Die Geschwister (Johann Gottfried Herder)
Die Geschwister.
Im einsamen Hain auf grüner Wiese
Spielten oft am Mutter-Gottes-Bilde
Eine Schwester und ein Bruder. Unschuld
Spielete mit ihnen, Lieb’ und Anmuth.
Oft; und süß erzählte sie den Kindern,
Wie das Jesuskind im Arm der Mutter
Gut einst war und gute Kinder liebte.
„Liebet es uns auch?“ „Ja, wenn ihr gut seyd;
Einst am Abend’, als im schönsten Glanze
Unsrer Sonne die Geschwister beide
Sich erfreuten, sprach der rasche Knabe:
„Wenn einmal das Kind, das uns auch liebet,
Gerne gäb’ ich ihm die schönsten Blumen,“
Sprach die Schwester. „Gerne, sprach der Bruder,
Gäb’ ich ihm die allerschönsten Früchte.
Heilge Mutter, laß das Kind hernieder“
Sanft belehrend. Aber ihr im Herzen
Blieb das Wort; und bald darauf im Traume
Sah sie sich die Mutter Gottes neigen,
Und das Kind mit ihren Kindern spielend.
Sprach: „Für eure schönen Frücht’ und Blumen
Was soll ich euch geben? Du, o Bruder,
Spielest bald mit mir auf einer andern
Schönen Au, da will ich süße Früchte,
Dir, o Schwester, werd’ ich wiederkommen,
Wenn du Braut bist, und den Kranz dir reichen.
Mutter wirst du seyn von guten Kindern.
Gut wie Du, und gut wie Deine Mutter.“
Auf, und eilte zu dem Bilde betend:
„Kann es seyn, so laß mir meinen Knaben,
Holdes Kind! Wo nicht, dein Will geschehe.“
Und in Kurzem ward der Traum erfüllet:
(Also sagt er) einen Himmelsknaben
Kommen, und ihm süße Früchte reichen,
Und er koste schon die süßen Früchte.
Auch die Tochter wuchs und ward der Mutter
Eine Braut, erschien ihr im Gebete
Jenes Kind und kränzte sie mit Blumen.
Wie ihr dünkte, waren meistens schöne
Lilien und Rosen in dem Kranze,
Ward des Kranzes Abbild, Lieb’ und Unschuld.