißgeschick der letzten Monate, und Frau Eichberg hörte ihm so aufmerksam zu, als interessierte sie sich lebhaft für dies alles.

„Als ein wahrer Engel,“ schloß er, „hat sich in dieser Leidenszeit die Freundin unserer Tochter, Fräulein Lisbeth Brückner, erwiesen. Sie war bei der Nachricht von der jammervollen Lage der Meinen sofort nach D. gereist, und ihrer treuen, sorgsamen Pflege verdankt unsere Tochter ihr Leben und meine Frau ihre schnelle Genesung.“

„Das war wohl die junge Dame,“ fragte Frau Eichberg, „der ich hier beim Eintritt ins Haus im Flur begegnete? Eine hübsche, blühende Erscheinung!“

„O, ihr anmutiges Aeußere ist noch ihr geringster Vorzug,“ sagte mit väterlich zärtlichem Ton der alte Herr, „es ist nicht zu sagen, welch’ ein großes treues Herz in ihrer Brust schlägt und wie ihr edler Sinn sich nie an Aufopferung und Menschenliebe genug thun kann!“

„Sie ist eine Verwandte des Provinzial-Steuerdirektors hier?“ fragte Frau Eichberg.

„Die Tochter desselben – die Tochter!“ bestätigte der Herr Rektor. „Ja, es ist dem Herrn Geheimrat auf Erden viel Gutes geworden, und ich gönne ihm alles; aber um diesen Schatz beneide ich ihn.“

Frau Eichberg lächelte über den Enthusiasmus des alten Herrn.

„Ihr Geschmack, lieber Herr Rektor, scheint nicht einzig dazustehen. Wie ich hörte, ist die junge Dame Braut und macht eine sehr glänzende Partie.“

Der alte Herr machte ein ganz verschmitztes Gesicht. „Nicht sie,“ sagte er, „nicht sie ist das, ihre jüngere Schwester ist die Braut! Ich sollte eigentlich nicht darüber sprechen, aber die Verlobung wird nun in der nächsten Zeit öffentlich, da ist es doch kein Geheimnis mehr. Ja, die Kleine hat sich schnell entschlossen; Lieschen ist wählerischer. Freilich sagt man ja, der Bräutigam wäre ein prächtiger Mensch von großen geistigen Gaben und schwer reich, aber es will mir gar nicht gefallen, daß er so viel älter als Fräulein Elfe ist. Er soll über die Mitte der Vierzig sein - und dazu dieses junge Kind – das giebt selten etwas Gutes!“

„Nun,“ fragte Frau Eichberg sehr interessiert, „sie ist doch wohl nur ein Jährchen jünger als die ältere Schwester – und Elfe heißt sie? Welch’ seltsamer Name!“

„Elfriede ist sie getauft, das klingt weniger romantisch. Aber weil die Kleine so wunderbar lieblich, zart und biegsam war, wie man sich die Elfen wohl vorstellt, so wurde ihr der Name ganz von selbst. Sie ist sehr schön, diese zierliche Elfe, sehr schön und reizend, und unser Lieschen hängt an ihr mit übergroßer Zärtlichkeit und wohl auch Verblendung. Aber sie hat das Schwesterchen so aufwachsen sehen und mit aufgezogen, denn Elfe ist acht Jahre jünger als sie; da greifen dann leicht solche Ausartungen mütterlicher Gefühle Platz.“

„Acht Jahre jünger, aber ich bitte Sie, da muß sie ja noch völlig Kind sein.“

„Sie ist siebzehn Jahre alt, nun: jung gefreit, hat nie gereut, sage ich noch immer nach alter Weise, wenn es auch für die jetzige Zeit nicht mehr gilt – aber die ungleichen Jahre wollen mir nicht gefallen. Ich finde, der Regierungsrat von Walden hat vielen Mut, daß er sich eine so junge Frau nimmt.“

Frau Eichberg war aufgestanden, man wechselte noch ein paar höflich freundliche Worte, und dann ging sie. Erst lebhaft, dann wurden ihre Schritte immer langsamer, und als ihr die hellen Fenster ihrer Wohnung entgegen blinkten, blieb sie auf der Straße stehen und atmete schwer.

„Arme Hermine,“ sagte sie leise vor sich hin, „mein armes Kind – wie wird es Dich schmerzen! Aber ich bin doch froh, daß ich mir Gewißheit geholt habe. Dieses Langen und Bangen ist ja zu aufreibend! Wird sie es nun endlich begreifen, daß sie ihm nichts anderes war als ein Spielzeug für müßige Stunden? Ich hoffe doch, und dann wird ihr Stolz sie lehren, diese unheilvolle Liebe zu bezwingen. Ein scharfer Schnitt in die Wunde ist in solchen Fällen die wirksamste Kur.“

Sie erstieg die Treppen und hatte kaum die Eingangsthür geöffnet, als ihr Hermine schon entgegen kam. Das schmale, blasse Gesicht war in den letzten Monaten noch um vieles schmäler geworden, und trotz der Röte der Erregung, die jetzt darauf lag, erschien es krankhaft zart und durchsichtig.

„Nun, Mütterchen, da bist Du ja endlich,“ sagte sie zärtlich und nahm der Eintretenden Hut und Mantel ab. „Sind Deine Geschäfte besorgt und hast Du den Besuch bei Römers gemacht?“

„Ja, Hermine.“

„Und –“ sie zog die Mutter aufs Sofa – „was sagte man Dir?“

Frau Eichberg legte den Arm um des Mädchens Schulter. „Es ist wahr, mein Kind. Das Gerede hat einen Grund: demnächst wird die Verlobung veröffentlicht werden.“

„Nein, Mutter, nein! Das ist doch nur Mutmaßung?“

„Durchaus nicht, Hermine. Ich traf die älteste Tochter von Brückners bei Herrn Römer, und er hat die Nachricht aus ihrem eigenen Munde: Walden ist Bräutigam von Fräulein Elfriede Brückner.“

Ein stöhnender Laut entfuhr den Lippen der Zuhörenden und mit geisterbleichem Gesicht lehnte sie sich in die Polster zurück.

„Und mir,“ flüsterte sie dann, „und mir noch diesen Brief vor kurzen vier Wochen!“

„Nun,“ sagte die Mutter, die aufgestanden war und erregt im Zimmer auf und ab schritt, „er hat ja wohl Uebung in solchen mit leeren Redensarten gefüllten Briefen, die ein zärtliches Herz alles ahnen lassen, doch zu nichts verpflichten – also schrieb er Dir einen solchen und ließ Deine thörichte Liebe noch einmal aufflammen. Gott strafe ihn für diese Frivolität!“

„Mutter, Mutter, wie darfst Du das sagen,“ unterbrach Hermine sie und ein paar schwere Thränen rannen langsam über ihre Wangen, „wie darfst Du Gottes Zorn über ihn herabrufen! Weißt Du nicht, daß, was ihn trifft, mich mit schmerzt?“

„Mein Kind,“ sagte die Mutter und stand vor ihr still, „nur bis zu einem gewissen Grade kann ich in diesem Fall mit Dir Mitleid haben. Wenn Dir jetzt Dein weiblicher Stolz nicht hilft, diese Liebe zu überwinden, dann –“

„Weiblicher Stolz?!“ rief Hermine, „mein Gott, weiblicher Stolz – wer hat den, wenn er liebt?“

„Das ist Schwäche, Hermine,“ sagte die Mutter ernst, „ein vernünftiger Mensch läßt sich nicht so von einer Empfindung beherrschen. Kämpfe dagegen an, und es wird nicht lange währen, so hat der Kopf die Ueberhand über das thörichte Herz! Du sagst es Dir dann selbst, daß solch’ ein gewissenloser Mensch nicht der Liebe und nicht der Trauer wert war, die Du ihm weihtest.“

Langsam wandte das Mädchen ihr bleiches Gesicht der Mutter zu. „Du meinst es gut, aber Du ahnst nicht, was Du von mir verlangst. Dir ist es so gut geworden, zur rechten Zeit Liebe und Glück zu finden, Du brauchtest nicht zu kämpfen, sondern hast alle Kräfte deines Wesens im Sonnenschein entwickeln dürfen. Ich stehe im Schatten, meine Jugend ist bald vorüber – seit Jahren ist Ueberwinden und Entsagen mein Teil. Und nun, nach all den stillen, leeren Zeiten ein solches Gefühl – ein solches Verstehen und Seligsein! … Wenn es mir auch jetzt zum Elend wird, ich möchte doch die Erinnerung nicht hergeben! Habe Geduld mit mir, Mütterchen, und verlange nicht, daß ich jetzt ‚vernünftig‘ sein soll! Ich will es in mich verschließen, dies Gefühl, und nicht mehr darüber sprechen. Verwinden aber – das weiß ich bestimmt, verwinden werde ich es nie!“

Voll tiefen Mitleids faßte die Mutter ihr Kind in die Arme. „Ich werde Dir helfen, mein Herz, dann zwingst Du es schon. Morgen packen wir und reisen zu Tante Bertha. Da hat man es so schön in dem prächtigen Gutshause und sie leben so gesellig, es wird uns nicht an Abwechslung und Zerstreuung fehlen. Sind aber erst die Wintermonate herum, dann gehen wir nach Pyrmont. Wie oft hat schon der Arzt Dir diese Kur empfohlen – hätte ich Dich doch lieber dorthin als nach Ilmenau geschickt – aber nun wollen wir beide für den ganzen Sommer hin, und kommen wir zum Herbste zurück, bist Du frisch und gesund an Körper und Seele.“

„Mein Mütterchen, all Deine Opfer sind umsonst!“

[727] „Das fürchte ich nicht, ich kenne mein Kind. Komm jetzt ins Eßzimmer, trinke ein Schlückchen Thee und dann lege Dich nieder – morgen haben wir einen arbeitsvollen Tag, da kann man nicht zeitig genug zur Ruhe kommen.“


7.

In dem Gefühl, sich zu lange bei ihrem väterlichen Freunde verplaudert zu haben, eilte Lisbeth hastigen Schrittes nach Hause. Sie fühlte einen heftigen Schrecken, als bei ihrem Eintritt in den Vorflur der Vater ihr entgegen kam und sie in sein im Parterregeschoß gelegenes Bureauzimmer führte. Dort erst, bei dem hellern Schein der Lampe, bemerkte sie, was ihr vorher entgangen, daß sein Gesicht ganz farblos war und große Erregung zeigte. Als er die Thür geschlossen und sich mit seiner Tochter allein sah, brach er gleich mit der Mitteilung hervor: „Ich erwartete Dich hier, um mich mit Dir über eine traurige Angelegenheit zu beraten – uns hat Schweres getroffen! Eben erhielt ich diesen Brief aus Berlin: Leo ist durchs Examen gefallen! Wie wird Mutter das tragen? Ob wir es ihr überhaupt mitteilen müssen?“

„Aber, Papa, wie könnte man es ihr vorenthalten?“ rief Lisbeth, die jede Aeußerung ihres Kummers um des Vaters willen unterdrückte, „wie wäre es auch möglich, ihr die Sache zu verheimlichen? Sie wartet ja schon Tag für Tag auf die Nachricht von der glücklich bestandenen Prüfung, geht kaum mehr aus dem Hause, um den Telegraphenboten nicht zu verpassen, und baut alle ihre Pläne darauf. Nein, nein – je schneller sie es erfährt, je besser wird es sein! Du mußt nur selbst erst ruhig werden, Väterchen, und stellst Du ihr dann vor, daß es viel Schlimmeres giebt als solch eine Schlappe, dann findet sie sich auch damit ab. Ihre große Zärtlichkeit für Leo, die Freude, ihn wieder hier zu haben, wird ihr über die Enttäuschung hinweg helfen. In erster Reihe beklagt sie doch nur die Nachteile, die er davon hat.“

„Wenn er noch ein dummer oder auch nur ein mittelmäßig begabter Mensch wäre“, klagte der Geheimrat. „Aber er ist ein feiner Kopf, seine Logik in allen juridischen Fragen hat mich oft überrascht, desto mehr muß ich jetzt an seinem Charakter zweifeln! Mit welchem Leichtsinn muß er vorgegangen sein – wie wenig muß er seine Zeit benutzt haben, daß er einer Kommission gegenüber, bei welcher ich meine nächsten Bekannten, ja Freunde habe, nicht einmal bestehen konnte! Und was soll das werden?“

„Nun, Papachen,“ sagte Lisbeth beschwichtigend und legte ihre Arme um ihn, „er wird sich eine Lehre daraus ziehen, und in ein paar Wochen ist die Scharte dann ausgewetzt.“

„In ein paar Wochen!“ rief der Geheimrat. „Er ist auf neun Monate zurückgestellt, die längste Frist, die es überhaupt dabei giebt – schon das beweist mir, wie es mit seinem Wissen bestellt ist!“

Er lief wieder hastig im Zimmer auf und ab.

„Aber ich Will ihm nun gehörig auf die Finger sehen! Hat er mein Vertrauen in sein Ehrgefühl so schwer getäuscht, so soll er meine rücksichtslose Energie empfinden. Arbeiten soll er lernen, arbeiten – arbeiten! Ach,“ brach es dann plötzlich wie ein Jammerlaut über seine Lippen, „es nützt doch alles nichts mehr, die Zukunft hat er sich total verpfuscht, ich kann mir das nicht verhehlen. Eine große Carriere, die ich für ihn erhofft hatte, die giebt es für ihn nicht mehr! Von der Erreichung höherer Grade ist er absolut ausgeschlossen! – Lisbeth,“ sagte er dann zögernd, nachdem er eine Weile still vor sich hin gesonnen hatte, „nimm es mir ab, der Mutter die Nachricht zu bringen! Ich bleibe hier; komme, wenn Du es an der Zeit findest, mich zu rufen, wieder zurück, mein Kind.“

Kaum war Lisbeth gegangen, als ihn die Angst packte, seiner Frau könnte der Schmerz und die Aufregung schädlich werden. Im Zimmer auf und nieder schreitend, blieb er jedesmal an der Thür stehen und lauschte hinaus, ob man ihn noch nicht rufe, oder ob oben Unruhe entstehe, die seine Befürchtungen bestätige. Als aber alles still blieb, ward ihm noch schwüler. Was ging da oben jetzt wohl vor? Gehörte er nicht jetzt an ihre Seite, war es nicht seine Pflicht, ihr beizustehen, sie zu trösten? Wie konnte er einem anderen – und wenn es auch ihr Kind war – dies überlassen?! Er eilte die Treppe hinauf, durchschritt den Vorsaal und trat hastig in das Wohnzimmer. Lisbeth und Elfe standen im eifrigen Gespräch neben der Mutter, die, mit scharf gerötetem Gesicht und blitzenden Augen, ihm zuwinkte und mit gedämpfter Stimme ihm entgegen rief: „Schmidt und Hanne sind im Nebenzimmer wegen des Kronleuchters, bitte, sprich leise, sie könnten es hören!“

Dann trat sie dicht an ihn heran und sagte mit vor Zorn bebender Stimme: „Welche Schande der Schlingel über uns bringt! Ich finde vor Empörung keine Worte!“

„Fasse Dich, Käthchen,“ mahnte er, „die Aufregung könnte Dir schaden und Dich krank machen. Und glaube mir, Frauchen,“ setzte er, in dem Verlangen, sie zu trösten, hinzu, „so schlimm ist die Sache nicht.“

„Nicht schlimm? Noch nicht schlimm genug?“ brach es über ihre Lippen. „Ich weiß nicht, ob er uns noch eine größere Schmach hätte anthun können! Man muß sich ja schämen, von ihm zu sprechen, man wird die Demütigung hinnehmen müssen, daß die Leute unseren Sohn – unseren einzigen Sohn, Erich – künftighin als Strohkopf, als Idioten ansehen werden! Ach Gott, ich habe immer so leichthin über das Examen gesprochen, mir schien solch’ ein Ende dieser Angelegenheit unmöglich, und nun die Schadenfreude der Leute – nein, das überlebe ich nicht!“

„Aber Mama“, sagte Lisbeth besänftigend, „Du fassest die Sache doch wirklich falsch auf. Es ist eine schwere Enttäuschung und eine große Unannehmlichkeit, wer wollte das verkennen; aber von Schande und Demütigung ist dabei doch nicht die Rede, und der Himmel wird euch davor bewahren, daß Leo uns wirklich einmal Schande macht.“

„Ach, verteidige ihn nur nicht,“ rief Elfe dazwischen, „ich bin ganz wütend über ihn! Hier hat er immer nur auf dem Sofa gelegen, wenn er einmal vom Früh- oder Abendschoppen heimkehrte, und dort flanierte er tagsüber „Unter den Linden“ und abends machte er Theaterstudien, vor und hinter den Coulissen. Man hat’s von jedem hören können, der in dieser Zeit in Berlin war, und nun haben wir den Schaden von seinem Leichtsinn. Bei uns hieß es nur immer: ,Sparen – sparen‘, damit der cher frère das Geld verprassen konnte. Und um seinetwillen durfte gar meine Verlobung nicht veröffentlicht werden! Walden wird außer sich sein über den Nichtsnutz!“

„Aber, Elfe!“ rief Lisbeth vorwurfsvoll dazwischen, und der Vater sagte bitter: „Nun, Elfe, Du sprichst ja sehr schwesterlich liebevoll von ihm, das muß ich sagen!“

„Sie hat ganz recht,“ grollte die Geheimrätin. „Ein Sohn, der so die Rücksicht gegen seine Eltern außer Augen setzt, ist selbst keiner Rücksicht mehr wert. Von Dir, Lisbeth, sind wir ja gewöhnt, daß Dir das Urteil der Gesellschaft keinen Respekt abnötigt, wir aber wissen, wie viel von ihm abhängt! Wie sollen wir uns überhaupt äußerlich dazu stellen? Ist es möglich, Erich, daß wir den Ausfall der Prüfung unseren Bekannten verheimlichen oder ihn totschweigen können?“

„Aber, Käthchen,“ sagte er mitleidig, „wie kannst Du so fragen? Du weißt es doch, wie vielen Du es selbst gesagt hast, daß in diesem Monat Leos Examen ist, und liegt Berlin denn auf einem anderen Planeten? Ich bin überzeugt, in den nächsten Tagen weiß es hier alle Welt, wir haben gar nicht nötig, zu überlegen, ob wir es melden oder verschweigen wollen.“

Sie stöhnte laut auf, schlug die Hände vor ihr Gesicht, und zwischen den Fingern tropfte nun das langverhaltene heiße, bittere Naß hervor.

„Nein, nein, ich ertrag’ es nicht! Ich fühle sie schon, diese bedauernden oder spöttischen Blicke, und mir vorstellen zu müssen, wie man mit teilnehmenden oder tröstenden Worten sich mir nähert – es ist entsetzlich! Man möchte vergehen vor Scham. Wenn ich nur niemand jetzt sehen müßte!“

„Nun, zunächst kommt die große Gratulationscour zu meiner Verlobung!“ sagte Elfe. „Länger wartet Walden nicht darauf; denn immerhin müssen von da ab noch vier bis sechs Wochen bis zur Hochzeit verstreichen, und Du hast ihm versprochen –“

„Aber davon kann gar nicht die Rede mehr sein,“ fiel ihr mit großer Bestimmtheit die Mutter ins Wort. „Ich werde das mit Walden vereinbaren. Er kann es mir nicht zumuten. Weder die Verlobung noch die Hochzeit werden wir feiern, ehe diese Angelegenheit nicht aus der Welt geschafft ist!“

„Aber, Mama,“ rief Elfe.

„Liebe Mutter, das geht nicht,“ bat Lisbeth, und der Geheimrat legte mahnend seinen Arm um die Schulter seiner Frau und sagte: „Nein, Käthchen, das Wort mußt Du zurücknehmen, [730] wir können in der That Walden nicht darunter leiden lassen. Die Hochzeit ist in sechs Wochen, und die Verlobung wollen wir schon deshalb schleunigst veröffentlichen, damit die Leute über etwas anderes als das verunglückte Examen zu reden haben. Leo mag erst Ende der Woche zurück kommen, dann hat der Trubel hier im Hause sein Ende erreicht, das wird auch ihm lieb sein.“

„Leo zurückkommen – als durchgefallener Examenskandidat!“ Sie sah ihn starr an. „Nimmermehr! Das wirst Du mir doch nicht zumuten?“

„Ich dachte,“ meinte er, „Du hättest Dich so sehr nach Deinem Sohne gesehnt und –“

„Von meinen persönlichen Gefühlen sehe ich da ganz ab,“ unterbrach sie ihn. „Ich halte es für richtig, daß er den Leuten hier nicht täglich vor Augen kommt, damit sie aufhören, dieser erniedrigenden Angelegenheit zu gedenken. Ich wäre auch gar nicht imstande, nach dem, was er uns angethan hat, ihn immer um mich zu haben.“

„Aber das wird kaum anders gehen, Käthchen, dieses Vierteljahr in Berlin hat mir schon ein unglaubliches Geld gekostet. Wie wollen wir es noch eine doppelt so lange Zeit aushalten?“

„Was, ein halbes Jahr?“

„Beinahe so lange, Käthchen, beinahe! Bedenke dieses Opfer für unseren ganzen Haushalt.“

„Und wenn ich hungern sollte, Erich, es ist mir lieber, als ihn jetzt beständig vor Augen zu haben!“

„Er würde hier viel besser arbeiten, Frauchen. Ich habe es mir schon vorgenommen, ihn bei seinen Studien gründlich zu unterstützen. In Berlin sind so viele Verlockungen für einen jungen Mann, so viele Veranlassungen, die ihn abziehen –“

„Nein, nein, Erich, kein Wort weiter; wir sind es uns schuldig, daß wir ihn nicht zurücknehmen, ehe er diese Blamage vergessen gemacht hat! Wenn er ernstlich will, wird er auch dort seine Pflicht thun; wie sollte er denn anders, er wird doch so viel Ehrgefühl haben, daß er sich schämt, in Gesellschaft zu gehen.“

„Er schreibt mir, Käthchen, er wäre körperlich sehr indisponiert, und dieser Zustand hätte wohl auch das Ergebnis beeinflußt. Nun weißt Du, wie er an häusliche Pflege gewöhnt ist, Du hast ja Tag und Nacht nicht geruht, wenn Deinem Jungen etwas fehlte.“

„Ja,“ sagte sie bitter, „und so lohnt er es mir! Mag er sich selbst helfen, er hat’s nicht besser verdient. Aber mit Deiner Verlobung, Elfe, habe ich es mir anders überlegt: wir verschicken in den nächsten Tagen die Karten und machen dann alle bei den Besuchen, die darauf folgen, ein sehr vergnügtes Gesicht. Das führt die Menschen irre, und sie glauben uns, wenn wir von einen: ,teilweisen Mißerfolg‘ sprechen.“

Und damit hatte die Frau Geheimrätin auch nicht unrecht. Als der Strom der Gratulanten sich nach ein paar Tagen in die prächtig geschmückten Räume der Geheimrat Brücknerschen Wohnung ergoß, konnte niemand an den Familienmitgliedern eine Spur von Aufregung oder Kummer entdecken, und schon die zuerst gekommenen flüsterten es den neu eintretenden Gästen zu: die Neuigkeit scheint erfunden zu sein. Schließlich erwähnte dann die Frau Geheimrätin ganz beiläufig der kleinen Enttäuschung, die ihnen durch eine für notwendig befundene teilweise Wiederholung des Examens geworden wäre, und die als unangenehmste Folge ihnen den Sohn jetzt entzöge.

Frau Kommerzienrätin Grimm und Fräulein Dora waren auch unter den ersten Besuchern, letztere in merklich kühlerer Haltung, die nach diesen so leicht hingeworfenen Worten sich jedoch wesentlich milderte, namentlich als die Frau Geheimrätin sie zärtlich um die Taille faßte und, abermals dieses kleinen Malheurs gedenkend, meinte: „Mir thut der arme Junge so leid, nun muß er noch länger fern bleiben, und die Sehnsucht nach hier,“ ein bezeichnender Blick half das Wort betonen, „ist doch allein die Veranlassung der fatalen Sache!“

Fräulein Dora lächelte befriedigt und versöhnt. Dann küßten sich beide sehr, sehr innig.

Oberst Giersbach und seine Gattin waren auch gekommen, um ihre Glückwünsche darzubringen. Der Oberst hatte einen noch bärbeißigeren Gesichtsausdruck als sonst, und Frau von Giersbach brachte die Gratulation in solchem larmoyanten Ton hervor, daß dieser mit ihren Worten im schärfsten Kontrast stand. Aber die Atmosphäre von Glück und Heiterkeit, die hier wehte, machte auch bald ihre Wirkung geltend, und in ganz veränderter Stimmung verließen sie das gastliche Haus.

„Die Geschichte ist rein erlogen,“ brummte der Oberst, als sie das Freie erreicht hatten, „wie könnten die Eltern wohl sonst so vergnügt sein! Weiß Gott, die Neuigkeiten, die ihr euch in euren Frauenzimmergesellschaften erzählt, sind allemal Dichtung.“

Fräulein Annie war nicht mitgegangen, ihre Mutter hatte sie entschuldigt: „Das Kind ist so nervös, kann nicht schlafen und regt sich über alles bis zu Thränen auf.“ Nun kam sie, als die Eltern zurückkehrten, ihnen entgegen gelaufen, half beim Ablegen der Mäntel und horchte eifrig, was sie ihr von diesem Besuche erzählten, leider ohne den gewünschten Erfolg. Sowohl der Oberst als seine Frau sprachen kein Wort von der Examensangelegenheit.

Am andern Tage sah sie bei einem Geschäftsgange Elfe auf der Promenade, aber es gelang ihr, mit einer schnellen Wendung in eine Nebenstraße einzubiegen und so dieser Begegnung auszuweichen. Dagegen ging sie zehn Minuten später sehr eilig quer über einen Platz, um Lisbeth zu erreichen, die sie dort, allein des Weges kommend, erblickte.

Sie wurde sehr freundlich empfangen und begrüßt und ihre Gratulation zur Verlobung der Schwester recht warm aufgenommen. Auf ihre Frage, ob sie sich bei diesem Gange anschließen dürfe, reichte ihr Lisbeth den Arm und meinte herzlich, sie hätte sich längst solch ein Plauderstündchen mit ihr gewünscht. Nun schritten die jungen Mädchen einem Promenadenwege zu, ergingen sich erst in allgemeinen Gesprächen über das Wetter, die gemeinsamen Bekannten und kleinen Vorkommnisse im Gesellschaftskreise, dann kam wieder das neue Brautpaar und dessen Interessen an die Reihe, und nun stieß Fräulein Annie plötzlich hervor:

„Ja, wenn aber die Hochzeit schon in so kurzer Zeit sein soll, wird Ihr Herr Bruder sie dann auch mitmachen können?“

Da war es heraus. Sie erschrak furchtbar, als sie die Worte klingen hörte, um derentwillen sie Lisbeth angesprochen hatte. Was würde diese nur von ihr denken und wie würde sie es auffassen? – ob sie es ihr wohl ansah, wie rasend jetzt ihr Herz klopfte?

Aber Lisbeth blickte ganz ruhig und ernst und schien mit ihren Gedanken viel zu sehr beschäftigt zu sein, um etwas Auffallendes in dieser Frage zu finden.

„Leo – nein, doch wohl keinesfalls. Sie wissen es wohl schon? Er hat Malheur gehabt und muß nun noch einmal ins Examen. Ich habe es sehr gewünscht, daß er zu den weiteren Studien hierher zurückkommen sollte, namentlich da er körperlich so sehr herunter ist, aber die Eltern hielten sein Dortbleiben für richtiger.“ Sie warf einen Blick auf Annie, deren große Augen, wie sie mit gespanntem Ausdruck an ihren Lippen hingen, jetzt ganz voll Wasser standen. „Der ungünstige Ausfall ist ja doch kein Unglück,“ fuhr sie tröstend fort, „und läßt sich bald reparieren. So unendlich vielen passiert es; und ist dann in ein paar Monaten das Ziel erreicht, ist solche Unannehmlichkeit auch bald vergessen“

„Gewiß,“ meinte Annie und fuhr sich versteckt mit dem Taschentuche über die Augen, „vielleicht dauert es nicht einmal so lange, aber jetzt leidet er doch durch die Enttäuschung, und wenn er nicht einmal gesund ist, doppelt!“

Sie wendete wieder ihr Köpfchen weg, es wäre schrecklich, wenn Lisbeth es merkte, wie die dummen Thränen ihr immer in die Augen schossen! Es war ja nur von der Kälte heute, aber man konnte es am Ende anders auffassen!

„Es ist etwas so Trauriges um zerstörte Hoffnungen,“ sagte sie dann altklug, „wer wüßte nicht davon. – Mein Bruder Paul sollte Michaeli nach Quarta kommen, wir haben immer zusammen so fleißig gelernt und dachten gewiß, er würde genügen, und dann blieb er sitzen und grämte sich so sehr! Da haben wir immer zusammen geweint.“

„Ja, solche kleinen Leute haben auch schon ihre Schmerzen,“ meinte Lisbeth und gab sich sichtlich Mühe, auch für diesen Kummer die richtige Würdigung zu finden.

„Mama sagt immer,“ fuhr Annie fort, „der Verlust einer Hoffnung ist der beklagenswerteste Verlust.“

Jetzt lächelte Lisbeth doch.

„Nun,“ sagte sie, „die Hoffnung auf das Versetztwerden wird der kleine Bursche wohl noch nicht aufgegeben haben.“

Annie sah sie, wie aus anderen Gedanken geweckt, verständnislos an und murmelte dann: „Ach, ich dachte jetzt gar nicht an Paul.“

[731] Endlich reichte man sich Abschied nehmend die Hand, nachdem es Lisbeth doch noch gelungen war, das kleine Fräulein heiterer zu stimmen, Sie hatte sie auf alle möglichen Vorkommnisse in ihrem elterlichen Hause zu sprechen gebracht, und im Erzählen mancher komischen Episode schwand die weltschmerzliche Stimmung, und ihr fröhliches Kinderlachen erfreute und entzückte Lisbeth und beruhigte ihr Gemüt. Erst bei der Trennung flog jener traurige Ausdruck wieder über das rosige Gesichtchen, und sie gab Lisbeths Hand nicht frei, als müßte sie sich zu dem, was sie noch sagen wollte, daran festhalten, bis sie dann endlich nach einem mühsam hervorgestotterten: „Grüßen Sie ihn doch sehr!“ davon lief.

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 44, S. 741–744
[741]
8.

Nach der Verlobung gab es viel Arbeit im Brücknerschen Hause. Elfe fand nichts zu schön für sich, aber ihre Mithilfe bei der Besorgung ihrer Ausstattung beschränkte sie darauf, daß sie die neuesten Muster zusammentrug, nach denen man das Erforderliche arbeitete.

Walden verlebte jede Freistunde neben seiner Braut und stellte dadurch die ganze Einrichtung des Haushaltes auf den Kopf, so daß er nun für seinen Wunsch, die Hochzeit bald anberaumt zu sehen, an der Frau Geheimrätin plötzlich eine Bundesgenossin gewann.

Seinen einflußreichen Verbindungen hatte er es zu verdanken, daß ihm ein Urlaub von drei Monaten gewährt wurde, den er mit seiner jungen Frau in Italien verleben wollte, und Elfe schwelgte in dieser Aussicht. Sie ging mit denselben Gefühlen in die Ehe wie etwa zu einem Feste, von dem sie sich ein ganz besonderes Amüsement versprach. Ihre Wünsche in Bezug auf die Reise wie die Einrichtung und Gestaltung ihres eigenen Haushaltes wurden von ihrem Bräutigam stets ohne weiteres angenommen; es war für ihn selbstverständlich, daß er dieselben erfüllte, und hätte er es allein zu bestimmen gehabt, so würde vermutlich auch die Hochzeit so großartig und glänzend gefeiert worden sein, wie Elfe es sich in ihrem Köpfchen zurechtgelegt hatte. Aber in dieser Frage lag das Bestimmungsrecht doch in erster Reihe bei ihren Eltern, und die Frau Geheimrätin erklärte von Anfang an, niemand außer der Familie und den Trauzeugen solle der Feier beiwohnen. Davon ging sie auch trotz allen Bittens, Bettelns und Schmollens ihres Lieblingstöchterchens nicht ab.

Wenn sie auch nie mehr von dem Mißerfolge Leos sprach und Fernstehende es ihr nicht anmerkten, wie dieser sie getroffen hatte – die Ihren wußten es, daß der Gram über diese Enttäuschung fortwährend an ihrem Herzen nagte. Sie hatte ihm auf jenen Brief, in welchem er ihr – ganz in dem burschikosen Ton, in dem er immer mit ihr unter vier Augen verkehrte – den Ausfall des Examens mitteilte, gar nicht geantwortet. Dadurch waren nun seine regelmäßigen Briefe an sie auch unterblieben, denn die kurzen Zuschriften, meistens geschäftlichen Inhaltes, die von ihm ins Haus kamen, richtete er jetzt immer an den Vater. Und wie sehr sie darunter litt, wie sehr sie sich nach diesen Briefen sehnte, das sah ihr Gatte, sahen ihre Töchter an ihren blassen Wangen, die an den Sonntagmorgen, an welchen sonst nie das ersehnte Schreiben gefehlt hatte, noch farbloser wurden.

Lisbeth hatte sie erst mit allen Mitteln der Überredungskunst zu veranlassen versucht, dem Sohne ein verzeihendes Wort zu schreiben, aber sie erzielte nichts als eine neue Erregung, so daß sie schließlich davon abstand und ihre Hoffnung auf die Zukunft setzte. Der neugebackene Herr Assessor würde sich schon seinen Platz am Mutterherzen wieder erobern, das wußte sie gewiß. – Was die beiden trennte, war ja nur der verletzte Stolz der Mutter, und wenn er ihr erst wieder das Recht gab, sich in diesem Gefühl zu wiegen, dann war die Scheidewand zwischen ihnen gefallen.

Und eben dieser gekränkte Stolz verbot der Geheimrätin auch den lebhaften, geselligen Verkehr, den sie sonst gepflegt hatte, und sie pries im stillen oft den glücklichen Zufall, der ihre fortgesetzte Ablehnung aller Einladungen durch die Ausstattungsarbeiten und Elfes nahe Hochzeit erklärlich, ja selbstverständlich erscheinen ließ.

[742] Wenn schon kein glänzendes Fest, so hatte Elfe wenigstens eine öffentliche Trauung in der Kirche bei Bräutigam und Eltern durchgesetzt. Wozu hatte Walden ihr sonst wohl die Robe von Silberbrokat geschenkt, wenn niemand sie sehen sollte? Was ihr besonders wertvoll war, von aller Welt angestaunt, bewundert und beneidet zu werden – darauf konnte sie doch nicht verzichten; dem Tage wäre ja sonst der Hauptreiz genommen gewesen! Und daß es dem feineren Gefühl ihres Bräutigams ganz und gar entgegen war, sich und seine Braut gewissermaßen zu einer Schaustellung herzugeben, darauf nahm sie keine Rücksicht weiter.

Und eine Schaustellung wurde es denn auch. Sonst pflegte man Karten für die Kirche an Freunde und Bekannte auszugeben, hier wurde auf Elfes ausdrückliches Verlangen der Eintritt jedem gestattet, und die halbe Stadt, wenigstens der weibliche Teil derselben, machte davon Gebrauch und ging hin, um die schöne, junge Braut und ihre großartige Toilette zu bewundern und dann freilich auch einige leise Bemerkungen über den Bräutigam und über das unpassende Paar überhaupt zu machen. Walden, der sich das Geflüster um ihn ganz richtig deutete, geriet dadurch in eine peinliche Stimmung, die wenig zu dem weihevollen Augenblicke paßte; Elfe aber, die vielleicht bei diesem ernsten Akte in anderer Umgebung zu einem tieferen Gedanken gekommen wäre, ließ sich durch den unverkennbaren Beifall, der ihr aus den vielen tausend Augen entgegenleuchtete, so hinnehmen, daß nur die Sorge, ob auch Schleppe und Brautschleier den richtigen Faltenwurf hätten, in ihrem Denken Platz gewann.

Nach dem im engsten Familienkreise eingenommenen Diner trat das junge Ehepaar sofort seine Hochzeitsreise an, und Elfe ging ohne irgend eine tiefere Empfindung aus dem Elternhause, in dem sie so viel thörichte, aber doch innige und aufopferungsfähige Liebe empfangen hatte. –

Nach diesem Tage trat im Brücknerschen Hause eine verhältnismäßig ruhige Zeit ein, die allen Familienmitgliedern gleich angenehm und ersehnt war. Der März war nun auch da, linde Lüfte wehten schon in der Mittagsstunde und erweckten Lenzeshoffnungen und Frühlingsgedanken, die doch am schnellsten allen winterlichen Freuden und dem Geschmack daran ein Ende machen. So war auch von dieser Seite keine Störung der häuslichen Stille zu befürchten, und sowohl das Elternpaar als Lisbeth genossen die eingekehrte äußere Ruhe mit rechtem Behagen.

Für Lisbeth sollte die kommende wärmere Jahreszeit ohnehin die große Freude bringen, Frau Gertrud und ihr Kindchen wiederzusehen. Auf den dringenden Wunsch der alten Frau Römer hatte ihr Sohn sich entschlossen, Frau und Kind ins Elternhaus zu längerem Aufenthalte zu bringen, da sein Beruf ihn jetzt viel von Hause fern hielt und die junge Frau nicht frisch und kräftig genug war, um in der fremden Stadt sich einen Kreis zu schaffen, der ihr auch nur entfernt die Beziehungen, die sie in der Heimat zurückgelassen hatte, ersetzte.

Wenn ihr Gatte bei ihr war, vermißte sie nichts und täuschte durch die freudige Erregung, in welcher sie sich in den wenigen Tagen seiner Anwesenheit befand, auch ihn über ihren Zustand. Aber sein Amt hielt ihn fast immer von seinem Amtssitze fern, und die Einsamkeit, in der sie lebte, die Sehnsucht nach ihm und den Ihren war dann so stark, daß ihr ohnehin zarter Körper darunter litt. – Die alte Frau Römer schüttelte immer sorgenvoller das Haupt, wenn ihr solche Nachrichten zukamen.

„Gertrud,“ sagte sie dann, „giebt sich wieder gar zu sehr ihren schwärmerischen Neigungen hin, die sie zur Sentimentalität führen. Wie darf eine Frau, die ihren eigenen Haushalt zu versehen hat und solch ein süßes Kind besitzt wie klein Lieschen, sich in so krankhafter Weise nach ihrem Manne sehnen! Das kann nur mit ihrem körperlichen Befinden zusammenhängen.“

„Bringe sie uns nur her,“ sagte sie zu ihrem Sohne, „sie kann wieder ihr Mädchenstübchen beziehen, und wir wollen sie schon gesund pflegen, wenn Du sie den Sommer über uns lassen willst.“

Arnold hatte eifrig beigestimmt und den Tag der Reise so früh als möglich festgesetzt. Da gab’s für Lisbeth wieder Arbeit bei Römers. Sie ließ es sich nicht nehmen, Gertruds Zimmer selbst einzurichten, und die alte Wiege, in der die Frau Rektor einst ihr Söhnchen geschaukelt und die nun dessen Töchterchen bergen sollte, wurde von ihr mit einem grünen Kranze umwunden. Noch waren beide damit beschäftigt, es für die lieben Gäste so bequem und behaglich wie möglich zu machen, als bereits der Wagen vorfuhr, der diese brachte, und groß war die Freude des Wiedersehens, zumal das liebliche Kindchen sich gar herzerfreuend entwickelt hatte und die heitere Erregung und fröhliche Geschäftigkeit auch seine Mutter gesund und frisch erscheinen ließ.

Am anderen Morgen freilich, als Lisbeth hinüber gelaufen kam, um nach Gertrud zu sehen, die nun schon wieder Abschied von ihrem Gatten genommen hatte, fand sie diese recht blaß und so schmal und mager geworden, wie sie es kaum in ihrer schweren Krankheit gewesen war, und Frau Römer flüsterte ihr bekümmert zu: „Es ist doch nicht so gut um Gertrud bestellt, wie ich gestern abend hoffte. Aber die Ruhe und Pflege, die sie hier haben soll, beugen hoffentlich einem größeren Uebel vor.“

Und Gertrud meinte, als sie mit Lisbeth allein war: „Rede doch nur Mama zu, daß sie mich nicht zu sehr mit Vorsichtsmaßregeln plagt; ich liebe das gar nicht. Man wird dadurch nur ängstlich und nervös. Im Grunde fehlt mir gar nichts; ich war schon als Mädchen schwächlich und bin es auch jetzt, aber darauf braucht niemand Rücksicht zu nehmen. Jetzt fragt sie mich immer, seit wann ich huste, und ich weiß es gar nicht; wer achtet denn groß auf eine kleine Erkältung!“

Und Lisbeth redete auch in diesem Sinne mit den beiden Alten, und es gelang ihr, die Sorgen, die sie fühlten, zu mildern.

In erster Reihe war es freilich das Werk der kleinen Liesel, daß trübe Gedanken im Römerschen Hause jetzt keinen Raum einnehmen konnten, denn so jung Liesel noch war, so lebhaft verstand sie es schon, alle um sich festzuhalten und zu beschäftigen, und ihr Lachen und Jauchzen hörte man so lange, als ihre Aeuglein offen standen. Die Großeltern waren förmlich verliebt in dieses süße kleine Menschenkind und beeifersüchtelten sich gegenseitig, wenn es einmal besonders herzlich seine Aermchen dem einen oder anderen hinstreckte. Der Herr Rektor trug jede Minute, die er seinem Dienste abmüßigen konnte, sein Enkelchen auf dem Arm, und wenn es schlief, saß er ruhig neben der Wiege, um auf des Kindes Erwachen zu warten. Ebenso drehten sich natürlich der Großmutter Gedanken vor allem um dieses kleine Geschöpfchen, das ganz besonders in dieser Zeit, durch die kleinen Wunder der Entwicklung, die ja stets neu und staunenswürdig sich in jeder Kinderstube ereignen, eine Merkwürdigkeit ersten Ranges war.

Die Sorge um die junge Frau trat darüber um so leichter in den Hintergrund, als diese wirklich sich zunächst infolge der Befriedigung ihres Gemüts, die sie über dem allen genoß, zusehends erholte und rosiger und frischer erschien als seit lange.

Lisbeths liebewarmes Herz hegte ohnehin seit längeren Wochen eine innige Teilnahme mit einer anderen, die sie allmählich immer mehr ihre kindliche Fröhlichkeit verlieren sah. Mit welcher Wonne, mit welchem Interesse hatte Fräulein Annie von Giersbach ihr Debüt als Ballnovize im Herbste gefeiert, und in welchem strahlenden Lichte waren ihr alle die ersehnten Herrlichkeiten erschienen, denen sie schon nach wenigen Monaten mit unverhohlener Gleichgültigkeit den Rücken wandte. Sie hatte nicht mehr nötig, dem Papa den Besuch eines Balles abzuschmeicheln; es war schon wiederholt geschehen, daß er einen solchen in Vorschlag gebracht, sie aber darauf dankend, unter dem Beifall der Brüder, geantwortet hatte: „Es ist doch zu Hause viel schöner.“

Freilich war es bei Giersbachs sehr schön. Der Oberst, der in Wahrheit der Herr im Hause war, kannte auch nichts Besseres als eben dieses Haus. Für ihn gab es nichts Wichtigeres – nächst seinem Dienste natürlich – als die Interessen seiner Familie, und obwohl seine brummige und polternde Art Fernstehende täuschen konnte und vielleicht auch die Seinen ab und zu erschreckte – im Grunde wußten sie doch, welch ein weiches warmes Herz sich in dieser rauhen Hülle verbarg. Das engste Zusammenleben der Familienmitglieder war ihm Bedürfnis; er machte durchaus Anspruch darauf, bei allen kleinen häuslichen Ereignissen Mitberater zu sein, und zögerte auch nicht, einen dienstlichen Aerger oder Verdruß, den er gehabt, mit den Seinen zu teilen, um sich die Sorgenfalten von der Stirn streicheln zu lassen. Gesellschaftliche Rücksichten kamen bei ihm erst in zweiter Linie, wenn er es auch verstand, seiner Stellung Rechnung zu tragen. Er nahm das auf sich, wie er jede Pflicht erfüllte, und er hatte seine Gattin gelehrt, auch so zu denken und danach zu handeln; der Schwerpunkt seines Lebens lag aber nicht in diesen äußeren Dingen. Seinen Söhnen sprach er täglich davon, daß der Adel der Gesinnung mehr wert sei als der älteste ererbte adlige Name, und daß Redlichkeit und [743] Lauterkeit des Charakters in den Augen braver Leute mehr gelte als Reichtum und Vornehmheit. – Und wenn er auch nie genug sie zum Fleiße und zur Tüchtigkeit ermahnen konnte, stets setzte er hinzu: was ihr auch erreicht im Leben, der Erfolg allein kann nicht das maßgebende Urteil über euch sein, die Hauptsache ist, daß ihr tüchtige, brave Männer werdet, denkende, strebende Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft, und daß ihr mit eurem Sein und euren Thaten vor eurem eigenen Gewissen und allen Edeldenkenden bestehen könnt!

Seine Frau, die, sehr viel jünger als er, an ihrem Manne mit einer an Verehrung grenzenden Zuneigung hing, war gewiß die erste, die seine Worte unterstützte und seinen Wünschen nachlebte. Er war ihr die höchste Instanz, und sie hatte den festen Glauben, daß er alles am besten wisse und beurteile. Deshalb fügte sie sich auch stets bedingungslos seinen Bestimmungen und verlangte dasselbe von ihren Kindern, wodurch sie bei ihren Knaben oft einen recht schweren Stand hatte. Für sein einziges Töchterchen, das neben den drei wilden Jungen wirklich wie eine liebliche Blume erwuchs, hatte der Oberst natürlich eine viel zartere und innigere Empfindung als für jene, sie ahnte selbst nicht, was sie dem Herzen des Vaters war und wie ihr anmutiges Wesen seine Tage verschönte.

Auch als sie dann gesellschaftsfähig geworden war, freute er sich an ihrer kindlichen Fröhlichkeit und sah mit Stolz in ihr vor Glückseligkeit gerötetes Gesichtchen, wenn sie im Ballsaal an ihm vorüberflog. Und wenn es ihm jetzt einerseits auch bequem war, daß die Anziehungskraft solcher Festlichkeiten für sie ganz unerwartet schnell verschwand, so empfand er es bei ihrer großen Jugend doch als etwas Ungewöhnliches und beobachtete seinen Liebling daraufhin mit sorgenden Augen.

Sie war so flink und tüchtig im Haushalt wie sonst, immer zärtlich um Vater und Mutter, immer freundlich um die Brüder bemüht, aber ihr jubelndes Lachen war verstummt, der kleine sonst so geschwätzige Mund konnte jetzt lange schweigen, und oft schauten die früher so lebhaft und interessiert um sich blickenden Augen jetzt gedankenvoll in die Ferne. Was war dem Kinde nur? Ob er wohl mit dem Arzte darüber sprach? – Zunächst hätte er es wohl gern mit seiner Frau erwogen, aber vielleicht sah sie die Veränderung Annies nicht, und in ihr Sorgen zu erwecken, indem er sie auf ein Uebel aufmerksam machte, ehe er eine Abhilfe ersonnen, das ließ seine Rücksicht für sie nicht zu.

Aber er behielt es immer im Auge, was seinem Töchterchen wohl gesund sein, was sie erfreuen könne, und legte sich selbst Entbehrungen auf, indem er seine Gattin zu Spaziergängen und Theaterbesuchen mit Annie beredete, von welchen er sich Anregung für sie versprach. Und wenn die beiden wiederkehrten und das kleine Fräulein dann lebhafter und rosiger als gewöhnlich ihm von den gehabten Genüssen erzählte, dann atmete er erleichtert auf, um freilich sofort seine Gedanken aufs neue nach einem ähnlichen Kurmittel auf Suche zu schicken.

An einem Morgen, nachdem er drüben in seinen Räumen die eingegangenen Postsachen durchgesehen, kam er mit einem offenen Briefe in der Hand ins Wohnzimmer, ging ein paarmal hastig auf und ab, und als er die Augen seiner Frau mit fragendem Ausdruck auf sich gerichtet sah, blieb er neben ihrem Nähtischchen, an dem sie, mit einer Handarbeit beschäftigt, saß, stehen und sagte: „Ich muß auf ein paar Tage nach Berlin. Es liegen jetzt gerade im Kriegsministerium die Pläne und Entwürfe für die neue Kaserne meines Regiments vor, und man schreibt mir hier, Excellenz wünsche meine Ansicht über einige Punkte zu hören.“

„Wann willst Du fahren, Männchen?“

„Ich überlege es eben: – reise ich allein, so werde ich den Nachtkurierzug benutzen, im anderen Fall –“

„So, es ist noch jemand dorthin befohlen? Das ist schön! Ich weiß Dich bei der langen Fahrt so viel lieber in bekannter Gesellschaft.“

„Befohlen ist niemand mit mir, und die Reisegesellschaft möchte ich mir nach meiner Neigung wählen. Ich dachte nämlich, daß es für Annie gewiß recht gut wäre, wenn sie ein wenig hinauskäme – und wenn ihr beide mich begleiten wolltet –“

In lebhafter Freude erhob sich Frau von Giersbach.

„Aber Männchen, das ist ja ein ausgezeichneter Gedanke – natürlich, Annie begleitet Dich – wie wird sie sich freuen! Ich kann leider nicht mitfahren, Du weißt ja, daß übermorgen die neue Köchin eintritt! Aber Annie kann doch ganz gut allein mit Dir reisen! Es ist wirklich lieb von Dir, daß Du daran gedacht hast!“ Sie griff nach seiner Hand und drückte sie innig.

„Ich fürchte nur, sie wird dann viel auf sich angewiesen sein – vermutlich werde ich ziemlich fest hinter den Zeichnungen und Anschlägen sitzen müssen, denn länger als ein Paar Tage bin ich hier nicht abkömmlich.“

„Ach, das thut nichts, Männchen, solch’ ein junges Menschenkind ist bald befriedigt. Und dann findet sie ja Anschluß bei meiner Cousine Emma!“

„Richtig!“ rief er vergnügt. „Daran dacht’ ich noch gar nicht. Nun bin ich ganz unbesorgt!“

„In die Museen und das Königliche Schloß kann sie auch ganz gut allein gehen. Und wenn Du dann abends frei bist, besucht ihr zusammen ein Theater!“

„So hab’ ich’s mir auch gedacht. Aengstlich ist sie ja nicht, sie wird sich schon zu helfen wissen; denn mit ihr einen Besuch zu machen, dazu bin ich wirklich außer stande.“

„Das brauchst Du auch nicht und dann – Annie ist ja sehr selbständig und wirklich ganz vernünftig. Du wirst sehen, sie macht Dir keine Ungelegenheiten und Unbequemlichkeiten. Auf der langen Fahrt hast Du an ihr gute Gesellschaft, und für sie wird die Reise wirklich Medizin sein. Wollen wir es ihr nun sagen – darf ich sie jetzt rufen?“

Die Frage war noch nicht verklungen, da öffnete sich die Thür; Annie guckte ins Zimmer und sah sehr verwundert auf den Papa, der um diese Stunde sein Arbeitszimmer nur in außerordentlichen Fällen verließ, und dann auf die Mama, auf deren Gesicht sie eine fröhliche Neuigkeit zu lesen meinte.

„Mama?!“ –

„Komm nur herein, Kind, und bedanke Dich bei Papa! Er reist auf ein paar Tage nach Berlin und nimmt Dich mit!“

„Nach Berlin – und nimmt mich mit?“ Sie wiederholte die Worte, als müßte sie sich das Verständnis für dieselben erst zum Bewußtsein bringen. Dann stieß sie einen Jubelschrei aus, sprang in die Höhe und flog dem Oberst um den Hals.

„Papa, Papa – himmlischer Papa, das ist ja gar nicht auszudenken! Nach Berlin – nach Berlin!“ – Sie ließ von ihm ab und walzte in der Stube herum, um gleich danach wieder ihre Arme um den Hals der Mutter zu werfen.

„Liebste, beste Mama, dazu hast Du Papa angestiftet – nicht wahr? Aber Du – Dich nehmen wir nicht mit?“

„Nein, das ginge doch nicht, Annie. Eins von uns beiden muß bei den Knaben bleiben. Dann bedenke – die neue Köchin! Und einen Gewinn habe ich doch davon: wir können hernach zusammen von Berlin plaudern!“

„Ja, das wollen wir! Was werde ich nicht alles sehen, und dann erzähle ich Dir davon, und wie köstlich wird es sein, zu denken, daß ich es für Dich mit genieße!“

Sie wirbelte wieder im Zimmer herum, hochrot im Gesicht, und rief immer von neuem aufjauchzend: „Nach Berlin – nach Berlin!“ bis die Mutter sie mahnte, sie müsse nun gleich an Tante Emma schreiben, um ihren Besuch anzumelden.

Der Oberst, der solche Ausbrüche ihres übersprudelnden Gefühls, seit sie erwachsen war, noch nie gesehen hatte – denn der Respekt vor ihrem Vater hielt sie doch immer in gewissen Schranken – war ganz beglückt. So hatte er also wirklich das Richtige für sie gefunden, sie war ja jetzt schon wie ausgetauscht durch diese Aussicht; wie mußte da erst die Reise selbst wirken!

Nun erwog man eifrig den Reiseplan. Von der nächtlichen Fahrt wollte er jetzt nichts wissen, obwohl Annie immer bat, auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen; aber er blieb dabei, schon am frühen Nachmittag reisen zu wollen: dann würde man immerhin noch einige Stunden Schlaf in der Nacht retten, und wenn sie am Morgen im Gasthof erwachten, wären sie gestärkt, er für die Arbeit, sie für das Vergnügen des Bekanntwerdens mit der Kaiserstadt.

Jetzt ging es hurtig an die Vorbereitungen für diese Reise. Papa brauchte einen Koffer für die Uniform zur dienstlichen Meldung, aber Annie sollte nichts mitnehmen als das neue Frühlingskleid, das sie erst mit so gleichgültigen Augen angesehen hatte und dessen Besitz sie jetzt der Mutter als ein „Glück“ pries. Sie holte es hervor, hielt das Leibchen gegen ihr Gesicht und vergewisserte sich, ob ihr die Farbe wohl auch kleidsam sei. Derselbe prüfende Eifer bei der Erwägung, welchem Hute sie den Vorzug geben sollte – und das alles in des geliebten Vaters Gegenwart, der früher stets so [744] streng dazwischen gefahren war, wenn sein junges Töchterchen einmal einen Blick in den Spiegel geworfen hatte.

Geschäftig flog sie nun durch die Wohnung, trug zusammen, was ihr für die lange Fahrt gut dünkte, und behielt bei aller Hast doch immer die Uhr im Auge, damit man es ja nicht verpasse, zur rechten Zeit nach dem Wagen zu schicken. Sicher war es doch erst, daß sie nach Berlin kam, wenn man im Coupé saß.

Aber auch dieser Augenblick kam. Strahlend vor Freude lag sie in dem Fenster des Waggons und winkte der Mutter und den Brüdern den Abschiedsgruß zu, während mit schrillem Pfiff, stöhnend und prustend, das Dampfroß sich in Bewegung setzte. Und immer länger zog sich die Rauchfahne, immer kürzer wurden die lauten Atemzüge der Lokomotive, und nun flog der Zug dahin – nach Berlin – nach Berlin!! Annie richtete sich in die Höhe und drückte die Hand auf das laut klopfende Herz, da knisterte es leise bei dieser Berührung wie von steifem Papier – ein feiner, nur ihr hörbarer Ton – aber ihr Auge suchte doch erschrocken den Vater: ob er ihn wohl auch vernommen? – In dem Couvert, das sie in ihrem Mieder verborgen, lag ihr Schatz, ihr Heiligtum: eine kleine Visitenkarte, und darauf stand mit großer, kräftiger Männerschrift: Auf Wiedersehen! – Und sie war jetzt auf dem Wege nach Berlin, jeder Augenblick führte sie dem Ziele näher, das ihr diese Hoffnung erfüllen konnte: auf Wiedersehen – auf Wiedersehen!!

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 45, S. 757–763
[757]
9.

Wie fest sie geschlafen hatte! – Eben hob Annie die Lider und ließ einen müden Blick über die Wände gleiten – ach, sie träumte ja noch – träumte einen Traum, den sie unzähligemal in diesem Winter geträumt hatte! Sie schloß die Augen wieder und legte sich auf die andere Seite – aber das Rascheln der seidenen Decke, die ungewohnte Weite des Bettes erweckten sie aufs neue. Etwas bewußter öffnete sie jetzt die Augen und sah sich um. Nun kamen auch die Gedanken noch deutlicher; mit einem leisen Schrei sprang sie auf, eilte ans Fenster, schob die Gardine ein wenig beiseite und starrte auf die Straße. Also kein Traum, es war Wirklichkeit – beseligende Wirklichkeit – sie war in Berlin! Wie mit einem Schlage war alle Schlaftrunkenheit von ihr genommen, sie schlüpfte in die Kleider mit einer Hast, als sei jede Minute Zeit ein erheblicher Gewinn, strich dann glättend über das wellige Haar, und als sie im Nebenzimmer ihres Vaters Schritte hörte, klopfte sie ganz flott an die Verbindungsthür und fragte mit munterem Tone, ob sie nicht zusammen frühstücken würden.

Die Antwort des Obersten klang zwar freundlich, aber doch nicht so heiter als sie erwartet hatte. Und als sie nun bei ihm eintrat und nach einem innigen Guten Morgenkuß liebevoll in sein Gesicht schaute, las sie darin von verhaltenem Aerger.

Auf ihre Frage wies er nach dem Tisch und reichte ihr dann selbst einen dort liegenden geöffneten Brief.

„Von Tante Emma – aber denke Dir, aus Friedrichroda! Müssen die gerade verreist sein, wo ich Deinetwegen so sehr auf ihre Anwesenheit hier gerechnet! Du schriebst ihr ja die Adresse unseres Hotels, und so war sie wenigstens in der Lage, uns gerade noch rechtzeitig davon in Kenntnis zu setzen!“

Das Erscheinen des Kellners mit dem Kaffee schnitt ihm die weitere Aussprache seines Aergers ab. Er schwieg verstimmt. Sein Töchterchen aber, die nun für sich den Brief der Tante überflog, ließ sich ihre heitere Stimmung durch seinen enttäuschenden Inhalt gar nicht verderben. Und während sie dann daranging, in hausmütterlicher Fürsorge dem Vater das Frühstück zurechtzustellen, sagte sie zuversichtlich zu diesem: „Das ist freilich schade, daß Tante Emma verreist ist – aber nicht wahr, Väterchen, Du läßt Dir dadurch nicht weiter die Laune trüben! Nennst mich ja so gern Dein tapferes Soldatenkind! Du wirst mir schon sagen können, was ich auch ohne Begleitung von den Sehenswürdigkeiten Berlins besuchen darf.“

Der zuversichtliche Ton, den das Mädchen zu finden wußte, zerstreute sichtlich die Sorgen, welche den Vater noch eben beherrscht hatten.

„Recht so, kleiner Kamerad,“ sagte er und trat an den Tisch, wo neben dem Kaffeeservice ein Plan von Berlin ausgebreitet lag; „es bleibt uns ja auch nichts übrig, als uns in die Lage zu schicken! Siehst Du, hier auf dem Plane habe ich Dir mit Rotstift den Weg bezeichnet, den Du heut’ gehen sollst. – Also merk’ auf! Unser Hotel liegt dicht an den ,Linden‘“ – er öffnete das Fenster und zeigte ihr die nahe Straße, ohne sehen zu können, wie heftig sein sich mit herausbeugendes Kind bei diesem Worte errötete. Die „Linden“ – jubelte es in Annie – nur zwanzig Schritte, dann war sie da – und diese „Linden“ waren ja die ganze lange Zeit her das heimliche Ziel ihrer Sehnsucht gewesen! Hatte Elfe damals doch gesagt: wenn er nicht [758] beständig unter den „Linden“ promenierte, dann hätte das – mit dem Examen – nicht passieren können!

Der Oberst wandte sich wieder zurück. „Sieh, Kind, hier gehst Du die Straße in die Höhe, am Ende der ,Linden‘ siehst Du das Denkmal des Alten Fritz, und das Palais, vor dem das Standbild steht, war unseres alten Kaisers Wilhelm Wohnung. In gerader Richtung weiter – – “

„Ach, Papachen, weiter werde ich nicht gehen. Ich bleibe immer unter den ‚Linden‘. Du sollst nicht in Sorge sein, daß ich mich verlaufen könnte. Bis zum Mittagessen bleibe ich dort. Alle Welt sagt, da sei es am schönsten, warum soll ich also weiter gehen?“

Sie begannen das Frühstück und der Oberst sagte behaglich: „Nun, bis zum Königlichen Schlosse kannst Du’s schon wagen; den Weg zu verfehlen ist unmöglich – Lustgarten – Museum und nebenan die Nationalgalerie. Du kannst getrost dort hinein gehen, hast ja Zeit bis um fünf Uhr, so lange wirst Du unter den ‚Linden‘ nicht bleiben. – Sieh einmal her, Annie – dieses hier rechts ist die Friedrichstraße. Gleich zu Anfang ist eine Damenkonditorei – Buchholz, wenn ich nicht irre – dort nimmst Du um zwölf Uhr eine Tasse Chokolade und sonst was Gutes. Meine Schwestern haben dort auch oft gesessen, und im übrigen, wenn Du müde bist, kehrst Du ins Hotel zurück und erwartest mich hier. In keinem Falle entferne Dich zu weit.“

„Mache Dir keine Gedanken um mich, Papachen. Ich bin ja kein Backfisch, der zu Schaden kommen kann. Es wird herrlich sein, so ungestört Berlin anzusehen! Punkt fünf Uhr treffen wir dann hier zusammen und Du bestimmst das weitere.“

„Gut, Kind! Nach dem Essen gehen wir in die Oper!“ Er erhob sich. „Doch eh’ Du jetzt aufbrichst, höre, trink’ noch eine Tasse Kaffee und iß noch ein Brötchen! Du hast ja Zeit“ – er sah nach der Uhr – „volle sechs Stunden! Und damit Gott befohlen!“

Er schnallte den Säbel um, setzte den Helm auf. „Adieu, Annie, viel Vergnügen!“ Und sporenklirrend, doch den Säbel an sich ziehend, schritt er zum Zimmer hinaus, über den langen Korridor und die Treppe hinunter. Sie beugte sich vor und lauschte ihm nach, und wie der Ton verhallt war, der ihn begleitete, trank sie gehorsam eine zweite Tasse, sprang dann auf und eilte in ihr Zimmer, um Toilette für den heutigen großen Tag zu machen.

So umständlich war es dabei schon lange nicht zugegangen, obwohl Fräulein Annie mit vor Eile zitternden Fingern die Frisur ausführte, die Schleifen band und die Handschuhe straff zog. Immer wieder kehrte sie an den Spiegel zurück, ordnete die Löckchen noch ein wenig und warf einen bedauernden Blick auf ihre in dem hohen Wandspiegel so gar winzig erscheinende Gestalt.

Endlich war diese wichtige Frage erledigt, und sie eilte mit einer Hast die Wilhelmstraße hinunter, als erwartete sie an der Ecke der „Linden“ schon der, für den sie sich so sorgfältig geschmückt. Es war ihr nun fast feierlich zu Mute in der Erinnerung, wie oft und viel sie hierher gedacht hatte. Als sie in die prächtige Straße einbog, die jetzt in dem ersten frischen Frühlingsgrün einen köstlichen Anblick darbot, wallte die Sehnsucht, mit der sie sich im Geiste früher an diese Stelle versetzt, mächtig in ihr auf.

Langsamen Schrittes ging sie die rechte Straßenseite entlang, immer mit ihren Blicken das ganze Bild umfassend. Die wunderbaren Edelsteinauslagen, die neuesten Pariser Moden, die man in den Schaufenstern bewundern konnte, kosteten ihr kaum mehr als einen flüchtigen Blick, das Ganze, das in ihren Gedanken den Rahmen für eine so innig und zärtlich geliebte Gestalt ausmachte, interessierte sie viel zu sehr, als daß ihr Sinn durch Frauenputz gefesselt werden konnte. Jedes Haus, jeder Baum, jeder Stein gehörte mit zu diesem Rahmen. Hier: Café Bauer – auch das hatte Elfe damals genannt, wie entzückend es ihr erschien! – Man hatte die Fenster bereits zu Eingängen umgestaltet und durch die weiten, nur wenig von den Pomeranzenbäumen verkleinerten Oeffnungen sah sie ungehindert in den Raum. Die Frühlingssonne beschien das Pflanzenboskett, das die Mitte desselben einnimmt, und übergoß die fließenden Wasserstrahlen der Fontäne mit schimmerndem Glanze, während sie die Farbenpracht der von Meisterhand gemalten Wand- und Deckengemälde hell aufleuchten ließ.

Sie war stehen geblieben und schaute mit erstaunten Augen hinein, ahnungslos, daß sie selbst der Gegenstand der Beachtung geworden war. Erst als der junge Herr, der dem Eingange zunächst an einem runden Tischchen, eine „Schwarze“ schlürfend, saß, das Monocle fallen ließ und mit einem selbstbewußten Lächeln Miene machte, sich ihr zu nähern, merkte sie etwas davon, errötete und ging rasch weiter. Den Alten Fritz und das Palais unseres alten Kaisers sah sie aufmerksam an, denn sie wußte es, danach würden Papa und die Brüder zuerst fragen, aber ihre Blicke schweiften dabei doch immer wieder die „Linden“ entlang, und wie magnetisch von diesen angezogen, ging sie wieder denselben Weg zurück. Und wieder und abermals und zum vierten- und fünftenmal! Bei „Buchholz“ einzutreten, konnte sie sich nicht entschließen, es war ja so weit ab von dem Platze, den sie in ihrem Innern allein als „Berlin“ bezeichnete, und bei Kranzler saßen jetzt in der Mittagsstunde so viele Menschen, meistens sogar nur Herren, auf der schmalen Freitreppe und in dem engen Salon – wie sollte sie da wegen eines Stückchens Kuchen hineingehen? – Und dann – konnte sie nicht auf diese Weise leicht das Beste, was die Residenz ihr zu geben hatte, verpassen? – So wanderte sie weiter, immer müder wurde ihr Blick, immer langsamer ihr Schritt, an den Schaufenstern machte sie immer längere Stationen, und als es drei Uhr – dann vier und jetzt schon halb fünf Uhr schlug, bemächtigten sich ihrer quälende Zweifel und dann eine tiefe Traurigkeit. Ach, sie war vergebens hierher gefahren – die Sehnsucht ihres Herzens sollte ungestillt bleiben – das Wiedersehen, nach dem allein sie Verlangen trug, gönnte ihr das Schicksal nicht! Wie wenig kümmerte sie das großstädtische Menschengewühl, wenn der Eine drin fehlte! Die Gardeducorps waren vorbeigezogen mit klingendem Spiel, Karossen mit wundersam geschmückten Frauen im Fond rollten geräuschlos über den Asphalt des Fahrdammes, Reklamewagen und Reklameträger, Kavalkaden von Herren und Damen auf stolzen Rossen, Zeitungsverkäufer und Blumenmädchen, die ihr ganze Bündel von Maiblumen und Veilchen entgegenreichten – nichts erweckte jetzt mehr ihr Interesse. Schleppenden Ganges, abgespannt und hoffnungslos schleicht sie daher – in fünfzehn Minuten sind die sehnlichst herbeigewünschten Stunden, denen sie mit solcher grenzenlosen Freude entgegengesehen hat, vorüber – was haben sie ihr gebracht? – Wie will sie es fertig bringen, dem Vater ihre Stimmung zu verbergen, wie es verdecken, daß von dem Interesse, das sie Berlin entgegengebracht, jetzt schon nichts, aber auch gar nichts mehr vorhanden ist? …

Nun ist auch die Wilhelmstraße erreicht. Sie kann fast nicht mehr vorwärts, der Mangel an Nahrung, die stundenlange Bewegung in der Frühlingsluft haben ihre Kräfte verzehrt, aber sie wendet den Kopf doch noch einmal rückwärts, den „Linden“ zu, als sie in die andere Straße einbiegt, und wird deshalb von einigen jungen Herren, die, aus dem „Hotel Royal“ tretend, unter munterem Geplauder ihre Cigarren in Brand setzen und auf diese Weise auch nicht vorwärts sehen, fast umgestoßen. Der eine, der sie gestreift, murmelt einige entschuldigende Worte und lüftet etwas nachlässig den Hut, der andere dreht sich herum und sein Blick fällt auf das junge Mädchen. Er stutzt – besinnt sich und ist mit zwei Schritten neben ihr.

„Fräulein von Giersbach! – Gnädiges Fräulein, Sie sind’s, ich traue meinen Augen nicht! – Welche Freude! – Aber was ist Ihnen? – Hat man Sie verletzt, hat man Ihnen wehe gethan?“ Und Referendar Brückner wirft einen Blick voll Entrüstung auf seinen bisherigen Begleiter. „Dieser Tollpatsch! – Sie sind ja ganz weiß geworden – kann ich Sie stützen?“ Er greift ohne Umstände nach ihrer Hand und zieht sie durch seinen Arm. „Lehnen Sie sich nur fest auf mich, dann wird’s schon gehen. Aber, wo soll ich Sie hinführen – wo sind Sie hergekommen?“

„Papa reiste auf zwei Tage nach Berlin und nahm mich mit, Herr Referendar; wir wohnen hier im ,Reichshof‘ – und da wollte ich mir doch auch ein wenig die ‚Linden‘ ansehen.“

„So – und sie haben Ihnen gefallen? Ja! Wie mich das freut! – Und wie ist’s Ihnen ergangen? Immer flott und frisch gewesen, nicht wahr, immer viel getrubelt und getanzt? Kann’s mir ja denken, wie’s daheim zugeht!“

„Ich weiß nicht, ob es so gewesen ist. Ich habe nicht viel getanzt, und die andern –“

„Ach, die andern kümmern mich eigentlich gar nicht,“ unterbrach er sie, „aber daß Sie frisch und fröhlich sind, das sehe ich mit Freuden.“ Und er sah mit unverhohlenem Entzücken in die [759] Augen, die nun so wonnig strahlten, in das rosige Gesichtchen, das nun so herzlich lachte, als gäbe es keinen Hunger und keine Müdigkeit auf der Welt. – „Aber wollen wir nicht noch einmal zurück nach den ,Linden’? – Wir können uns jetzt doch unmöglich schon trennen, nachdem wir uns eben erst gefunden haben.“

„Papa erwartet mich zum Mittagessen um fünf Uhr – und pünktlich muß ich sein als – – “

„Soldatentochter,“ ergänzte er.

„Nein, als anständiger Mensch, sagt Papa immer.“

„Da hat er auch recht, und pünktlich sollen Sie auch sein. Aber sehen Sie her, wir haben noch zwölf Minuten, da gehen wir noch einmal bis zum Brandenburger Thor. Stützen Sie sich nur fest, der – Tölpel hat Ihnen vorhin gewiß wehe gethan!“ Und er sah auf ihre kleinen, in zierlichen Lackstiefelchen steckenden Füße mit solcher Teilnahme herab, als fürchtete er das Schlimmste für dieselben.

Sie lächelte und lehnte sich fest auf seinen Arm. Es that ihr himmlisch wohl, sich so beschützt, so umsorgt zu fühlen, und mit der ganzen Elasticität ihrer Jugend schwang sich ihre Seele aus dem Gefühl grenzenloser Verzagtheit in das unendlicher Glückseligkeit hinüber. – Wie schön es sich schwatzte, fast als wären sie alle Tage zusammen gewesen, als lägen nicht lange, schwere acht Monate dazwischen! Auf die „Linden“ fiel kein Blick von den beiden, ihre Unterhaltung nahm sie ganz in Anspruch, und laut und herzlich lachend wie früher im Ballsaal hatten sie nur Augen für einander.

Ein berittener Schutzmann sprengte durch das Thor.

„Die Majestäten!“ - rief Leo, machte Front und entblößte sein Haupt, während Fräulein Annie, zitternd vor Aufregung auch über diese Begegnung, mit der tiefsten Verbeugung in die kaiserliche Equipage grüßte, aus welcher ihr ein wohlwollender Gegengruß des Kaisers und ein freundliches Lächeln und Nicken der Kaiserin dankte.

„Sie haben mich angesehen!“ rief ganz begeistert das kleine Fräulein, „bemerkten Sie es, wie der Kaiser mir ins Gesicht sah?“

„Natürlich,“ sagte er, „er teilt die Eigentümlichkeit mit anderen Menschen, daß er auch gern etwas Schönes sieht.“

„Ach!“ – sie wandte sich weg, um die Purpurröte zu verbergen, die ihr über Stirn und Wangen flog, „Sie sind noch immer der alte Spottvogel!“

Er zog ihren Arm wieder durch den seinen und machte eine vorstellende Bewegung mit der rechten Hand: „Und hier, gnädiges Fräulein, schauen Sie her, das ist die zweite Ueberraschung, die ich für Sie veranstaltet habe: die kaiserlichen Prinzen!“

Wieder rollte blitzschnell ein Hofwagen daher – lauter muntere Kindergesichtchen drängten sich darin zusammen – laute jubelnde Zurufe erschallten von allen Seiten, und die Matrosenhütchen flogen von den blonden Köpfchen.

„Nun, habe ich’s gut gemacht?“ fragte Leo und freute sich an dem strahlenden Lächeln, das ihm dankte.

„Ach, dieses köstliche Berlin,“ schwärmte Annie, „es berauscht förmlich! Ich denke, auf der ganzen Welt giebt’s keinen schöneren Ort. Aber nun müssen wir wohl umkehren?“

Er hielt ihr seine Hand hin. „Sehen Sie, ich halte hier die Uhr – Sie sollen keine Minute versäumen, aber ich will auch keine verlieren.“ Und so gingen sie langsam, ganz langsam weiter und dann zurück. An dem Englischen Botschaftspalais blieb er stehen.

„Nun muß ich mich Wohl beurlauben; aber ist’s denn notwendig, Fräulein Annie, daß wir uns schon verabschieden? Darf ich dem Herrn Oberst nicht meine Aufwartung machen? Und wann? Vielleicht sofort, wenn Sie mir gestatten, Sie bis ins Hotel zu bringen?“

Sie nickte lächelnd, und bald standen die beiden im Hotel dem Oberst gegenüber, der eben sich vom Schreibtische erhob.

„Na – alle Wetter, Kleine, da bist Du ja – und in Gesellschaft! –“

„Papa, denke Dir, welch’ ein Glück – ich habe unterwegs Herrn Brückner getroffen, der so freundlich war, mir die Majestäten zu zeigen und mich hierher zu begleiten.“

„Ah, der Sohn unsres lieben Geheimrats? Sie sind ja wohl hier wegen Ihres Examens? Sehr freundlich von Ihnen, mein lieber Herr Brückner, daß Sie sich meiner Kleinen annahmen –“

„Bitte, Herr Oberst, es war mir eine große Freude – “

„Papa,“ unterbrach ihn Annie, „und die kleinen kaiserlichen Prinzen habe ich auch gesehen – süße entzückende Geschöpfe! – Ach, Papa, überhaupt – es ist doch köstlich, dieses Berlin!“ Sie drängte sich zärtlich an ihn. „Ich kann Dir nicht genug danken, daß Du mich mitgenommen hast.“

„Nun, das freut mich, Kind, freut mich aufrichtig. Ich fürchtete schon, das Alleinsein – –“

„Ach, Papachen,“ rief Annie dagegen, „wie kann man in diesem Menschentrubel sich allein fühlen? Und dann, wieviel giebt’s zu sehen – jeden Augenblick etwas Neues und Interessantes!“

„Ich würde mich glücklich schätzen, Fräulein Annie vielleicht morgen als Führer dienen zu können, wenn der Herr Oberst verhindert sein sollten. Vielleicht darf ich vormittags anfragen?“

„Sehr liebenswürdig – ich weiß aber in der That noch nicht – es wäre ja möglich –“

„Wenn Herr Oberst gestatten, würde ich mich um halb elf Uhr hier einfinden, um anzufragen –“

„Schön! Wird mir sehr angenehm sein.“

„So gestatten mir Herr Oberst, mich für heute zu empfehlen.“

Dieser reichte ihm freundlich die Hand, ebenso Annie, die selig lächelte.

„So, nun laß uns aber zu Tische gehen!“ rief der Oberst, nachdem der junge Mann sich entfernt hatte. „Ich hätte ihn gerne zum Essen dabehalten, aber ich ließ in Deinem Zimmer für uns decken und wir wollen dieses Geschäft schnell besorgen, da ich leider so viel wichtigere und dringendere habe.“

„Da wirst Du wohl gar nicht in die Oper gehen können, Papachen?“ fragte sie, während sie die Suppe hastig auslöffelte, indes er dabei in ein Blatt mit Notizen blickte, das er aus seiner Rocktasche hervorgezogen hatte.

„Ich bringe Dich hin, mein Kind, und hole Dich ab – selbst sie zu hören, ist mir unmöglich. Aber Du sollst darum nicht zu kurz kommen.“

„Ach, Papachen, erlaube doch, daß ich zu Hause bleibe! Man kam: doch nicht alles sehen! Ich bin recht müde – und mich hinzubringen und wieder abzuholen, würde Dir ja doch so viele Zeit kosten.“

„Ist es Dir nicht schwer, darauf zu verzichten, Annie, dann ist’s mir lieb. Ich habe so viel zu thun, daß wohl die halbe Nacht und mehr über die Schreiberei hingeht. Und morgen, Töchterchen, wird’s auch nicht viel anders sein. Ich muß wieder um elf Uhr fort und kann schwerlich mit Dir zu Mittag essen, da ich mit ein paar Herren aus dem Kriegsministerium ein gemeinschaftliches Zusammenbleiben verabredet habe. Es ging nicht anders, mein Kind – ich bedauerte schon, Dich hergebracht zu haben, da ich Dir so wenig bieten kann.“

„Aber, Papachen, das wußte ich ja, daß Du beschäftigt bist, und Du darfst Dich durch mich nicht stören lassen, ich amüsiere mich auch so ganz prächtig. – Ueberdies hat sich ja auch Herr Brückner angeboten –“

„Freilich, der junge Brückner – der Sohn vom Geheimrat – unser durchgefallener Referendar!“

„Nein, Papachen, eigentlich durchgefallen ist er doch nicht. Er muß nur einen Teil des Examens wiederholen.“

„Ach so,“ lachte jovial der Oberst, „nach dem Muster: ,weil er es so schön gemacht, soll er es gleich noch einmal machen,‘ sagte der Herr Examinator!“

Annie sah etwas vorwurfsvoll drein. „Er meint,“ berichtete sie, „es wäre für ihn sehr vorteilhaft, daß er so eingehende Studien hier hätte treiben können. Wahrscheinlich würde er nach dem Examen gleich ins Ministerium kommen und da so lange bleiben, bis sich auswärts eine günstige Stellung für ihn fände.“

Der Oberst horchte hin. „So, das wußte ich nicht,“ sagte er, „also so günstig sind seine Aussichten? Nun, das freut mich – freut mich wirklich sehr für den Geheimrat. Seit ich weiß, was uns die Jungen für Sorgen machen können, freue ich mich immer, wenn’s einem gut geht, für seinen Vater.“

„Papachen“ – der Atem ging bei Fräulein Annie plötzlich sehr schnell, sie meinte, man müßte ihr Herz klopfen hören – – „Papachen, der Herr Referendar hat mir angeboten, mir morgen das Zeughaus und die interessanten Geschütze dort zu zeigen, vorausgesetzt, daß Du es gestattest.“

Der Herr Oberst zog die Stirn kraus. „Was versteht der von Geschützen!“

[762] „Na,“ meinte Annie, „er ist doch auch Offizier, wenn auch nur in der Reserve; da denke ich, so viel, als mir davon zu wissen gut thut, weiß er auch.“

„Freilich, so wird’s wohl sein, Du kleines kluges Kick-in-die-Welt! Und wenn’s nicht die Geschütze sind, so ist’s 6die Ruhmeshalle, da kannst Du Deine vaterländischen Geschichtskenntnisse repetieren, nicht? Möchtest wohl gern noch recht viel sehen, Kleine – natürlich! Na, ich habe nichts dagegen, wenn er so viel Zeit übrig hat. Er kommt ja morgen vormittag her. Da werden wir ja sehen –“

*               *
*

Am anderen Morgen – Annie war erst spät eingeschlafen – erweckte sie der sporenklirrende Schritt ihres Vaters vor ihrer Thür.

„Mach’ auf, Kind, ich muß Dich sprechen!“

Sie fuhr erschreckt aus den Kissen auf, drehte den Schlüssel um und huschte wieder unter das Deckbett, als der Oberst die Thür öffnete und ins Zimmer trat. Er sah ganz sorgenvoll drein und sagte: „Liebe Annie, ich muß schon jetzt ausgehen. Mit der verdammten Federfuchserei bin ich nicht zu stande gekommen, mir fehlen allerlei Notizen, die ich in der Kanzlei einsehen muß; da wollte ich Dir Adieu sagen. Und hier, mein Kind, ist eine Karte von Mama. Sie mahnt sehr, daß ich Dich in ein Theater führe. Bin’s aber außer stande! Das Anerbieten des jungen Brückner ist mir unter diesen Umständen sehr willkommen. Frage ihn in meinem Namen, ob er Dich auch in ein Theater begleiten kann. Er müßte aber auch für Deine ungefährdete Heimkehr eintreten – abends Dich allein zu lassen, ist mir zu ängstlich. Anders kann ich Mamas Wunsch nicht erfüllen.“

„Ach, Papachen, er thut’s gewiß sehr gern, wenn er euch eine Freude macht. Er ist ja so liebenswürdig!“

„So – liebenswürdig ist er?“ fragte etwas gedehnt der Oberst.

„Nun ja, Papachen, und ihr seid doch auch mit seinen Eltern befreundet, da ist es doch natürlich, daß er, so weit er kann, euch gefällig ist.“

„Freilich – ich meine das ja auch. Sage ihm nur, ich rechne auf ihn – zu Gegendiensten allezeit bereit und so weiter, und nun adieu, Kind, adieu!“

„Adieu, Papachen, und“ – viel Vergnügen! hatte sie rufen wollen, aber sie besann sich zur Zeit noch, daß sie es war, der das Vergnügen winkte, und so verschluckte sie schnell das Wort und zog die Decke über ihren Kopf, um dem hellen Jubel, der sie durchströmte, in einigen unartikulierten Tönen Luft zu machen. – Nein, dieses Berlin, dieses Berlin – was hatte es nicht alles zu geben! Wie zauberhaft war solch ein Tag wie dieser, der ihr jetzt entgegen lachte!

Und nun wieder dieses hastige Frühstücken, diese sorgfältige Toilette, dieses eifrige Erwägen, ob sie den Hut wohl mehr in die Stirn oder mehr in den Nacken setzen solle – dazwischen wieder ein Blick auf die Uhr, im Herzen aber immer die selige Gewißheit: nur noch eine Stunde – nur noch eine halbe – eine Viertelstunde – dann war die Erfüllung dieser Sehnsucht da!

Auch diese Viertelstunde verging – sie hatte kaum den letzten Knopf am Handschuh zugemacht, da klopfte es an die Thür, und Herr Referendar Brückner trat ein.

„Punkt halb elf!“ sagte er, die Uhr ziehend.

„Punkt halb elf!“ wiederholte sie.

„Wie ein anständiger Mensch!“ betonte er.

„Wie ein anständiger Mensch,“ bestätigte sie, und nun steckte er die Uhr ein, schüttelte herzhaft ihre Hand und fragte: „Zum Bleiben oder zum Scheiden?“

Und sie nickte. „Zum Bleiben – zum Bleiben! Papa läßt sich Ihnen empfehlen, er konnte nicht so lange warten, mußte in die Kanzlei, und läßt Sie nun bitten, sich seiner verwaisten Tochter anzunehmen!“

„Köstlich, köstlich! So, und nun machen Sie einmal diese Rosen fest, die werden Ihnen famos stehen – hier ist auch eine Nadel dazu – ja, wenn man eine Dame begleiten darf, muß man an alles denken. So – wirklich reizend!“

In glückseliger Stimmung verließen die beiden jungen Menschenkinder das Hotel.

„Und nun geben Sie mir den Arm, bitte,“ begann Leo auf der Straße. „Ja wirklich, gnädiges Fräulein, geben Sie ihn mir! Wenn Sie auch nicht so ermattet sind wie gestern, ich kann Sie besser davor schützen, daß Sie es nicht auch heute werden – und dann, Berlin ist anstrengend, man hält besser die Kräfte zusammen, wenn man sich vorsieht. So – das ist nett, ist’s nicht viel hübscher so zu zweien?“

Natürlich war’s hübscher, sie ging wie auf Wolken vor Glückseligkeit, und er führte sie so zart und so sorgsam und paßte seine Schritte so genau den ihren an – sie wünschte im Herzen, die „Linden“ wären so viel Meilen lang wie Minuten.

Aber wie köstlich war es auch im Zeughause! Während sie unter den Kanonen herumspazierten, erzählten sie sich allerlei Geschichten, die nichts mit Streit und Krieg zu thun hatten. Nur ab und zu machte er sie auf dieses oder jenes Geschütz aufmerksam und ermahnte sie, sich gründlich alles Beachtenswerte daran „für den Herrn Papa“ zu merken, und sie blickte ihn dann verständnisinnig, aber sehr errötend an und repetierte alles Gehörte „für den Herrn Papa“. Und dann gingen sie nach der Ruhmeshalle und begannen, sich die Daten und Zahlen zu den dort verewigten Geschichtsmomenten abzufragen, und lachten kindisch, wenn eines das andere überlistete. Und dasselbe lustige Belehren im Alten Museum, dasselbe Studieren der neueren Kunstwerke unter Jubel und Scherz in der Nationalgalerie – es war doch zu herrlich, dieses Berlin!

So gingen die Vormittagsstunden hin.

„Nun essen wir in den Wilhelmshallen zu Mittag und trinken den Kaffee bei Bauer,“ sagte er. „Da will ich einmal den Herrn von gestern neidisch machen. Ja, ja, so gut ist’s mir lange nicht gegangen.“

Sie lächelt und errötet und drückt ein ganz klein wenig seinen Arm – es war doch zu wonnig, in seiner lieben Gesellschaft zu sein, sich unter seinem ritterlichen Schutze geborgen zu fühlen - welches Glück, daß sie diesen Tag erleben durfte!

Auch dieser Teil des Programms wurde zur beiderseitigen Zufriedenheit erledigt, dann pfiff der Kellner nach einer Droschke, fort ging’s zum Tiergarten, und nun machten sie Standesvisiten, wie Leo sagte. Erst der Königin Luise, dann dem König Friedrich Wilhelm dem Dritten, nun den Königen im Reiche der Geister: Goethe und Lessing, und zuletzt dem König der Tiere, dem Löwen, der, wenn auch in Erz gegossen, mit seinen Klagelauten um die sterbende Lebensgefährtin den Park zu erfüllen scheint.

Wie herrlich das alles war – wie zauberhaft und wundersam! – Ihr fröhliches Lachen verstummte fast, sie gingen schweigend im Waldesschatten des Tiergartens auf und nieder, ganz überwältigt von der Lenzespracht um sie her. Die Sonne warf ihre schräg fallenden Strahlen durch das helle, zarte Frühlingslaub der Bäume, über die Gesträuche, die sich schon mit duftenden Blüten schmückten, schimmerte auf dem Sammet der grünen Rasenflächen und ließ ihre Reflexe spielend durch die Zweige gleiten, auf denen im Liebesgetändel die Vogelwelt zwitscherte.

Am Goldfischweiher auf einer Bank nahmen sie nun Platz, und ihr Gespräch wandte sich hier einer ganz anderen Richtung zu. Er blickte immer erstaunter auf ihre kindliche Erscheinung, wenn sie eine Bemerkung machte, die ihm von ihrem regen Geistesleben Kenntnis gab und ihn darüber belehrte, daß dieses blonde Köpfchen ganz ernster – eigentlich für ihre Jugend viel zu ernster Gedanken fähig sei. – Wie schnell ein Mädchen reift! dachte er. Ist es die Luft in ihrem Elternhause, sind es innere Erlebnisse, die diese Gemütstiefe entwickelten? Merkwürdig – Schwester Elfe war ganz anders! –

„So,“ sagte er nach einer Weile stillen Nachsinnens, „auch diese Stunde war ganz wunderschön, aber Sie sehen, mein Fräulein, die Sonne sinkt, und wenn wir noch ins Theater wollen, ist es höchste Zeit. Also, wohin nun?“

„Wo es lustig ist,“ antwortete das kleine Fräulein und strahlte schon wieder vor jugendlicher Fröhlichkeit.

„Wo es lustig ist,“ wiederholte er nachdenkend, „ja – wohin denn?“

„Ich weiß es!“ ruft sie plötzlich, „wir gehen ins Apollo-Theater!“

„Ins Apollo-Theater?“ fragt er staunend und sieht sie verwundert an, „was wissen Sie von dem?“

„Ja,“ erzählt sie eifrig und ganz voll Stolz, daß sie auch etwas vorzuschlagen weiß, „ich hörte davon. Kennen Sie es nicht? Es soll höchst amüsant sein. Trapez- und Zauberkünstler sind dort, die sah ich noch nie – und hernach tanzen wunderschöne Damen allerlei schnurrige Tänze.

[763] „Hm – hm – allerdings – das muß sehr hübsch sein; wer hat Ihnen denn das erzählt?“

„O, Lieutenant Kurz, er war Weihnachten hier!“

„Und unterhielt hernach die jungen Damen daheim mit seinen Erlebnissen – unglaublich!“ brummte Leo in sich hinein. „Man sollte wahrhaftig die kleinen Mädchen unter Glasglocken setzen, um sie vor solchen Strohköpfen zu schützen.“

„Nun, wie ist’s mit dem Apollo-Theater?“ fragte Annie.

„Nein, mein Fräulein, darauf wollen wir verzichten, das ist nichts für uns. Wir gehen ins Königliche Schauspielhaus und sehen uns das ‚Käthchen von Heilbronn‘ an. Heute ist’s mir so, als könnte man die Offenbarungen, die diese Dichtung predigt, fassen. Und vor dem Herrn Papa bestehen wir jedenfalls damit besser!“

*               *
*

Der Oberst und sein Töchterchen hatten das Coupé schon bestiegen, und während der Vater es bequem für sie beide da drinnen arrangierte, blickte Annie noch immer hinaus auf den Bahnsteig. – Leo hatte zwar nicht versprochen, zu kommen, im Gegenteil, als sie nach dem gestrigen unvergeßlichen Tage Abschied nahmen, hatte er ihr gesagt, daß er gern bei ihrer Abreise am Bahnhof sein würde, aber wegen dringlicher Arbeiten es nicht könne. Er würde in spätestens acht Wochen bei dem Herrn Oberst sich dieserhalb daheim entschuldigen, sie möchte ihm jetzt schon sagen, daß sie ihm verzeihe, und sie hatte wehmütig dreingeschaut, aber sich zu einigen scherzenden Worten gezwungen. Was sie indessen gestern geglaubt, heute glaubte sie es nicht mehr. Sie bangte sich ja jetzt schon so grenzenlos – und acht Wochen! – Wenn er diese kürzen kann, durch einen Gang hierher, so wird er es trotz allem auch thun, das weiß sie gewiß, das sagt ihr das heftig klopfende Herz.

Und wie nun langsam, ganz langsam der Zug sich in Bewegung setzt, sieht Annie die bekannte Gestalt hastig die Treppe in die Höhe springen. Sie winkt mit dem Tuche einen Gruß und biegt sich weit hinaus, alle Rücksicht auf den Vater und die Mitreisenden vergessend. Da hat er sie gesehen und läuft neben dem Wagen her.

„Leben Sie wohl, Fräulein Annie, leben Sie wohl – hier, ein paar Blumen zum Gedenken! – Ah, verehrtester Herr Oberst, meine gehorsamste Empfehlung, glückliche Reise! Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!“ – Und während sie heimlich eine Thräne trocknet, pfeift er ein Liedchen vor sich hin und denkt: „Das war gut abgepaßt! – Ja, der Kleinen mußte ich noch einmal in die blauen Augen sehen – aber der Alte mit seinen Erkundigungen nach dem Examen – brrr –“

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 46, S. 774–779
[774]
10.

Das große Ereignis der Neubesetzung des Oberpräsidentenpostens hielt zur Zeit die Gemüter des Ehepaars Brückner in nervöser Erregung. Erst hatte man durch täglich anderslautende Nachrichten über die Ernennung für diese Stelle viele innere Unruhe gehabt, nun, seit es nach Wunsch entschieden war, Excellenz und Gemahlin bereits eingetroffen und von ihren Rechten und Pflichten Besitz ergriffen hatten, galt es für Brückners als erstes Gebot, ihre Beziehungen zu jenen festzustellen.

Schon früher einmal, vor einer Reihe von Jahren, hatten die Herrschaften in einer sehr viel weniger hervorragenden Stellung in dieser Stadt gelebt und waren dann, ihrem günstigen Stern, der sie emportrug, folgend, nach einer anderen Provinz übergesiedelt, von wo aus das Vertrauen des Herrschers ihn für eine kurze Zeit zum Leiter eines Ministeriums berief. In einem konstitutionellen Staat ist solch’ ein Ministerposten sehr häufig nur der glanzvolle Uebergang zu einer anderen, weniger im Zenit allgemeinen Interesses stehenden, aber dauerhafteren Stellung. So geschah es auch hier, und nun war die ferne Provinz dazu ausersehen, ihn für die erlebte Enttäuschung zu entschädigen.

Damals, als er, ein noch sehr jugendlicher Oberregierungsrat, hier lebte, sympathisierte seine Gattin mit Frau Brückner sehr und die Ehepaare waren viel und gern zusammen gewesen. Diesem intimen Verkehr hatte die Versetzung des Oberregierungsrats ein Ende gemacht, wie das in dem Nomadenleben der Staatsbeamten nur ausnahmsweise anders ist. Der Umgangskreis, auf den man angewiesen, wechselt und verändert sich unaufhörlich, diejenigen, mit denen man jetzt zusammen lebt und die gleichen Interessen teilt, sind vielleicht in wenigen Wochen Hunderte von Meilen entfernt. Hier treten andere mit den gleichen Ansprüchen an ihre Stelle, dort finden jene auch eine Lücke, sowohl in amtlicher als geselliger Beziehung, die sie auszufüllen haben, und die Gegenwart verlangt, heute mehr als je, immer den ganzen Menschen. – Einige wenige Briefe, später noch ein paar Neujahrskarten hatten Brückners mit Regierungspräsidents gewechselt, dann ward einmal auf der einen Seite absichtslos die Antwort vergessen, und die Woge des Lebens rauschte über diese Freundschaft dahin.

Nun kam jener als Oberpräsident hierher zurück, als höchster Beamter der Provinz, und es war allgemein bekannt, daß der Verlust des Ministerpostens ihn keineswegs die Gnade des Monarchen gekostet, da dieser nur der Volksvertretung, bei welcher der Minister durchaus keine Sympathie zu erwecken verstanden, eine Konzession mit der Einwilligung in seinen Rücktritt gemacht hatte. Und von seiner Gemahlin sagte man gar, daß die Kaiserin sie persönlich stets ausgezeichnet habe. Mit solchen Leuten ein freundschaftliches Einvernehmen zu erneuern, war Geheimrat Brückners eine Ehrensache.

Die Frau Geheimrat flocht selbst die Kränze, mit denen man Excellenz’ Wohnräume zur Ankunft schmückte, dichtete Verse, die an Längstvergangenes anknüpften und die Erinnerung beleben sollten, und verbarg diese sehr sichtlich in die Bouquets, die sie in das Boudoir der Frau Oberpräsidentin stellte. Dafür wurde ihr dann auch die Auszeichnung, daß die Excellenz bei der ersten Ausfahrt bei Brückners vorfuhr und sich für die vielfachen Beweise alter Anhänglichkeit mit einem Kuß bedankte. Aber dieser Erfolg genügte noch nicht, so sehr er schon den Neid ähnlichdenkender Rivalen hervorrief, – persona grata wollte sie bei Excellenz selbst werden, unentbehrlich seiner Gattin und ihrem ganzen Hause, und um dieses Ziel zu erreichen, mußte sogleich die nächste Zeit benutzt werden. Freilich kostete es viele Anstrengung. Die eigenen Interessen und Wünsche mußten ganz zurücktreten, immer mußte sie zur Stelle sein, wenn die Excellenz eine Auskunft oder einen Rat, eine Begleitung oder eine Mithilfe brauchte. Ihr vorzügliches Personengedächtnis kam ihr zur Hilfe, ebenso die umfassenden Kenntnisse aller städtischen und provinziellen Verhältnisse, die sie durch langjährige Anwesenheit im Ort erlangt hatte. So nützte sie denn in der That Excellenz sehr. Mit allen Wohlthätigkeitsvereinigungen hatte sie schon in Verbindung gestanden, stand sie zum Teil noch, weil dieses zu eben solchen Zwecken wie der, den sie jetzt verfolgte, sehr vorteilhaft, oft sogar notwendig war, und Excellenz übernahm jetzt natürlich das Präsidium bei allen diesen Instituten. Die Majestäten wurden zum Herbste hier erwartet – es war selbstverständlich, daß Excellenz dann schon wohl informiert die Führung der höchsten Herrschaften übernehmen würde!

So blieb Frau Geheimrat Brückner dadurch vorerst ihrer eigenen Familie und deren Leiden und Freuden sehr entrückt, aber die Eheleute waren viel zu sehr eines Sinnes, als daß der Gatte es anders gewünscht hätte. Ihn selbst beschäftigte sein Amt hinreichend, und Lisbeth sorgte treulich, daß er bei diesen vielen neuen Verpflichtungen der Mutter in seinem häuslichen Behagen nicht zu kurz kam.

Noch immer, obwohl der Hochsommer vorüber, war sie das einzige Kind des Hauses, das in der Vaterstadt anwesend war. Leo hatte sich dem Beschluß der Eltern fügen müssen, daß er die ganze Zeit bis zum erneuten Examen in Berlin bleiben sollte, und Elfe war, nachdem die Hochzeitsreise durch Italien ihr Ende erreicht hatte, mit einer Walden verwandten Familie nach einem Nordseebade gegangen. Ihr Gatte hatte inzwischen vorübergehend eine erledigte Ratsstelle im Finanzministerium angetreten und dann, da er Frau Elfes Bitten nicht widerstehen konnte, sich um definitive Übertragung dieses Amts beworben, welche schließlich auch genehmigt wurde.

Elfes durchaus nicht regelmäßige oder häufige Briefe von der Reise hatten meistens nur Schilderungen der Feste, die sie mitmachte, enthalten, und diese flüchtigen Zeilen waren von ihrem Mann anfänglich dadurch ergänzt worden, daß er mit Befriedigung von dem Aufsehen schrieb, welches seine schöne junge Frau bei solchen Gelegenheiten machte.

Der jubelnde Ausbruch dann, mit dem Elfe noch von Ostende aus den Eltern die Mitteilung von Waldens endgültiger Versetzung nach Berlin machte, hätte diese tief verletzt, wenn jene nicht gleichzeitig Papa und Mama in herzlichster Weise dringend um einen Besuch in Berlin, sobald nur erst ihre Wohnung eingerichtet sein würde, gebeten hätte.

Vorläufig hatte man über die Frage dieses Besuchs noch keinen Entschluß gefaßt. Die immer lebhafter werdenden Beziehungen zu Oberpräsidents hielten die Frau Geheimrätin vorerst hier fest, und dann stand ja nun wieder Leos Examen bevor – ehe dieses nicht bestanden war, ehe man nicht wußte, wo er dann Anstellung finden würde, konnte von neuen Plänen nicht die Rede sein.

Lisbeth gewann aber jetzt durch die Vereinfachung des häuslichen Lebens daheim viele freie Stunden für ihre Freunde, die ihres Zuspruchs gerade in dieser Zeit auch sehr benötigt waren. Gertrud in erster Reihe deshalb, weil es ihr um jede Minute leid that, die ihre Freundin anders als mit der Bewunderung ihres Patchens ausfüllte, das sich allerdings ganz außergewöhnlich schnell und glücklich entwickelte; Frau Römer aber aus dem Grunde, weil sie niemand sonst hatte, dem sie ihre grenzenlosen Sorgen um Gertruds Zustand anvertrauen konnte, denn Mann und Sohn, die so völlig durch ihre Berufsarbeit in Anspruch genommen waren, wollte sie mit ihrer Herzensangst nicht beunruhigen. Täglich, so klagte sie, werde Gertrud hagerer und matter, sie hüstele unausgesetzt, wenn sie sich unbeachtet glaube, und ihre Hände seien abends so heiß und feucht, als hätte sie Fieber. Zu allen diesen bösen Anzeichen kam noch der Umstand, daß Gertrud, die stets so sanft und nachgiebig gewesen, nun in die größte Aufregung geriet, wenn man davon sprach, einen Arzt zuzuziehen. Sie sei völlig gesund, sagte sie hartnäckig, und sie würde sofort abreisen, wenn man gegen ihren Willen ärztlichen Rat einhole. Das einzige, wozu sie sich verstand, war das Versprechen, daß sie selbst den alten Hausarzt der Familie, der sie von Kindheit an kannte, konsultieren wollte, sobald er aus seinem Sommeraufenthalt zurückgekehrt wäre. Aber bis dahin vergingen immer noch einige Wochen, denn der alte Herr war selbst der Ruhe schon sehr bedürftig und entschloß sich, wenn er im Frühling seine Villa am Strande bezogen hatte, nur schwer zur Uebersiedelung in die Stadt.

[775] So war der September herangekommen. Mit einer häuslichen Arbeit beschäftigt, saß Lisbeth an einem Spätnachmittage im Wohnzimmer, als die Glocke der Hausthür anschlug. In der Annahme, daß ihre Mutter von dem Gange nach der neueinzurichtenden Suppenanstalt, auf welchem sie Excellenz begleitet hatte, zurückkehre, eilte sie hastig hinaus, um derselben die Thür zu öffnen. Aber wie erschrak sie, als statt dieser Frau Rektor Römer vor ihr stand, die noch niemals Lisbeth in ihrem Elternhause aufgesucht hatte.

„Lieschen, Kind – ich mußte Dich sprechen,“ sagte sie, und an dem zitternden Ton ihrer Stimme erkannte diese die große Erregung, in der die alte Dame sich befand. „Nimm Dir einen Mantel um und komm’ hinunter, wir gehen ein Stückchen zusammen! Deine Frau Mutter wird mir die Eigenmächtigkeit verzeihen – es sind außergewöhnliche Umstände, die mich dazu zwingen.“

Und ohne sich weiter zu erklären, drehte sie sich um und stieg langsam die Treppe hinab, während Lisbeth mit zitternder Hast ihre häuslichen Bestimmungen traf, sich mit Hut und Mantel versah und Frau Römer nacheilte.

„Ich wußte mir keinen anderen Rat und keinen anderen Trost, Lieschen, als Dich,“ sagte die alte Frau und legte ihren Arm auf Lisbeth, sich so kräftig auf diesen stützend, als ob sie allein nicht weiter könnte.

„Wenn ich nach Hause ginge, sähe mein guter Mann es mir ja gleich an, wie es mir zu Mute ist.“

„Tante Römer,“ sagte Lisbeth, die völlig erblaßt war, „sprich schnell, halte nichts zurück, ich vergehe vor Angst – was ist’s mit Arnold?“

„Mit Arnold – nein, Gott sei gedankt, er ist nicht der, um den ich zittere. Aber Gertrud – Lieschen!“

„Gertrud?“

Frau Römer nickte.

„Heute vormittag,“ berichtete sie, „war unser lieber Sanitätsrat bei uns, nachdem er gestern abend heimgekehrt war. Er ließ sich von Gertrud, während er immer mit dem Kinde spielte, von den einzelnen Erscheinungen ihres gegenwärtigen Zustandes erzählen, und da er so sehr unbesorgt that, ließ sie sich täuschen und erwähnte manchen Uebels, von dem ich noch nicht einmal wußte. Schließlich untersuchte und beklopfte er Brust und Rücken, und weil er wieder nichts sagte und nichts verordnete, fühlte sie dieses als die Bestätigung ihrer Annahme, daß sie ganz gesund und der Husten nur nervöser Natur sei, und war heiterer und zuversichtlicher als je. Aber mich quälte die Sorge, und eben komme ich von ihm und er hat mir schlankweg gesagt, daß sie – schwindsüchtig sei und wir unser Kind, wenn nicht ein Wunder geschieht, bald verlieren würden!“

„So wollen wir auf dieses Wunder hoffen!“ sagte Lisbeth und unterdrückte kraftvoll das Zittern, das durch ihren Körper lief.

„Ja, Lieschen, das liegt in der Menschennatur, die sich im Unglück an jeden Strohhalm klammert, aber trotzdem müssen wir unsere Seelen stark machen, um zu tragen, was Gott uns schicken mag! Der Sanitätsrat hat mir jede Hoffnung genommen, jede – letztes Stadium, sagte er und riet durchaus von dem Versuch ab, sie noch in ein Bad oder eine Kuranstalt zu schicken. ,Es nützt nichts,’ sagte er, ,es verzögert nicht einmal die Katastrophe – lassen Sie sie doch ahnungslos, lassen Sie sie doch diese Zeit, die ihr noch zu leben gegönnt ist, glücklich sein?“

„Tantchen, es ist nicht möglich, es kann nicht sein! Sieh doch ihre Heiterkeit und ihre Geistesfrische! Auch bewährte Aerzte können irren, es sind doch auch Menschen – und hier irrt der Sanitätsrat gewiß!“

Frau Römer schüttelte den Kopf.

„Er hat mir ausgesprochen, was ich längst fürchtete,“ sagte sie, „ich beobachte sie doch unausgesetzt und sehe sie immer schwächer und matter werden. Wenn Du hinüber kommst oder wenn gar Arnold da ist, so ist es Erregung, die sie beherrscht, und welche sie anders und gesünder erscheinen läßt und euch täuscht. – Ach, Kind, was steht uns bevor! Ich kann es nicht ausdenken, wie ich meinen Mann darauf vorbereiten soll. Er liebt sein Trudchen doch so sehr, als wäre sie sein eigenes Kind, und keine Tochter kann ja auch liebevoller zu ihrem Vater sein, als sie es immer war. Ach, Lieschen, daß wir alten Leute dies erleben, daß wir dieses junge Leben vor uns hinwelken und vergehen sehen müssen! Und Arnold – welche Fülle von Liebe für ihn geht mit ihr zu Grabe! Welche Qual, ihr mit dieser Gewißheit noch ein heiteres Gesicht zeigen zu sollen! O, es ist furchtbar!“

Die alte Frau schluchzte laut auf und Lisbeth, in deren Augen ebenfalls Thränen standen, drückte ihr voll inniger Teilnahme die Hand. Endlich flüsterte sie: „Ach, Tante, liebe Tante, sei stark und sage vorerst Arnold und dem Onkel nichts! Gönne es ihnen, noch eine Weile sorgenlos zu sein – die Vorbereitung für das Kommende übernimmt das Schicksal selbst!“

„Ich weiß nicht, ob das anginge, Lieschen. Sieh’, dann müßte ich sie doch auch heimziehen lassen; sie möchte jetzt wieder nach Hause zurückkehren, und davon kann doch gar nicht die Rede sein. Begleiten kann ich sie nicht: mein Mann braucht mich ebenfalls notwendig. So schwer es mir wird, Arnold zu beunruhigen, etwas muß ich ihm sagen, damit er ihr zum Hierbleiben zuredet. Von ihm nimmt sie ja alles an! Meinem Manne gegenüber möchte ich freilich noch schweigen. Ihn wird das Unglück nicht unvorbereitet treffen, denn er war stets um sie nach dieser Richtung besorgt, und daß ihr Vater so jung an einer Lungenkrankheit starb, war doch der Grund, den er immer und immer wieder gegen ihre Verheiratung mit Arnold geltend machte. Nun hat er doch recht behalten, mein Alter – hätten wir doch seine Warnungen befolgt!“

„Ach, sage das nicht, Tante Römer! Sie hätte sich in Sehnsucht nach ihm verzehrt, und was ist ein Dasein denn Wert, das uns zur Entsagung verurteilt? Nun ist sie doch glücklich gewesen, nun hat sie das größte Glück, das ein Weib auf Erden erringen kann: dem zu eigen zu sein, den ihr Herz liebt, erreicht; das Höchste, was das Leben uns zu geben hat, ist ihr geworden, sie hat Liebes- und Mutterglück genossen – und ob es nun auch früher zu Ende geht, dieses kurze Menschenleben, was thut’s – es war ihr doch köstlich! Sie gehört immer noch zu den Auserwählten, denn wie vielen wird das nicht zu teil!“

Die alte Dame trocknete ihre Augen. „Siehst Du, Lieschen. Du weißt schon Trostesworte für mich, an ihnen will ich mich aufrichten.“

„Ich habe sie von Dir gelernt, Tantchen, und gebe sie Dir zurück. Unter Deiner Zusprache ist meine Seele oft genug still geworden. Aber nun laß uns umkehren; wir sind zu weit gegangen! Die Deinen sind nicht gewohnt, Dich um diese Zeit so lange zu entbehren, und Du müßtest dafür nach Erklärungen suchen.“

Frau Geheimrat war schon vor Lisbeth heimgekehrt und empfing diese mit einem ganzen Sack voll ihr selbst höchst interessanter Mitteilungen. Was Excellenz gesagt – was Excellenz gemeint – was Excellenz projektiere; und wenn Lisbeth anfangs die Absicht gehabt hatte, ihr schweres Herz gegen die Mutter zu entlasten, in diese nichtigen Erwägungen hinein die Nachricht von dem Schmerz, der ihr durch ihrer Freundin hoffnungslose Erkrankung geworden, zu mischen, das erschien ihr unmöglich!

„Wenn Leo doch nur endlich zurückkehrte,“ schloß die Mutter ihren Bericht. „Oberpräsidents wollen Ende dieses Monats mit ihren wöchentlichen Soireen beginnen, und die Excellenz meinte heute schon sehr freundlich, sie rechne darauf, daß er ihr die Arrangements abnehmen werde, sie hätte soviel von seinen geselligen Talenten gehört. Denke doch, wie liebenswürdig! Er kann wirklich froh sein, daß er den Boden für sich so wohl bereitet findet, anderen wird solche Blamage länger nachgetragen! Wann erwartet Papa doch den Examenstermin?“

„Bestimmt weiß er ihn auch noch nicht, aber er meinte neulich, in zwei bis drei Wochen würde er sicher sein.“

„Na, gottlob, dann wäre diese Zeit auch vorüber!“

„Und das Schicksal mag uns günstig sein, damit sie gut endet, Mama.“

„Was soll das heißen?“ Die Frau Geheimrätin geriet in Erregung. „Denkst Du etwa an die Möglichkeit, er könnte abermals – so etwas ist noch nicht dagewesen, das ist ein ganz unmöglicher Fall! Er würde sein ganzes Leben zerstören – alle Aussichten – alle – alle!! – Bedenke das einmal! Ich begreife nicht, wie Du Dich darin gefallen kannst, den Unglücksraben zu spielen! Du solltest etwas Rücksicht auf meine Nerven nehmen – ich bin völlig außer mir!“ – Und sie fuhr sich mit dem Batisttüchelchen über die Stirn, auf der die Aufregung helle Schweißtropfen hervortreten ließ.

„Verzeihe mir die unvorsichtige Bemerkung, Mama, Du weißt doch, sie kommt aus einem sorgenden Herzen, und an manchen Tagen ist man geneigter, schwarz zu sehen. – Darf ich [778] Dir nicht etwas zur Erfrischung reichen? Du siehst so sehr ermattet aus.“

„Ja,“ meinte diese, die sich gern von dem unwillkommenen Thema ablenken ließ, „das ist kein Wunder! Die Frau Oberpräsidentin ist wie von Stahl; das ist eine Arbeit, da mitzuhalten. Erst haben wir die ganze Suppenküchenangelegenheit verhandelt – und wie verhandelt! Wirklich so, als ob Majestät schon vor der Thür stände; und dann haben wir zu Hause bei ihr die Akten aller hiesigen Wohlthätigkeitsanstalten durchgesehen, um diejenigen Personen festzustellen, welche sich in den letzten zehn Jahren hier besonders lebhaft um solche Angelegenheiten bemüht haben. – Es ist nämlich eine große Sache im Werk! Excellenz vertraute sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an: es sind in neuester Zeit zwei Vakanzen beim Louisenorden eingetreten, und es scheint so, nach den Erkundigungen von oben her, als sollte bei Gelegenheit des kaiserlichen Besuches die Würdigste für eine derselben hier ausgesucht werden. Ja – wer das immer so vorher wüßte! – Aber an solche eingreifende Folgen denkt man doch nicht gleich, und früher war das auch gar nicht so Mode wie jetzt!“

„Was war früher nicht Mode?“ fragte der Geheimrat, der eben ins Zimmer trat, seine Frau.

„Nun, dieses Getratsch von der Wohlthätigkeit,“ antwortete sie, und jetzt erzählte sie auch ihm ausführlich von dem in Aussicht stehenden großen Ereignisse und fand einen interessierteren Zuhörer an ihm als an Lisbeth.

„Es ist recht schade,“ schloß sie ihre Mitteilungen, „daß ich mich früher zu wenig um diese Vereinsbestrebungen gekümmert habe. Wenn es nur einigermaßen zu machen wäre, schlüge mich Excellenz sicher vor, aber es geht doch wohl nicht, das gäbe zuviel böses Blut!“

„Na, Käthchen,“ tröstete ihr Mann, „wenn nicht jetzt, so vielleicht das nächste Mal. Die Versäumnis läßt sich nachholen und das wird jetzt leichter sein als früher, wo Dein Haus Dir so viel zu thun gab.“

„Du hättest Dich der Auszeichnung doch auch gefreut?“

„Gewiß, gewiß,“ bejahte er, „namentlich, da hier in der Stadt der Orden nur viermal vertreten ist.“

„Nur drei Mal, Erich!“

„Nun: die Generalin, die Kommerzienrätin Börner, dann Fräulein v. Heldberg und die Gräfin Stralheim.“

„Ja, freilich – an letztere dachte ich nicht. Die hat ihn aber auch gewissermaßen ererbt. Man zog nach dem Tode der Gräfin Mutter ihn nicht zurück, sondern ließ ihn ihr. Das hätte doch ein ganz anderes Aufsehen gemacht, wenn ich –“

„Ist denn gar keine Aussicht?“

„Nein, gar keine. Excellenz meinte schließlich das selbst. Wir sprachen ganz offen darüber.“

„Schade – schade!“


11.

An der Thür zu Lisbeths Schlafzimmer wurde heftig geklopft. Sie fuhr in die Höhe, warf einen Blick dorthin, einen zweiten auf die Uhr und wollte sich, schlaftrunken wie sie war, noch einmal in die Kissen legen, als dasselbe Klopfen, das sie eben für eine Traumestäuschung gehalten, sich wiederholte.

„Oeffne, Lisbeth, ich bin’s, der Vater!“

Sie sprang mit beiden Füßen aus dem Bette, warf ein Morgenkleid über, drehte den Schlüssel im Schlosse und der Geheimrat trat ein. Bei seinem Anblicke fühlte Lisbeth, daß er ein Unheil zu verkünden kam, so verändert erschien ihr sein Antlitz. Es lag eine Starrheit darauf, die nichts mit der äußeren Ruhe, deren er sich sonst befliß, zu thun hatte, und in seinen Augen brannte ein Glanz wie von unterdrückten Thränen.

„Schließe die Thür,“ sagte er kurz, „damit uns niemand stört! Es ist ein großes Unglück über uns gekommen: Leo ist abermals durchs Examen gefallen! Eben erhielt ich von Walden diesen Brief.“

Er warf zornig ein zerknittertes und zerdrücktes Papier auf den Tisch. „Nun ist alles aus – für ihn – und auch für uns! Ich weiß nicht, was nun werden soll! – Mama wird das nicht überleben,“ und er schlug mit den Gebärden völliger Verzweiflung die Hände vors Gesicht.

„Aber, Papa,“ rief Lisbeth, „fasse Dich, denke an uns und gieb Dich dem Schmerz nicht so hin!“

Der Geheimrat war hastig in dem kleinen Raume hin und wieder gegangen, die bleiche Gesichtsfarbe war einer jähen Röte gewichen, die Adern lagen jetzt wie Stränge auf der Stirn und die Augen erschienen blutunterlaufen. Plötzlich schwankte er, stöhnte tief auf und warf sich, einen Schrei ausstoßend, auf das kleine Sofa, so daß dasselbe in allen Fugen krachte.

Lisbeth sprang zu ihm hin, unterfaßte sanft seinen Kopf und richtete ihn empor. „Komm’ zu Dir, Papa, komme zu Dir! Trinke etwas Wasser, dann wird Dir besser! Die große Erschütterung hat Dich benommen. Denke doch an Mama – denke doch, das Du ihr beistehen mußt!“ Sie hielt das Glas an seine Lippen und goß ihm etwas davon in den Mund, das er, wie sie mit Erleichterung bemerkte, hinunter schluckte. Nun ergriff sie ein Kissen, bettete seinen Kopf hinein, und da seine Augen sich fest geschlossen hatten und der Atem so leise ging, daß sie ihn kaum noch vernahm, eilte sie hinaus, über den Vorsaal nach ihrer Mutter Zimmer, und beugte sich über das Bett der noch Schlafenden.

„Liebste Mama,“ rief sie mit gedämpfter Stimme, „wach auf! Es ist Schweres über uns gekommen, aber Schwereres droht, wenn Dein starker Geist nicht Hilfe schafft! Komm’ in meine Schlafstube – Papa ist dort, er ist krank! Die Nachricht von Leos abermals verunglücktem Examen hat ihn niedergeworfen –“

Die Frau Geheimrätin hatte, so rauh aus dem Schlafe aufgescheucht, verständnislos Lisbeth angesehen, nun, bei dieser Erwähnung des Examens, schrie sie laut auf und barg ihr Antlitz in den Decken.

„Mama – ich bitte Dich, komm schnell! – Von Deiner Fassung hängt alles ab. – Es ist ein großes Unglück, aber es kann ein noch größeres daraus werden. Papa ist – ich muß zu ihm – es sieht wie eine Ohnmacht aus! Nimm Dich zusammen, Mama, Du weißt, was Du über ihn vermagst, Deine Kraft erhält ihn uns vielleicht!“

Sie wollte fort, aber die Hände der Mutter hielten sie nun fest und deren Augen schienen sie durchbohren zu wollen, mit so verzweiflungsvoller Angst waren sie auf ihre Tochter gerichtet.

„Lisbeth,“ keuchte sie, „Lisbeth – sage mir die Wahrheit! Ist er tot?“

„Nein, nein, Mama – Gott sei gedankt – es war hoffentlich nur ein Schwindelanfall nach dem großen Schrecken, aber komme, komm’ schnell, Mama!“

Diese war aus dem Bette gesprungen, hatte ein Hauskleid übergeworfen und lief mit nackten Füßen durch die Zimmer und den Korridor nach Lisbeths Stube. Totenbleich hob sich jetzt ihres Gatten Antlitz von dem dunklen Plüsch des Sofas ab, die Augen waren fest geschlossen und die Arme hingen schlaff herab wie bei einem Sterbenden. Kein Laut kam über die Lippen seiner Frau, mit ein paar Schritten war sie bei ihm, nahm ihn in ihre Arme und drückte seinen Kopf an ihre Brust.

„Erich – Erich – komm’ zu Dir, öffne die Augen, sieh mich an! Kannst Du mich in solcher Angst lassen? Mein Mann, mein geliebter Mann!“

Er rührte sich schwach, hob ein wenig die Lider und stieß einen Seufzer aus. Sie griff nach dem Wasserglase und füllte es von neuem. „Trinke – ich bitte Dich – trinke, Erich! es ist Dir gesund! Mache ein Brausepulver zurecht, Lisbeth! – So – laß mich Dich aufrichten, trinke nur, ich halte das Glas, trinke es nur ganz aus! Nun lehne Dich zurück, ruhe aus – ich will Deinen Kopf kühlen! Du hast eine Ohnmacht gehabt, Erich. Ich bleibe bei Dir – gewiß, ich halte Dich in meinen Armen! Böser Mann, wie kannst Du Dich so erschrecken? Ist das wohl recht? Weißt Du nicht, daß Dein Leben mir gehört, wie kannst Du mit meinem Eigentum so verfahren? Gewiß, es hat uns ein furchtbares Unglück getroffen, aber, Erich, es giebt noch ein größeres als dieses! Denke, wenn ich Dich verlieren müßte – was ist alles andere dagegen!? Wenn wir beide uns nur haben, nicht wahr, dann sind wir immer noch reich! Und dann, Männchen, denke einmal – es ist uns immer gut gegangen, wir werden doch auch in schlimmer Zeit einander nicht verlassen, und wenn Du Dir nicht Mühe giebst, Dich zu fassen, dann – Erich, ich ertrüge es nicht, ohne Dich zu sein!“

Ueber ihr blasses Antlitz flossen jetzt stromweise die Thränen und befeuchteten auch sein Gesicht; er hob mit Anstrengung die Augenlider und sah sie an.

„Käthchen,“ sagte er leise, „ängstige Dich nicht – es war eine Ohnmacht! Sieh,“ – er hob einen Arm, dann den zweiten – „siehst Du, Du meintest gewiß, es sei ein Schlaganfall! Laß mich nur – es hat mich so überwältigt!“ Er schloß wieder die Augen.

„Lisbeth, schnell – ein Glas Wein!“ flüsterte die Frau.

[779] Er stöhnte laut auf. „Nun ist jede Hoffnung für ihn ausgeschlossen und, Käthchen, er ist unser einziger Sohn!“

„Ja,“ sagte sie und drückte die Lippen zusammen, damit der Seufzer nicht hörbar würde, der sich aus dem tiefsten Herzen hervorrang, „es ist hart; aber, Erich, für mich giebt’s viel Härteres. Der Himmel hat es mir eben gezeigt – ich will nicht murren, wenn ich nur Dich behalte! Sieh, da ist der Wein – Du mußt das Glas austrinken, so – auf einen Zug! Nun stütze ich Dich, Lisbeth nimmt Dich auf der andern Seite, versuch’s nur, wir gehen ins Schlafzimmer und Du schläfst noch ein Stündchen – ja, ich bleibe bei Dir – bleibe an Deinem Bette sitzen, damit ich zur Hand bin, wenn Du etwas brauchst!“

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 47, S. 789–795

[789] Nur langsam erholte sich Geheimrat Brückner von dem schweren Schlag, der ihn mit der erneuten Niederlage des Sohnes im Examen so unerwartet getroffen hatte. Dagegen wußte seine Frau aus Liebe und Rücksicht für den leidenden Gatten ihr persönliches Empfinden über die Demütigung bewundernswert zu beherrschen. Die Sorge, daß dieser sich dem Gram zu sehr hingeben könnte, ließ sie Trost- und Milderungsgründe finden, die ihr sonst nie gekommen wären, und die Fassung, mit der sie das über sie Verhängte trug, spornte ihn wieder an, sich kräftiger zu zeigen, als er war.

Doch was sollte nun werden? Nach diesem Mißerfolg war der Lebensberuf, für welchen Leo sich bisher vorbereitet hatte, für ihn verschlossen – mit achtundzwanzig Jahren!

Er mußte sich nun für einen anderen Beruf entscheiden, würde natürlich mit unendlichen Schwierigkeiten zu thun haben, zunächst von seinen Bekannten zu den entgleisten Existenzen gezählt werden und vielleicht mit der Zeit auch wirklich eine werden.

Das dachten sie beide mit vor Schmerz bebendem Herzen, aber aus Rücksicht füreinander dachten sie es nur. Man vermied noch immer eine gründliche Aussprache, man berührte das Thema nur flüchtig und entschuldigte sich gewissermaßen voreinander, wenn ein Wort Zeugnis gab von dem, was all ihr Denken beschäftigte.

Endlich, es mochte fast vierzehn Tage, seit jene traurige Botschaft ins Haus gekommen, her sein, sagte der Geheimrat eines Morgens in Anwesenheit Lisbeths zu seiner Gattin:

„Deine Einstimmung vorausgesetzt, Käthchen, habe ich gestern an Leo das Geld zur Rückreise geschickt. Danach wird er also in den nächsten Tagen eintreffen. Sei so gut, sein Zimmer ordnen zu lassen.“

„Leo – zu uns zurückkehren? – Das ist doch nicht Dein Ernst, lieber Mann?“

„Ja, mein völliger Ernst. Er ist jetzt über ein Jahr fort, und es hat absolut keinen Zweck, daß es noch länger geschieht; unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist der einzig richtige Platz für ihn hier, bei uns. Ich kann mir den Vorwurf nicht ersparen, daß, wenn ich seine Rückkehr nach dem ersten Examen durchgesetzt hätte, das Resultat des zweiten vermutlich ein anderes gewesen wäre.“

Er schwieg, denn er sah seine Frau an, welche heftig errötet war, und empfand [790] mit Reue, daß sie aus seinen Worten eine Anklage gegen sich heraushören könnte, während er doch nur an den bezüglichen Wunsch und die dringende Bitte Leos gedacht hatte.

„Käthchen,“ sagte er sanfter, „bedenke, wie soll ich es denn einrichten? Was hat dieses Jahr in Berlin mich nicht gekostet! Es ist ganz unmöglich, wenn ich nicht in Schulden kommen soll, das so weitergehen zu lassen. Und dann, wir müssen doch zusehen, was für seine Zukunft geschehen kann! Dieses Faulenzerleben, das er seit die Prüfung vorüber dort führt, muß nun entschieden ein Ende finden!“

Sie kräuselte bei seinen letzten Worten spöttisch die Lippen, doch verhinderte die Sorge, ihn zu erregen, auch jetzt, daß sie ihm direkt widersprach.

„Du hast mir einen Besuch bei Elfe erlaubt, Erich,“ sagte sie nach kurzem Besinnen, „wenn Du damit einverstanden bist, möchte ich also übermorgen abreisen.“

„Aber, Frauchen, das könntest Du thun?“ – sagte der Geheimrat, der aufgestanden war, und blieb vor ihr stehen, sie verwundert betrachtend.

„Es ist durchaus kein Grund vorhanden, daß ich es nicht könnte,“ erwiderte sie. „Ehrenpforten werden wir für den Heimkehrenden doch wohl nicht errichten, und ich denke, ihm müßte es lieber sein, je weniger er hier zum Empfang vorfindet.“

Eine schwere Wolke lag auf der Stirn des Gatten, er wandte sich schweigend ab und nahm seinen Gang wieder auf.

„Mama, Du kannst unmöglich Papa den Aufregungen der ersten Begegnung mit Leo allein überlassen,“ flüsterte Lisbeth ihr zu, „Du siehst doch, wie es ihn bewegt!“

Ein stummer Kampf mit ihren Gefühlen, dann sagte sie:

„Wenn es Dir übrigens lieber ist, Erich, kann ich die Abreise auch hinausschieben. Sagen wir, fünf bis sechs Tage nach Leos Rückkehr, dann aber – nicht wahr, wünschest Du es selbst, daß ich Waldens Bitte erfülle? Er ist so dringend damit und hoffte doch auch, Du kämest mit. Vielleicht ist dies zu ermöglichen? Eine Zerstreuung wäre doch auch Dir so nützlich!“

Der Geheimrat blieb vor ihr stehen und reichte ihr, erleichtert aufatmend, die Hand.

„Habe Dank, daß Du meine Bitte erfüllst, noch ehe ich sie ausgesprochen! Wenn Du uns noch eine Woche schenken willst, sind wir gewiß alle befriedigt, und ich dränge dann selbst zur Abreise. Und wenn ich Dich leider auch jetzt nicht begleiten kann, so will ich zusehen, daß ich mich später auf ein paar Tage frei mache, um Dich abzuholen. Morgen werde ich also an Walden schreiben und Dich anmelden.“

Wieder gingen ein paar Tage hin, dann schlug die Stunde, der alle Drei mit gleichem Bangen entgegengesehen hatten. Leo war angekommen und sofort in seines Vaters Privatbureau getreten, ohne Lisbeth, die ihm entgegeneilte, bemerkt zu haben. Als diese dann in der Absicht, den Bruder dort zu begrüßen, ihm folgte, hörte sie vor der Thüre schon ein so lebhaft geführtes Gespräch zwischen Vater und Bruder, daß sie von ihrem Vorhaben abstand und ihr Stübchen aufsuchte, in welches er dann auch nach einiger Zeit, noch im Reisemantel, eintrat.

Die Fassung, die sie so lange hatte bewahren müssen, verließ sie, als er sie in seine Arme schloß, und die Thränen flossen ihr plötzlich über die Wangen.

Er runzelte finster die Stirn. „Was, auch Du von Sentimentalität überströmend? Das wäre ja zum Verzweifeln! Das beste Mittel, mich zu verjagen! Ihr thut ja wahrhaftig, als käme der verlorene Sohn nach Hause. Na, so weit sind wir noch nicht, ich werde die Scharte schon auswetzen. Was ist’s denn mit Mama? Papa ist ja in einer Weise ängstlich, als ob man allen Ernstes für sie zu fürchten hätte! Und zu Waldens will sie – ob das gerade der Platz für ihre Erheiterung ist? Komm, setze Dich zu mir, Lisbeth, Du mußt mir viel erzählen! Ich habe wahrhaftig nicht oft an die Krähwinkelei hier gedacht, es wird mir Mühe machen, mit ihr von neuem zu rechnen!“

Nach einer halben Stunde trat er in das Wohnzimmer, in welchem die Frau Geheimrat am Fenster mit einer Handarbeit beschäftigt saß.

Die Aufregung, in der sie sich seit seiner Ankunft befunden, ließ sie noch bleicher erscheinen als sie es in dieser Zeit immer gewesen war, so daß Leo wirklich bei ihrem Anblick erschrak. Dasselbe Gefühl erfaßte sie, als sie in sein mageres, durchfurchtes Gesicht sah, welchem die letztverlebte Zeit ihren Stempel sehr merklich aufgedrückt hatte. Sie machte eine Bewegung, als ob sie sich erheben wollte – sonst war sie nach einer kurzen Trennung ihm stets mit geöffneten Armen entgegen geflogen – und als wollte er sich den Kontrast mit dem Jetzt nicht zu deutlich vorführen lassen, trat er rasch ganz dicht an sie heran, um sie am Aufstehen zu hindern.

„Erlaube, Mama, daß ich Dich begrüße,“ sagte er, ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen. „Papa sagt mir, Du seiest leidend, schliefest schlecht und hättest viel mit Herzklopfen zu thun. Das thut mir sehr leid! Laß uns also Deinen körperlichen Zustand berücksichtigen und – uns alle Erörterungen sparen. Es hilft ja doch nichts! Von Walden habe ich Dir die herzlichsten Grüße zu sagen – ein prächtiger Mensch! Man lernt ihn jetzt erst kennen, ich wenigstens habe ihn früher durchaus falsch beurteilt. Elfe habe ich in letzter Zeit nicht gesprochen, sie geruhte nicht, mich zu empfangen. Walden sieht übrigens wahrhaft überglücklich Deinem Besuch entgegen; er hofft durch ihn auf einige ruhige und behagliche Wochen. Für ihn und seine Häuslichkeit giebt’s jetzt nur eine Frage: Diner, Souper oder Ball?“

„Wie unvernünftig“, sagte die Mutter, „jetzt gerade, wo Elfe Schonung so nötig hat!“

Leo zuckte die Achseln.

„Walden denkt darüber gerade wie Du, ist aber Elfe gegenüber zu schwach, um seinen Willen durchzusetzen. Sie wird in der Gesellschaft so furchtbar verwöhnt: alt und jung reißt sich mit gleichem Eifer um sie, beim Kriegsminister ist sie enfant gâté, man beabsichtigt sogar, Waldens alten Namen benutzend, sie bei Hofe vorzustellen –“ Die Frau Geheimrätin errötete vor Genugthuung und richtete sich straffer in ihrem Lehnstuhl auf. „Da giebt es für sie keine anderen Rücksichten.“

„Für ein so junges Wesen ist es unter diesen Umständen schwer, die Grenze zu finden,“ meinte sie dann nach einer Weile entschuldigend, „da muß ihr Gatte sie leiten und sie aus Rücksicht auf ihr körperliches Befinden zurückhalten. Mir scheint, Walden ist da wohl nicht auf der Höhe seiner Aufgabe.“

„Er klagt sehr über den Gesellschaftstrubel und mehr noch über die Unvernunft, mit der Elfe jede Rücksicht auf ihren Zustand vernachlässigt. Seine einzige Hoffnung bist Du, um durchzusetzen, daß nunmehr wenigstens die Wünsche des Arztes Beachtung finden.“

„Himmel, was für eine Schwäche!“ rief die Frau Geheimrat ganz entrüstet. „Aus dieser übergroßen Verliebtheit kommt doch in der That nichts heraus! Elfe ist so leicht zu lenken, wenn sie einen festen Willen über sich fühlt. Es scheint mir wirklich, als ob ich dort jetzt am nötigsten sei.“

Damit endete das erste Zusammensein zwischen Mutter und Sohn. Nicht eine Silbe sagte Frau Brückner über den Schmerz, den er ihr gemacht hatte, aber auch nicht ein Wort hatte die früher so liebevoll besorgte Mutter für seine Enttäuschung und sein Ergehen gehabt.

Er ging von ihr fort, innerlich tiefer gekränkt und verletzt, als er je geahnt, daß er es werden könnte, und dieses Gefühl wurde er nicht mehr los, auch wenn er sich nach ihrem Aussehen die Wunde vorstellte, die sein Mißerfolg ihr geschlagen hatte. Die ganzen Tage blieb er nun für sich allein, nur zu den Mahlzeiten kam er ins Familienzimmer und verließ dieses, sobald er, ohne unhöflich zu sein, es konnte. Lisbeth ging zuweilen mit ihrer Handarbeit zu ihm auf sein Zimmer und versuchte durch ihre Unterhaltung, ihn zu zerstreuen, aber sie fand ihn von Tag zu Tag verdrossener und unfreundlicher, so daß sie auch schon die Stunde der Abreise ihrer Mutter herbei sehnte, welche diesem unerquicklichen Zusammenleben ein Ende machte. Später, so hoffte sie, würde sich das schon wieder ausgleichen. Wie alle, so mußte doch auch die Mutter sehen, wie sehr Leo litt, und das Mitleid mit ihm, der in diesem Fall doch der Bedauernswerteste war, würde dann ihr Herz für den, der ihr von ihren Kindern immer das liebste gewesen, wieder erwärmen!

Am Abend vor der beabsichtigten Reise, als sie eben den Thee eingenommen hatten und Leo sich erhob, um sich zurückzuziehen, wandte sich die Geheimrätin plötzlich an ihn: „Bleibe noch ein wenig da, ich will mit Papa Deine Angelegenheit erwägen. Es scheint mir, als wäre es Zeit, die nötigen Schritte zu thun, die Dir den Weg für einen anderen Lebensberuf öffnen. Ich habe [791] Erkundigungen nach allen Richtungen eingezogen: ich weiß nun bestimmt, nachdem Du das Examen auch das zweite Mal nicht bestanden hast, ist Dir jedes höhere Civilfach verschlossen. So bleibt nur eins: Du wirst Offizier!“

„Offizier!?“ riefen Vater und Sohn wie aus einem Munde, und der Geheimrat setzte sanft abwehrend hinzu: „Aber, Käthchen, Käthchen, bedenke doch!“

„Es ist alles bedacht,“ sagte sie, „ich habe schon verschiedene Briefe deshalb geschrieben, verschiedene recht schwere Gänge deshalb gemacht.“ – Leos Stirn rötete sich. – „Und ich werde jetzt in Berlin auch den schwersten thun und persönlich den Kriegsminister aufsuchen. Elfe muß mich begleiten – dann werden wir es wohl durchsetzen, daß er unser Anliegen an höchster Stelle befürwortet.“

„Aber, Käthchen“ – unterbrach der Geheimrat sie wieder, während Leo die Lippen zusammendrückte, als müßte er gewaltsam die Worte zurückhalten, die sich ungestüm hervor drängen wollten.

„Ich weiß alles, Erich, was Du sagen willst: Du hältst es für unmöglich; aber wenn auch äußerst selten, so ist es doch schon dagewesen, daß in Friedenszeiten ein Reserveoffizier zum stehenden Heere übernommen wurde, und warum sollte bei den Verbindungen, die wir haben, um unsretwillen nicht auch zu gunsten Leos so verfahren werden, da alle Welt es weiß, welches Unglück wir mit unserem einzigen Sohne gehabt haben?“

„Ja, ja, Frauchen, wir könnten vielleicht – ich sage vielleicht – sicher ist es mir gar nicht – dies Ziel erreichen, aber denke einmal – was ist das für eine Stellung? Er käme natürlich als jüngster Secondelieutenant ins Regiment, jeder achtzehnjährige Junge, der eben erst das Kadettenhaus verlassen, ist ihm vor –“

„Was thut das? Er trägt seine Anciennetät nicht an der Stirn! Und es ist doch immer der einzige Platz, an dem er sich wieder rehabilitieren kann, an dem er für die Gesellschaft nicht mehr unmöglich ist.“

„Na, Käthchen, so ist das doch auch nicht,“ sagte der Geheimrat, dem die immer tiefer werdende Falte auf der Stirn Leos ein qualvoll bedrückendes Gefühl verursachte, „es giebt genug Stellen, die von angesehenen Männern bekleidet werden, in welche er kommen könnte. Sieh einmal, wenn er zum Beispiel Direktor einer Aktiengesellschaft würde –“

„Eine Art Kommis –“ sagte mit geringschätzigem Ton die Frau Geheimrat.

„Durchaus nicht – Frauchen, ich bitte Dich! – Und dann bieten Provinzial- und Kommunalverwaltung noch genug annehmbare Aemter. Welche Aussichten hat er als Offizier? Weiter als zum Hauptmann käme er nie, er hat denn doch längst die dafür angenommenen Jahre überschritten und dann –“

„Nun, er muß natürlich, sobald er ernannt ist, sofort reich heiraten,“ unterbrach sie, über Leo hinweg, den Gatten. „Das versteht sich von selbst, daß es der pekuniären Opfer für Dich jetzt genug sind. Aber gerade als Offizier wird ihm das sehr leicht sein – ich habe das wohl erwogen.“

„Nun ja, natürlich, wir wollen Deinen Vorschlag überlegen – Du kannst auch später mit dem Kriegsminister Rücksprache nehmen – aber vorerst, meine ich, lassen wir alle derartigen Schritte. Leo ist ja so herunter, mag er sich erst erholen, körperlich und im Gemüt kräftigen – hernach thun wir alle, was in unseren Kräften steht!“

Sie schwieg und wandte gekränkt den Kopf ab.

„Du fährst morgen um neun Uhr, Mama,“ fragte Leo mit merkwürdig heiser klingender Stimme, „erlaubst Du, daß ich Dich zur Bahn begleite?“

„Ich danke,“ lehnte sie ab, „Papa hat mir versprochen, mitzufahren, und für drei ist der Wagen unbequem.“

„Aber die Besorgungen dabei, ich könnte ja vorher zu Fuß –“

„Nein – nein, ich danke! – Schmidt hat beim Kutscher Platz, und so hat Papa mit dem Billet oder Gepäck keine Mühe.“

„So gestatte, daß ich Dir eine glückliche Reise wünsche,“ sagte Leo, drückte einen kalten Kuß auf ihre kalte Hand und ging, den Vater und Lisbeth grüßend, zur Thür hinaus.


12.

In einem in der Bellevuestraße in Berlin gelegenen neuen Hause saßen Frau Geheimrat Brückner und ihr Schwiegersohn, Herr Regierungsrat von Walden, in dem überaus elegant und geschmackvoll eingerichteten Speisezimmer am Kaffeetische.

Es war zehn Uhr. Man hatte ungeduldig und immer ungeduldiger auf die junge Hausfrau gewartet, und schließlich, weil Herr von Walden auf das Bureau gehen wollte, mußte man sich wohl oder übel entschließen, ohne sie mit dem Frühstück zu beginnen.

Die Frau Schwiegermama goß das duftige Getränk in die Tassen, strich die Brötchen für ihn und stellte die Honigschale vor seinen Platz; dabei plauderte sie in anscheinend sehr heiterer Weise von allen möglichen harmlosen und unbedeutenden Vorkommnissen, womit sie bei ihrem Manne stets den Erfolg erzielte, seine Laune zu verbessern. Aber hier versagte dieses Mittel, und die Schatten auf dem blassen, in diesem Jahre merklich gealterten Antlitze hoben sich nicht. Immer, trotz scheinbarer Aufmerksamkeit, lauschte er nach den Nebenräumen, und als nun endlich nebenan ein leichter Schritt hörbar wurde, sprang er mit jugendlicher Elastizität auf, öffnete die Thür und begrüßte seine Frau mit einem so heiteren Gesicht, als hätte nie auch einen Augenblick der Aerger über ihre Rücksichtslosigkeit seine Stimmung getrübt.

„Wie geht es Dir, Liebste?“

„Schlecht. – Die Wohnung ist zu unruhig. Seit zwei Stunden reitet, walzt und trompetet es in der Kinderstube über meinem Kopfe.“

Die Frau Geheimrat zog die Uhr und hielt sie lächelnd ihrer Tochter hin.

„Wenn es erst seit zwei Stunden ist, Elfe, kannst Du von Glück sagen; sonst Pflegen solche kleinen Wesen nicht bis halb neun Uhr zu schlafen. Setze Dich jetzt zu Deinem Manne aufs Sofa, ich mache Dir ein Brötchen mit dem neuen Honig zurecht. Sieh nur, wie lecker er ist!“

„Ach – ich bin so appetitlos!“

Sie lehnte sich an die Polster und Walden schob ihr sorgsam ein Kissen in den Rücken und eines unter die Füße, während die Mutter den Kaffee einschenkte, die Brötchen strich und alles vor sie hinstellte.

Wie eine ihr zukommende Huldigung empfing die junge Frau die zärtliche Sorge der beiden. Der Mutter dankte noch ein Lächeln, ein Kopfnicken; aber von dem Bemühen ihres Gatten nahm sie weiter keine Notiz, als daß sie ein „Nicht so hoch“, „Mehr rechts“ oder „Das braune Kissen ist mir bequemer“ – ihm zuwarf.

Mit halbgeschlossenen Augen drückte sie sich in die Sofaecke und schien nicht die Absicht zu haben, an der Unterhaltung teilzunehmen.

Das verflossene Jahr hatte ihre Schönheit erst zur vollen Blüte entfaltet, die Gestalt zeigte entwickeltere Formen, das zartgeschnittene Gesicht eine rosige Färbung und aus dem türkisch gemusterten, seidenen Schlafrocke guckte der volle Hals in geradezu blendender Weiße hervor. – Walden ließ seine Blicke mit ganz unverhülltem Entzücken auf ihr ruhen, und wenn er zur Mutter hinüberblickte, schienen seine Augen zu fragen: kann man solchem liebreizenden Wesen wohl zürnen, selbst wenn man von ihm mißhandelt wird?

„Willst Du uns nicht von dem gestrigen Souper erzählen, Elfe,“ fragte er dann. „Hast Du Dich amüsiert? Friedrich sagt, Du wärest erst um zwei Uhr nach Hause gekommen.“

„Wenn Du den Diener schon ausgefragt hast, brauche ich mich mit dem Reden ja wohl nicht weiter anzustrengen.“

„Aber, Elfe,“ sagte die Frau Geheimrat in tadelndem Ton, „ich finde, Dein Gatte verwöhnt Dich zu sehr.“

„Es ist unausstehlich,“ fuhr jene auf, „dieses Ausholen der Dienstboten! Er weiß es doch, daß ich, nach Verabredung, von Thorbergs zurückgebracht werden sollte. Ist man denn sein eigener Herr? Wer, wie ich, fast immer ohne den eigenen Mann ausgehen muß, hat nicht zu bestimmen, wann er heimfahren will. Wozu also der Vorwurf über das späte Ausbleiben?“

„Wer macht Dir denn einen Vorwurf, Liebchen? Warum solltest Du nicht dort bleiben, so lange als Du Dich amüsierst? Ich freue mich, daß Du es thust, und bedauere, daß mein Amt mich zu sehr in Anspruch nimmt, um immer mit Dir zu gehen, aber Du warst ja gut versorgt unter dem Schutze der alten Herrschaften.“

„Eine verheiratete Frau hat keinen Schutz nötig und ich werde auch nie mehr mich in dieses Abhängigkeitsverhältnis [794] Wiedersehen vorstellt – vier Wochen ist eine lange Zeit! Ach, sie kann dem Himmel doch danken, daß ihr eine so liebewarme Heimat wurde!

Sie öffnet nun eilig Schrank und Kommode und legt ihre Sachen für den Koffer zurecht, und je weiter sie damit kommt, je freier wird ihr ums Herz. Ihre Gedanken sind ganz dort, sind bei ihrem Gatten in dem eigenen, ihr so unendlich lieben Heim, und nun spinnen alle Verhältnisse, die sie dort gelassen, auch bereits ihre Fäden um sie. Ob die Frau Oberpräsident sie wohl sehr vermißt hat? Sie hat sie nach jenem unglücklichen Tage, an dem die Nachricht von Leos abermaligem Mißerfolg ihr zuging, an dem ihres Gatten Unwohlsein sie so tief erschreckte und aufrüttelte, nur einmal eine Viertelstunde in ihrem Salon gesprochen, als jene kam, um nach ihr zu sehen – gewissermaßen eine Kondolenzvisite zu machen. Darüber sind nun sechs – nein, fast sieben Wochen vergangen! Der Kummer ist nicht geringer geworden, wohl aber die Aufregung, die er erzeugte; man kann wieder ruhiger denken und dem anfänglich ihr so furchtbar peinlich scheinenden Begegnen mit den Bekannten nun mit Fassung entgegensehen! In vielen Familien passiert so etwas Niederdrückendes – viele Eltern sehen die Hoffnungen zerstört, die sie für ihre Kinder hegten, nicht jede Blüte reift zur Frucht aus! Aber daß sie ihren Mann in dieser Zeit hat allein lassen können, daß sie es nicht als Pflicht empfunden hat, ihm diese bitteren Täuschungen zu erleichtern – sie versteht das jetzt gar nicht! Wenn nur erst morgen wäre, wenn sie nur erst im Coupé säße – sie hat plötzlich eine brennende Sehnsucht nach ihm, ein ungestümes Verlangen nach seiner Nähe, seinem Trost, seinen besänftigenden Worten – auch danach, ihm zu zeigen, daß sie jetzt ruhiger über die über sie verhängte Prüfung denkt, daß sie mit mehr Würde ihr Schicksal trägt!

„Mama, was bedeutet das?“ Elfe ist in ihr Zimmer getreten und sieht bei dem Anblick des offenen Schrankes und der geleerten Schiebladen sie überrascht und erschrocken an.

„Was bedeutet das, Mama? Du packst? Zu welchem Zweck?“

„Nun, genau zu dem Zweck, zu dem man sonst zu packen pflegt: ich will morgen heimreisen.“

„Morgen – schon morgen?! Du hattest mir noch einige Wochen versprochen und Papa schrieb mir noch gestern, er überläßt diese Angelegenheit ganz Deiner Bestimmung!“

„Papa ist lange genug allein gewesen, Elfe.“

„Nein, Mama, das ist es nicht. Noch gestern hast Du nicht daran gedacht! Es ist etwas anderes, sage mir nur die Wahrheit! Es gefällt Dir bei uns nicht! Aergert Walden Dich? Hat er es an etwas fehlen lassen –“

„Walden?“ unterbrach die Geheimrätin sie und eine dunkle Röte stieg in ihr Gesicht. „Walden – mich ärgern – wie wäre das möglich? Er könnte, meine ich, gar nicht liebenswürdiger, aufmerksamer und rücksichtsvoller sein! Aber Du hast recht,“ setzte sie plötzlich in verändertem Tone hinzu, „Du hast recht, er ist die Ursache dieser beschlossenen Abreise. Ich schäme mich vor ihm, Elfe, und wenn er auch viel zu zart ist, ein Wort darüber zu sagen, ich fühle es, daß er von mir denken muß: wie hast Du Deine Tochter erzogen, daß sie in dieser Weise, wie heute beim Frühstück, zu ihrem Gatten spricht!“

„Aber, Mama!“

„Elfe, hast Du jemals bei uns zu Hause solche Scenen erlebt, wie Du sie täglich aufführst?“

„Aber, Mama, Du regst mich auf!“

„Hast Du jemals, Elfe, es gesehen, daß ich Deinem Vater in so achtungsloser Weise begegnet bin, wie Du es Dir Deinem guten Manne gegenüber erlaubst?“

„Nein, aber Papa ist doch auch ein anderer Mann!“

„Inwiefern? Es sind beides Ehrenmänner, es sind beides Männer von seltenen Vorzügen des Herzens und des Geistes, und Du hast, wie ich, das Glück, von diesem Manne geliebt zu werden. Aber solch ein Betragen hätte sich Dein Vater nie und nimmer von mir gefallen lassen!“

„Mein Gott, was habe ich denn gesagt?“ rief die junge Frau ganz beleidigt, „ich hatte schlecht geschlafen, war verdrießlich, da werde ich doch wohl –“

„Die Schale der üblen Laune über den Gatten leeren können, nicht wahr, so meinst Du es? Schäme Dich, daß Du so etwas sagst! Je näher sich Menschen stehen, desto zarter müssen sie miteinander umgehen! Und jeder Frau müßte das, wenn nicht die Liebe, doch die Klugheit sagen, denn die Frau ist in einer unfriedlichen Ehe in erster Reihe die Verlierende. Dem Manne gehört die ganze Welt. Bietet ihm sein Haus nicht, was er erhoffte, dann giebt’s außerhalb desselben tausend anderes, was ihm Ersatz für das versagte Eheglück sein kann. – Aber die Frau – – weißt Du, was eine Frau ist, die sich die Liebe ihres Mannes nicht zu erhalten versteht? Seine Haushälterin ist sie, weiter nichts! Erst sein Herz, erst seine Liebe giebt ihr im eigenen Hause die Stellung an seiner Seite. Und ob sie Sammet und Seide und Brillanten trägt, ob sie im Ballsaal die Königin ist, in ihrem Hause ist sie nichts als das, wozu die Achtung und die Zuneigung ihres Gatten sie macht! Hält er sie hoch, so steht sie hoch, läßt er es daran fehlen, so ist sie in der That erniedrigt. Was meinst Du, wie lange die Liebe Waldens derartigen Auftritten standhalten wird, und hast Du sie verspielt, dann wirst Du Dich zurücksehnen nach dem verscherzten Gut.“

„Du hast leicht reden, Mama, Du, die Du Deinen Mann so zärtlich liebst!“

„Auch hierbei sind wir in dem gleichen Fall. Oder hättest Du den Mut, einzugestehen, daß Du aus einem anderen Grunde sein Weib wurdest?“

„Ich glaube doch, daß ich diesen Mut habe, Mama. Ich will niemand einen Vorwurf machen, aber daß ich so oft äußere Ehre und Reichtum als die wichtigsten Ziele unseres Strebens schildern hörte, das hat mich verlockt. Ach, Mama, und wie wenig ist das alles wert!“

Der bisher so sichere Ton der Mutter stimmte sich merklich herab, als sie jetzt einwand:

„Du schätzest nicht, was Du besitzest. Rang und Reichtum sind ein großer Vorzug – strebe danach, ihn mit den Gütern zu vereinen, die Du vermissest! Denke daran, Elfe, welche glückliche Braut Du warst, wie Du gar nicht Deine Hochzeit erwarten konntest, und jetzt nach einem Jahre –“

„Ach, das ist natürlich, was weiß ein Mädchen denn von der Ehe,“ unterbrach Elfe sie. „Ich verlangte nach der Hochzeit, weil Walden mir tausend Freuden versprochen hatte, die nach derselben mir werden sollten. Ich dachte an Italien, an die zauberischen Feste in der Residenz, an die Erlangung alles dessen, was mein eitles Herz begehrte –“

„Nun, und hat er nicht Wort gehalten?“

„O gewiß, nur die Freude an allem war hin, als ich es empfing. Was nützt nur alles, wenn ich mir nicht mehr selbst gehöre! Wie verkauft kam ich mir immer vor!“

Ein Schauder lief über ihren Körper und sie schlug die Hände vor das erglühende Gesicht.

„Aber, Elfe, dem geliebten Manne anzugehören, sollte Dich glücklich machen!“

„Ja, dem geliebten,“ sagte die junge Frau mit starker Betonung, „in dem einen Worte liegt eine Welt der Unterscheidung.“

„Ich kenne Dich gar nicht wieder, Elfe. Dein Zustand macht Dich grüblerisch. Arbeite dem entgegen und traue meinem Worte: in ein paar Monaten denkst Du anders, verstehst diese Reflexionen gar nicht mehr! Eine ehrbare Frau liebt immer den Vater ihres Kindes. Die kleinen Hände werden euch vereinen. Das ist ein Band, fester als jedes andere in der Welt.“

Ueber Elfes Gesicht flossen plötzlich die Thränen.

„Ach, Mama,“ rief sie, „wie beneidenswert ist die Frau, die des geliebten Mannes Kind in ihren Armen hält, die ihn in diesem hilflosen Wesen zum zweitenmal liebt – und ich“ – sie weinte heftiger – „ich habe mich auch um dieses Glück gebracht! Ich fürchte mich vor dem Kinde, ich liebe es nicht, mir ist es kein Liebesband – mir ist es eine neue Kette, die mich fesselt!“

Ihr Weinen war in lautes Schluchzen übergegangen, ihr Busen hob und senkte sich stürmisch und ihr Körper zuckte krampfhaft von der Heftigkeit dieses Gefühlsausbruches.

Die Mutter trat zu ihr und hielt sie schweigend umfangen, ohne ihre Erregung hemmen zu können. Da öffnete sich hastig die Thür, Walden trat ein, stutzte bei dem Anblick, der ihm wurde, und indem er die Geheimrätin sanft beiseite schob, schloß er um Elfe seinen Arm, mit der anderen Hand ihren Kopf an seine Brust drückend.

„Was ist Dir, Liebling, bist Du unwohl? Was ist Dir [795] geschehen? Rege Dich doch nicht so auf, es könnte Dir schaden! Aber sage mir nur, warum Du so außer Dir bist!“

Elfe schluchzte immer weiter, ließ aber ihren Kopf geduldig an seiner Brust ruhen, und als er mit Fragen nicht aufhörte, gab sie endlich unter erneutem Weinen die Antwort: „Mama hat mich gescholten. Sie sagt, Du nähmest mir den Scherz von vorhin übel.“

„Mein Himmel,“ sagte er ungeduldig, „wie ist das nur möglich! Wie kannst Du, Mamachen, mich für einen solchen Pedanten halten? Sie spricht ja manchmal ein unbedachtes Wort, das verzogene Kind, aber sie meint es niemals schlimm! Das weiß ich am besten! … Trockne Deine Thränen, Liebchen, ich kann sie nicht sehen – so! … lächle wieder! Mamachen weiß ja, daß Eheleute sich am besten kennen und schnell wieder ausgesöhnt sind, habe nur ein wenig Geduld,“ wandte er sich an die Mutter, „und Du wirst sehen, wie gern sie ein übereiltes Wort wieder gut macht!“

Die Geheimrätin wandte sich weg und zuckte mit einem verächtlichen Ausdruck die Schultern, während Walden, der immer eifriger auf Elfe einredete, sich bemühte, das Tuch von deren Augen fortzuziehen. Aber dieses hatte nur zur Folge, daß sie wieder heftiger schluchzte, als sie die Worte hervorstieß:

„Mama wird hier gar nichts mehr sehen, sie geht ja fort, sie schämt sich über mein Betragen zu Dir, es ist ja alles gepackt – sieh doch nur! Aber – aber – Du bist schuld an allem, und Du mußt sie so lange bitten, bis sie bleibt!“

„Mamachen,“ er drückte Elfe sanft in den Sessel und stand mit gefalteten Händen vor der Mutter, „Du wirst es uns nicht anthun, jetzt uns zu verlassen! Ich sehe die Folgen nicht ab, bei Elfes hochgradiger Erregung. Und wenn ich Dir wert bin, wie Du mich glauben ließest, so lasse mich Dich nicht vergebens beschwören, erfülle meine Bitte und bleibe bei uns!“

„Aber, Kinder,“ rief ganz ärgerlich die Frau Geheimrat, „es ist ja ganz unglaublich, wie alles gleich von euch aufgebauscht wird! Papa ist so lange allein – nur an ihn dachte ich bei dieser Entschließung. Aber, meinetwegen, wenn ihr es durchaus wollt, so bleibe ich noch ein bis zwei Wochen. Du mußt aber auch vernünftig sein, Elfe! Die Sache ist nach Deinem Wunsche erledigt, nun weine auch nicht länger, man kann mit etwas gutem Willen auch dagegen kämpfen. Willst Du Eau de Cologne nehmen, Kind? Laß nur, ich wasche Dir den Nacken und die Stirn!“

„Das Wetter ist so schön, Weibchen – sieh, wie die Sonne scheint – soll ich nicht nach dem Wagen schicken? Wir fahren ein wenig in die Luft, das wird Dir gut thun.“

„Du sagtest erst, Du müßtest ins Bureau,“ antwortete sie, noch immer von Schluchzen unterbrochen.

„Nein, ich gehe nicht, ich bleibe bei Dir. Mein Frauchen geht allem voran. Wir fahren im Tiergarten spazieren und dann besorgen wir uns Billets zum Abend. Wir sind in dieser Woche noch nicht im Theater gewesen – und nach demselben essen wir bei Dressel, da schmeckt es Dir ja immer, nicht wahr? Ist es so gut, ist es Dir recht?“

„Wie Du willst, ich bin mit allem zufrieden.“

„Nun, mein Herz, dann schlage ich vor, wir fahren auch noch bei Gerson vor. Da sah ich gestern am Fenster eine reizende goldgelbe Blouse mit einem Bolero-Jäckchen von Schmelz darüber, die würde meinem Liebchen reizend stehn, was meinst Du, die holen wir uns? Und nun komm’, Schatz, und mach’ Dich flink zurecht für die Fahrt, das soll heute ein schöner Tag werden! Auf Regen folgt immer Sonnenschein.“

Als die Frau Geheimrat am Abend noch ganz warm und erregt von allen den verschiedenen Genüssen, die ihr dieser Tag in der Hauptstadt geboten, ihr Zimmer betrat, lag auf dem Tische ein Brief von Lisbeth, dessen bloßer Anblick schon ihr ganzes Denken wieder der Heimat zulenkte. Was würde darin stehen? Jetzt hatte sie beschlossen, die lebhaft gewünschte Rückreise vorläufig aufzugeben, von dem so friedlich verlaufenen Tag zu der Hoffnung bekehrt, daß unter ihrem Einfluß sich das Zusammenleben des Waldenschen Ehepaares noch ganz befriedigend gestalten könne, und sie mochte keinesfalls eine Disharmonie durch ihre Abreise hinein bringen. Ihr heute gegebenes Versprechen, noch ein bis zwei Wochen hier zu bleiben, wollte sie halten; bis dahin würde Elfe sich drein gefunden haben, daß es ihre Pflicht sei, die Rücksicht auf ihren Gatten für ihr Thun und Lassen als maßgebend gelten zu lassen. Heute war doch Elfe wirklich ganz verständig gewesen – sie selbst hatte recht das Gefühl gehabt, als ob ihre Ermahnungen auf fruchtbaren Boden gefallen wären. Wenn doch diese Hoffnung sie nicht täuschte, wenn das Schicksal ihr diese Sorge vom Herzen nähme! Was wollte Elfe denn eigentlich? Konnte ein Mensch es noch besser haben? Dieser Reichtum hier, der es ihr gestattete, alles zu besitzen, wonach sie Verlangen trug, und jeden Wunsch, ja, jede Laune selbst berücksichtigt zu sehen – dann die Aussichten, die Walden für die Zukunft hatte! Stand er bei seinen Vorgesetzten doch so hoch angeschrieben, daß der Minister selbst ihr neulich gesagt hatte, ihrem Schwiegersöhne stünde eine schnelle Beförderung in seinem Amte bevor! Endlich das Ansehen, das seine Familie als eines der ältesten Adelsgeschlechter hier sogar in den vornehmsten Kreisen genoß! Wirklich, es war geradezu lächerlich, wenn Elfe sich unglücklich fühlen wollte! Aber es war ja auch nur ihr Uebelbefinden, das sich auf diese Weise äußerte, und wenn man sie etwas energisch anfaßte, dann besann sie sich doch, wie man ja heilte gesehen hatte, leicht auf ihre Pflicht!

Unter diesen Erwägungen hatte sie den Brief geöffnet und den Anfang überflogen, der einige Fragen ziemlich flüchtig beantwortete, dann las sie langsam und halblaut vor sich hin:

„Ich wollte Dich eigentlich in dieser Erholungszeit, die Du Dir jetzt gönnst und die Dir auch so nötig war, nicht durch die Mitteilung beunruhigen, daß ich es für Papa doch sehr wünsche, Du kämest bald zurück. Er hat heute seine alljährige Revisionsreise angetreten, die zwölf bis vierzehn Tage beanspruchen wird – könntest Du es nicht einrichten, daß er bei seiner Rückkehr Dich schon zu Hause findet? Du weißt, wie sehr er Dich stets vermißt, und wenn er es Dir auch nie geschrieben hat und ich auf seine Anordnung es nicht schreiben durfte, diesmal ist es mehr als je gewesen, denn der Kummer um Leo drückt ihn sichtlich darnieder. Es ist auch gar zu ungemütlich bei uns. Leo wird von Tag zu Tag finsterer und schweigsamer, er geht fast nie mehr aus, sitzt in seinem Zimmer und schreibt Briefe, und die Antworten, die er darauf bekommt, machen ihn noch verstimmter. Wenn er nur mit sich reden ließe; alle Menschen sagen es mir, es stünde gar nicht so schlimm um seine Zukunft, er könnte sich immer auf die vorzüglichen Zeugnisse, die er von seinen hiesigen Vorgesetzten hat, berufen. Aber er ist so empfindlich und so verbittert; wenn ich ihm mit einem Vorschlag komme, fragt er allemal, ob er schon zu lange hier sei.

Wie Papa darunter gelitten, kannst Du ermessen, und so sehr ich mich bemüht habe, den Ausgleich herzustellen, es ist mir schlecht genug gelungen! Dies und manches andere lastet auch auf meinem Gemüt.

Papa hat Dir wohl geschrieben, daß ich in vergangener Woche meine liebe Freundin Gertrud Römer durch den Tod verloren habe. Sie war noch so jung und lebte so gern, da glaubt man es kaum, daß man ihr Scheiden jemals verwinden kann. Ganz unvorbereitet traf uns dasselbe nicht. Der Arzt hatte zu Tante Römer gesagt, daß es das letzte Stadium der Schwindsucht sei, aber wenn sie auch täglich mehr verging, sie war außer Bett, war immer unter uns und immer gleichmäßig freundlich und hoffnungsvoll. Man konnte also nicht ahnen, daß ihr Ziel so kurz gesteckt war. Am letzten Abend ihres Lebens saßen wir noch alle beisammen und, wie das so kommt, wir sprachen von unserer Kinderzeit und sie war unerschöpflich in Erinnerungen an allerlei scherzhafte und fröhliche Vorgänge und lachte wiederholt herzlich. Dann beim Abschied küßte sie mich innig und wiederholte mehrmals: ,Wie glücklich ist doch mein Leben gewesen!‘ – – Es waren dies die letzten Worte, die ich von ihr hörte, denn in der Nacht bekam sie einen heftigen Blutsturz, und als man mich rief, fand ich sie schon bewußtlos, und nach wenigen Stunden ging sie hinüber.“

Die Frau Geheimrat ließ die Hand, die den Brief hielt, sinken – auch das noch! – auch noch diesen Kummer hatte ihr Mann mit Lisbeth zu tragen gehabt, denn daß diese sich ganz demselben hingegeben haben würde, das wußte sie, sie kannte ja Lisbeths zärtliche Freundschaft für Römers! – Und Leo, welche Zukunft erwartete ihn? Ach, was war aus ihrem sonnigen, heiteren Heim geworden! –

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 48, S. 805–808
[805]
13.

Ein schneeloser Wintertag. In dunkeln Wolken hängt der Himmel über der dunkeln Erde, und der Wind, der durch die dürren Aeste der Bäume und über die kahlen Felder streift, klingt wie ein Aechzen.

In den Parkanlagen vor den Thoren der Stadt schreitet in der Dämmerstunde ein junger Mann langsamen Schrittes auf und nieder. Er hat die Hände auf den Rücken gelegt, den Kopf auf die Brust gesenkt und geht in tiefem Sinnen dahin, wie jemand, der sich sicher fühlt, von niemand beobachtet zu werden und niemand auf diesem Wege zu begegnen. Zuweilen bleibt er stehen, richtet sich straffer auf und seine Lippen murmeln dann leise Worte vor sich hin, heftige, zürnende, aber bald verfällt er wieder in die schlaffe, nachdenkliche Haltung und geht langsam weiter.

Die Gedanken, in welche er versunken ist, scheinen ihn so völlig von der Außenwelt abzuziehen, daß er gar nicht bemerkt, wie [806] eine Dame auf dem schmalen Waldpfade ihm entgegenkommt. Als sie schon dicht vor ihm ist, fährt er auf und greift, während er eine ausweichende Bewegung macht, wie mechanisch nach dem Hute; dann erst, als sie den freiwerdenden Weg nicht benutzt, sondern ihre zögernden Schritte noch verlangsamt, fällt sein Blick auf ihr Gesicht.

„Ah – Fräulein von Giersbach“ – murmelt er, sie erkennend, und als sie immer noch nicht vorwärts geht: „Wir haben uns lange nicht gesehen, gnädiges Fräulein!“

„Ich habe Sie gesehen, Herr Brückner – gestern, auch vorgestern in diesem Gehölze, und da Sie mich niemals bemerkten, faßte ich den Mut, Ihnen einmal ganz nahe vorbeizukommen, denn ich hatte es mir fest vorgenommen, Sie zu sprechen.“

Er sah sie überrascht und verwundert an.

„Mich, gnädiges Fräulein? Ich bin wahrlich jetzt ein schlechter Gesellschafter!“

Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie ruhig:

„Ich hörte es schon von Lisbeth, daß Sie sehr verstimmt sind, aber ich wollte es nicht glauben –“

„Nicht glauben,“ rief er, „nicht glauben – nach dem, was ich durchgemacht habe?!“

„Nein,“ sagte sie fest, „ich wollte es nicht glauben, denn ich kenne Sie doch auch und weiß, daß Sie ein kräftiger Charakter sind; den wirft ein Mißgeschick doch nicht gleich um.“

Er lachte, ein spöttisches, mißtönendes, rauhes Lachen.

„Wenn die Menschen,“ fuhr sie fort, „sich durch eine zertrümmerte Hoffnung, eine erfolglose Anstrengung gleich aus dem Geleise bringen ließen, wo kämen sie dann hin? Sehen Sie doch um sich – weiß nicht jeder Mensch von Mißerfolgen zu erzählen? So wie Sie hat das Leben auch andere angepackt, wenn auch vielleicht auf eine andere Art.“

„Nein,“ rief er heftig und richtete sich hoch auf, „so wie mich hat’s noch keinen getroffen! Ich habe alles mit einem Schlage verloren, die Gegenwart – und die Zukunft! Ich habe die Liebe der Meinen, die Freundschaft meiner Freunde, die Achtung der Menschen verloren und, was das Schlimmste ist, auch den Glauben an mich!“

Eine minutenlange Pause zwischen beiden, dann sagte sie wieder: „Ich habe neulich einmal sagen hören, wen das Schicksal so weich gebettet hat, wie Sie es bisher waren, der hätte es, wenn der Himmel sich einmal verdunkelt, am schwersten, denn er betrachtet beständigen Sonnenschein als sein Recht.“

„Nun, wenn ich unbewußt so etwas Aehnliches wirklich erwartet habe, dann ist mir’s klar gemacht worden, wie thöricht ich war! – Was habe ich nicht erfahren in dieser Zeit!“ Er hatte sich umgewandt und ging nun neben ihr auf dem mit welken Blättern bedeckten schmalen Steg. „In Berlin ging’s noch,“ fuhr er fort, „mein Gott, die Kameraden, die ich dort hatte, trösteten mich, so gut es ging! Man verwies mich mit billigen Trostworten auf mein gutes Glück, und auf dieses rechnete ich auch, wenn es mir auch nicht recht verständlich war, in welcher Form ich es erwarten könnte. Aber hier! Mein Vater ist ein Bureaukrat vom reinsten Wasser, für ihn fängt der Mensch erst mit dem Rat an, und ihm ist es undenkbar, daß jemand glücklich sein kann, der nicht die Anwartschaft auf eine höhere Stellung im Staatsdienste hat. Er weint über seinen verlorenen Sohn und er hat ja auch Grund dazu! Ich war leichtsinnig, habe zu wenig gearbeitet! Ich hätte nicht in Berlin bleiben sollen! Und meine Mutter, die mich geliebt, die mich verwöhnt, die mich vergöttert hat, schämt sich, mit mir auszugehen, schämt sich, überhaupt noch auszugehen! Ich habe kein teilnehmendes Wort von ihr gehört, keinen warmen Blick von ihr empfangen. Jetzt, da der Besitz dieses Sohnes ihrem Stolze nicht mehr schmeichelt, hat er auch ihr Herz verloren, und das jetzt, jetzt, wo ich der Teilnahme, der Liebe so bedürftig bin! Wenn nun die, die mir am nächsten stehen, so empfinden, muß ich mich da nicht selbst aufgeben?!“

„Nein,“ sagte Annie mit zitternder Stimme, aber nach Festigkeit ringend, „das müssen Sie nicht, das dürfen Sie nicht. Fassen sollen Sie sich und die Liebe der Ihrigen, die Sie verscherzt haben, wieder verdienen!“

„Ja, ja, das sagte ich mir zuerst auch. Aber Sie wissen noch nicht alles, kennen nicht die Täuschungen, die ich erfahren, wissen nicht, wie eine Hoffnung nach der anderen scheitert!“ Er erzählte ihr nun von den Schritten, die er gethan, um im Staatsdienst irgendwie unterzukommen, plötzlich unterbrach er sich aber jäh: „Doch wohin gerate ich? Ich weiß in der That nicht, wie ich dazu komme, Ihnen, gnädiges Fräulein, davon zu sprechen. Verzeihen Sie mir! Es ist die absolute Einsamkeit, in der ich lebe, die mich dazu verführt hat! Man schluckt allen seinen Gram und seine Schmerzen so in sich hinein; bis zum Uebersprudeln ist das Herz gefüllt und ein teilnehmendes Wort läßt es überfließen! Ich war so verzweifelt vorhin, als wir uns trafen, ich sehnte mich ordentlich nach dem einzigen Rettungsweg aus dieser Lage, der mir offen gelassen ist.“

„Dem einzigen Rettungsweg?!“ – sie wiederholte langsam diese Worte, und dabei sahen ihre Augen starr in die seinen.

„Fräulein Annie,“ sagte er leise und dringend, „stellen Sie sich einmal einen Menschen vor – ohne Lebenszweck – ohne Hoffnung – verachtet von seinen Mitmenschen verachtet von sich selbst – und dagegen die Ruhe des großen Nichts - -

„Nein,“ schrie sie auf und faßte nach seinem Arme, als könne die kleine, schwache Hand ihn von dein Abgrunde zurückhalten, „nein, das waren Sie nicht, der das sagte – nein, das waren Sie nicht! Solch’ ein thörichter Schwächling, der sich darin gefällt, mit Selbstmordgedanken zu spielen, weil ein paar hochmütige Menschen ihn über die Schulter angesehen haben — das sind Sie nicht! Besinnen Sie sich auf sich selbst und glauben Sie an Ihre Kraft, dann glauben auch andere wieder daran! Es ist unrecht – nein, es ist mehr als das – aus dem Leben sich stehlen zu wollen, da es noch so viele giebt, denen Sie – teuer sind! Wie können Sie an der Liebe Ihrer Eltern zweifeln, da Sie doch sehen, wie diese sich über Ihr Mißgeschick grämen, wie Ihr Papa darunter leidet! – Haben Sie ein Recht dazu, Ihrer Mutter andere Motive unterzuschieben, nachdem sie es doch genugsam gezeigt hat, welche Sorge und welche Liebe sie jederzeit für ihren Sohn gehegt? – Wenn ich denke, wie Papa sich schon um die Schularbeiten unserer Jungen sorgt und wie er sich quält in dem Gedanken, sie könnten etwas versäumen und nicht vorwärts kommen – dann finde ich es nur natürlich, daß Ihre Eltern tief verwundet sind. Erkennen Sie doch darin auch die große Liebe zu Ihnen! Wie glücklich werden Sie alle sein, wenn diese Zeit überstanden ist, wenn Sie sich durch redliche Arbeit einen Lebensberuf errungen haben, der Sie befriedigt! Muß es denn gerade ein Ratsposten sein, Herr Brückner? Können Sie nicht kleiner beginnen? Der Anfang ist vielleicht dann leichter . . . Wissen Sie noch, wie wir im Frühling auf der Bank im Tiergarten saßen?“

„Ja, es war eine schöne Stunde!“ unterbrach er sie.

„Ich wollte Sie an jene Stunde erinnern, weil Sie mir damals sagten – wir sprachen von Ihrem ersten Examensversuche – Sie hätten eigentlich nie wirklich studiert. Ihr vorzügliches Gedächtnis, Ihre schnelle Fassungsgabe und Ihr logisches Denken hätten Ihnen immer vorwärts geholfen, und Sie wären damit bisher stets weiter gekommen als andere, die sich krumm über den Büchern gesessen. War’s nicht so?“

„Es kann wohl sein, daß ich so sagte.“

„Nun, sehen Sie, diese Fähigkeiten nützen sicher im praktischen Leben am meisten; ob sie aber bei einer Prüfung, bei welcher es doch in erster Reihe auf erlernte Kenntnisse ankommt, diese ersetzen, das müssen Sie besser beurteilen können als ich.“

Sie waren aus dem Gehölz getreten, und nun ließ eine zerreißende Wolke die Sichel des Mondes sehen. Leo Brückner, der während der letzten Worte wieder sehr düster dreingeblickt hatte, wandte seine Augen in die Höhe, dann schaute er, sich zurückwendend, in Annies Gesicht.

„Sie mögen recht haben, Fräulein von Giersbach, und ich danke Ihnen; ich habe so sehr des Aussprechens gegen eine teilnehmende Seele bedurft. Vielleicht war es mir auch nötig, daß ein mir wohlgesinnter Geist, wie der Ihre, mich mit strafenden Worten aufrüttelte.“

„Habe ich das gethan? Und mit strafenden Worten?“

„Ja, Sie haben das gethan und ich danke Ihnen tausendfach. Gehen Sie jetzt nach Hause! Der Weg ist mondbeleuchtet, ich kann Sie sehen, bis Sie in die Stadt einbiegen, und ich werde hier stehen bleiben und Sie bewachen.“

„Ich bin nicht ängstlich und bin in diesen Tagen immer allein hierher gegangen.“

„Das ist eigentlich nicht richtig, aber ich habe so viel dadurch gewonnen, daß ich nichts dagegen sagen darf. Werden Sie morgen wieder hierher gehen, Fräulein Annie?“

Sie stutzte und schwieg einen Augenblick, dann sagte sie:

„Ja.“ [807] „Dann also – auf Wiedersehen?“

„Auf Wiedersehen!“

Und sie ging eilenden Schrittes die Landstraße entlang, während ihre aufgeregte Phantasie mit dem ihr so tief bemitleidenswert erscheinenden Schicksal des jungen Mannes und den „strafenden Worten“, zu denen sie sich mit so viel Ueberwindung gezwungen hatte, beschäftigt war.

Fast acht Wochen war er in der Stadt, täglich und stündlich hatte sie darauf gehofft, ihn zu sprechen, und immer erwies sich die Hoffnung als trügerisch. Dabei hatte sie den brennenden Wunsch, ihm in dieser Zeit des Kummers ein ganz klein wenig sein zu können, ihm, der, seit sie ihn das erste Mal gesehen, alle ihre Gedanken erfüllt hatte, für den sie freudig ihr Leben hingegeben hätte, wenn sie damit sein Glück hätte erkaufen können!

Ab und zu gelang es ihr, auf der Straße Lisbeth zu treffen, die, veranlaßt durch Annies warmherzige Teilnahme, ihr mehr von ihren häuslichen Verhältnissen erzählte als sie es gegen andere that. Von ihr erfuhr sie, wie Leo jetzt als Fremdling im elterlichen Hause lebte und wie seine Stimmung stets düsterer und hoffnungsloser wurde. Als die Mädchen das letzte Mal sich getroffen, hatte Lisbeth unter heißen Thränen ihr gestanden, sie fürchte das Schlimmste für ihren Bruder, er werde immer unzugänglicher, löse sich immer mehr von ihnen allen los, und sie sei gewiß, er brüte Entsetzliches. Alles deute darauf hin, und wenn er in der Dämmerstunde das Haus verlasse, erzittere sie allemal vor Angst und Pein, ob er wohl wiederkehre.

Nach diesen Mitteilungen war Annies Entschluß gefaßt, und am anderen Tage, als das Tageslicht verschwand, stand sie vor der Brücknerschen Wohnung und wartete auf Leo. Sie wollte ihn sprechen, wollte ihn trösten, ermahnen, ihm ins Gewissen reden – sie wollte als Freundin an ihm handeln, wollte, unbekümmert um die Welt, zu ihm stehen und ihn darauf verweisen, daß es Menschen gebe, denen er trotz seines verschuldeten oder unverschuldeten Mißgeschicks derselbe geblieben sei. Sie war ganz gefaßt darauf, daß er sie zurückweisen, daß er sie kalt und abstoßend behandeln würde, wie er jetzt sogar seine Schwester Lisbeth behandelte, aber sie war ihres Herzens sicher – er bedurfte ihrer, sie mußte ihm Teilnahme und Trost bringen!

So sah sie ihn das Haus verlassen, sah ihn durch einsame und stille Straßen gehen und schließlich die kleine Parkanlage, in der er vor jedem Menschen sicher war, aufsuchen. Auch dahin folgte sie ihm; aber nun sie vor der That stand, fehlte ihr der Mut, und sie ließ ihn wieder fortgehen, ohne ihn angeredet zu haben. Am nächsten Tage derselbe Versuch und wieder ohne Erfolg! Sie war auf der Landstraße dicht an ihm vorbei gegangen, er hatte nicht aufgesehen, war aus seinem brütenden Sinnen nicht erweckt worden, und als sie dann nach Hause ging, flossen ihre Thränen gleich heftig über sein elendes Aussehen wie über ihre eigene Energielosigkeit. Fast die ganze Nacht hatte sie schlaflos dagelegen, und als sie gegen Morgen einschlummerte, zeigte ihr der Traum ein solch’ entsetzliches Bild, daß sie mit einem lauten Schrei erwachte. Noch unter dem Einflusse dieses Eindrucks wurde es ihr verhältnismäßig leicht, ihr Ziel zu erreichen. Sie suchte ihn auf, veranlaßte ihn, sie anzusprechen, und wie sie spürte, daß es ihm gut that, sich das Herz frei zu reden, dem Groll und der Bitterkeit einmal Zügel schießen zu lassen und auch in Ruhe und Besonnenheit ihre Einwendungen und Vorstellungen anzuhören, da schwellte ein wahrer Heldenmut ihre Brust und sie war entschlossen, allem zu trotzen und alles zu ertragen, wenn sie ihm nur nützen konnte.

Einen Augenblick dachte sie sogar daran, ihren Eltern alles mitzuteilen, in erster Reihe auch ihr Versprechen, morgen wieder an jenem einsamen Platze mit ihm zusammenzutreffen, aber nach einiger Ueberlegung sah sie davon ab. Sie kannte ihren großdenkenden Vater, ihre edle Mutter; wenn sie ihnen später die Wahrheit eingestand, nachdem sie ihr Werk vollendet und Leo den Mut zum Leben zurückgegeben hatte, würden sie ihr die Eigenmächtigkeit des Handelns und ihre Verschwiegenheit verzeihen! Bis dahin wollte sie es allein tragen, aber ein eigenes hoffnungsfreudiges Gefühl in ihrem Herzen sagte ihr, daß sie dieses Ziel erreichen, bald erreichen werde.

Von nun ab gingen sie beide täglich in der Dämmerstunde nach dem Gehölze, oft waren es nur ein paar Minuten, die sie bei einander standen, nur ein freundliches Wort, eine teilnehmende Frage, die sie tauschten, aber dieses kurze Beisammensein tröstete sie und wurde bald der Mittelpunkt, um den sich alle ihre Gedanken drehten. Er hatte ihr noch oft von trüben Erfahrungen zu erzählen, sie mußte noch sehr häufig Ausbrüche seiner Entmutigung, seiner Trostlosigkeit anhören, aber ihren beschwichtigenden Worten gelang es immer wieder, ihn aufzurichten, ihm Mut und Vertrauen zu einer besseren Zukunft einzuflößen.

Einmal brachte er ihr auch einen Brief mit, den ihm ein Studiengenosse, welcher in einer kleinen Stadt der Provinz praktischer Arzt war, geschrieben und der ihn wegen seines warmen Tones tief berührt hatte. Beim schwachen Scheine eines Wachszündlichtchens las er denselben „seiner Freundin“ vor, und sie fühlte die Thränen in die Augen schießen, nicht nur über den herzlichen Ausdruck dieser Jugendfreundschaft, sondern vor unendlicher Freude darüber, daß er sie seine Freundin nannte.

Das war aber auch das einzige Mal, wo er seinem Empfinden für sie Worte gab. Nie änderte sich der Ton ihres Verkehrs. Wie gute Kameraden, die ihres gegenseitigen Interesses sicher sind und deshalb keiner besonderen Versicherung in diesem Punkt gebrauchen, so gaben sie sich einander. Sie sah ihn vor dem Gehölze stehen und den Weg hinunterschauen, den sie kommen mußte, wenn sie aus dem Stadtthore trat, und wieder stand er da und bewachte ihre Schritte, wenn sie sich getrennt hatten. Daß er nicht mit ihr ging, war eine stillschweigende Vereinbarung zwischen ihnen, und auch als sie ihn einmal aufforderte, sie nach Hause zu begleiten und den Abend bei ihren Eltern zuzubringen, lehnte er es ab.

So waren wieder Wochen vergangen. Da, an einem Spätnachmittage, um die Stunde, in der Annie sonst ihren täglichen Ausgang machte, ging sie in ihres Vaters Zimmer, zog die Thür fest hinter sich zu und setzte sich zu ihm auf das Sofa. Als sie nach einer halben Stunde wieder heraus kam, waren ihre Augen gerötet, aber ein heller, hoffnungsfreudiger Ausdruck lag in ihren Mienen und erhöhte sich noch, als sie wenige Minuten später an der Seite ihres Vaters den alltäglich begangenen Weg hinunterschritt.

Herr Leo Brückner war nicht eben angenehm überrascht, als er die beiden Plötzlich vor sich sah. Er kannte den Oberst eigentlich sehr wenig, war dem „brummigen Alten“, wie ihn Fernstehende schlechtweg bezeichneten, immer gern ausgewichen, und bei der Menschenscheu, die ihn jetzt beherrschte, wäre ihm gewiß nie beigekommen, sich Annies Vater irgendwie zu nähern. Aber er war doch zu sehr Weltmann und fühlte es auch als notwendige Rücksicht gegen Annie, daß er mit keiner Miene diese Empfindung verriet und ihrem Vater auf dessen Gruß ebenso unbefangen hier auf der Landstraße, in dem Dämmerlicht des Wintertages, entgegentrat wie in den Salons, in welchen sie sich vordem begegnet waren.

„Sie machen auch einen Spaziergang, Herr Brückner?“ fragte der Oberst. „Meine Tochter erkannte Sie gleich, als ich kaum noch eine Gestalt zwischen den Bäumen sah. Ja, junge Augen, das ist etwas anderes! Uebrigens ein ungemütliches Wetter – wollte die Kleine erst gar nicht mitnehmen – bin hier nämlich gewissermaßen auf einem Dienstwege, da ich dort drüben in der Vorstadt die Ställe einmal selbst ein wenig revidieren wollte. Recht lange nicht gesehen, Herr Brückner! Ist Ihnen nicht gut ergangen in der Zeit? Na, das ist nicht anders im Menschenleben – einmal geht’s mit uns bergauf, das andere Mal bergab! Hat’s jeder erfahren, der sich das Leben schon eine Weile so mit ansieht. Thut auch nichts – es stärkt die Muskeln zum Kampfe! Sich nur nicht selbst verlieren – nur den Mut nicht sinken lassen – immer stramm die Hand ans Gewehr! Uebrigens, Herr Brückner, ich bin ja noch in Ihrer Schuld. Sie sind damals in Berlin so überaus freundlich meiner Bitte gefolgt, mich bei meiner Tochter zu vertreten. Die Kleine war ganz glücklich, daß sie auf diese Weise das Schönste, was die Residenz bietet, in den zwei Tagen sehen konnte. Aber höre einmal, mein Kücken, Du kannst umkehren. Dieser Ostwind gefällt mir für Dich gar nicht. Da Herr Brückner nur einen Spaziergang macht, ist es ihm gewiß recht, mit mir zusammenzugehen – also, marsch vorwärts, und sieh zu, daß die Jungen zu Haus ihre Schuldigkeit thun!“

Erst nach fast zwei Stunden kam der Oberst nach Hause, und der Bursche, der ihm die Thür geöffnet, meldete es Annie, die eben die letzte Hand an den gedeckten Theetisch legte.

„Mit dem Herrn Oberst ist noch ein junger Herr mitgekommen, aber nur in Civil – kein Herr Lieutenant“, setzte er hinzu.

„Mutterchen, hier bringe ich Dir einen Gast,“ rief der Oberst, [808] indem er die Thür zum Wohnzimmer aufstieß und Leo Brückner mit einer Handbewegung hinein nötigte. „Sieh her, ein alter Bekannter – darum auch besonders willkommen!“ Und während Leo nun Frau von Giersbach und Annie begrüßte und die Knaben aus ihrer Stube neugierig die Köpfe hereinsteckten, frug er behaglich: „Was kriegen wir zu essen? Wir sind mordshungrig nach dem langen Spaziergang. Geh’, Annie, revidiere einmal die Speisekammer und fahre auf, was Du drin hast! Und, höre einmal, eine Flasche Rum auf den Tisch – wir sind durchgefroren – mag das fade Zeugs von Thee heute nicht – wollen uns einen steifen Grog brauen, nicht wahr, Herr Brückner, wie sich das für Männer gehört!“

„Wir kriegen auch Rum,“ rief der jüngste der Giersbachschen Sprößlinge, „nicht wahr, Papa? Wir sind auch ‚Männer‘ – bloß die Annie kriegt nichts.“

„Du wirst gleich was anderes kriegen, Schlingel,“ rief der Vater gutgelaunt und schüttelte den Jungen herzhaft, „was hast Du hier zu suchen? Hast Du schon Dein Exercitium fertig? Nicht? Vorwärts – ’raus mit Dir!“

Bald ging es ins Speisezimmer. Papa hetzte erst noch ein wenig sein Töchterchen herum, aber dann war er zufrieden.

„Sehen Sie,“ sagte er, „nun geht’s schon: Kartoffelsalat, Spickgans und Hasenbraten, na – und da ist ja auch noch eine Wurst! Reiche mir die nur her, Mütterchen, die werde ich tranchieren! Für Eure Frauenzimmer-Häppchen habe ich heute keine Passion. Und was – da ist ja auch Remoladensauce! – ei, sieh einmal, Kleine, Du hast Dich ja heute gewaltig herausgemacht! Ja, denken Sie nur nicht, Herr Brückner, daß es mir immer so gut geht; daß sich meine Damen so anstrengen, ist nur Ihnen zu Ehren.“

So ging’s weiter – Leo Brückner traute gar nicht seinen Augen und Ohren. War das der brummige Alte, der sich hier in seinem Hause so launig, so behaglich und so gemütlich gab? Und mit welcher Herzlichkeit er den Wirt machte – freilich, ein bißchen diktatorisch ging er dabei vor. Als er sah, daß Annie nur so des Scheines halber ein Stückchen Fleisch genommen und daran herum pickte wie ein Vogel, lud er trotz ihrer Gegenreden eine ganz kräftige Portion auf ihren Teller ab und befahl einfach: „Das wird ohne Murren aufgegessen – verstehst Du?“ Auch Grog mußten seine „Weibsen“ trinken, es half ihnen nichts, daß sie sich wehrten: und bald machte sich die Wirkung dieses ungewohnten Getränkes geltend und bei der kleinen Tafelrunde herrschte eine solch’ vergnügte Stimmung, daß des Lachens kein Ende war. Nach Tische kommandierte der Oberst die Knaben zum Gute-Nacht-Kompliment – der Kleine eroberte sich sogar noch einen harmlosen „Katzenkopf“, weil er infolge des halben Theelöffels Rum nicht gerade marschieren konnte – und dann sagte er mit einem wohlbehaglichen Schmunzeln: „Nun kommen Sie, junger Freund, und zünden Sie sich eine Cigarre an, ja – meine Frau erlaubt’s, trotz der frisch gewaschenen Gardinen! Das ist nun meine beste Stunde! Jetzt setze ich mich zu ihr aufs Sofa, rauche meine Cigarre, manchmal werden es auch zwei oder drei, und trinke meinen Abendtrunk. Nun, Annie, wo ist der Mosel?“ – und auf einen fragenden Blick seiner Tochter – „natürlich erste Sorte, wenn man einen lieben Gast hat!“

Und wie er das klare Naß in die Gläser schenkt, fährt er fort: „Sehen Sie, dieses ist ein ganz schöner Tropfen, der läßt sich schon trinken. Sonst ist mein Abendtrunk ein ,Surius‘ für achtzig Pfennige,“ und mit einem neckenden Blick auf seine Frau, „meine Frau giebt mir keinen anderen, da muß ich mir schon einen Gast einfangen, wenn ich einmal den da trinken will.“

„Aber, Papa,“ sagt da Frau von Giersbach und errötet ganz tief, was ihr ein ordentlich jugendliches Ansehen giebt, „aber, Papa, wie machst Du uns heute schlecht! Wirklich, Herr Brückner wird noch glauben, daß –“

„Der alte Giersbach von seiner jungen, hübschen Frau pantoffelt wird,“ lacht mit dröhnendem Basse der Oberst. „Na, sieh einmal, Mütterchen, dann trifft er doch nur den Nagel auf den Kopf! Was hilft das Verstellen, in der Stadt wissen es schon alle Menschen!“

Und in diesem heiteren Ton verlief der ganze Abend. Sie kamen wohl auch auf etwas Ernstes zu sprechen – ab und zu guckte einer in die Abendzeitung und das gab dann Stoff zu einem neuen eingehenden Gespräch, aber immer sahen sie die Welt und alle Geschehnisse milde und menschenfreundlich an, hofften bei jeder zweifelhaften Frage die friedlichste Lösung, gönnten jedem das Beste und freuten sich des Glückes, das anderen geworden war.

Als Leo nach Hause ging, trug er das Gefühl mit fort, um eine wirklich wertvolle Erkenntnis reicher geworden zu sein.

Nein, sagte er vor sich hin, die Welt ist nicht so schlimm, wenn es noch solche Menschen darin giebt! Und wenn solche Menschen mich nun trotz alledem nicht aufgeben, sondern noch ihrer Freundschaft wert halten, dann müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich es nicht fertig brächte, mich dieser Freundschaft noch einmal würdig zu zeigen!

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 49, S. 824–826
[824]
14.

In dem vormals so lebhaften Brücknerschen Hause war es sehr still geworden. Die langen Wochen schlichen ohne Ereignisse einförmig dahin und die Frau Geheimrat, sonst die Seele der Geselligkeit, überließ jetzt das Veranstalten und Betreiben von Festen den anderen. Sich an Lisbeth näher anzuschließen, deren geräuschloses aufopferndes Walten sie längst als etwas Selbstverständliches betrachtete, kam ihr nicht in den Sinn, ja, sie fühlte sich eigentlich stets gereizt durch die Wahrnehmung, wie intim Lisbeths Verkehr mit dem Römerschen Hause war und blieb. Dort stellte sich nun allmählich klein Liesel auf ihre dicken Füßchen und war ein so ausgemachtes Wunderkind, als nur je eines das Entzücken liebender Großeltern und einsamer Tantenherzen erregte. Arnold war froh, sein Kind in so guter Obhut zu wissen; ihn selbst traf bald nach Gertruds Tode der Ruf in das Reichspostamt nach Berlin, und obgleich die Eltern sein Scheiden beklagten, mußten sie sich doch sagen, daß eine solche neue und starke Thätigkeit ihm wohl am besten über die erste schwere Trauerzeit hinweghelfen würde. So hatte Lisbeth dort viel mit zu erleben, aber sie selbst brauchte ebenfalls recht notwendig die Wärme der gemütlichen Familienstube bei ihren alten Freunden und die Liebe des blonden Lockenköpfchens, das sich so besonders gern an ihre Schultern schmiegte. Denn in ihrem eigenen Hause senkten sich die Wolken immer tiefer. Die Geheimrätin hatte, so schwer es ihr ankam, von Waldens ehelichen Zerwürfnissen sprechen müssen; da sie ihren Gatten dabei nach Möglichkeit schonen wollte, so war es eben immer wieder Lisbeth, die ihre Klagen anzuhören hatte. Seit sie wieder ihre gewohnte Autoritätsstellung zu Hause einnahm, beurteilte sie Elfes Betragen gegen ihren Mann und Waldens Schwäche und Inkonsequenz noch um vieles schärfer als vorher.

Sie schrieb ausführlich an Elfe, bat, beschwor sie, sich zu ändern, um nicht schließlich durch eigene Schuld das schätzbare Gut einzubüßen, das ihr zugefallen war, und grämte sich bitterlich darüber, daß ihre Tochter es nicht für nötig hielt, davon Notiz zu nehmen. Dann, als sie trotzdem, getrieben von ihrem mütterlichen Pflichtgefühl, nicht abließ, antwortete Walden darauf und bat sie, diese gewiß sehr gutgemeinten, aber seine Frau zu sehr erregenden Ermahnungen doch zu lassen; er kenne seine Elfe, wisse, wie wenig ernst ihre Neckereien und Vorwürfe zu nehmen seien, und meinte schließlich, er sähe bestätigt, daß keine dritte Person ein eheliches Verhältnis richtig beurteile, nicht einmal eine so zärtlich liebende Mutter wie sie.

Die Geheimrätin warf in heftigem Aerger den Brief auf den Tisch; diesem Manne war also nicht zu helfen, sie würde kein weiteres Wort in der Angelegenheit und in seinem Interesse verlieren – mochte er die Folgen seiner Schwäche tragen! Dann versank sie, tief in den Sessel zurückgelehnt, in unerfreuliche Gedanken. Das war nun der Lohn ihrer rastlosen sorglichen Muttertreue! Alles mißglückt, nirgends ein Trostpunkt! Selbst Lisbeth, an der persönlich nichts auszusetzen war, wie fern und fremd stand sie der Mutter durch ihre Verständnislosigkeit für die höheren Lebensziele gegenüber! Welche gewöhnliche Neigungen! Ob sie, die Geheimrätin, wohl je im Leben auf den Gedanken gekommen wäre, sich derartig intim mit einer Volksschullehrersfamilie einzulassen! Und nicht allein, daß sie diese Freundschaft pflegte, sie ging sogar so weit, derselben in jeder Gesellschaft zu erwähnen, sich gewissermaßen dieser Beziehungen zu rühmen. Immer, wenn sie etwas Gutes, Braves, Nachahmungswertes bezeichnen wollte, schwebte der Name Römer auf ihren Lippen! Und gar die Zärtlichkeit für das Enkelchen der alten Leute! Täglich mußte sie das Kind sehen, und in den Nachtstunden saß sie in ihrem Zimmer bei der Lampe, um Püppchen, Spielereien oder zierliche Kleidungsstücke für dasselbe zu arbeiten. Und konnte man annehmen, daß dieses nur Aeußerungen einer freundschaftlichen Empfindung waren, oder stand der Geheimrätin das schon einmal Erlebte aufs neue bevor? – Ach, daß auch die Frau dieses Arnold Römer sterben mußte, diese Frau, gegen welche sie unausgesprochen immer ein dankbares Gefühl gehegt, weil sie ihr eine Sorge vom Herzen genommen hatte, deren Schwere sie jetzt noch fühlte!

Zehn Jahre waren es nun her, daß dieses Stück spielte, zehn Jahre, daß sie alles gethan, um Lisbeth von einem Schritte zurückzuhalten, der in ihren Augen gleichbedeutend mit Schande war. Ihre Tochter – die Braut eines Postschreibers! Wie hatte sie sich gesorgt, wie viel dagegen geredet und wie über die Möglichkeit zu Lisbeth gespöttelt, bis sie einen Erfolg ihrer Vorstellungen bemerkte und ihr dann selbst die gehegte Befürchtung grundlos erschien! Aber daß Lisbeth seit jener Zeit eine so ganz andere geworden war, so schweigsam und frühreif und daß ihr kindlicher Frohsinn ganz und für immer schwand, hatte ihr dann gezeigt, wie ernst die Sache gewesen und wie recht sie gehabt, doch so energisch einzugreifen. Und jetzt, nach zehn Jahren, kamen die gleichen Sorgen wieder und sie mußte sich sagen, daß ihre älteste Tochter nicht mehr das weiche, biegsame Geschöpf von ehedem war, das sich ihren Ansichten und Wünschen in diesem Punkte unterordnete. Wenn sie ihr Herz an ihn gehängt, würde sie sein Weib werden, sobald er sie dazu erwählte, ganz ohne Rücksicht, ob ihre Eltern darunter litten, sie in solcher „untergeordneten Lebensstellung“ zu sehen! Welch’ ein Glück war es unter diesen Umständen, daß Arnold Römer nach Berlin versetzt war! Vielleicht fand er dort einen Ersatz für Gertrud, und der bittere Kelch ging dann auch dieses Mal an ihnen vorüber!

„Man sollte eigentlich nicht eher Befürchtungen hegen, als bis die Ereignisse in Sicht kommen, es ist doch auch viel unnötiger Kummer, den man sich mit dem Voraussorgen macht,“ sagte sie sich oft auch wieder zum Trost. Das Zusammenleben mit Leo hatte sich doch auch verhältnismäßig besser gestaltet, als sie nach ihres Mannes und Lisbeths Briefen erwartet hatte. Er hielt sich zwar sehr zurück, versäumte aber keine Höflichkeit, und der finstere Gesichtsausdruck war einem zwar ernsten, aber auch energischen gewichen, der ihr einen gewissen hoffnungsvollen Mut einflößte. Er lag nicht mehr stundenlang unbeschäftigt in seinem Zimmer auf dem Sofa. wie in den ersten Monaten nach seiner Rückkehr, sondern saß jetzt fest hinter den Büchern und arbeitete mit einer Zähigkeit, als könnte er das Versäumte nicht schnell genug nachholen. Ins Wirtshaus ging er nie, und wenn er gegen Abend das Haus verließ, so war es sicher nur, um einen Spaziergang zu machen, denn wenn er auch zuweilen länger fortblieb, so fand er sich immer wieder zur guten Zeit zu Hause ein, wie das sonst nicht bei ihm Sitte gewesen war. Wo er diese Stunden verlebte, sagte er nicht, und daß sie ihm das Lebenselixir waren, das ihm Mut und Kraft zum Ertragen der Gegenwart, Vertrauen und Glauben an sich selbst einflößte, empfand er vielleicht selbst nicht einmal klar bewußt. Aber der von Woche zu Woche intimer werdende Verkehr in der Giersbachschen Familie hatte ihn Frieden und Ruhe wiederfinden lassen, hatte ihm Selbsterkenntnis gebracht und ihn aufgerichtet, denn er sah sich von diesen vorzüglichen Menschen, die er täglich höher schätzte, geachtet und geliebt. Einmal hatte er auch daheim seiner Beziehungen zu ihnen erwähnt, als sein Vater ihn morgens am Kaffeetische nach der Ursache seines gestrigen verspäteten Heimkommens fragte.

„Ich traf beim Spaziergange den Herrn Oberst von Giersbach und der nahm mich mit nach Hause,“ sagte er, und der Geheimrat sah ihn verwundert an. Ob das wohl so stimmte? – Dann war es jedenfalls sehr merkwürdig! Er hatte nie gehört, daß Leo in der Zeit vor seinem Examen in des Obersts Familie zwanglos verkehrte, und was früher nicht gewesen war, würde jetzt gewiß nicht sein! Dem Wortlaut nach war es sicher richtig, Leo würde dem Vater keine Unwahrheit sagen, aber fraglos handelte es sich um irgend eine Geschäftslage in seinen Militärangelegenheiten, die ein Eintreten in das Arbeitszimmer des Oberst für einige Minuten zur Folge gehabt hatte! Deshalb war sicher nicht seine Heimkehr verspätet worden!

Auch die Geheimrätin meinte das Gleiche und schüttelte verständnislos den Kopf. Auf welche Thorheiten er noch verfällt, dachte sie. Sollten diese Worte nicht den Glauben erwecken, er sei im Hause des Oberst von Giersbach Gast gewesen? Als ob ihm so etwas noch jemand glauben würde! Ja, um den Verkehr mit solchen Leuten hatte er sich nun gebracht!

Ein anderes Mal ging Leo in Visitentoilette fort, und wieder war es der Vater, der ihn später nach dem Zwecke dieses Ausganges fragte.

„Ich war beim Regierungspräsidenten,“ antwortete er, „denn ich [826] mußte mich doch vergewissern, ob ich mich bei der Bewerbung um ein Kommunalamt auf sein mir früher gespendetes Lob beziehen darf.“

„Und was sagte er Dir?“

„Er sei zu jeder Empfehlung bereit.“

„Aber das ist ja wirklich sehr – gütig! Ich werde ihm gelegentlich meinen Dank aussprechen. Uebrigens war das wohl nur eine Form – die Angelegenheit mit der Stadtratsstelle in C. ist doch erledigt?“

„Ja,“ sagte Leo ruhig, „die ist längst besetzt. Aber das war wohl auch zu hoch gegriffen. Mit solchem Amt in solcher großen Stadt enden andere und bessere ihre Beamtenlaufbahn, ich werde also wohl kleiner anfangen müssen.“

Der Geheimrat schwieg bekümmert und seine Gattin wand unter dem Tische die Hände nervös ineinander. Noch kleiner – noch kleiner – er, der sonst nur von den höchsten Aemtern und Würden geträumt – und wie gelassen er das sagte! War es nicht furchtbar, daß ein Mensch so herunterkommen konnte! –

Bei Waldens wurde, viel früher als man es erwartet hatte, ein Söhnchen geboren, das wenige Stunden nach seiner Geburt starb. Zunächst war es nur die Sorge um das Leben der jungen Frau, welche die Ihrigen in die größte Angst versetzte und wochenlang darin erhielt. Dann erst, nachdem eine Wendung zum besseren eintrat und die täglichen Briefe und Depeschen, welche Walden an seine Schwiegereltern sandte, zunächst einen beruhigenden Ton hatten und später die sichere Erwartung der Genesung aussprachen, begannen die Thränen der Frau Geheimrat über die so grausam zerstörten Hoffnungen zu fließen. Mein Gott, was sollte nun werden? Wie konnte der Himmel es zulassen, daß dieser einzige Rettungsanker versagte! Welch eine schöne und heilige Mission hatte dieses Kind erfüllen sollen, indem es seine Eltern in Liebe vereinte, sie zusammenfügte zu seelischer Gemeinschaft! Sie schloß die Augen vor der Zukunft, eine Ahnung sagte ihr, daß der Kummer um Elfe noch nicht seinen Höhepunkt erreicht habe und ihnen allen noch Schweres bevorstehe!

So lange Elfes Leben in Gefahr schwebte, hatten die Aerzte durchaus verlangt, daß jeder Besuch der Ihrigen unterbliebe. Nun sie es gestattet hätten, lehnte Elfe es ab, und die Mutter dankte es ihr. Sie selbst hätte ihren Gatten jetzt unter keinen Umständen verlassen, da die vielfachen Aufregungen ihn sehr nervös gemacht und auch körperlich so heruntergebracht hatten, daß sie vor allen Dingen auf ihn Rücksicht nehmen mußte, der am leichtesten sein Gleichgewicht im beständigen Zusammensein mit ihr wiederfand. Und Lisbeth nach Berlin zu schicken, wie es vorher verabredet gewesen war, hätte ihr jetzt auch neue Unruhe bereitet, denn Arnold Römer war ja dort, und in der Abneigung, die sie gegen ihn fühlte, erwog sie weder die räumliche Trennung, die auch dort zwischen den beiden bestehen würde, noch die durch die Pflege der Schwester bedingte Inanspruchnahme Lisbeths!

Elfe war ja auch wie eine Prinzessin versorgt. Die berühmtesten Aerzte der Residenz gaben sich ein Rendezvous an ihrem Krankenbette, erprobte Pflegerinnen lasen den leisesten Wunsch von ihren Augen, bewachten ihren Schlaf, wenn diese sich schlossen, und Walden schien nur noch den einen Lebenszweck zu kennen, alles herbeizutragen, was ihr gut thun, was sie stärken oder erfreuen könnte. Und als sie einmal, gerührt von dieser Güte, zu ihm sagte: „Ich bin so vieler Liebe gar nicht wert,“ kannte sein Entzücken keine Grenze und er wiederholte diese Worte so oft jedem, mit dem er in Berührung kam, daß man schon über den älteren Mann lächelte, der sich mit diesem dehnbaren Ausspruch seiner jungen schönen Frau brüstete.

So war der Winter hingegangen unter manchem Kummer und mancher Sorge; aber jetzt, da die Frühlingssonne durch jedes Fenster und in jedes Herz hineinschien, fand sie schon viel hellere Augen, sowohl bei den alten Römers, als bei Giersbachs und Brückners. Bei letzteren hatte sich der kleine Familienkreis noch verkleinert; Leo war, schon zum zweitenmal in den letzten Monaten, zu einem längeren Besuch nach dem kleinen Landstädtchen W. an der russischen Grenze, in welchem sein Freund als Arzt praktizierte, gereist, und vor acht Tagen hatte eine Karte den Seinen mitgeteilt, daß er in dieser Woche heimkehren würde.

Der Geheimrat mutmaßte, daß irgend ein Plan, irgend eine Besprechung wegen seiner Zukunft ihn dorthin führe, aber er fürchtete sich selbst so sehr vor immer neuen Enttäuschungen, daß er nicht fragen mochte, vor allen Dingen auch, um seiner Frau gegenüber mit Erfolg als Uneingeweihter zu erscheinen.

Eben brauste der Kurierzug in die Bahnhofshalle, und, seinen Handkoffer an sich nehmend, schwang sich Leo aus seinem Coupé in das Menschengewühl hinein, das auf dem Bahnsteige hin- und herflutete. Seine Augen überflogen dasselbe und ein erleichternder Atemzug ging über seine Lippen, als er kein bekanntes Gesicht erblickte. Mit mancher kräftigen Bewegung sich Platz schaffend, durchschritt er die Menge, wandte sich dann an einen Bahnhofsdiener und übergab ihm Gepäck und Reisemantel zur Besorgung, während er selbst, Krawatte und Hut noch ein wenig zurechtrückend, einen anderen Weg einschlug und nach einem ziemlich hastig zurückgelegten Gange den kleinen Stadtpark erreichte, der so unendlich oft im Herbste und Winter das Ziel seiner Wanderungen gewesen war. Jetzt bedeckten den Boden schon sprießende Gräser, das Unterholz zeigte überall kleine Blättchen und die Bäume trugen so große Knospen, daß wohl der erste warme Regen sie springen ließ. In den Sonnenstreifen, die durch die Bäume fielen, spielten goldgelbe Falter.

Aber die Schönheit dieses Frühlingsabends kann die Gedanken Leos nicht fesseln. Er läßt unruhig den suchenden Blick auf den Weg nach der Stadt schweifen. „Wenn sie sich gesehnt hat wie ich mich nach diesem Zusammensein, dann muß sie kommen,“ murmelt er leise vor sich hin; „sie weiß es doch, daß vorgestern der entscheidende Tag war und daß ich somit heute hier sein kann!“

Und wie er wieder nach der Lichtung geht und spähend seine Augen umherschweifen läßt, da zuckt er freudig zusammen, denn dort biegt eben eine wohlbekannte liebe Gestalt in den Weg und wenige Minuten später in das Wäldchen ein, und Annie schreit hellauf, als plötzlich Leo vor ihr steht.

„Sie hier – wirklich, Sie sind zurück?“ ruft sie freudestrahlend, und wie er ihre beiden Hände in die seinen nimmt und zärtlich drückt, erklärt sie ihm hoch errötend dieses merkwürdige Zusammentreffen. „Das herrliche Wetter lockte mich heraus, und da wollte ich doch einmal sehen, ob hier auch schon Anemonen blühen wie in anderen Wäldern.“

Er sah zärtlich auf sie herab und fragte dann: „War das wirklich der alleinige Grund, Fräulein Annie? Sie wußten es, vorgestern war der große Tag für mich, da dachten Sie – gestehen Sie es nur: wenn er sich so gesehnt nach mir, wie ich mich nach ihm, dann kommt er heute zurück und kommt in unserer Stunde nach unserem Wäldchen, denn ich muß doch zuerst die Neuigkeit hören! War’s nicht so?“ – und er legte leicht seinen Arm um ihre Schulter.

Sie errötete noch tiefer und ihre Augen flogen unruhig umher, bis sie mit seinen strahlenden zusammentrafen.

„So ungefähr –“ meinte sie stockend und sich ein wenig von ihm zurückziehend, um sich dann wieder lebhafter ihm zuzuwenden: „Also? – Was bringen Sie für Nachricht?“

„Gute!“ sagte er einfach und verschlang fast mit seinen Augen dieses rosige Geschichtchen, in dem die Freude in jedem Muskel zuckte

„Sie sind gewählt!“ rief sie jubelnd und schlug die Hände zusammen. „Ihre Hoffnung ist erfüllt! Sind Sie nun auch sehr, sehr glücklich?“

„Gewiß!“ sagte er. „Man ging sehr gut mit mir um, fast einstimmig fiel die Wahl auf mich, und, Annie, ich sagte mir in jener Stunde immer wieder: ich will dieses Vertrauen verdienen!“

Sie nickte schweigend.

„Gestern hatte ich danach noch viele Besuche zu machen, viele Verabredungen zu treffen – ich kam nicht mehr recht zum Bewußtsein – und heute dann, als ich die vielen Stunden allein im Coupé saß, drängten sich mir erst die Schattenseiten dieses Schrittes auf, und ich habe eigentlich Schweres durchgemacht.“

Voll Verwunderung richteten sich ihre Augen auf ihn. „Ich verstehe Sie nicht.“

„Sehen Sie, Fräulein Annie, es sind doch nur kleine, ganz kleine Verhältnisse, in die ich hineinkomme.“

„Das wußten Sie doch, das konnte Sie doch nicht überraschen! Sie kannten ja das Städtchen von achttausend Einwohnern.“

„Und es sind auch ziemlich schwierige Zustände; die Stadt ist arm, und es ist durch die lange Krankheit meines Vorgängers in dem Kommunalwesen alles vernachlässigt und zurückgeblieben.“

„Wissen Sie nicht mehr, daß Papa Ihnen noch neulich gesagt, das sei gerade das Gute für Sie! Da könnten Sie Ihre Kraft zeigen und sich die Sporen verdienen.“

„Ich dachte bei der Betrachtung dieser Ärmlichkeit auch nicht an mich, sondern – –“

„An wen denn sonst?“

[827] „Sehen Sie, Fräulein Annie – – ich träumte einen Traum – einen beseligenden Traum, von einem zwar kleinen, aber reizenden Häuschen, in dem ein süßes Weibchen waltet und schaltet und ihres Eheherrn, des gestrengen Herrn Bürgermeisters, harrt, – aber das Häuschen war nur in meinen Träumen so reizend, in Wirklichkeit ist es enge und düster, wie alle Verhältnisse dort – – darf ich der Geliebten solche entsagungsvolle Zukunft anbieten, kann ich erwarten, daß mir zuliebe mein Schutzengel aus der sonnigen Sphäre seines gegenwärtigen Lebens herab in meine arme Hütte steigt, um –“

Sie hatte mit purpurroten Wangen vor ihm gestanden, das Köpfchen tief gesenkt; nun stahl sich eine Thräne unter den Lidern hervor, und die hoben sich und ihre Augen blickten ihn an in namenloser Liebe. Und plötzlich lag sie an seiner Brust und jubelte und schluchzte, und er bedeckte ihr Antlitz mit heißen Küssen und die Thränen rollten immer wieder und wieder aus seinen leuchtenden Augen in den Bart.

„Hier,“ flüsterte er ihr zu, „hier, an dieser Stelle war es, wo Du mich vor Verzweiflung rettetest – und hier wirst Du auch die Meine!“

„Ich war das längst,“ gab sie zurück und schmiegte sich fester in seine Arme, „mit jedem Gedanken, mit jedem Atemzuge habe ich Dir gehört, seit ich Dich kannte, und siehst Du, Leo, bei mir bewahrheitet sich wieder das Wort: Wer ausharret, wird gekrönt! Zuweilen bin ich daran verzweifelt, daß dieses Glück mir werden könnte.“

„Dieses Glück! Süßes Herz! Andere werden Dich anders darüber belehren. Was habe ich Dir zu bieten, Dir, der man Gold und Ehren zu Füßen legen würde, um Dich zu erreichen!“

Sie lachte hell und lustig, ein bezauberndes, geringschätzendes Lächeln haftete an ihrem kleinen roten Munde.

„Gold?! – Kann man damit Glück kaufen – solch ein Glück, solch ein hohes, beseligendes Glück, wie uns die Liebe schafft? – und Ehren? – denkst Du, daß es für mich eine größere Ehre auf der Welt geben kann, als Leo Brückners Hausfrau zu werden? Schatz, Liebster, hilf mir, daß ich nicht übermütig werde, sondern mich immer dieses Glückes und dieser Ehre würdig zeige!“

Sie hielten sich wortlos in seligem Vergessen der ganzen Welt umschlungen.

„Laß uns nach Hause gehen, Leo,“ mahnte Annie endlich, „man wird mich schon vermissen, und Du wirst wohl nicht zaudern wollen, die Eltern so freudig zu überraschen.“ Er sah sie, indem ein Schatten über sein Gesicht flog, mit etwas unsicherem Ausdruck an, und sie hing sich liebevoll an seinen Arm.

„Papa wird sich furchtbar über den neugebackenen Herrn Bürgermeister von W. freuen,“ sagte sie, indem sie sich innig an ihn drückte, „und noch mehr über den Schwiegersohn, den er ja längst so zärtlich liebt, als wäre es der eigene Sohn.“

„Weißt Du das so gewiß, Annie?“

„Ja, das weiß ich gewiß, und nun komm’! – Ueberraschung gegen Ueberraschung – es erwartet Dich dort auch etwas Neues!“ – – –

Am anderen Morgen betrat Leo das Speisezimmer, als seine Eltern sich eben zum Frühstück niedergelassen hatten. Man begrüßte ihn mit jener mitleidsvollen Freundlichkeit, die er nun schon gewohnt war, und während man den Kaffee nahm, fragte man ihn nach seinem Ergehen, nach dem seines Freundes in W., und erzählte von den kleinen Vorkommnissen im Hause und von dem Inhalt der Waldenschen Briefe, ehe man zu den interessanten Stadtneuigkeiten überging. Lisbeth, vielleicht die einzige, die ihn schärfer beobachtete, bemerkte das Leuchten in seinen Augen, den Glanz, der über ihn ausgegossen schien; aber da weder Vater noch Mutter ein Wort dafür hatten, so schwieg sie auch.

Nun zündete der Geheimrat sich eine Cigarre an und griff nach der Morgenzeitung, seine Frau rückte ihm näher, um mit einzusehen, und während Lisbeth den Kaffeetisch abräumte, trat Leo ans Fenster, sah hinein in den sonnigen Frühlingsmorgen und überlegte, wie er jetzt wohl hervorkommen sollte mit all dem Glück, das ihm die Brust schwellte.

„Käthchen,“ rief in dem Augenblick der Geheimrat, „sieh’ her, das ist eine Neuigkeit!! Wer hätte das gedacht, das muß da eine Freude sein! Lisbeth, Leo, hört einmal! Da ist eine Notiz der Redaktion: ,Soeben geht uns die Nachricht zu, daß Herr Oberst von Giersbach von Sr. Majestät zum Generalmajor ernannt ist und schon in nächster Zeit unsere Stadt verläßt, um nach Berlin überzusiedeln‘. Wer das gedacht hätte, Käthchen! Ich habe keine Ahnung gehabt, daß der Mann solche Aussichten hat. Wir haben uns übrigens immer viel zu wenig um diese liebenswürdige Familie gekümmert, Frauchen. Aber was sagst Du denn dazu? Wie die wohl im Glück schwelgen werden! Na, Leo, und Du schweigst auch – die Sache ist doch wahrlich keine Kleinigkeit!“

„Nein, eine Kleinigkeit ist das nicht, und so fassen sie es dort auch nicht auf,“ antwortete dieser und trat näher. „Es ist ihnen eben auch ganz überraschend gekommen, und die Rangbeförderung eine ehrenvolle Anerkennung seiner Verdienste, die er und die Seinen nach ihrem vollen Werte schätzen.“

„Also, Du wußtest es schon?“ fragte erstaunt der Geheimrat und sah ihn höchst verwundert an. „Nach diesem Zeitungsbericht ist die Beförderung doch erst gestern aus dem Kabinett gekommen.“

„Ja, so ist es,“ sagte Leo, „wir haben aber gestern abend schon die Bowle über diesen Glücksfall und alle sonstigen freudigen Neuigkeiten, die in dieses gesegnete Haus kamen, getrunken, und –“

„Wir haben schon die Bowle –“ wiederholte die Geheimrätin und starrte ihn an, als ob sie fürchtete, er sei nicht recht bei Sinnen – „Du, bei Generals?!“

„Alle sonstigen freudigen Neuigkeiten?“ unterbrach zugleich der Geheimrat seine Worte. „Was ist denn sonst noch passiert? Er ist wohl auch gleich in eine höhere Ordensklasse hinaufgerückt – wie?“

„Nein, – das nicht, – aber Annie hat sich verlobt, und –“

„Fräulein Annie sich verlobt?“ rief die Geheimrätin und fühlte sich wieder auf etwas festerem Boden, „sieh’, sieh’, welche Ueberraschung! Da ist ein Schlauer flink dabei gewesen! Wer ist denn der Glückliche?“

Und während Lisbeth, über deren Gesicht plötzlich eine dunkle Blutwelle flutete, sich hastig vorbeugte und dem Bruder ahnungsvoll starr ins Antlitz sah, ohne ein Wort über die zitternden Lippen bringen zu können, rief die Geheimrätin nochmals:

„Wer ist denn der Glückliche?“

Da richtete sich Leo in die Höhe und rief mit einem ununterdrückbaren Jubelton in der Stimme:

„Ich bin’s! Vater, Mutter, – ich bin der Glückliche. Ja, ja, es ist mir selbst immer, als wäre es ein Traum – so viel des Glückes auf einmal!“

„Du?!“ riefen die Eltern wie aus einem Munde, sahen sich an und reichten sich die Hände, um sich aneinander festzuhalten bei dem, was nun kommen mußte, denn daß der Leo – –

„Junge, besinne Dich,“ rief der Geheimrat, „fasele nicht! Du – Bräutigam? Was bist Du denn, daß Du an so etwas denkst?“

„Nun, Vater, vorläufig freilich nichts Großes: Bürgermeister von W. mit dreitausend Mark Gehalt – aber mit der Zeit soll es wohl besser werden! Vielleicht mache ich euch noch einmal die Freude, daß ihr mich mit der goldenen Amtskette eines Oberbürgermeisters seht.“

„Was bedeutet das alles?“ sagte die Geheimrätin, die ganz blaß vor Aufregung geworden war, und schlug ihre Hände vor das Gesicht. Du Bürgermeister von W.? Du Schwiegersohn des General von Giersbach? Und die Eltern sind damit zufrieden? Und Annie nimmt Dich und wird in dem kleinen Neste die Bürgermeistersfrau!?“

„Ja, Mama,“ sagte Leo, ohne jede Schärfe und Bitterkeit in der Stimme und mit so glückstrahlendem Lächeln, daß es die Eltern überzeugte, „ja, sie nimmt mich und ist eine glückselige Braut, denn – denke Dir, Mamachen – mein Schatz ist so thöricht, zu behaupten, es gäbe für eine Frau keine größere Ehre auf der Welt, als des Mannes Weib zu sein, den sie liebt!“

„Das verstehe, wer’s kann,“ murmelte die Geheimrätin vor sich hin und legte den Kopf in ihre Hände, aber Leo fuhr ohne jede Empfindlichkeit fort:

„Ich wollte euch die Sachlage nur erst mitteilen, jetzt gehe ich, meine Braut zu holen, damit wir gemeinsam euch bitten können, unserem Bunde euren Segen zu geben!“

Und während Lisbeth sich innig in ihres Bruders Arme warf, rief der Geheimrat: „Nein, Leo, so machen wir es nicht! Wir wissen auch, was sich in solchem Falle ziemt. Kleide Dich an, liebe Frau, wir wollen gleich zu General Giersbach fahren, um unsres Sohnes geliebte Braut und seine verehrten Schwiegereltern zu begrüßen!“

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 50, S. 841–846

[841] Die Geheimrätin befand sich der Nachricht von der Verlobung ihres Sohnes noch immer wie einer Unbegreiflichkeit gegenüber, als im Entree die Glocke anschlug. Man vernahm den Schritt des Hausmädchens, welches die Thür öffnete, hörte eine helle Stimme und –

„Annie,“ rief Leo jubelnd, riß die Thür auf, da lag sie an seiner Brust, und er hob sie in die Höhe und trug sie mit jauchzendem Lachen zu seinen Eltern hin.

„Da seht ihr sie – da habt ihr sie!! – Glaubt ihr nun, daß wir ein Brautpaar sind? – Sind wir glücklich, Annie, sind wir selig, Liebste?“

Die Eltern und Lisbeth umringten die junge Braut, und während diese jene zärtlich umarmte, bat sie:

„Seid nicht böse, daß ich zu so vorschriftswidrig früher Stunde komme. – Mama hat mich aber selbst geschickt. – Ich war so aufgeregt, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen – immer kam es über mich, daß es nicht wahr sei, daß ich es nur träume, dieses unausdenkbar große Glück – – “

Leo zog sie in seine Arme und preßte ihr Köpfchen an seine Brust.

„Meine Annie, meine Geliebte, mein Schutzengel! – Ach, ihr wißt es nicht, was diese kleinen Hände für mich gethan haben! Sie haben mich vom Abgrunde zurückgerissen, sie haben mich vor Verzweiflung gerettet und mir den Weg gewiesen zu einem schöneren, würdigeren Ziele, als ich bis dahin kannte!“

Annie entzog sich sanft der Umarmung und wandte sich zärtlich der neuen Mutter zu.

„Nimm mich gütig auf, Mama, ich will immer nur danach streben, ihn glücklich zu machen!“

Die Frau Geheimrätin legte das junge Mädchen sanft in die Arme ihres Gatten. Sie mußte die Hände frei haben, sie mußte ihren Kopf halten können, der fast zersprang von alledem, was sie heute gehört und gesehen. War es denn möglich, gab es wirklich so etwas auf Erden?! Solche Liebe, die auf alles verzichten kann um des Besitzes des Geliebten willen? Was erwartete Annie an der Seite des Sohnes? In einem jämmerlichen Neste an der polnischen Grenze, gleich fern von jeder Kultur wie aller gebildeten Gesellschaft! – Und der Vater: General in der Residenz, Mitglied der ersten Gesellschaftskreise – und sie läßt all die verlockenden Aussichten ohne Bedauern, jubelt vor Seligkeit und zagt nur, ob sie auch der Ehre und des Glückes würdig sei, für den Geliebten leben zu dürfen!!

„Käthchen,“ mahnte der Geheimrat, „fasse Dich. Gehe in Dein Zimmer und mache Toilette! Es gehört sich, daß wir die ersten sind, die bei Generals vorfahren.“

Sie erhebt sich, macht ein paar Schritte auf die Thür zu – und bleibt wieder stehen, dann wendet sie sich zurück. „Leo!“ ruft sie und breitet ihre Arme nach ihm aus. Und er ist mit zwei Sätzen neben ihr, nimmt sie wie in alter Zeit in seine Arme und flüstert ihr, während er sich tief über sie beugt, leise zu:

„Ich weiß es, Mama, Du hast nie aufgehört, mich lieb zu haben, wenn Du Dich auch um meinetwillen grämen mußtest. Aber nun, nun freust Du Dich wieder über mich! Dein Leo, Dein alter Junge ist ja der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt!“ – – –

Während die Eltern und Lisbeth sich zu dem beabsichtigten Besuch ankleiden, geht das Brautpaar in den Salon, dort ist ja die „heilige“ Stelle, an der sie sich zum erstenmal gesehen haben, die müssen sie doch an ihrem heutigen Ehrentage begrüßen!

„Hier,“ sagte Annie eifrig, „hier standest Du, als ich mich umsah, hier, – nein, nicht dort, hier war es! Du machtest eine Verbeugung nach Mama, so – und dann eine zweite nach Papa, und dann nach mir eine, die tiefste, und [842] dabei lächeltest Du und drehtest den Schnurrbart, sieh: so – mit der rechten Hand!“

„Und Du saßest auf diesem kleinen Sessel, in dem hellblauen Kleide so zierlich anzusehen wie ein Püppchen, und über das erhitzte Gesicht hing das wilde Löckchen, das da eben wieder hängt und sich nie ordentlich einfangen läßt. – Und dann plaudertest Du so kindlich fröhlich – und dazwischen wieder solche merkwürdig verständige, altkluge Worte, die mich sehr überraschten – aber das war ja immer so – meine Annie hat mich ja immer überrascht mit ihrer Klugheit, die man bei dem kleinen Mädchen gar nicht vermutet – und dann fing ich an, Dir ein wenig tiefer in die blauen Augen zu sehen, trotz Papa und Mama, und Du wurdest rot und röter – –“

„Ich weiß es, Du böser, böser Leo, Du hattest ordentlich Spaß daran, wie ich fast verging vor Verlegenheit über diese Blicke!“

„Und dann, als ihr fortginget – ich begleitete euch bis auf den Flur – da drehtest Du Dich auf der Treppe noch einmal nach mir um, und ich frecher Gesell benutzte es, daß niemand auf uns achtete, und – warf Dir eine Kußhand zu!“

„Still,“ rief sie und sah sich ganz ängstlich um, „ganz still – das darfst Du niemand erzählen! Das war sehr dreist von Dir, ich hätte danach nie mit Dir tanzen dürfen, aber ich zitterte nur, daß jemand es gesehen haben und mich nun daran hindern könnte, mit Dir zusammen zu kommen.“

„Und weißt Du, was ich sagte, als Du fort warst?“

„Nun?“

„Ach, ist das einmal ein süßer kleiner Fratz!“

Sie lachten und sie küßten sich und lachten wieder, und er mußte es ihr wiederholen – zwei – dreimal. Es war doch ein zu schönes Liebeswort!

Dann aber wurde Leo mit einem Male ernsthaft und drückte sie an sein Herz.

„Ich weiß noch viel schönere, Annie: meine geliebte Braut, mein süßes angebetetes Weib!“

Und die Glücklichen hielten sich selig festumschlossen.


15.

In einer Seitenallee des Berliner Tiergartens ging um die Mittagsstunde eines wundervollen Sommertages ein junges Paar eifrig redend auf und nieder: Frau von Walden und Lieutenant Lüdeke.

Elfes Gestalt und ihre Bewegungen zeigten wieder die Elastizität der Gesundheit und ihr Antlitz hatte die zarten Farben, welche die feingeschnittenen Linien desselben so wunderbar ausdrucksvoll belebten. Sie trug ein helles Promenadenkostüm in blaßlila Farbe vom elegantesten Stoff und Schnitt, ein Hütchen aus mattrosa Rosen zusammengestellt und einen Sonnenschirm, der beide Farben vereinigte. Der kostbare und doch unauffällige Schmuck, den sie angelegt, ihre Handschuhe und Stiefelchen alles an ihr verriet die Dame, die, ohne Rücksicht auf den Kostenpunkt, ihre Toilette nur nach ihrem Geschmack besorgt.

Herr Lieutenant Lüdeke war in einen dunkeln Civilanzug gekleidet und hatte den braunen Filzhut etwas tief in die Stirn gedrückt. Auf seinem ernsten, blassen Gesicht lag ein gequälter Ausdruck, und die warmen Blicke und das sonnige Lächeln, mit denen die junge Frau ihre Mitteilungen begleitete, fanden in seinen Augen nur einen schwachen Widerschein. Eben ging ein stutzerhaft gekleideter Herr an den beiden vorüber, klemmte sein Monocle in die Augenhöhle und blickte Elfe, sich in ihren Weg drängend, in dreister und zudringlicher Weise an. Lüdeke zuckte zusammen und warf demselben einen so herausfordernden Blick zu, daß jener sich veranlaßt sah, mit einigen unverständlich gemurmelten Entschuldigungsworten auf die Seite zu treten.

„Ich wollte, Sie hätten zu diesem Spaziergange eine weniger elegante Toilette gewählt,“ sagte er nun, zu Elfe gewendet. „Sie fallen schon ohnehin genug durch Ihre Erscheinung auf, einer Unterstützung bedarf Ihre Schönheit nicht, und es ist Ihnen doch sicher nicht erwünscht, wenn irgend jemand, vielleicht gar einer Ihrer näheren Bekannten, hier auf uns aufmerksam wird.“

„Es ist mir absolut gleichgültig,“ sagte sie schnell, „in der That ganz gleichgültig; meinetwegen können wir auch die ,Linden‘ entlang gehen. Ich habe nicht die Absicht, mich zu verbergen, und habe auch gar keine Ursache dazu. Aber Sie denken anders darüber, der Civilrock gilt doch wohl meiner Gesellschaft?“

„Ja,“ erwiderte er, „ich glaubte, es würde Ihnen so lieber sein. Man weiß doch, wie es in der Welt zugeht. Es heißt von ihr schon, sie ist klein, wenn sich zwei ausweichen wollen, und wollen gar hier in Berlin zwei nicht zusammen gesehen werden, dann laufen sie gewiß an der nächsten Straßenecke dem am wenigsten herbeigewünschten Bekannten in die Arme. Sie sagten mir einmal, Ihr Gatte beeifersüchtele mich, ohne mich zu kennen. Ich glaubte also, dadurch Ihnen wenigstens die Ungelegenheit zu ersparen, daß jemand ihm sagen könnte, er hätte Sie mit einem Artillerieoffizier promenierend gesehen.“

„Sehr vorsichtig – wirklich! Aber, wie gesagt, meinetwegen durchaus nicht nötig. Walden erlaubt es sich gar nicht, mich in Bezug auf meinen Umgang zu beschränken, ich kontrolliere ja auch den seinen nicht, und Anlaß zu öffentlichem Aergernis geben wir doch wohl nicht, wenn wir uns zuweilen hier treffen.“

Er zuckte nervös die Schultern.

„Zuweilen?! Es wäre mir um Ihretwillen doch sehr peinlich, wenn wir von meinen Kameraden hier zusammen gesehen würden. Ich kann für etwaige Bemerkungen darüber nicht einstehen und –“

„Nun, so mögen sie reden,“ rief Frau Elfe ganz erregt, „ich werde ihr Urteil zu ertragen wissen.“

Ihr Antlitz war wie in Purpur getaucht, und nach ein paar Augenblicken des Schweigens stieß sie plötzlich heftig hervor:

„Und wenn Du so vorsorglich bist, warum thust Du nicht das einzige, das alles andere unnötig machen würde, und suchst mich in meinem Hause auf?“

„Ich denke, diese Frage ist durchgesprochen,“ sagte er kurz abwehrend.

„Du gehst zu weit darin,“ rief sie anklagend, „auch auf eine ganz offizielle Einladung zum Diner bekommen wir eine Absage! Das fällt – um mit Deinen Worten zu reden – Walden jedenfalls mehr auf als eine ganze Reihe von Besuchen.“

„Ich kann nicht,“ sagte er und der gequälte Ausdruck in seinem Gesicht verschärfte sich, „es geht mir gegen die Natur. Ich kann die Gastfreundschaft eines Mannes nicht annehmen, für den ich so empfinde wie für Walden.“

„Wie empfindest Du denn für ihn?“

„Elfe!“ Er sah sie mit großen, traurigen Augen an und schwieg.

„Ich meine,“ sagte sie dann, unsicher gemacht durch seinen Blick, „man könnte sich das Leben erträglicher gestalten, wenn Du nicht gar so skrupulös wärest.“

Er zuckte zusammen, sah sie von der Seite an, und ein düsterer Schatten flog über sein Gesicht.

„Ich kann nicht,“ sagte er noch einmal, „es kann niemand weg über die Schranke, die ihm die Natur gezogen.“

„Und da sagst Du mir, daß Du mich schrankenlos liebst!“

„Das thue ich,“ erwiderte er heftig, aber mit unterdrückter Stimme, „leider – thue ich das. Es ist mein Unglück, und ein noch größeres, daß ich’s Dir sagen mußte! Ich liebe Dich grenzenlos, ewig, ich werde nie mein Herz von Dir lösen können! Ich leide unsagbar und habe in den letzten Jahren unsagbar gelitten, ich würde mit Freuden für Dein Glück sterben, aber mich mir selbst verächtlich machen – das kann ich nicht!“

„Fredi, aber, Fredi – – ich kann nicht leben, ohne Dich zu sehen! Kostet Dir das schon die Selbstachtung, wenn Du zuweilen zu mir kommst und mich durch diese Minuten Kraft gewinnen läßt, dies öde Leben weiter zu ertragen?“

„Und die Lügen, mit denen ich mich bei Deinem Gatten einführen, die Verstellung, die ich in seinem Hause üben müßte? Ja, die würden mich vor mir selbst verächtlich machen!“

Sie preßte die Lippen aufeinander und wandte das erbleichende Antlitz von ihm ab.

„Sieh, Elfe, ich mache Dir keinen Vorwurf, Dich sollten meine Worte nicht treffen! Es ist das Gefühl, das in mir wühlt, die Gedanken und Wünsche, die immerfort, Tag und Nacht, die Frau Deines Mannes umkreisen – das verstehst Du nicht! Was ist eure zahme Empfindung gegen die Leidenschaft des Mannes! Ich kann und will keine persönliche Berührung mit ihm haben!“

Sie hatte den Kopf gesenkt und schwere Thränen liefen über ihre Wangen.

„Aber, Fredi,“ schluchzte sie leise, „ich kann ohne Dich nicht leben!“

„Das hast Du auch damals gesagt, damals, als Du noch frei warst,“ stieß er rauh hervor, „und wenige Monate später wähltest [843] Du freiwillig den so viel älteren Mann! Du wirst auch dieses Mal darüber hinweg kommen!“

„Du denkst zu gering von mir,“ sagte sie, ihr Antlitz trocknend und ihrer Stimme Festigkeit gebend. „Bedenke einmal, wie biegsam ein Kindergemüt ist, wie leicht man es beeinflussen und seinen Wünschen geneigt machen kann! Und ich war noch ein Kind, ob es auch nur zwei Jahre sind, die uns von jener Zeit trennen. Zwei Jahre in solcher Ehe, mit der Erkenntnis meines Elends an der Seite eines ungeliebten Mannes, die ändern viel! Du sagst, Du hättest gelitten – was ist das gegen die Qualen, die ich ertrug!“

„So mache ein Ende, trenne Dich von ihm!“ brach es mit Leidenschaft über die Lippen des jungen Mannes. „Längst hätte ich dies von Dir erwartet! Empfindest Du wie Du sagst, so bist Du Dir das schuldig.“

„Du sagst da, was ich tausendmal gedacht! Der Tod meines Kindes hat mir wohl Thränen gekostet, aber ich sah damit die Fessel fallen, die mich an seinen Vater band. Und als ich dann von der schweren Krankheit genas, da habe ich ihn gebeten, mich frei zu geben, den Fehler, den wir durch unsere Heirat gemacht, auszulöschen, indem wir uns in Frieden trennten. Und was antwortete er mir? ‚Niemals!!‘ Ich sollte in seinem Hause leben wie ich wollte, aber frei gäbe er mich nie; den Skandal einer Ehescheidung ließe er nicht über sich heraufbeschwören, ich könnte sicher sein: in diesem Punkte wäre er unbeugsam.“

„Und Dein ganzes Leben soll verpfuscht und zerstört sein!“ rief er mit Entrüstung. „Ist es möglich, daß ein Mensch so grausam ist! so erbarmungslos die Zukunft derjenigen vernichtet, die er doch zu lieben vorgiebt?!“

„Und dann sagte er noch etwas anderes. Er fragte mich: ,Wenn Du nun frei wärest, was dann?‘ – und, daß ich’s Dir gestehe, damit erschreckte er mich. Meiner Eltern Haus ist mir durch diesen Schritt verschlossen, ebenso wie ihr Herz, darüber bin ich mir klar und auf eigene Füße mich stellen, mir mein Brot verdienen, das kann ich nicht! Ich habe so wenig gelernt, habe auch nicht die körperliche Kraft – was sollte dann aus mir werden?“

„Und an mich, Elfe, an mich dachtest Du gar nicht?“ rief er mit vorwurfsvollem Ton, und eine Scharlachröte überzog sein Gesicht, während seine Augen mit glückstrahlendem Ausdruck sie umfingen, „dachtest nicht daran, daß es einen Menschen giebt, der dem Himmel auf Knieen dafür danken würde, wenn er für Dich leben, für Dich arbeiten dürfte? Ach, Elfe, welche Seligkeit ist es schon, nur zu denken, daß es für uns noch eine gemeinsame Zukunft geben, daß die zehrende Sehnsucht, die mich quält, einmal gestillt werden könnte!“

Er hatte nach ihrer Hand gegriffen und hielt sie mit seinen Händen fest.

„Sagtest Du mir nicht früher einmal, Fredi, daß wir einander nicht heiraten könnten – alle gesetzlichen Bestimmungen seien dem entgegen?“

„Aber doch nur als Offizier!“ rief er lebhaft, „und wer zwingt mich denn, Offizier zu bleiben? Giebt es nicht tausend andere Berufsarten, die man wählen und in deren Ausübung man sein stolzestes Mannesrecht: für sein geliebtes Weib zu arbeiten und zu sorgen, erreichen kann?“

„Fredi,“ sagte sie leise und senkte den Kopf tief herab, damit er die Thränen nicht sähe, die in ihren Augen standen, „Du ahnst nicht, was Du da auf Dich nähmest! Wir haben es mit Leo erfahren, wie schwierig es ist, jemand, den das Schicksal aus seinem erwählten Beruf geschleudert hat, wieder in Bahnen zu lenken, die einigermaßen mit den anerzogenen Ansprüchen in Einklang zu bringen sind. Und er war Jurist und Verwaltungsbeamter, denen doch sonst so viele Stellen offen stehen. Mit einem Offizier ist es noch viel schlimmer! Ich könnte es nicht ertragen, wenn nur meinetwillen Dein ganzes Leben ein anderes würde, wenn Du, der Du mit den größten Hoffnungen in die Zukunft sahst, schließlich Deine Tage als –“

„Pferdebahnschaffner oder Landbriefträger endetest,“ unterbrach er sie lächelnd, noch immer der glücklichen Erregung, die ihn erfaßt hatte, Ausdruck gebend. „Nein, Liebste, so schlimm wird es nicht werden! Sieh, ich besitze ein kleines Kapital, nur ein ganz kleines, aber ich hielt es immer ängstlich zusammen, in der Ahnung, daß es mir noch einmal sehr nützlich und wertvoll werden könnte. Das deckt wohl den Unterhalt eines Jahres für uns, und ist man nicht gezwungen, um des Lebens Notdurft willen die erste beste Stelle anzunehmen, kann man ruhig warten und wählen, so findet sich schließlich auch etwas Passendes! Freilich, Elfe, es werden immer nur sehr bescheidene Verhältnisse sein, die ich Dir bieten kann; hungern wirst Du nicht, Liebste, aber von solchem Luxus“ – er sah an ihrer eleganten Toilette hinunter – „wirst Du Abschied nehmen müssen.“

„Ach, der Plunder,“ sagte sie verächtlich, indem sie seinen Blicken folgte, „was gilt er mir! Und Hunger – ob der Hunger nach Glück, nach Liebe wohl leichter zu ertragen ist als der leibliche? – Ich, Fredi, glaube mir, könnte unter allen Umständen nur gewinnen, aber ich wage es nicht, Dein Leben so zu zerstören!“

„Elfe, kennst Du denn so wenig mein Herz, das nur eine Sehnsucht fühlt: Dich zu besitzen, Dich, nur Dich!“

Er ergriff wieder ihre Hand und hielt sie fest. Schweigend vor sich hinstarrend, schritt sie neben ihm hin, dann sagte sie leise mit zitternder Stimme:

„Ich danke Dir, Fredi, ich danke Dir tausendmal für diese Stunde, aber Dein Weib werde ich nicht – aus Liebe zu Dir! Mein Leben ist vernichtet; aber das Deine wird es nicht sein, wenn Du mit kräftigem Willen die Liebe zu mir niederzwingst. Ich werde Gott bitten, daß Dir dies bald gelingt und daß Du noch einmal – sehr glücklich wirst.“

„Das ist nicht Dein letztes Wort, Elfe! Ich weiß es sicher, daß die Stunde schlagen wird, in der Du alle Bedenken von Dir wirfst und zu mir kommst, um mein Weib zu werden.“

Sie schüttelte den Kopf. „Es darf nicht sein – um Deinetwillen. Und nun – leb’ wohl, Fredi!“

„Versprich mir, daß Du meine Worte überdenken willst, Elfe! Zu einem heuchlerischen Verhältnis bin ich nicht der Mann. Mag Walden sein, wie er will, das giebt mir nicht das Recht, ihn zu betrügen! Kannst Du Dich aber zu einer befreienden That aufraffen, dann verfüge uneingeschränkt über mich! Mein Leben gehört dann Dir, wie mein Herz Dir immer gehört hat und immer gehören wird! Bis dahin – leb’ wohl, Elfe!“

„Leb’ wohl!“

Sie reichte ihm die Hand hin, dann, um die hervorstürzenden Thränen zu verbergen, wandte sie sich hastig ab und ging den Weg entlang, der noch tiefer in den Park führte.

Einen Augenblick stand er unschlüssig da und sah ihr nach, dann seufzte er tief auf, wendete sich gleichfalls und ging langsamen Schrittes dem Brandenburger Thor zu.

Ohne zurück zu blicken, eilte Elfe vorwärts; aber nur bis zur nächsten Bank trugen sie ihre zitternden Füße, da setzte sie sich nieder, und ohne Rücksicht auf ihre Umgebung und die Vorübergehenden verbarg sie ihr Antlitz in das Taschentuch und ließ den Thränen, die unaufhaltsam aus den Augen strömten, freien Lauf.

Ein paar kleine Mädchen, die in ihrer Nähe auf dem Rasen spielten, wurden durch das Schluchzen aufmerksam.

„Sieh, Lotti, die fremde Dame weint,“ sagte die eine mitleidig, „was mag ihr fehlen?“

„Sie hat sich gewiß ein Loch in ihr schönes Kleid gerissen wie Du gestern, Rosel,“ meinte die andere.

„Nein,“ entschied die erste, „darum weinen keine großen Leute, sie können es sich doch wieder zunähen.“

Und immer ihre Augen voll Kummer auf die bebende Gestalt gerichtet, schlug sie ein Mittel vor, dessen Untrüglichkeit sie daheim schon erprobt: „Lotti, wir wollen ihr ein Küßchen geben.“

Aber Lotti wollte das nicht, schüttelte den Kopf, steckte den Finger in den Mund und sprang dann eilig davon. Und die kleine Mitleidige stand allein, sah unverwandt auf Elfe, und ihr Mäulchen verzog sich schmerzlich, als sie den klagenden Ton aufs neue vernahm. Dann schlich sie leise an jene heran, legte ihr das Sträußchen, das sie eben auf der Wiese gepflückt hatte, in den Schoß und lief der Gefährtin nach, froh, der weinenden Dame etwas Liebes erwiesen zu haben. – – –

Herr Regierungsrat von Walden ging unruhig durch die Zimmer seiner Wohnung. Einmal ergriff er ein Buch und setzte sich aufs Sofa, dann sprang er auf und nahm an seinem Schreibtische Platz, um nach fünf Minuten wieder auf dem Wege zum Salon zu sein.

Von dem Erker aus sah er die ganze Straße herauf und hinab, und immer aufgeregter spähte er hinaus, ob seine Frau noch immer nicht käme. Vor drei Stunden war sie fortgegangen, [846] hatte vorher alle Anordnungen für das Mittagessen getroffen, aber von der Frage ihrer Jungfer, ob man auf sie mit dem Essen warten solle, keine Notiz genommen, und jetzt war fast eine Stunde über die dafür festgesetzte Zeit verstrichen und sie war nicht zurückgekehrt! Die Köchin hatte wiederholt anfragen lassen, ob ihm nicht die Mahlzeit allein serviert werden sollte, aber er lehnte es ab, er hatte keinen Appetit. Ein eigentümliches Angstgefühl schnürte ihm die Kehle zu: wenn Elfe verunglückt wäre! Mein Gott, es kommen alle Tage solche Fälle vor, oder, wenn sie – fortgegangen wäre, um nicht wieder zu kommen? Sein Herz schlug plötzlich ganz laut. Immer wieder trat vor seinen Geist die Stunde, in der sie mit thränenden Augen und aufgehobenen Händen ihn gebeten hatte: Gieb mich frei! Er war damals fassungslos gewesen, hatte sie angefahren, hatte in ganz brutaler Weise sich solche und ähnliche Worte für immer und ewig verbeten, und hatte dann innerlich triumphiert, als es ihm gelungen war, diese neuen Auswüchse ihrer Launen mit einem Schlage auszurotten. – Aber ein unheimliches Gefühl war ihm seitdem geblieben, oder vielmehr es war gekommen, langsam und allmählich, und jetzt befand er sich eigentlich immer in dem entnervenden Zustande einer peinlichen Erwartung. Wenn er nur darüber Herr würde, wenn er nur einmal wieder freier atmen könnte, dann hätte er ja gar keine Ursache zur Klage gehabt; war doch seitdem, das mußte er sich selbst zugeben, viel mehr Frieden im Hause. Sie hatte sich zwar seit der Geburt des Kindes von ihm getrennt, lehnte jede zärtliche Annäherung aufs entschiedenste ab, aber – mein Himmel, das giebt sich schon – man muß nur warten können – nichts auf die Spitze treiben, allmählich zieht sich alles wieder zurecht – so kennt man doch die Frauen! Jedenfalls war sie jetzt in viel weniger streitbarer Stimmung, fügte sich in seine Anordnungen, erfüllte ihre häuslichen Pflichten und brachte es sogar fertig, in Gegenwart anderer ein heiteres Gesicht zu machen, was er freilich sonst nie mehr sah. Aber eben dieser Ernst, diese Trauer, im Kontrast zu ihrer Jugend, das war es auch, was ihn so bedrückte, was diese schweren Gedanken – fast möchte er es Ahnungen nennen – in ihm erzeugte!

Er war wieder aufgestanden und ging unruhig hin und her – da lag die Tageszeitung, er hatte heute noch keine Ruhe gefunden für die gewohnte Lektüre. So setzte er sich denn abermals und schlug sie auseinander, froh, eine Ablenkung von seinem Sinnen gefunden zu haben. Zuerst kam der Leitartikel an die Reihe, da war natürlich wieder das Gleiche über ein längst bis zum Ueberdruß behandeltes Thema gesagt, wo sollten sie denn auch etwas Neues in dieser Sauern-Gurken-Zeit hernehmen? Dann die Lokalnachrichten, in denen die harmlosesten Alltagsdinge zu sensationellen Neuigkeiten aufgebauscht waren, und schließlich die Familienanzeigen. „Eichberg“ steht da im Trauerrand. Den Namen kennt er ja doch!

„Den nach langem Leiden erfolgten Tod meiner einzigen Tochter Hermine –“

Ah – nun weiß er alles – Hermine Eichberg! – Ein Stück Vergangenheit lebt plötzlich auf. – Das Blatt sinkt ihm aus der Hand, er lehnt sich in den Sessel zurück – Hermine Eichberg – wie lange das her ist! Ein Jahrhundert, dünkt ihn, liegt zwischen damals und jetzt! Und die ist wirklich gestorben, in so jungen Jahren! Tot – – wieder ein Herz weniger auf der Welt, das ihm einst gehörte!! – –

Er springt hastig auf, das Blut ist ihm zu Kopfe gestiegen – ein Herz weniger auf der Welt, das ihm gehörte – das ist’s – ein Herz, das ihm gehörte! – Nun steht sie plötzlich greifbar deutlich vor ihm, die schlanke, zarte Mädchengestalt mit dem feinen, blassen Antlitz und den großen Augen, die so voll Liebe ihm entgegenleuchteten.

Er stöhnt auf und bedeckt sein Gesicht mit der Hand. Wie erst ihr beweglicher, anmutiger Geist ihn angezogen und wie ihr schönes Talent dann rasch dies Interesse verdoppelt hatte! Dann sah er in ihren Augen den Funken der Liebe aufstrahlen – und da packte ihn die alte Eitelkeit – und er that alles, um dieses Gefühl in ihr festzuhalten und zu steigern – that’s, trotzdem damals schon der Vorsatz, um Elfe zu werben, ganz fest in seiner Seele stand.

„Woran wir sündigen, daran werden wir gestraft!“ sagte er leise vor sich hin. Nun wußte er es, wie sie gelitten haben mochte, als sie erkannte, daß sie ihm nur ein Zeitvertreib, ihre Liebe ihm nur der Weihrauch gewesen war, an dessen Duft seine Eigenliebe sich sättigte. Nun wußte er es an den eigenen Schmerzen! Und sie war gestorben? – wohl ihr! Wer auch so fort dürfte, wer sich loslösen könnte von dem Leben, das uns so viele Qualen bringt! Aber ihn hält ja die Erde mit eisernen Klammern, so lange sie die Frau trägt, für die er diese verzehrende Leidenschaft empfindet, die er bis zum Haß liebt – und der er nichts ist als der Stein im Wege, der sie hindert, ihrem eignen Glück nachzugehen!

„Die gnädige Frau läßt den Herrn Regierungsrat sehr bitten, ohne sie zu essen, sie ist –“

„Meine Frau?“ ruft er aufspringend, „ist sie zurückgekehrt? – Wo ist sie?“

„Die gnädige Frau kam vor fünf Minuten und hat sich gleich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Sie bittet den Herrn Regierungsrat –“

Er hört nicht mehr, was das Mädchen sagt, er fühlt nur eine große Erlösung. Angst und Sorgen sind vergessen, die düsteren Gedanken und Reflexionen wie Wolken vom Winde verweht, und hastigen Schrittes eilt er durch die Räume nach ihrem Zimmer. Die Thür ist von innen verschlossen, und auf seinen Ruf antwortet eine leise Stimme:

„Bitte, nimm das Mittagsessen ohne mich! Ich bin durch den Spaziergang sehr angegriffen und habe mich gleich zu Bett gelegt.“

„Soll ich nach dem Arzte schicken? Willst Du nicht die Thür öffnen, damit man etwas für Dich thun kann?“

„Ich brauche nichts als Ruhe – gönne mir diese nur! Zum Abend werde ich jedenfalls aufstehen.“

Er bittet noch einmal, daß sie aufschließen möge, und als keine Antwort erfolgt, geht er auf den Fußspitzen davon, ein zufriedenes Lächeln auf seinen Zügen. Und nun hat er auch Appetit. Nun merkt er, daß Hunger und Durst ihn gequält, und nach dem reichlich eingenommenen Mahl ist seine ganze Stimmung gefestigter und behaglicher. Er streckt sich auf das bequeme Sofa aus, und was er nun vom Schicksal verlangt, ist nicht Ruhe, Erlösung von der Qual des Lebens, sondern – der sanfte Schlaf des Gerechten.

Und drinnen in ihrem Zimmer liegt, noch angethan mit ihrer kostbaren Toilette, Elfe auf den Knieen und hat ihren Kopf in die Polster des Sofas verborgen. „Ich kann nicht von ihm lassen,“ schluchzt sie und ringt die Hände, „ich kann das Leben ohne ihn nicht ertragen, und doch, ich muß es – muß es – um seinetwillen!“ – –

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 51, S. 857–859
[857]
16.

Die letzten, schräg fallenden Strahlen der Sonne lassen die goldenen Inschriften der Denkmäler, die den Friedhof schmücken, hell aufleuchten und erhöhen die Farbenpracht der zahllosen Blüten, welche diesen Thränenacker in einen Blumengarten verwandeln.

Ein köstlicher Augustabend ist’s – kein Lüftchen rührt sich, Reseda und Levkojen erfüllen die Luft mit schier berauschendem Duft und das Summen der Insekten ist fast der einzige Ton, der in diesen Frieden dringt.

An einem Grabe, das, eingeschlossen von einem grünumrankten Gitter, etwas abseits von den breiten Wegen liegt, ist Lisbeth eben beschäftigt, die abgeblühten Pflanzen herauszunehmen und durch frische zu ersetzen, die neue Blumen versprechen. Sie arbeitet schon längere Zeit dort, hat das Unkraut ausgejätet, die Erde gelockert; nun sputet sie sich, denn die Sonne sinkt und mahnt zur Heimkehr. Von ihrer Beschäftigung ganz in Anspruch genommen, achtet sie auf die Vorübergehenden nicht und bemerkt auch den Herrn nicht, der langsam den Weg bis zu diesem Platze zurückgelegt hat und sich nun, den Hut von dem vollen, blonden Haare nehmend, ans Gitter lehnt. Sein Schatten fällt über den sonnenbeschienenen Platz und läßt Lisbeth aufsehen, und ihr schon von der Arbeit erhitztes Antlitz errötet noch tiefer bei seinem Anblick.

„Welche Ueberraschung!“ sagt sie, indem sie sich von den Knieen erhebt, „seien Sie gegrüßt, Arnold! Wie kommen Sie hierher? Sie wurden noch lange nicht erwartet.“ Und damit öffnet sie die Thür des Gitters und reicht ihm die nun von der feuchten Erde gesäuberte Hand mit herzlichem Lächeln hin.

Er tritt ein, beugt sich, indem er mit der Rechten den Rasen berührt, einen Augenblick über den Hügel und nimmt dann auf dem Bänkchen Platz.

„Mein Urlaub,“ begann er, „sollte erst Mitte nächsten Monats anfangen, aber ich hatte Gelegenheit, durch einen Tausch mit einem Kollegen diesem noch einen Gefallen zu thun, also reiste ich natürlich sobald als möglich ab und vor einer Stunde bin ich hier angekommen. Acht Monate sind es her, daß ich fortging, eine lange Zeit!“

Sie nickte.

„Und was sagte denn das Liesel?“ fragte sie mit erwartungsvollem Stolz in den Mienen.

Er lächelte.

„Sie kreischte entsetzlich,“ antwortete er, „als ich sie von ihrem Stühlchen aufhob und küßte, und schrie immerfort: Tata Lisi, Tata Lisi! – und Mutter sagt, das sei ihr Hilferuf in allen Nöten.“

Lisbeth hatte die letzten Blumenstauden noch eilig in die Erde gedrückt, nun rieb sie die Hände ab, zog die Handschuhe an und ergriff das Körbchen.

„Ich sehe Sie heute noch,“ sagte sie freundlich, „denn ich möchte doch auch hören, was Sie uns von Ihrem Leben in Berlin zu erzählen haben. Aber jetzt will ich gehen, es ist selbstverständlich, daß Sie hier allein sein möchten.“

„Aber, Lisbeth,“ rief er lebhaft, indem er sich erhob, „wie können Sie das sagen! Wann sind wir einander je zuviel gewesen? – und hier doch ganz gewiß nicht! In meinen Gedanken und nach dem Herzen derer, die hier ruht, gehören wir drei immer zusammen. Lassen Sie uns noch ein wenig niedersetzen und dann gehen wir gemeinsam fort.“ –

Sie setzten sich nieder auf die schmale Bank nebeneinander und er blickte gedankenvoll vor sich hin.

„Wie oft haben wir früher uns als Kinder unter diesen alten Bäumen herumgetrieben! – Es ist eigentümlich,“ fuhr er nach kurzem Stillschweigen [858] fort, „seit meine kleine Frau nicht mehr bei mir ist, verschwindet die kurze Zeit unserer Ehe immer mehr aus meinem Gedächtnisse, und in meiner Erinnerung lebt Gertrud als das, was sie mir ja auch die längste Zeit ihres Lebens war, als meine liebevolle, treue, aufopfernde Schwester.“

„Die brüderliche Liebe eines ganzen Lebens hätte sie nicht so beglückt wie die kurzen Jahre, in denen aus dem Bruder der Geliebte und dann der Gatte wurde,“ erwiderte Lisbeth mit dem Ton vollster Ueberzeugung.

„Ja,“ sagte er ernst, „dem war so, sie hat mich unendlich lieb gehabt und ich bin dem Schicksal dankbar, daß es mir vergönnt war, ihr kurzes Leben so reich zu gestalten. Es ist sonderbar mit den Lebenswegen! Wir müssen den aufgeben, den wir am liebsten gehen möchten, um dann auf einem anderen doch auch wieder Glück zu finden, nur ein anderes, als wir zuerst hofften!“

Lisbeth sah ihn verwundert an; er brach ab und fügte erst nach einer Weile hinzu:

„Sie haben diese Erfahrung auch an Ihrem Bruder gemacht. Den Weg zum Glück, den er gegangen ist, hätte er auch freiwillig nie gewählt. Und ich hörte schon mit dem herzlichsten Interesse von meinen Eltern, welche reiche Quelle der Freude sein Ergehen jetzt Ihnen geworden ist.“

Mit ganz verklärtem Gesichtsausdruck schaute Lisbeth bei diesem Lobe ihres Bruders ihn an.

„Ich bin vor einigen Wochen erst von dem Besuch bei unserem jungen Ehepaare zurückgekehrt,“ sagte sie, „und ich kann behaupten, der kurze Aufenthalt dort ist fast die schönste Erinnerung meines Lebens.“

„Erzählen Sie doch!“

„Ach, das läßt sich ja kaum beschreiben, wie diese beiden Menschen zusammen leben, und wer es nicht selbst gesehen hat, was unsere kleine Annie aus ihrem Leo gemacht hat, der kennt ihn in meinen Berichten auch gar nicht wieder. Er ist eben ein ganz anderer Mensch geworden!“

„Die Hochzeit folgte so schnell der Verlobung; sie verstanden es wirklich, zu überraschen.“

„Ja, das war alles Annies Bestimmung. Sie war durchaus der Ansicht, daß Leo sie in der ersten Zeit an dem fremden Ort am nötigsten brauche, fand es ganz lächerlich, wenn man daran dachte, daß für sie doch auch gewisse Zurüstungen erst gemacht werden müßten, und hat denn auch alles in diesem Sinne durchgeführt. Nun hat sie sich auch wirklich eigenhändig ihr Heim dort geschaffen.“

„Es ist ein ganz kleines Städtchen, das ihnen Ersatz für so vieles bieten muß, was sie vorher in Fülle besessen!“

„Sie kennen die Stadt? Nun, dann wissen Sie, daß man eigentlich an einen jämmerlicheren Ort und in kleinere Verhältnisse gar nicht kommen kann.“

„Hat er Dienstwohnung?“

„Ja. Ein Häuschen, wie es hier kaum ein Handwerker bewohnen würde! Annie hat freilich innen ein Puppenhäuschen an Zierlichkeit daraus gemacht, aber es ist auch ein Puppenhäuschen an Kleinheit, man wundert sich ordentlich, daß so viel Liebe und so viel Glück darin Platz haben. Es sollte übrigens ausgebaut werden, das war ihm bei der Wahl versprochen worden; aber Leo findet, daß die Stadt so viel dringendere Ausgaben hat, und verzichtet. Ueberhaupt, wie die beiden Menschen mit Hintansetzung der eigenen Annehmlichkeiten für das Gemeinwohl sorgen, das ist geradezu erquickend zu beobachten! Wie hat sich Leos Herz erweitert! Wie hat sich sein Charakter geklärt und gekräftigt, seit ihn damals das Unglück traf! Er wird in Wahrheit einmal der Vater jener Stadt, wenn er so weiter wirkt. Und die kleine Frau immer neben ihm, immer ihm zur Seite, und wer ihr Gespräch belauscht, wenn sie zusammenhocken wie die Turteltauben, der hört die höchst ernsthafte Erwägung der Frage, ob’ die Verbesserung des Armenhauses oder der Umbau der Gemeindeschule oder sonst etwas derart am notwendigsten sei.“

„Wer hätte das wohl Leo in früheren Tagen zugetraut! Wahrlich, er hat sich zu bescheiden gelernt! Aber man sieht es wieder, wie eine für uns passende Stellung auch Fähigkeiten in uns entwickelt, von deren Dasein niemand, ja wir selber nicht, eine Ahnung hatte.“

„Nun, diese Umwandlung seiner Lebensausichten und Ziele verdankt er wohl vor allem seiner Annie und deren trefflichen Eltern. In einer Zeit, in der die ganze Welt ihn niederdrückte und er sich völlig verloren gab, haben jene ihn aufgerichtet und ihm nicht nur neue Lebensziele, sondern auch die Mittel und Wege dazu gezeigt. Dafür ist er ihnen aber auch in unbegrenzter Liebe ergeben.“

Sie waren unter diesen Gesprächen über den Friedhof gegangen und schritten nun einen Pfad entlang, der durch grüne Wiesen führte.

Man hatte den zweiten Schnitt gemäht, das frische Heu lag in Häufchen zusammengeharkt und ein leiser, feiner, würziger Duft stieg davon auf in die klare Abendluft.

„Wie freue ich mich um Ihretwillen, Lisbeth, dieser guten Nachrichten!“ fuhr Arnold weiter fort, indem er herzlich zu ihr aufblickte. „Ihr treues Schwesterherz hat wahrhaftig das alles wohl verdient!“

„Ja wirklich, der bloße Gedanke an Leo und Annie ist mir eine wahre Herzenserquickung,“ antwortete sie, „es ist ein Gegengewicht gegen anderes, denn, Arnold, wir sind drei Geschwister und –“

„Da giebt’s immer Grund zur Sorge, wollen Sie sagen. Freilich, Frau Elfe – “

„Hörten Sie etwas von meiner Schwester in Berlin?“ unterbrach Lisbeth ihn hastig.

„Nicht gerade viel, aber dann und wann hörte ich doch einmal, daß Ihre Elfe nicht glücklich sei.“

Lisbeths Augen waren gespannt auf ihn gerichtet.

„O, beruhigen Sie sich, man sagt Ihrer Schwester nichts Schlimmes nach. Man bedauert sie, aber Walden auch, denn offenbar passen sie zu einander gar nicht. Im Frühling hieß es sogar, daß sie sich trennen wollten, aber – – –“

„Nein,“ sagte Lisbeth schnell, „das ist – gottlob – ein überwundener Standpunkt. Elfe wollte es, aber meine Eltern blieben fest dagegen und Walden verweigerte es ebenfalls.“ Sie seufzte tief. „Glück haben wir für sie wohl nicht mehr zu erwarten, aber vielleicht doch Frieden, wenn sie älter und ruhiger sein wird. Freilich, die Hauptsache wird ihnen immer fehlen – die echte, rechte Liebe!“

„Ja,“ erwiderte er, „Sie haben nur zu sehr recht. Das habe ich selbst in vielen schweren Stunden schmerzlich genug empfunden. Die echte, rechte Liebe allein sollte einen Ehebund zusammenhalten, freilich dürfte auch sie allein ihn nur schließen! Ich habe so viel über diese Dinge nachgedacht, weil ich mich doch auch von dem Fehler, aus einem anderen Grunde ein Menschenschicksal an das meine gebunden zu haben, nicht freisprechen konnte.“

Lisbeth sah ihn erschreckt an und sagte dann, in dem sichtlichen Verlangen, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben:

„Man soll nicht zu viel über Vergangenes grübeln. Sie haben Gertrud unendlich beglückt und waren es selbst doch auch – vor ihrer Krankheit! Also ist Ihre Ehe eine von den rechten und echten gewesen.“

„Nein,“ sagte er, „so war es doch wohl nicht, und ich bin mir dessen die ganze Zeit bewußt geblieben. Ich habe für Gertrud nicht anders empfunden, als ein Bruder für eine liebe Schwester empfindet, und ich habe sie auch nicht einmal deshalb geheiratet, weil ihr Empfinden für mich meine Eitelkeit oder mein Mitleid weckte, sondern wohl deshalb nur, weil ich da, wo ich wahrhaft liebte, mich zurückgestoßen und tief verletzt fühlte. Eine thörichte Rache, wie ich nur zu bald einsah! Daß ich später meine Pflicht erfüllte, daß ich alles that, um meine Frau glücklich zu machen, konnte mich über das Gefühl nicht hinwegbringen, daß ich ein Unrecht gegen Gertrud wie gegen mich selbst und am schwersten gegen eine Dritte begangen.“

Lisbeth hatte den Kopf abgewandt, damit er ihr nicht ins Gesicht sehen könnte, und ab und zu bückte sie sich nieder und pflückte am Wegrain eine Blüte oder ein Blättchen. Er sah nach ihr hin, als erwartete er eine Entgegnung; nun sie kein Wort erwiderte, nahm er nach einer Weile das Wort wieder auf:

„Daß man in der Jugend sich so gar nicht in die Seele anderer versetzen kann, daß man durchaus verlangt, verstanden zu werden, während man eben diese anderen doch gar nicht versteht! Wie weich, wie biegsam, wie liebevoll war Ihr Gemüt, und Sie [859] wollte ich energisch, entschlossen, gefestigt gegen äußeren Einfluß sehen! Wollte, Sie sollten zu mir stehen gegen alle, die mich empfindlichen Burschen vielleicht ganz ahnungslos verletzten und demütigten, und verurteilte Sie, wenn Sie dem natürlichen Zuge Ihres Herzens folgten und Ihren Eltern gehorsam waren, als lieblos und hochmütig!“

Nun sah sie doch auf und ihm ernst in die Augen.

„Lieblos und hochmütig, – nein, das war ich wohl nicht, aber viel zu unselbständig in meinem Urteil und Handeln, ein schwacher Charakter, schwankend und leicht zu beeinflussen. Ihr Römers – wie oft habe ich das schon dankbar empfunden – habt mich durch euer Beispiel ja eigentlich erst erzogen!“

„Lisbeth,“ sagte er warm und griff nach ihrer Hand, „die edelste, reinste, großmütigste bist Du doch immer gewesen, und jetzt erscheint dem Manne die Weichheit und Biegsamkeit Deines Wesens ebenso entzückend wie sie dem Jüngling verletzend war!“

„Jetzt, nachdem sie verschwunden ist,“ hauchte sie, leise erbebend.

„O, das ist sie nicht! Im Grunde Deiner Seele liegt noch immer das Bedürfnis, sich anzulehnen, sich dem unterzuordnen, dem Du völlig vertraust! Nur gefestigter bist Du, nur entschlossener, auch dafür einzutreten, was Du empfindest. Lisbeth, wirst Du nun den Mut haben, Deinen Eltern und aller Welt unsere Liebe, die trotz allem doch immer die gleiche blieb, einzugestehen?“

„Arnold!?“

Sie zuckte zusammen und sah ihn erschreckt an.

„Erinnerst Du Dich der Stunde, wo Du, damals noch ein Schulmädchen, dem Primaner in die Hand versprachst, was das Leben auch bringen möge, nie Dein Herz von ihm zu wenden und einst sein zu werden, wenn auch Jahre und Jahre darüber vergehen müßten? Erinnerst Du Dich noch dessen? Sieh, es war gerade wie heute solch’ ein rosiger Abendhimmel über uns, und die Sterne, die dort am Firmament blinken, sind auch dieselben, die unsere so heiß empfundenen Schwüre hörten. Damals mußten wir uns sagen lassen, daß diese Liebe schnell vergehen würde, und nun lebt sie heute unverändert, so stark und fest als je in unseren Herzen. Willst Du mir Dein Wort einlösen? – willst Du die Meine werden, Lisbeth?“

Sie stand vor ihm mit gesenkten Augen und wogender Brust. Er legte leise den Arm um ihre Schulter und zog sie sanft an sich. Da wandte sie die Augen zu ihm empor.

„Ja, ich will, Arnold, und Gott helfe mir, daß ich Dich glücklich mache! Du fragst mich nicht, ob ich Dich liebe, weil Du es weißt. Und ich wußte es auch längst, daß diese Stunde einst schlagen werde; Gertrud hatte es mir gesagt. – – Ihr Geist, Arnold, ist jetzt mit seinem Segen bei uns!“

Er zog seine Brieftasche hervor, entnahm derselben ein Papier und reichte es ihr.

„Ein Brief von Gertrud an uns beide. Er ist in den letzten Tagen ihres Lebens geschrieben, ich fand ihn nach ihrem Tode in ihrer Schreibmappe.“

Und wie er Lisbeth denselben hastig entfalten sieht, schlingt er den Arm um sie und drückt, während ihr im Lesen heiße Thränen auf das Blatt fallen, ihren Kopf innig an seine Brust.

„Wir wollen das Andenken an unsere Gertrud immer pflegen und hochhalten, Geliebte,“ sagte er leise, „aber wir dürfen auch dem folgen, was sie hier selbst für uns wünscht!“

Lisbeth trocknete die. Thränen und richtete sich in die Höhe, ein seliges Lächeln lag jetzt über ihren Zügen.

„O, wie bin ich reich,“ rief sie und breitete die Arme gen Himmel. „Du gehörst nun mir, Du mein Einziggeliebter, Du – und Dein Liesel!“

„Und nun komm’ zu den Eltern,“ sagte er, „und zu unserm Kind!“

*               *
*

Als Lisbeth nach Hause kam, fand sie ihren Vater nicht vor, und wenn sie ihn auch unendlich gern bei der Aussprache, die sie nicht aufgeschoben haben wollte, an ihrer Seite gesehen hätte, so mußte sie der Mutter doch gleich Mitteilung von dem Geschehenen machen, anders ließ es ihr Herz gar nicht zu.

Die Geheimrätin saß in einem Sessel bei der Lampe und las so eifrig die Abendzeitung, daß sie Lisbeths Eintritt nicht bemerkte. Mit leichten Schritten ging diese auf sie zu, kniete auf das Fußkissen vor ihr hin, schlang zärtlich ihre Arme um sie und blickte innig zu ihr auf.

„Du mußt die Zeitung fortlegen, Mama, ich habe Dir so viel zu sagen!“

Die Geheimrätin sah sie verwundert an, schob das Blatt fort und erwiderte die Liebkosung, indem sie Lisbeths Schulter streichelnd umfaßte.

„Nun, mein Kind, was giebt’s? Du siehst ja so strahlend aus!“

„Ich habe mich mit Arnold Römer verlobt. Freue Dich über mein großes Glück und gieb uns Deine Einwilligung!“

„Um Gotteswillcn,“ unterbrach die Geheimrätin sie und lehnte sich erschreckt gleich in den Sessel zurück, „wie kannst Du so etwas sagen? – und so laut es aussprechen! – Ich denke, er ist in Berlin! – Er schrieb Dir also?“

„Nein, seit heute ist er hier – und, Mamachen, es kann Dich doch eigentlich gar nicht so sehr überraschen – Du weißt es doch – ein Mutterauge sieht ja scharf – daß ich ihn seit meiner frühesten Jugend im Herzen trage! Sage ‚Ja‘, Mamachen, und laß uns zusammen glücklich werden!“

„Aber, Lisbeth,“ rief die Geheimrätin mit vor Aufregung zitternder Stimme, „das ist ganz unmöglich, solch’ einen Schritt überlegt man doch nach allen Seiten! Wie kann ich meine Einwilligung geben, ehe ich weiß, wie Papa darüber denkt! Uns ist dieser – Herr Römer doch auch ein ganz fremder Mensch! Wir kennen ihn nicht, wissen nichts von ihm. Lebt er denn in solchen Verhältnissen, daß er Dich heiraten kann? Was ist er jetzt eigentlich? Und was hat er für einen Titel?“

„Was er für einen Titel hat?“ wiederholte Lisbeth, auf deren glückselige, himmelhoch jauchzende Stimmung diese Betrachtungen der Mutter gleich einem kalten Wasserstrahl wirkten, „was er für einen Titel hat?“ wiederholte sie noch einmal und erhob sich von dem Kissen, „ja, – darüber kann ich Dir wirklich keine genaue Auskunft geben. – Ich denke – aber sicher weiß ich es nicht –“

„Das weißt Du nicht einmal?“ unterbrach die Geheimrätin sie voll Erstaunen und mit aufsteigender Entrüstung, „und da erschreckst Du mich durch die Mitteilung, Du wollest ihn heiraten und Du habest immer Interesse für ihn gehabt! Dir kann doch unmöglich gleichgültig sein, was der Mann Deiner Wahl ist und was er in der Welt vorstellt! Und dann, Kind – bedenkst Du es denn gar nicht! – seine Frau ist noch nicht einmal ein Jahr tot und da hat er sie schon vergessen! Was würden die Leute zu dieser Pietätlosigkeit sagen!“

„Gertrud ist freilich erst vor acht Monaten gestorben, Mama, aber das ändert nichts. Wir werden sie nie vergessen, nie – darum war es für unsere Aussprache gleichgültig, ob das erste Jahr vorüber ist oder nicht. Aber Hochzeit wollen wir allerdings erst nach Ablauf des Trauerjahres halten. Nicht der Leute, sondern der kleinen Liesel wegen – ihr Kind könnte das vielleicht einmal nicht verstehen.“

„So, an Hochzeit habt ihr auch schon gedacht?“ sagte mit spöttischem Lachen die Frau Geheimrat. „Was ihr für moderne Leute seid! Das Urteil der Menschen ist gleichgültig, die Eltern empfangen erst die Mitteilung von der vollendeten Thatsache, und man muß sich für die zarte Rücksicht noch bedanken, daß es wenigstens nur die Thatsache der Verlobung, nicht die der vollzogenen Heirat ist!“

„Liebe Mama,“ sagte Lisbeth ruhig, „laß uns das Gespräch abbrechen und erlaube, daß ich mich in mein Zimmer zurückziehe. Arnold wird morgen Papa aufsuchen und mit euch Rücksprache nehmen, vielleicht führt er unsere Sache besser als ich es verstanden habe,“ und die Hand der Mutter zum Abschied küssend, ging sie schnell zur Thüre hinaus.

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aus: Die Gartenlaube 1896, Heft 52, S. 878–882

[878] Es war zwölf Uhr geworden, ehe der klirrende Schlüssel in der Flurthür der Geheimrätin die Rückkehr ihres Gatten anzeigte. So spät kam er sonst nie aus dem Kasino und sie war die ganze Zeit in größter Unruhe im Zimmer auf und nieder gegangen, denn die Erregung, in welche Lisbeths Mitteilung über ihre Verlobung mit dem jungen Römer sie versetzt hatte, ließ sie nicht einschlafen, und so wollte sie lieber den Gatten erwarten, um sich gleich mit ihm über die zu treffenden Maßregeln zu verständigen. Zu ihrem Erstaunen zeigte er gar keine Verwunderung, sie noch wach zu finden, und auf seinem Gesicht lag ein so freudiger Ernst, daß sie sofort eine angenehme Mitteilung mutmaßte.

„Ich bin schon vor länger als einer Stunde heimgekommen,“ sagte er, als er Hut und Stock abgelegt hatte und sich nun auf das Sofa niederließ, „aber der Zufall wollte es, daß ich den jungen Römer traf, und mit diesem bin ich dann die ganze Zeit auf und ab spaziert.“ Er sah seine Frau forschend an: „Nun, Käthchen, hat Dir Lisbeth nichts Neues erzählt?“

„Ja, Erich, und deshalb erwarte ich Dich noch jetzt in der Nacht. Die alte Geschichte lebt wieder auf! Du siehst, ich hatte recht, wenn ich mich gegen die Freundschaft mit Römers stets so ablehnend verhielt. Nun stehen uns wieder neue Kämpfe bevor, und was werden wir durchzumachen haben, bis wir Gehorsam und Fügsamkeit erringen!“

„Aber warum denn?“ fragte er ganz erstaunt und sah sie lächelnd an, „ich verstehe Dich offenbar gar nicht.“

Sie zuckte die Achseln und wandte sich gekränkt ab.

„Du bist in heiterer Stimmung, Mann, darum kommt Dir auch dies heiter vor. Wenn Du morgen die Angelegenheit der Ueberlegung unterziehst, wirst Du anders darüber denken!“

„Mein Himmel,“ sagte er mit einem Anflug von Ungeduld, „wir scheinen uns in der That nicht zu verstehen! Was meinst Du eigentlich? Ich glaubte, Lisbeth sei mir mit der Mitteilung zuvorgekommen, indessen wollte sie wohl, Du solltest es aus meinem Munde hören. – Eben hat also der junge Römer bei mir um ihre Hand angehalten! – Eine wunderliche Stunde für eine offizielle Werbung, nicht wahr? Aber es hatte auch seinen Grund. Er begleitete nämlich Lisbeth von seinen Eltern nach Hause, sie gingen Arm in Arm, und als sie sich voneinander verabschiedet hatten – was sehr herzlich geschah und Lisbeth ins Haus gegangen war, stand er, sich umwendend, mir gegenüber, der ich unabsichtlich Zeuge dieser Liebesscene geworden war. Natürlich hielt er es nun für nötig, mir sofort die Sachlage zu erklären und sich gleich meiner Zustimmung zu versichern.“

„Deiner Zustimmung, Erich?!“

„Nun, doch auch der Deinen, Frauchen! Er bat eben um unseren elterlichen Segen und wird morgen vormittag herkommen, um Dir selbst diese Bitte vorzutragen.“

Die Frau Geheimrätin verstand immer noch nicht.

„Was soll das nur? Wozu dieses lange Hinziehen der Entscheidung? Du hättest mit zwei Worten der ganzen Sache ein Ende machen müssen. Wir kennen den Menschen ja gar nicht.“

„Ja, das ist dann Deine Schuld, liebe Frau, wenn Du ihn nicht kennst! Unsere Tochter ist täglich im Hause seiner Eltern gewesen – eine Mutter sollte denn doch darin ihre Pflicht erkennen, einer Familie näher zu treten, die ihrem Kinde so viel Freundschaft erweist.“

Ein vorwurfsvoller Blick traf ihn.

„Ich bitte Dich, Erich, diese Vorstellungen sind wirklich ganz ungerecht! Ich will von den Leuten doch nichts! Und in welcher Weise konnte man sich wohl für die Lisbeth entgegengebrachte, mir übrigens unendlich unangenehme Gastfreundschaft revanchieren? Den Sohn der Römers habe ich ja auch wiederholt zu unseren Bällen – damals, als er Student war – eingeladen; später freilich verstand es sich von selbst, daß das aufhören mußte! In unsere Kreise paßt doch ganz gewiß nicht ein Postschreiber.“

„Postschreiber?!“ wiederholte er und sah sie ganz verblüfft an. „Postschreiber nennst Du einen studierten Beamten, der die höhere Postcarriere macht? – aber Frau, das finde ich wirklich stark!“

„Nun, was ist denn sonst dieser Herr Römer, um dessentwillen Du sogar die Höflichkeit gegen Deine Frau vergißt? Lisbeth selbst wußte es nicht zu sagen!“

Er trat schnell zu ihr heran.

„Aber, Frauchen, werd’ nicht böse, Du weißt ja, wie’s gemeint ist! Ich ärgerte mich wirklich über Deinen absprechenden Ton. Denke Dir, wenn Giersbachs so mit unserem Leo gerechnet hätten, und dieser Fall ist in der That nicht zu vergleichen. Arnold Römer geht also jetzt als Postrat nach Breslau, nur ganz vorübergehend, die nächste etatsmäßige Vakanz im Reichspostamt führt ihn wieder nach Berlin an eine bedeutende Stelle in der Direktion – – und dabei ist der ganze Mensch vierunddreißig Jahr alt! Du mußt zugeben, der hat in Wahrheit glänzende Aussichten.“

Seine Frau hatte ihn sehr überrascht und betroffen angesehen. Nun sagte sie, während eine lebhafte Röte in ihr Gesicht stieg:

„An den Mißverständnissen ist nur Lisbeth schuld. Das Mädchen faßt, sobald es sich um Römers handelt, die einfachste Frage als Beleidigung auf. Ich bin außer stande, dieses ,in den Wolken schweben‘ zu begreifen; ich erkundigte mich, welchen Titel jetzt Römer führt – er wechselt ja ewig damit – und sie sagte mir darauf, das wüßte sie nicht – danach hätte sie ihn nicht gefragt! Nun bitte ich Dich – von einem Menschen, den sie heiraten will, weiß sie nicht einmal das wichtigste!“

„Ihr erscheinen wohl seine äußeren Verhältnisse nicht als das wichtigste, sondern ihre innere Zusammengehörigkeit mit ihm. Doch genug davon! Mir imponiert dieser junge Mann ebenso sehr durch seinen Charakter wie durch seine Erfolge, und da die beiden so heiß ihren gegenseitigen Besitz anstreben, so würden wir – hörst Du, Frauchen – auch nichts dagegen haben können, wenn seine Position weniger günstig wäre, sondern uns nur freuen, unsere liebe älteste Tochter glücklich zu sehen! Wir wissen es ja leider, daß auch eine sogenannte gute Partie nicht allemal ein Glück ist, vielleicht wird uns hier Ersatz für andere zerstörte Hoffnungen.“

Die Frau Geheimrätin hielt es für gut, die letzte Betrachtung zu überhören. „Ich verstand Lisbeth so, als ob sie beide ein Bekanntwerden der Verlobung vorläufig nicht wünschten. Mir ist das auch sehr recht. Mit den Anzeigen – da er schon Rat ist – ginge es wohl, aber wenn ich mündlich der Excellenz die Nachricht bringe, kann ich doch auch von seinem demnächstigen Avancement etwas einfließen lassen, und das ist mir doch lieber, denn von der Postcarriere weiß in unseren Kreisen niemand etwas.“

„Meinetwegen,“ sagte der Geheimrat etwas kürzer als es sonst seine Art war, „ich hindere Dich in Deinem Willen nicht, aber morgen störe Du mir durch solche praktischen Erwägungen nicht den ersten Brauttag der beiden! Man muß die Eigentümlichkeiten der Menschen schonen! Lisbeth steht längst auf dem Standpunkt, den ja jetzt auch Leo einhält, ich meine, den einer gewissen Verachtung alles nur Aeußerlichen. Ich weiß, Du denkst anders darüber, aber ich möchte nicht, daß Römer oder Lisbeth durch den Unterschied Deiner Ansichten mit den ihrigen verletzt würde. Wozu nützte das auch? Du änderst damit doch nichts!“

„Nein, das fühle ich auch,“ sagte die Frau Geheimrätin und sah anklagend gen Himmel. „Und das sind meine Kinder!“


17.

Dem Sommer war der Winter gefolgt und bei Brückners war das Haus nun leer. Auch das letzte ihrer Kinder war hinausgezogen, um im eigenen Heim zu walten und zu schalten, und wenn nicht diese glückatmenden Briefe die Eltern etwas entschädigt hätten, dann wäre es ihnen in ihrer schönen Häuslichkeit, in der früher so viel heitere Geselligkeit geherrscht hatte, recht einsam geworden. Im Grunde fühlten sie es auch jetzt so und waren bemüht, es voreinander zu verbergen, wie sehr sie darunter litten. Der Geheimrat sagte immer häufiger: das wäre so die Natur der Sache und der Lauf des Lebens – „wenn die Vöglein flügge sind, verlassen sie das elterliche Nest und bauen das eigene“ – und mühte sich, durch diese natürliche Vorstellung seine Gefühle in die richtigen Bahnen zu leiten. Die Frau Geheimrätin hielt es gar nicht recht im Hause, seit sie Lisbeths stilles Walten nicht mehr um sich fühlte. Wenn ihr Mann im Bureau und sie allein in den weiten Räumen war, erfaßte sie eine ordentliche Angst, und sie warf sich mehr als je den Wohlthätigkeitsbestrebungen in die Arme, ohne doch durch die Gesellschaft der Excellenz und anderer hochgestellten Damen über die Unruhe in ihrem Inneren hinwegzukommen.

[879] Ihren besten Trost schöpfte sie noch aus einer Quelle, die niemand je vermutet hätte, nämlich aus den Briefen ihres Schwiegersohns Arnold Römer.

Er hatte den festen Willen gehabt, mit der Mutter seiner Lisbeth gut zu stehen, und fand nun bei näherer Bekanntschaft, daß die Frau, die er nur freundlich ertragen wollte, ihm im Grunde sehr sympathisch war. Ihr Fleiß und ihre Tüchtigkeit, ihr offener Blick und ihr schnelles Verständnis überraschten ihn, ihr heiteres Wesen und ihre thatkräftige Entschlossenheit muteten ihn an, und die wirklich seltene Liebe des Ehepaares füreinander warf einen versöhnenden Glanz auch auf ihre Fehler und Schwächen. – Zu seiner Mutter sagte er oft: „Die Geheimrätin ist gar nicht die Frau, die ich in ihr gesehen habe. Die Grundeigenschaften ihres Wesens sind edel, sie ist durch die Gesellschaft nur falsch geleitet und hat an ihrem Manne nicht den Halt gehabt, der sie zurückhielt, als sie abirrte von dem rechten Wege.“

Und ihr war Arnold Römer der erste Mann, der ihr wirklich imponierte. Bisher hatte sie nach den Erfahrungen an ihrem guten lenksamen Manne und auch an Walden es als Thatsache hingenommen, daß männliche Energie und Gemütswärme nun einmal nicht in einer Person vereinigt sein könnten, sie hatte sich gewöhnt, in schwierigen Fällen nur auf die Kraft ihrer eigenen Natur zu bauen und weder Rat noch Hilfe bei ihren Nächsten zu suchen, deren Liebe und Verehrung sie freilich um keinen Preis hätte missen mögen.

Und nun fand sie bei dem früher so gering geschätzten Arnold außer diesen beiden Dingen noch ein unbestechliches Urteil, eine ruhige Thatkraft und dabei den großen Blick, vor dem ihre vielen kleinen Vorurteile häufig genug in das verdiente Nichts dahinschmolzen. So oft sich ein Meinungsstreit über solche Dinge erhob, wußte er mit solcher Bestimmtheit und mit so guten Gründen, dabei in so tadelloser Form seine Sache zu führen, daß die Frau Geheimrätin schließlich keine Entgegnung, ja nicht einmal die Möglichkeit sich zu erzürnen mehr fand. Es war auch dafür gesorgt, daß diese Erörterungen sich nicht lange um Prinzipienfragen drehen konnten: das Leben nahm die armen Eltern nach einer kurzen Friedenszeit bald genug mit neuem Kummer in Anspruch.

Die Korrespondenz mit Elfe, die ihnen ja längst keine Freude mehr brachte, war sehr ins Stocken geraten; nun wurde sie plötzlich durch Walden aufgenommen, dessen Zuschriften ihnen ein immer traurigeres Bild von dieser Ehe zeigten. Jeder seiner Briefe war in heftiger Erregung geschrieben, jeder enthielt die bittersten Klagen über Elfes Lieblosigkeit und verlangte von den Eltern, daß sie ihr Ansehen zu seinen Gunsten geltend machen sollten, und endlich kam er damit heraus, daß Elfe neuerdings wieder durchaus nach einer gerichtlichen Trennung ihrer Ehe verlange, da ihr auch diese scheinbare Zusammengehörigkeit unerträglich sei. Selbstverständlich hatte er bei seiner Weigerung die Schwiegereltern auf seiner Seite. Denn die Furcht vor der Öffentlichkeit, die Angst vor einem abfälligen Urteil ihrer Kreise über den unvermeidlichen Skandal bestimmte ihr äußeres Verhalten. Innerlich war ihre Haltung nicht so fest: einerseits sprach Arnold brieflich stets zu gunsten der Trennung, anderseits besann sich besonders der Vater doch auf manches, was ihm bei Schließung dieser unglückseligen Ehe gegen die Natur gegangen war, und allmählich sahen seine Augen die großen Erziehungsfehler in seiner glücklichen Familie. Infolgedessen schwang er sich sogar seiner Frau gegenüber zu der Bemerkung auf: wenn man immer nur die äußere Ehre, immer nur sichtbare Vorteile im Auge hätte, dann ginge der moralische Halt, das sittliche Pflichtbewußtsein unter, und nun suchte er nachträglich Elfe dieses einzuimpfen, indem er ihr immer von Pflichten gegen die Gesellschaft, Pflichten gegen Gatten und Eltern schrieb.

Die Geheimrätin dagegen, so unsicher auch sie sich im Innersten fühlte, blieb bei den alten Ermahnungen, zeigte Elfe die „Aussichten“, die ihr die Zukunft böte, und erklärte ihr wiederholt, daß sie mehr als jede andere Frau berufen sei, ihrem Gatten den Weg zu einer solchen Höhe der Staatscarriere zu ebnen, daß neben dem befriedigten Ehrgeiz alle anderen etwa unerfüllten Wünsche zurücktreten würden.

Aber Elfe blieb solchen Vorstellungen gegenüber völlig kalt.

Von dem letzten folgenschwersten Schritte hatte sie bisher nur die Rücksicht auf die Ihren zurückgehalten, aber sie hatte gehofft, bei ihnen liebevolle Teilnahme und Verständnis zu finden. Sie erwartete, daß man auch ihre Herzensnot in Betracht ziehen und es erwägen möge, ob alles, was sich gegen ihren Entschluß sagen ließ, wohl ausreichend wichtig sei, um sie zu einem langen, trostlosen Leben in den Fesseln dieser unbefriedigenden Ehe zu verurteilen. Immer regte sich dabei ein Gefühl der Hoffnung in ihrem Herzen: die Liebe ihrer Eltern zu ihr würde stärker sein als die Menschenfurcht und sie würden vielleicht doch ihrem unglücklichen Kinde die Arme öffnen.

Statt dessen sprachen diese so sehnlichst erwarteten Briefe nur von der Gesellschaft und den Pflichten gegen ihre Sittengesetze, kein Wort von der Pflicht gegen sich selbst, keines von der Pflicht gegen die höchste Moral, die Wahrhaftigkeit, auch kein Wort von dem Rechte, nach dem ihr ganzes Innere schrie, von dem Rechte jedes Lebenden auf Glück. Ihr Herz konnte verkümmern und verdorren – was that’s, wenn nur der äußere Anstand gewahrt wurde! Und den Excellenzenrang stellte ihr die Mutter in Aussicht als Ersatz für ein Leben, das des Lebens erst wahrhaft wert wäre! Jawohl, einmal war das der Köder gewesen, um dessentwillen sie Jugend und Freiheit hingeworfen, um dessentwillen sie auf das Wertvollste im Leben verzichtet hatte!

Sie warf erregt die Blätter fort, nachdem sie mit dem Lesen fertig war. Das freudige Aufleuchten ihrer Augen, mit welchem sie dieselben begrüßt hatte, war verschwunden; ein entschlossener Zug lag nun auf ihrem blassen Gesicht. Sie dachte an Lüdeke.

„Mir hilft niemand,“ sagte sie, „so will ich mir selbst helfen. Er soll sehen, daß das Fegefeuer der Reue und der Selbstvorwürfe mich geläutert hat und ich seiner und eines besseren Daseins würdig bin!“

Wenige Tage darauf schreckte eine Depesche, von Walden aufgegeben, die Geheimrat Brücknerschen Eheleute aus dem Beruhigungszustande, in welchen sie sich gegenseitig nach Absendung ihrer Ermahnungen an Else eingelullt hatten. Dieselbe enthielt nichts als die Bitte an den Schwiegervater, sofort nach Berlin zu kommen. Gerade das Unausgesprochene erfüllte die beiden nun mit der qualvollsten Angst, und trotzdem sich die Frau Geheimrätin unendlich davor fürchtete, daß außer ihnen noch eine Person, und wäre es auch nur der Telegraphenbeamte, die Sachlage dadurch erfahren müsse, bat sie doch, ebenfalls durch den Draht, um sofortige nähere Mitteilung, ob Elfe erkrankt sei. Die Antwort lautete ganz lakonisch: „Elfe gesund, aber nicht mehr bei mir.“

Diesem Faktum gegenüber, das in seiner Schwere ihre schlimmsten Befürchtungen übertraf, hielt die Fassung des Ehepaares nicht stand. Die Geheimrätin war über das „entartete Kind“ völlig zerbrochen, weinte Ströme von Thränen und ließ sogar die Rücksicht auf ihren Gatten außer acht, der wortlos, in stummer Verzweiflung vor sich hinbrütete.

Allmählich tauchte dann die Hoffnung in ihr auf, es würde dem Vater gelingen, Elfe zur Umkehr zu bewegen und sie zu ihrer Pflicht zurückzuführen. Nun drang sie in ihn, sofort die Reise anzutreten, um all dem Kummer sobald als möglich ein Ende zu machen.

Als er fort war, fiel ihre künstlich zur Schau getragene Sicherheit freilich stark zusammen, und die Tage, die sie in Erwartung ihres Gatten zubrachte, waren voll Qual, Angst und Schmerz. Sie nahm keinen Besuch an, ging nicht aus dem Hause, und indem sie sich vorstellte, welche Deutungen diese Affaire wohl erfahren würde, verhärtete sie ihr Herz immer mehr gegen ihr Kind, das es verschuldete, wenn sie und ihre Verhältnisse wieder einmal zum Stadtgespräch würden. Sie bereitete sich aufs schlimmste vor, versuchte jede Hoffnung auf ein günstiges Resultat zu unterdrücken und war dann doch, als ihre Gatte, merklich gealtert in diesen Tagen, wieder vor ihr stand und „Alles vergebens!“ ihr zuflüsterte, so fassungslos darüber, als hätte sie mit Sicherheit einen besseren Ausgang erwartet.

Erst nach Stunden beruhigte ihr Gemütszustand sich so weit, daß sie seinen ausführlichen Bericht anhören konnte, und der enthielt denn auch noch viel unerwartet Schlimmes.

Ueber die Entfremdung zwischen sich und Elfe hatte Walden gar kein Wort verloren, er erzählte nur von dem in den letzten Monaten immer entschiedener auftretenden Verlangen seiner Frau, sich gerichtlich voneinander zu scheiden, einem Verlangen, dem er stets aufs energischste entgegengetreten war und dem er auch, als sie letztens kniefällig ihn gebeten, nur ihrer Eltern willen in eine friedliche Lösung zu willigen, kein Zugeständnis gemacht hatte.

Danach fand er, als er von einer kurzen Abwesenheit in Amtsgeschäften heimkehrte, Elfe nicht zu Hause und der Diener bestellte an ihn: daß die gnädige Frau die längst besprochene Reise angetreten hätte. Näheres darüber enthielte der zurückgelassene Brief.

[880] Ihre Mitteilungen darin beschränkten sich auf die Adresse ihres Rechtsbeistandes, den sie zu jeder Verhandlung ermächtigt habe, und dann bat sie ihn noch einmal in dringender und fast herzlicher Weise, sich nicht in ihren Feind zu verwandeln; er hätte sie zu diesem Schritte gezwungen und es käme gewiß bald die Stunde, in der er es ihr dankte, daß sie den Mut gehabt, sie beide von einer Kette zu befreien, deren Druck gleich schwer auf jedem von ihnen gelastet. –

Der Geheimrat war sofort zu dem Rechtsanwalt gefahren. Er hatte die Ueberzeugung, daß dieser ihm den gegenwärtigen Aufenthalt seiner Tochter würde vorenthalten wollen, und er war überrascht, daß man keinen Versuch dazu machte, sondern ihre Wohnung ihm sofort nannte.

Auch dort fand er nichts von dem Widerstande, den er glaubte besiegen zu müssen, ehe er bis zu Elfe gelangte.

In einem sehr freundlich und behaglich eingerichteten Wohnzimmer fand er sie mit einer Näharbeit neben einer alten Dame beschäftigt, und diese stellte sich, da Elfe bei dem Wiedersehen zu bewegt war, um auf Formen zu achten, selbst als verwitwete Majorin Will vor, welche in seiner Tochter einen lieben Gast beherberge. Er brauchte die Bitte, ihn mit derselben allein zu lassen, gar nicht auszusprechen, denn nach dieser Erklärung ging sie aus dem Zimmer, und der Geheimrat glaubte, nun leichtes Spiel zu haben, da Elfe es den Ihren ja so leicht gemacht, sie zu finden und zurückzuführen.

Aber er wurde bald eines anderen belehrt. Er fand sein früher so leichtlebiges und gedankenloses Kind als ein gefestigtes junges Weib wieder, das entschlossen schien, den Kampf um seine Freiheit gegen eine Welt durchzufechten. Alle seine Einwände und Beschwörungen prallten machtlos an ihr ab. Sie wußte, was ihr bevorstand, kannte den Weg, den sie gehen mußte, um vor sich selbst bestehen zu können, und sprach auch zu ihm die Ueberzeugung aus, daß Walden es ihr danken würde, daß sie den Mut der Wahrheit gehabt, um ihr ferneres Leben von der Lüge dieser Ehe zu befreien.

Als der Geheimrat nun dazu überging, ihr ein Bild der Zukunft zu malen, derjenigen, die sie aufgab, wie derjenigen, die einer geschiedenen, von ihren Eltern verstoßenen Frau harre, da – kam das Schlimmste, denn da sagte sie ihm, was Walden zum Glück nicht wußte und auch nicht erfahren sollte, daß sie diesen um eines anderen willen verlassen habe.

Sie sei mit Lieutenant Lüdeke verlobt gewesen, als Walden in ihr Leben trat; den Regungen der Eitelkeit sei sie, das urteilslose Kind, anheimgefallen, um, als sie zum Verständnisse erwachte, sich gebunden zu fühlen. Diese Ehe, die weder sie noch ihren Gatten beglückt, schiene ihr gelöst; nachdem ihr Kind gestorben und seit sie die Gewißheit habe, daß Lüdeke ihr vergeben habe und daß sie beide getrennt voneinander nie glücklich werden können, scheue sie den Kampf nicht, um zu diesem Ziel zu gelangen.

Der Geheimrat war außer sich, überhäufte sie mit Vorwürfen und Verdächtigungen und lachte spöttisch, als Elfe schwur, sie hätte Lüdeke in den letzten Monaten nur einmal gesehen, das sei an dem Tage gewesen, als sie sich endgültig von Walden getrennt habe. Da hätte er sie hier zu seinen Verwandten gebracht, und sie würden sich auch nicht wiedersehen, ehe die Ehe getrennt sei; dann aber sollte, sobald die Formalitäten erfüllt wären, ihre Trauung stattfinden.

„Papa,“ hatte Elfe gesagt, „Du siehst, es ist alles wohlerwogen und wird so ausgeführt werden! Wenn Du mich zweifelnd fändest, hättest Du recht, mich zurückzuhalten, jetzt mußt Du fühlen, daß Du vor unumstößlichen Entschlüssen stehst. – – Ich mache euch keine Vorwürfe, ihr habt gewiß im guten Glauben, mein Glück zu sichern, gehandelt, aber ich meine, nachdem ihr mich zu dieser Ehe bewogen, die nur um äußerer Vorteile geschlossen wurde, habt ihr kein Recht, euch zu beklagen, daß ich um euren Rat nicht bitte!“

„Wovon wollt ihr leben?“ hatte der Geheimrat gefragt. „Die höchste Verachtung von Geld und Gut pflegt uns noch nicht satt zu machen. Und ein Offizier ohne Vermögen, mit einer geschiedenen Frau – nie läßt das Regiment solche Ehe zu!“

Und die junge Frau antwortete:

„Lüdeke hat seinen Abschied bereits eingereicht und wird sich bemühen, eine Civilanstellung zu finden –“

„Da kann er warten,“ hatte er höhnisch gerufen, „oder wollt ihr nach Amerika gehen?“

Und sie meinte darauf: „Nein, das wollen wir nicht. Fredi sagt, wer arbeiten will, kann auch im Vaterlande fortkommen, und wir haben nichts Böses gethan, um uns vor unseren Bekannten verbergen zu müssen!“

„Ihr – nichts Böses gethan?! – Wie ist solch ein Selbstbetrug möglich!“

„Papa, ich lösche die Lüge aus meinem Leben. Was ich damals that: mich zu verheiraten aus Lust an Reichtum und Wohlleben, das war eine Erniedrigung, jetzt werfe ich alles von mir, und fühle mich in der Armut erhöht!“

Der Vater war darauf fortgestürzt, ohne ihr die Hand, um die sie bat, zu reichen; er fand keine Worte mehr, um diese Verblendung zu bekämpfen. Dabei hatte Elfe so merkwürdig ausgesehen, mit den großen Augen und der feinen Furche zwischen den Brauen; gar nichts mehr von der lieblichen kindlichen Schönheit, die sie sonst ausgezeichnet. „Wahrhaftig,“ sagte er zu seiner Frau, „sie ist um ein Jahrzehnt gealtert; ich wundere mich eigentlich nicht, daß Walden nach ihrem Besitze gar nicht mehr verlangt, sondern nur aus Scheu vor der Blamage sich bisher gegen die Trennung sträubte.“

„Und nun,“ sagte die Geheimrätin, die trockenen Auges diese Mitteilungen vernommen hatte, „nun wird also zunächst der Ehescheidungsprozeß die Welt in Bewegung setzen. Die ungeheuerlichsten Gerüchte werden erfunden und in Umlauf gesetzt werden; wenn wir auf die Straße gehen, zeigen die Leute auf uns: ,Das sind die Eltern‘, und secieren uns bei lebendigem Leibe auf unser Denken und Fühlen. Vielleicht mischt sich etwas Mitleid hinein – vielleicht? Im allgemeinen wird’s heißen: ja, wenn man es so macht – wenn man es so treibt – und dann wird unsere ganze Vergangenheit hervorgeholt, jeder Thaler, den wir ausgegeben, noch einmal besprochen! Wir haben viel Glück im Leben gehabt, Erich, das verzeihen uns die Menschen nie!“

„Aber Käthchen!“

„Nein, lass’ nur, Erich, es schadet nichts, wenn man sich das klar macht, wie es kommt. – Nun ist diese Sache also beendet, man beginnt, sich zu beruhigen – da kommt der neue Eclat: die Trauung mit dem verabschiedeten Sekondelieutenant! Ha – nun begreift man plötzlich – also deshalb! Der Mann hat sie aus diesen Gründen fortgejagt!“

„Aber Frau,“ sagte der Geheimrat, selbst schmerzlich erregt, „zügle doch Deine Phantasie! Du machst es Dir gar zu schwer, so ist es denn doch nicht, wir haben doch auch Freunde –“

„Freunde in der Not – geh’n hundert auf ein Lot!“ sagte sie bitter. „Täusche Dich nicht darüber! Wenn man über uns allerwegen tuschelt, wenn Deine Vorgesetzten die Nase rümpfen und die Achseln zucken: solch ein Skandal in der Familie eines Mannes, der an der Spitze einer hohen Behörde steht! – dann, Erich, zeige mir einmal die Freunde!“

„Nein, nein,“ sagte er entschlossen, „das wollen wir nicht abwarten, Käthchen! Es wird uns eine Wohlthat sein, hier fortzukommen, und so wollen wir gehen. Ich werde sofort meine Pensionierung nachsuchen, meine Gesundheit läßt ja in der That viel zu wünschen übrig, und für uns beide langt’s auch so! Laß uns alles so schleunig und so still als möglich ordnen. Dann machst Du angeblich eine Besuchsreise zu Lisbeth und Arnold, ich komme Dir, sobald meine Vertretung hier geordnet ist, nach, und alles übrige kann man dann von unserem neuen Wohnort – Wiesbaden soll’s sein, nicht wahr? – bewerkstelligen.“

Sie lag an seiner Brust.

„Dank, tausend Dank! – Das ist die einzige Rettung! – Ach, ich kenne jetzt wirklich kein anderes Verlangen mehr als Einsamkeit – Stille – – untertauchen möchte ich – verschwinden – – nichts thäte mir so weh als die mitleidig triumphierenden Blicke Deiner Herren Kollegen, die nun den Kampf um Deine Stelle beginnen!“


18.

Jahre sind seitdem vergangen.

In einer der stillen Straßen Wiesbadens, in einem einfachen, aber sehr freundlich gelegenen Hause, welches nach der Rückfront einen kleinen Garten hat, sitzen auf der Veranda Geheimrat Brückner, seine Gattin und ihr Schwiegersohn, Arnold Römer, der nun auch schon den „Geheimen“ vor seinem Ratstitel trägt.

Sie sind beim Frühstück und lassen sich dasselbe hier im Freien, an diesem köstlichen Frühlingsmorgen im Schatten der prächtigen Bäume wohlschmecken.

Geheimrat Brückner trägt einen hellen Sommeranzug, der die frischen Farben seines Gesichts sehr hebt, er wiegt sich im [882] Schaukelstuhl, bläst wohlgefällig den blauen Rauch seiner Cigarre in die klare Luft und macht durchaus den Eindruck eines Menschen, der sich bewußt ist, daß es ihm außerordentlich gut geht.

Derselbe Ausdruck von Behagen liegt auf dem Gesicht seiner Gattin. Sie ist viel stärker geworden, bewegt sich aber mit soviel Elasticität, schaut so fröhlich aus den Augen, daß sie trotz der stark mit Grau durchsetzten Haare kaum gealtert erscheint. Um ihren Mund spielt ein zufriedenes Lächeln, als sie jetzt, ein paar soeben vorgelesene Briefe niederlegend, zu Arnold Römer aufblickt.

„Ja, ja,“ sagt dieser und streckt seine Hand über den Tisch zu ihr hinüber, „es ist jetzt doch alles ganz anders geworden, als Du damals in Deinen schwarzen Sorgen es kommen sahst, Mamachen!“

„Gott sei Lob und Dank!“ erwiderte sie, in die dargebotene Hand des Schwiegersohns herzlich einschlagend. „Man sollte es nicht für möglich halten, unter welch veränderten Bedingungen man sich auch glücklich fühlen kann.“

Auch?!“ fiel ihr Gatte ein. „Ich meine, erst recht! Mir wenigstens war es in langen Jahren nicht so wohl als jetzt, wo endlich einmal Klarheit um uns herrscht und keine ,Stellung’ mehr ,gewahrt’ zu werden braucht.“

„Nun,“ erwiderte sie mit einiger Lebhaftigkeit, „gar so bescheiden steht es denn doch nicht um uns. Wir sind, die wir waren, und wenn es dem Geheimrat Brückner paßt, in der Saison den Oberstock seiner Villa zu vermieten – –“

„Um das Jahr über frei zu wohnen, so ist dies für seine Verhältnisse sehr angenehm,“ schloß er behaglich lachend. „Glaube nur, Frauchen, daß dies die andern genau so gut wissen wie wir. Es fällt ihnen aber nicht ein, uns darum zu verachten.“

„Im Gegenteil,“ sagte Arnold. „Unsere vielverschrieene Zeit hat einen Respekt vor ehrlicher Arbeit und Sparsamkeit, der viele von ihren Schattenseiten aufwiegt. Wenn der Papa in der gestreiften Leinenjacke seinen eigenen Gärtner vorstellt und die Mama, wie heute Morgen, die gesamten Betten höchsteigenhändig in der Sonne ausbreitet, damit sie schön frisch sind für die Einwanderung von Kindern und Enkeln, da sehen lauter freundliche Nachbarsgesichter über die Zäune und man preist euch als tüchtige und glückliche Menschen.“

„Das letztere sind wir gewiß!“ rief lebhaft die Geheimrätin. „Dir danken wir übrigens ein gutes Teil davon, Arnold, denn Du hast uns den inneren Frieden wiedergegeben durch Dein Wirken zur Versöhnung mit Elfe. Jetzt, wo sie zum erstenmal wieder ins Elternhaus kommen soll mit Mann und Kind, jetzt ist alles ausgelöscht, was je zwischen uns gelegen hat.“

„Dazu ist auch alle Ursache,“ erwiderte er. „Die beiden haben ihre Feuerprobe abgelegt und bestanden. Was waren das anfangs für bescheidene Zustände! Ein Polizeilieutenant, der von seinem Gehalt leben muß, wie hieß es da anfangs sparen und arbeiten, bis die Beförderung kam! Aber Elfe ist eine Prachtfrau geworden, und sie lieben sich wie am ersten Tage. Nun ihnen auch noch das Kleine geschenkt ist, fehlt ja wohl nichts mehr zum vollkommenen Glück.“

„Weißt Du schon, daß Walden Provinzial-Steuerdirektor geworden ist?“ fragte der Geheimrat lebhaft dazwischen.

„O, ich weiß noch mehr,“ sagte Arnold, „er ist seit etwa vierzehn Tagen junger Ehemann und soll ja sehr beglückt im Besitze seiner zwar nicht mehr jungen, aber noch sehr stattlichen und schönen Frau sein.“

„Nun, das freut mich,“ sagte der Geheimrat, „freut mich aufrichtig! Das ist eine Nachricht, die mich wahrhaft beruhigt. Denn ihm gegenüber hatte ich immer ein Gefühl, als ob auch wir eine Art von Schuld an seinem Unglück trügen. Aber ich kann Deine Nachricht mit einer andern erwidern, Arnold. Weißt Du, daß unser Leo kürzlich eine Aufforderung aus seiner Vaterstadt erhielt, sich um eine erledigte Stadtratsstelle zu melden, und daß er abgelehnt hat? Warum? Ja, weil er es den Mitbürgern in dem kleinen Nest nicht vergessen will, daß sie Vertrauen zu ihm hatten, als es ihm niemand sonst schenkte, und weil ihn seine Thätigkeit dort so interessiert und befriedigt, daß er keine Veränderung wünscht. Der hat sich also mindestens ebenso sehr verändert wie seine Schwester Elfe.“

„Ich bin begierig,“ nahm die Geheimrätin das Wort, „ob wir auch unsere Lisbeth als eine andere wiederfinden, wenn sie mit euren Kindern morgen ankommt.“

„Das glaube ich nicht,“ erwiderte Arnold, und ein glückliches Leuchten ging in seinen Augen auf. „Lisbeth war von jeher auf dem richtigen Wege, sicher und ruhig in ihrer selbstlosen Güte, so reich an Verstand und Gemüt, daß sie in jeder Lebenslage das Rechte wie etwas ganz Selbstverständliches that. Ihr werdet es selbst sehen; unsere Aelteste hängt mit derselben Zärtlichkeit an der Mama wie die beiden Kleinen, und Lisbeth hat gewiß keine Ueberwindung gebraucht, um Gertruds Kind ganz und gar als ihr eigenes ans Herz zu nehmen. Sie gehört zu den Glücklichen, welche immer und ruhig nach den Gesetzen ihrer Natur handeln dürfen und keine vorsätzlichen Aenderungen nötig haben!“

Die Geheimrätin nickte gedankenvoll. „Es ist, wie Du sagst. Wir haben nicht gewußt, welchen Schatz wir an Lisbeth besaßen.“

„Nun, dafür wissen wir es jetzt um so besser,“ sagte ihr Gemahl gutgelaunt, „und hoffentlich bleibt uns noch ein Weilchen, um uns daran zu freuen. Nun sind es also noch zwei Tage, dann rückt alles ein: Lisbeth mit ihren Dreien, der Herr Bürgermeister nebst Gattin und Zwillingen und Lüdekes samt dem Allerkleinsten der Familie – alle, die es ganz anders gemacht haben, als wir es zu ihrem Glücke wollten, und die trotzdem glücklich geworden sind. Ist das nicht recht merkwürdig, Frauchen?“

„Ja,“ erwiderte sie, „es ist merkwürdig, daß man bei bestem Willen und ganz leidlichem Verstand so den falschen Weg gehen kann! Wie habe ich mir’s sauer werden lassen – erst mit der Erziehung und dann mit dem Schicksal der Kinder! Nun haben sie sich alle ihr Schicksal eigenhändig gemacht, und die Erziehung – die ist eigentlich nachträglich mir selbst zu teil geworden. Laß nur!“ wehrte sie den Widerspruch ab, der auf Arnolds Lippen schwebte. „Ich weiß ganz gut, was ich sage. Mein Horizont war enge, trotz aller Bildung, unser Kreis schien mir die Welt, und so wurde ich euch allen zum Hindernis. Aber an eurem Widerstand sind mir allmählich die Augen aufgegangen! Ihr habt mich einsehen gelehrt, daß die idealen Güter allein dem Menschen das Glück und die Befriedigung schaffen, die wir im thörichten Unverstand so oft von dem Erfolg unserer ehrgeizigen Pläne und vom Beifall fremder Menschen erwarten.“