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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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Inhalt.
Seite
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (6. Fortsetzung) 197
Helgoland einst und jetzt. Von Gustav Kopal. Mit Illustrationen von H. Haase 205
Die Komödie des Todes. Eine Dorfgeschichte aus Steiermark von Peter Rosegger (Anfang) 209
Der Ruhmestag von Eckernförde. Mit Abbildung 212
Didiers Braut. Novelle von A. Noël (Schluß) 213
Riesenfernrohre. Von Dr. H. J. Klein.. Mit Abbildungen 220
Schill und seine Offiziere. Von Rudolf von Gottschall (Zu unserer Kunstbeilage) 223
Heinrich Schaumberger. Mit Bildnis 226
Blätter und Blüten: Die Beisetzung des Fürsten und der Fürstin Bismarck. (Zu dem Bilde S. 200 und 201.) S. 227. – Schreibtafel für Erblindete. S. 228. – Sicilianisches Gefährt. (Zu dem Bilde S. 197.) S. 228. – Orchesterprobe. (Zu dem Bilde S. 225.) S. 228. – Kraftleistungen einzelner Insekten. S. 228. – Geheimmittel. S. 228.
Kleiner Briefkasten. S. 228.
Illustrationen: Sicilianisches Gefährt. S. 197. – Die Beisetzung des Fürsten und der Fürstin Bismarck zu Friedrichsruh am 16. März 1899. Von H. Binde. S. 200 und 201. – Abbildungen zu dem Artikel „Helgoland einst und jetzt“. Von H. Haase. „Helgoland in Sicht!“ S. 205. Ein gemütlicher Skat. S. 206. Händler mit Seesternen und anderen Raritäten. Strandpromenade zwischen abgestürzten Felswänden. S. 207. Fahrt nach der Badedüne. Landung auf der Düne. S. 208. – Das Gefecht bei Eckernförde am 5. April 1849. S. 213. – Für den Großvater. Von A. Guillou. S. 217. – Abbildungen zu dem Artikel „Riesenfernrohre“. Das Riesenteleskop der Yerkes-Sternwarte. S. 221. Schematische Darstellung des projektierten Riesenfernrohrs für die Pariser Weltausstellung im Jahre 1900. S. 222. – Orchesterprobe der Musiklehrlinge. Von O. Piltz. S. 225. – Heinrich Schaumberger. S. 227. – Frühlingsmelodien. Von F. Reiß. S. 228.


Hierzu Kunstbeilage VIII: „Der Heldentod der Schillschen Offiziere vor Wesel“. Von Adolf Hering.
(Kunstbeilage VII folgt im nächsten Halbheft.)




Kleine Mitteilungen.


Theodor Kirchhoff †. Unter den Mitarbeitern der „Gartenlaube“ jenseit des Atlantischen Oceans nahm Theodor Kirchhoff während einer langen Reihe von Jahren einen hervorragenden Platz ein. Als er am 8. Januar vorigen Jahres seinen 70. Geburtstag feierte, brachten wir ihm die herzlichsten Glückwünsche dar. Nun kommt die Trauernachricht, daß der bewährte Schriftsteller am 2. März in San Francisco aus dem Leben geschieden ist.

Theodor Kirchhoff wurde am 8. Januar 1828 zu Uetersen in Holstein geboren. Nachdem er das Gymnasium durchgemacht hatte, studierte er als Polytechniker in Hannover. Da kam die Zeit der nationalen Bewegung und der Kämpfe für die ungeteilte Selbständigkeit Schleswig-Holsteins. Der junge Kirchhoff trat als Freiwilliger in die gegen Dänemark kämpfenden Scharen ein und wurde im Laufe des Krieges zum Leutnant befördert. Die heiß erstrebten nationalen Ziele sollten jedoch damals noch nicht erreicht werden. Theodor Kirchhoff wanderte nach Amerika aus und gründete nach verschiedenen Wanderungen in Texas ein Geschäft, das aber infolge des Bürgerkriegs einging. Im Jahre 1862 kehrte er für ein Jahr nach Deutschland zurück und begann sich als Schriftsteller zu bethätigen. Dann war er wieder in Oregon als Kaufmann thätig und schrieb von dort aus seine ersten Artikel aus dem „Westen“ für die „Gartenlaube“. Im Jahre 1869 ließ er sich in San Francisco nieder, das nunmehr zu seinem ständigen Wohnsitz wurde. Von hier unternahm er wiederholt weite Reisen in der Alten und Neuen Welt. Außer verschiedenen Reisewerken hinterläßt er auch anziehende Dichtungen, eine Sammlung von Balladen und Gedichten und die episch-lyrische Dichtung „Hermann, ein Auswandererleben“.

Ein Denkmal für Ludwig Anzengruber. Zahlreiche Freunde und Verehrer des verewigten Dichters, der das deutsche Volksstück auf die Höhe klassischer Vollendung erhob, haben sich zu dem Unternehmen vereinigt, für Ludwig Anzengruber in Wien ein würdiges Denkmal zu errichten. Im Namen derselben hat Peter Rosegger, Anzengrubers geistesverwandter engerer Landsmann, einen Aufruf verfaßt, der sich an die vielen wendet, die den Schöpfungen des gewaltigen Tragikers und Humoristen zugejubelt haben, „damit dem Manne, der uns als Erzähler und als Dramatiker so viele Kunstwerke von dauernder Schönheit und Wahrheit geschenkt hat, nun auch ein Kunstwerk geweiht werde, zum Ruhme des Dichters, zur neuen Zierde Wiens und zur Ehre und Freude des ganzen deutschen Volkes“. Anzengruber war ein Wiener Kind; er bildet, wie Rosegger in edler Begeisterung sagt, mit Franz Grillparzer und Ferdinand Raimund ein Dreigestirn, das zu Ehren Deutsch-Oesterreichs hinausleuchtet in die weite Welt. Das ganze deutsche Volk aber liebt und ehrt in Anzengruber einen der großen Geister, welche unsere Nationallitteratur um unvergängliche Werke bereichert haben, die noch in ferner Zukunft die Menschen erquicken und erschüttern, befreien und läutern werden. Weitum im Vaterlande wird sich für den Plan freudige Teilnahme regen, und ganz im besondern dürfte in dem weiten Leserkreise der „Gartenlaube“ der Aufruf lebhaften Widerhall finden. Beiträge zu der Sammlung, von deren Erträgnis das Anzengruber-Denkmal in Wien errichtet werden soll, nimmt die Deutsche Bank in Berlin, samt ihren Filialen, sowie in Wien u. a. die Kassaverwaltung des Deutschen Volkstheaters (Wien VII) entgegen.

Das Rebhuhn und die Wachtel als Wildbret. Wenn der Genuß des saftigen Fleisches unseres Rebhuhnes von einzelnen auch schon in früherer Zeit geschätzt worden sein mag, so reicht doch die allgemeine Anerkennung seines hohen Wertes als Wildbret bei weitem nicht bis in die Zeiten der lukullischen Schwelgereien der römischen Kaiserzeit zurück. Erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts begannen unsere Feinschmecker dem Rebhuhn eine größere Aufmerksamkeit zu schenken, und die Ehre, diesen Vogel als Leckerbissen der Tafel gewonnen zu haben, gebührt dem Grafen von Artois, der später als Karl X den Thron von Frankreich bestieg. Dieser Fürst zeigte seit dem Jahr 1785 eine so große Vorliebe für den Genuß des Rebhuhns, daß an seiner Tafel fast jeden Tag eine Schüssel mit diesen Vögeln serviert wurde. Er stellte sogar einen besonderen, sehr geschickten Koch an, der es verstand, Rebhühner in der mannigfaltigsten Weise zuzubereiten und jeden Tag durch eine andere Sauce zu würzen.

Um keinen Mangel an diesem kostbaren Wildbret zu haben, ließ der Graf in dem weiten Garten seines an den Elysäischen Feldern gelegenen Palastes geräumige Volièren herstellen, in denen das ganze Jahr hindurch Scharen von Rebhühnern gezüchtet wurden, während Ludwig XV, der selbst ein leidenschaftlicher Jäger war, das Geflügel für seine Tafel den bewaldeten Revieren von Meudon und Jssy entnahm.

Mit dem Alter änderte sich jedoch der Geschmack des Grafen, denn nachdem er den königlichen Thron bestiegen hatte, zeigte sich das Rebhuhn immer seltener bei seinen Mahlzeiten. An dessen Stelle aber trat nun die Wachtel, die bis dahin in Mitteleuropa verschont geblieben war, und die Sorge für die Erhaltung dieses Vogels und vielleicht die Furcht, einmal auf seinen Genuß verzichten zu müssen, bewogen den König zu dem strengen Verbot, die Wachtel im Frühjahr bei ihrer Rückkehr nach Frankreich an der Küste des Mittelländischen Meeres zu erschlagen oder zu fangen. Bemerkte man doch schon zu jener Zeit eine ansehnliche Verminderung dieser Vögel.

Ohne Zweifel schöpfte Karl X seine Begeisterung für das kleine Wildbret aus den empfehlenden Bemerkungen, denen er im königlichen Archiv begegnete, das von seinem Großvater Ludwig XV auf ihn gekommen war. Dieser Monarch hatte nämlich für die Wachtel eine ganz besondere Vorliebe nicht nur wegen ihres vortrefflichen Geschmackes, sondern besonders auch in Bezug auf das Vergnügen, sie zu jagen. Eines Tages begegnete es diesem jagdlustigen König, eine schneeweiße Wachtel zu erlegen; er konnte sich jedoch nicht entschließen, sie zu verspeisen. Er ließ vielmehr dieses seltene Exemplar ausstopfen und wies ihm dann in seinem Kabinett eine geeignete Stelle an. Heute befindet sich dieser hübsche Vogel in dem naturhistorischen Museum zu Paris.

Im Altertum betrachtete man die Wachtel als das Symbol der Tapferkeit und des Mutes, weil diese Vögel eine ungeheure Aufregung und Unerschrockenheit zeigen, wenn sie sich untereinander bekämpfen. Deshalb richtete man sie auch schon frühzeitig zum Kampfe ab, um der Jugend durch dieses Schauspiel ein nachahmenswertes Beispiel zu geben, Der Kaiser Augustus nahm sich ihrer ganz besonders an und erließ strenge Gesetze zu ihrem Schutze; einer seiner Offiziere wurde sogar unbarmherzig zum Tode verurteilt, weil er es zugelassen hatte, daß bei einer seiner Mahlzeiten auch eine Wachtel aufgetragen wurde, die sich in mehreren Kämpfen ausgezeichnet hatte.

Dieser Vogel sollte auch sonst noch ganz eigentümliche Kräfte besitzen, und lange Zeit hindurch schrieb man ihm das Vermögen zu, ein Paar Ehegatten im schönsten Einvernehmen zu erhalten, wenn nur der Mann das Herz einer männlichen und die Frau dasjenige einer weiblichen Wachtel bei sich trüge. Schließlich sollte ihre Gegenwart sogar angenehme Träume herbeizaubern, weshalb viele vornehme römische Frauen einen solchen Vogel gern in ihrem Schlafzimmer hätschelten, und wenn sie dann morgens vom Schlummer erwachten, währenddessen sie sich in lieblichen Träumen wiegten, so waren sie überzeugt, daß sie dieselben nur ihrer Wachtel zu danken hatten.

Leider sind wir heute dieses bequemen Zaubermittels beraubt; die Wachteln sind bei uns so selten geworden, daß wir es für ein Glück zu schätzen haben, wenn wir nach langer Pause wieder einmal ihren Schlag vernehmen. Wir dürfen uns aber über das allmähliche Verschwinden dieses harmlosen Vogels nicht wundern, wenn wir an die grausamen Verfolgungen denken, denen derselbe auf seinen Wanderungen in den südlichen Gegenden seit langer Zeit ausgesetzt ist. L. Haschert.     


[196 e]

Copyright 1897 by Franz Hanfstaengl in München.

STUDIENKOPF
Nach dem Gemälde von J. Zenisek

[197]

Halbheft 7.   1899.


Das Schweigen im Walde.
Roman von Ludwig Ganghofer.
(6. Fortsetzung.)


11.

Ein Morgen sonnig und mit wolkenlosem Himmel. Aber der Wind zog unruhig durch das Bergthal empor, setzte zuweilen aus und wehte dann wieder mit wechselnden Stößen. Die höchsten Spitzen der Berge waren von milchigem Dunst umwoben, und der Sebensee leuchtete nicht wie sonst, sein matt gekräuselter Spiegel hatte dunkles schwermütiges Grün. Trotz aller Sonne redete etwas aus dem Bilde der Natur wie leise Angst.

Doch von der Unruhe des Windes merkte man nicht viel im Blumengarten des kleinen Seehauses – er lag im Schutze des nahen Waldes, und nur selten tönten in den Wipfeln des Harfenbaumes die Glocken.

Lolo kniete am Saum eines Beetes auf der Erde, um die verwelkten Dolden des Almrausch von den Stöcken abzulösen. Ihr Bruder, den die Joppe und das kurze Lederhöschen besser kleideten als das schwarze Studentenröcklein, saß im Schatten des Harfenbaumes am Tisch. Trotz der vierzehn „ganz freien“ Tage hatte er all seine Schulbücher mit zum Sebensee genommen – und da saß er nun über einem schriftlichen Pensum aus der römischen Geschichte.

Jetzt erhob sich Lo’ und schüttete die welken Blüten von ihrem Schoß in ein Körbchen, das auf dem Kiesweg stand. Dann setzte sie sich neben den fleißigen Bruder auf die Bank und blickte sinnend zu den leis tönenden Wipfeln des Harfenbaumes auf.

Doch jählings verwandelte sich dieses sanfte Klingen. Ein starker Windstoß kam über den Wald gebraust und schüttelte die Zirbe, daß die Glocken wirr durcheinander klirrten.

Sicilianisches Gefährt.
Nach einer photographischen Aufnahme.

[198] Mit ernsten Augen blickte Lo’ zum Himmel und zu den Bergen auf. „Sieh nur, der Wind hat gewechselt,“ sagte sie zögernd. „Ich fürchte, wir bekommen heute noch böses Wetter!“

„Aber Lo’!“ Gustl versuchte zu lachen. „Du? Und fürchten?“

„Du bist bei mir!“ sagte sie und strich dem Bruder das Haar aus der Stirne.

Da klang ein gellender Jauchzer aus dem Wald. „Das ist Loisli!“ rief der Knabe und ließ zur Antwort seine Stimme schrillen.

Der Hüterbub kam zum Gartenzaun gesprungen, so atemlos, daß er den Gruß kaum herausbrachte. Während er noch mit stotternden Worten nach Luft schnappte, tauschte er schon mit Gustl einen wichtigen Blick und blinzelte zum See hinunter.

„Aber Bub,“ sagte Lo’, „weswegen hast denn wieder so rennen müssen?“

„Daß ich … g’schwinder da bin und … und länger bleiben kann!“

„So? Na also, dann bleib’ halt!“ Sie nahm ihm den Proviant ab, den er gebracht hatte, und stellte das Geschirr in den Schatten der Hütte.

Diesen Augenblick benutzte der Bub, um Gustl zuzuflüstern: „Heut’ beißen s’, d’ Fisch’! Ein Wetter kommt!“

Gustl rannte in heißem Eifer hinter die Hütte und brachte die Angelrute.

„Ach so? Ihr wollt fischen?“

„Ja, Lo’! Und ich bitt’ schön … gelt, ich darf? Weißt du, der Loisli kann’s so gut!“

Wieder fuhr ein Windstoß über den Wald her, und wieder blickte das Mädchen in Unruhe zum Himmel auf.

„Kind! Ich glaube fast, es wäre klüger, wenn wir heim gingen.“

„Schon heute? Lo’?“ Dem Knaben schossen die Thränen in die Augen.

„Ein schweres Wetter wird kommen …“

„Aber Lo’, es ist doch der ganze Himmel blau!“

„Jetzt, ja! Aber in ein paar Stunden wird’s anders aussehen.“

„Ja, Fräul’n,“ fiel Loisli höchst undiplomatisch ein, während er an der sonnigen Hüttenwand eine Fliege nach der anderen fing, um Köder für die Angel zu sammeln, „heut’ wird’s grob auf d’ Nacht.“

„Hörst du? Und denk’ nur, wie sich Mama dann wieder sorgen wird.“

„Aber schau, Lo’, sie weiß doch: ich bin bei dir! Da bin ich doch gut aufgehoben … auf dich kann sie sich doch verlassen! Ich bitt’ dich, Lo’!“

Es wurde ihr schwer, dem Flehen dieser Stimme und dieser nassen Augen zu widerstehen.

„Und dann … wir haben doch fünf Stunden bis hinaus … da könnten wir doch erst recht ins Wetter kommen.“

Sie lächelte. „Du kleiner Schlaukopf, du! Na, meinetwegen … geh’ fischen! Ich will an Mama ein paar Zeilen schreiben. Der Sebener Senn trägt heute noch ab, und dem geb’ ich sie mit. Dann hat Mama den Brief vor Abend, und wenn es zu gießen anfängt, weiß sie: wir sind unter Dach.“

Ein stürmischer Kuß – und mit lachender Freude tollten die beiden Knaben zum See hinunter.

Lolo setzte sich an den Tisch, aber sie begann den Brief nicht gleich. Die Hände im Schoß und den Kopf an den Baum gelehnt, blickte sie in Gedanken zu den wehenden Zweigen auf. Aber sie schien das Schwanken und Neigen der vom Wind bewegten Aeste nicht zu sehen, die tönenden Stimmen der Wipfel nicht zu hören. Dann plötzlich, wie aus einem Traum erwachend, strich sie mit der Hand über die Stirn und begann mit raschen, kräftigen Zügen zu schreiben.

Sie hatte den Brief noch nicht vollendet, als über die Büsche vom See herauf ein jubelnder Schrei tönte. „Lo’! Lo’! Wir haben eine riesige Forelle gefangen!“ Und Gustl jauchzte, daß es weit hinaushallte über die steilen Berge.

Mit zerstreutem Lächeln blickte Lolo auf, und nach einer Weile, als sie den Brief an die Mutter geschlossen hatte, ging sie zum See hinunter. Gustl kam ihr entgegengesprungen, mit der Forelle in den erhobenen Händen. „Schau nur, Lo’! Und drei andere haben gebissen! Aber die ist schön, gelt? Die ist schön?“

Gar so „riesig“ war die Forelle nun freilich nicht, aber ein Pfund mochte sie immerhin wiegen.

„Ja, die ist schön! Ich nehme sie dann gleich mit hinauf. Die koch’ ich dir heute zu Mittag.“

„Aber Lo’! Ich hab’ die Forelle doch für dich gefangen!“

Lächelnd sah sie dem Knaben in das vor Eifer und Freude glühende Gesicht. „Ich danke dir! Wie gut du bist! Aber wir teilen, gelt?“

Sie wandte sich an den Hüterbuben. „Loisli! Du wirst heim müssen. Jetzt warst du schon über eine Stunde da, und der Vater wird dich bei der Arbeit brauchen. Aber magst mir noch einen Gefallen erweisen?“

Der Bub legte die Angelrute nieder.

„So trag’ mir diesen Brief zum Sebener Senn hinunter. Er soll ihn mit hinaus nehmen nach Leutasch – für meine Mutter!“ –

Zwei Stunden später wurde droben im Schatten des Harfenbaumes Tafel gehalten. Nach der blauen Forelle gab’s noch einen Pfannkuchen, von welchem Gustl meinte, daß er den Pfauenzungen des Lucullus unbedingt vorzuziehen wäre – und in den Gläsern funkelte „vinum sacrum Sebenianum“, heiliger Sebenwein, wie Gustl das klare Quellwasser getauft hatte. Fast aber hätte die ganze schöne Bescherung dieses Mahls auf der Erde gelegen, denn ein jäher Windstoß blähte das Tischtuch wie ein Segel auf. Das war für den Knaben eine lustige Würze des Schmauses, und lachend trocknete er den „Sebenwein“ von seiner Lederhose, auf die das umgeschleuderte Glas gefallen war.

Als er der Schwester beim Abdecken des Tisches half, rollte ein dumpfer Hall über die Berge hin.

„War das Donner, Lo’?“

„Nein.“

Hoch droben in einem der Felsenkare, in stundenweiter Ferne, war ein Schuß gefallen.

Mit spähenden Augen blickte Lo’ zu den Bergen auf, deren Konturen in weißlichem Dunst verschwammen, und während zarte Röte ihre Wangen färbte, sprach es wie Sorge aus ihren Zügen. Wenn Jäger dort oben waren, dann durften sie sich eilen mit der Heimkehr!

„Wenn nicht Donner, was war es denn?“

Lo’ überhörte die Frage des Bruders, und nach einer Weile sagte sie: „Das Wetter kommt! Sieh nur, hinter der Sonnenspitze ziehen schon die ersten Wolken herauf. Eine Stunde, und der ganze Himmel wird grau sein.“

Sie sollte recht behalten. Wohl schob sich die stahlblaue Wolkenmasse mit ihren zerrissenen Rändern nur langsam über die Berge vor, aber von allen Wänden begann es aufzudampfen, und überall in den Lüften wuchsen die Nebel aus dem Blau heraus und flossen mit dem heranziehenden Gewölk zu einer dichten, grauen Decke zusammen, die alle Höhen verhüllte. Dennoch schien es, als ob die Spannung der Atmosphäre sich friedlich wieder lösen wollte. Windstille trat ein, das Ziehen und Drängen der Wolken wurde ruhiger, und gegen fünf Uhr nachmittags begann ein leichter gleichmäßiger Regen zu fallen.

Auf der Schwelle der Hüttenthür saßen die Geschwister im Schutze des vorspringenden Daches. Gustl, der jeden Wechsel im Wolkenbilde des Himmels gespannt verfolgte, plauderte mit erregter Unermüdlichkeit. Doch die Schwester hörte nur halb. In Sorge blickte sie immer wieder zu den umschleierten Bergen auf und über den See hinüber zu den Latschenfeldern, zwischen deren Büschen man die im Nebel verschwindenden Windungen eines Steiges kaum noch gewahren konnte. Das beklommene Wesen der Schwester fiel dem Knaben auf, und er fragte: „Lo’? Was hast du denn?“

„Ich weiß nicht, aber … dieses Wetter heute …“

[199] „So sieh nur, Lo’! Der Regen läßt ja schon nach! Wirst sehen, wir werden heute noch den schönsten Abend bekommen.“

„Meinst du?“ Ein seltsames Lächeln huschte um ihre Lippen.

Während der Knabe sein Geplauder wieder begann, wurde der Regen immer dünner. Aber es war etwas Schwüles und Unheimliches in dieser trüben Stille der Natur. Das Gewölk hing regungslos in der Luft und färbte sich immer dunkler. Zu einer Stunde, in der es bei klarem Himmel noch heller Tag hätte sein müssen, begann es schon zu dämmern. Und da hörte man fernen Donner. Der Sturm fiel ein und jagte mit brausenden Stößen den Nebel in dichten Schwaden über das Seethal herunter, so daß die kleine Hütte wie von wirbelnden Schleiern umhangen war. Immer näher tönte das Rollen des Donners, Schlag auf Schlag, und bald setzte dieses Grollen und Dröhnen nicht mehr aus; das Echo eines Schlages rollte solange, bis mit Geschmetter ein neuer Schlag wieder einfiel.

Als der Sturm gekommen war, hatte Lo’ in der Hütte die Lampe angezündet und an den zwei kleinen Fenstern die Läden geschlossen. Beim Einbruch der Dunkelheit aber öffnete sie plötzlich den Laden des Fensters wieder, das gegen die Berge blickte.

„Lo’? Warum thust du das?“

„Damit die Lampe hinausleuchtet.“

„Warum? Meinst du denn, es könnten noch Menschen draußen sein? Jetzt?“

„Ja, ich fürchte …“

Schweigend begann sie den Tisch zum Thee zu decken und schürte im Herd ein kleines Feuer an.

Gustl, der unter die Thür getreten war, fuhr plötzlich erschrocken zurück. Der erste Blitz war in das finstere Seethal niedergefahren. Man hatte keinen Strahl gesehen, aber der Nebel, den der Sturm an der Hütte vorüberjagte, war jählings wie in lohendes Feuer verwandelt, und dazu rasselte ein Donnerschlag, als wäre von den Bergen eine Felswand niedergebrochen.

Lo’ trat unter die Thür und faßte wortlos die Hand des Bruders.

Wieder flammte ein Blitz, und schwer begann der Regen zu fallen. Mit Geplätscher ging von allen Kanten des Daches die Traufe nieder, und mit dem Strömen und Rauschen des Regens mischte sich das Brausen des wachsenden Sturmes.

Da erwachte auch in dem Knaben eine Sorge. Er hatte an die Mutter gedacht und fragte scheu:

„Sag’, Lo’! Meinst du, daß es draußen bei uns in Leutasch auch so schlimm ist?“

„Nein.“

Der Sturmwind peitschte die Wasserfäden der Traufe bis auf die Schwelle der Hüttenthür.

„Komm, Lo’, wir müssen die Thüre schließen … dein Kleid wird naß.“

Sie schwieg und blieb auf der Schwelle stehen.

„Aber, Lo’, was hast du denn nur? Ach, du … wie deine Hand zittert! Lo’?“

Ohne zu antworten, drückte sie den Knaben enger an sich. Doch plötzlich fuhr sie lauschend auf, sprang in den Regen hinaus und stammelte:

„Ja, ja, sie kommen …“

Nun konnte auch Gustl das Klirren eines Bergstockes und eine vom Sturmwind halb verwehte Stimme hören.

Lo’ hatte einen klingenden Laut in die Nacht hinausgeschrieen, und als zwei Stimmen Antwort gaben, rief sie: „Herr Fürst? Sind Sie es?“

„Ja, Fräulein!“ Man hörte ein Lachen, das im Lärm des Regens unterging. „Und Ihre Hütte kommt uns gut in den Weg!“

Lo’ sprang in den Schutz des Daches zurück, schüttelte die Regentropfen aus dem Haar und lächelte, als wäre alle Unruhe und Sorge der letzten Stunden plötzlich von ihr abgefallen.

Man hörte die stolpernden Schritte der beiden Männer, welche den Zaun umgingen, das Klappern ihrer Bergstöcke und die Stimme des Jägers, der seinem Herren voraus war und ihm in der Finsternis den Weg erklärte: „Da bin ich, Duhrlaucht, da! Zehn Schritt g’rad’aus auf mich … und jetzt wieder links … soooo, jetzt haben wir’s gleich!“

Gustl erkannte die Stimme. „Lo’! Das ist ja der Pepperl! … Aber wer ist denn der andere?“

„Fürst Ettingen,“ sagte die Schwester und nahm den Knaben um den Hals.

„Der so lieb und gut von Papa gesprochen hat?“

„Ja!“

„Ach, Gott sei Dank, daß der jetzt unterstehen kann bei uns!“

Ein Blitz durchleuchtete grell den Nebel, als die beiden Männer in den Garten traten. Aber diese Helle blendete nur die Augen, und in der schwarzen Finsternis, die ihr folgte, verfehlte Ettingen den Weg zur Hütte und strauchelte über die Rabatte eines Beetes. Aber da hatte schon eine Hand die seine gefaßt und zog ihn unter das vorspringende Dach.

„Ihre Hand, Fräulein, führt gut und sicher. Ich danke Ihnen! Aber mein Sturz wäre nicht so schlimm geworden … ich wäre ja nur in Blumen gefallen.“

„Aber in nasse,“ meinte sie heiter, „und ich glaube, Sie könnten schon zufrieden sein mit dem Wasser, das von Ihnen herunterläuft!“

„Das ist nur der Mantel!“ Ettingen lachte und befühlte unter dem triefenden Loden seine Kleider. „Wirklich, unter dem Mantel bin ich leidlich trocken – aber lange hätt’ es nicht mehr dauern dürfen, dann wär’s durchgegangen.“

„Ja, heut’ hätt’s uns schiech derwischen können,“ sagte Pepperl, während er sich schüttelte, daß die Tropfen wie ein Sprühregen um ihn her flogen. Er war aber auch weit übler weggekommen als sein Herr, denn er trug um die Schultern nur ein dünnes Radmäntelchen, mit dem er viel mehr die Büchse seines Jagdherrn als sich selber vor dem gießenden Regen geschützt hatte. „Teufi, Teufi, Teufi! Das is aber schon ’s reine Glück heut’ …“ Ein krachender Donnerschlag erstickte, was Pepperl noch weiter sagte. Er stellte die Büchse an die Hüttenwand, half seinen Herrn aus dem klatschenden Loden wickeln und hängte die beiden Mantel an das Epheuspalier, damit von dem Zeug die ärgste Nässe abtropfen konnte.

Ein rauschender Windstoß fegte unter das Dach herein und machte in der Hütte die Lampe flackern.

„Aber so kommen Sie doch, ich bitte,“ mahnte Lo’, während sie die Thüre geöffnet hielt. „Im Mantel muß Ihnen warm geworden sein … und bei solchem Weg! Kommen Sie! Und nicht wahr, eine Tasse Thee darf ich Ihnen doch anbieten?“

„Ja, Fräulein! Die wird mit Dank in Empfang genommen. Und wenn Sie noch was dazu haben, das nehm’ ich auch! Ich habe heut’ eine leise Ahnung von dem, was man einen Wolfshunger nennt.“

Er reichte ihr über die Schwelle die Hand, blickte mit frohen, glänzenden Augen zu ihr auf und trat in die Stube.

Groß war sie freilich nicht, diese Stube im Sebenhäuschen. Aber wie gemütlich! In der einen Ecke stand das mit einer weißen Decke verhangene Bett, in der anderen ein alter Schlafdiwan, der schon zum Nachtlager für den Knaben hergerichtet war, darüber ein kleiner Wandschrank, und in der dritten Ecke der gemauerte Herd. Außer einer niedrigen Truhe und einem Rahmen für das Geschirr bestand das ganze übrige Mobiliar aus zwei Holzstühlen und einem Tisch, der in der Mitte des Stübchens unter der hellbrennenden Hängelampe stand und schon zum Thee gedeckt war. Neben dem singenden Theekessel schmückte eine Borkenvase mit Edelrosen den weißen Tisch. Ueberall an den hübsch getäfelten Wänden waren große Waldschwämme und Rindentrichter mit Blumen- und Gräsersträußen angebracht, und die Ecken waren ausgefüllt mit großen Bouquets aus Latschenzweigen, deren kräftiger Harzduft den ganzen Raum erfüllte.

Ettingens Augen blieben an dem Knaben haften, der sich bescheiden und ein wenig verlegen in die Ecke neben dem Herd zurückgezogen hatte.

„Das ist wohl Ihr Brüderchen, Fräulein … das Studenterl, das vorige Woche in Ihrem Haus erwartet wurde?“

„Ja, Herr Fürst.“

„Na, schön’ guten Abend, kleiner Mann! Und da du der

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Die Beisetzung des Fürsten und der Fürstin Bismarck zu Friedrichsruh am 16. März 1899.
Nach einer Originalzeichnung von H. Binde.

[201] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [202] Herr im Hause bist … ich danke dir für die gastliche Aufnahme unter deinem Dach!“

Der Knabe wurde noch verlegener; aber das verriet nur die purpurne Röte seiner Wangen, denn strammen Schrittes kam er auf den Fürsten zu, reichte ihm die Hand und machte ein tiefes Kompliment.

„Und wie heißt du denn?“

„Gustl.“

„August? O! Das ist ein Name, der verpflichtet! Denn wer Augustus divinus war, das weißt du doch sicher schon?“

„Aber natürlich! Wir sind zwar heuer in der römischen Geschichte erst bis zur Verschwörung des Catilina gekommen. Aber wer die Kaiser waren, das weiß man doch!“

Mit wachsendem Wohlgefallen betrachtete Ettingen den Knaben. „Das ist eine Antwort, aus der ich errate, daß dir das Wissen Freude macht und daß du ein fleißiger Lateinschüler bist! Hab’ ich recht?“

„Ja, das darf ich bestätigen,“ sagte Lo’, deren Blick mit zärtlichem Stolz auf dem Bruder ruhte. „Er hat ein Zeugnis heimgebracht, das sich sehen lassen darf.“

Ettingen zog den errötenden Knaben in den helleren Schein der Lampe. „Nein, Fräulein, es ist wirklich überraschend, wie sich in diesem zarten schmalen Gesichtchen schon alle die kräftigen Züge Ihres Vaters erkennen lassen … die Form der Stirne, hier diese Linie von der Wange gegen das Kinn, der Schnitt der Augen und der Nase. Nur in der sanften Zeichnung des Mundes … da gleicht er Ihnen … und schlägt wohl der Mutter nach?“ Er strich mit der Hand über das Haar des Knaben. „Ja, kleiner Mann, du gleichst deinem Vater, und du solltest ihm auch in allem anderen ähnlich werden. Aus dir muß sich im Leben etwas Tüchtiges auswachsen! Denn du trägst einen Namen, dem du Ehre machen mußt … den Namen deines Vaters!“

Die Augen des Knaben blitzten.

Dann war’s eine Weile still in der kleinen Stube. Draußen aber trommelte der Regen wie mit hundert Fäusten auf das Schindeldach, und unaufhörlich rollte der Donner. Da der Sturm die Traufe gegen das Fenster peitschte, schloß Gustl auf einen Wink der Schwester die Läden. Sie selbst bestellte den Tisch, und mit stiller Freude, die aus ihrem ganzen Wesen sprach, bereitete sie alles für das bescheidene Mahl, das sie ihrem Gaste bieten konnte.

Ettingen hatte sich in wohliger Behaglichkeit auf einen Holzstuhl niedergelassen und folgte jedem Schritt und jeder Bewegung des Mädchens mit seinen Blicken. Dann plötzlich sagte er: „Wenn Sie wüßten, Fräulein, wie mir zu Mut ist und wie wohl ich mich fühle. Ich erinnere mich seit Jahren keiner Stunde, der ich so dankbar hätte sein können, wie ich es dieser jetzigen bin. Weiß Gott, ich habe den Wunsch, hier immer so zu sitzen und nicht wieder aufzustehen. Und das macht nicht die sichere, trockene Ruhe, die ich nach diesem recht unbehaglichen Marsch in der Finsternis und unter gießendem Regen hier bei Ihnen gefunden habe. Das macht Ihre Nähe … das geht von Ihnen aus. Ja, Fräulein, und das hab’ ich schon damals empfunden, an jenem ersten Morgen … da draußen bei Ihren Blumen. Diese zufriedene Lebensfreude, diese ruhige Heiterkeit, die in Ihnen liegt … das geht auch auf andere über. Das fühlt man, wie man Licht und Wärme fühlt.“

In Verwirrung suchte Lo’ nach Worten. Aber da kam Pepperl über die Schwelle gestolpert. „Teufi, Teufi, Teufi,“ lachte er und riegelte hurtig hinter sich die Thüre wieder zu, „da draußten is aber ungut! Jetzt bin ich schon selber froh, daß ich ins Trückene komm’. Jetzt hab’ ich ’s Büchs’l g’schwind’ noch ein bißl sauber g’macht, so gut wie’s ’gangen is und hab’ die Mäntel ausg’wunden.“ Er streckte die Arme vom Leib und schaute an sich hinunter. „Oben thut’s es noch … aber ’s Unterg’stell! Saxen noch einmal, mein’ Kurzlederne, die schaut gut aus! Aber no,“ fügte er mit resignierter Miene bei, „die is ’s Wasser schon g’wöhnt.“ Er dachte wohl an die Taufe, die seine „Kurzlederne“ in der Sennhütte empfangen hatte – denn er seufzte. Aber der Anblick seines Herrn, der so trocken und behaglich saß, brachte ihn wieder in gute Laune. „Gelten S’, Duhrlaucht, heut’ haben wir’s nobel ’troffen!“ Lachend stellte er sich an den Herd und ließ sich von der Wärme anstrahlen. „Und jetzt kann ich’s ehrlich sagen … wie wir da droben im Nebel umeinander ’krabbelt sind, und wie d’ Nacht und so ein Wetter eing’fallen is … g’wiß wahr, da hat mir ’graust! Mein G’nack, das kost’ ja net viel! Aber Sie dabei, Duhrlaucht! Mar’ und Josef!“

„Aber haben Sie denn das Wetter nicht kommen sehen?“ fragte Gustl.

„Ich? No, da wär’ ich ein sauberer Jager, wenn ich mich net einmal auf ’n Wind versteh’n möcht’! Ja, aber wissen S’,“ wandte sich Pepperl an Lo’, welche die kochenden Eier überwachte, „gegen Mittag, wie’s so wetterig worden is, waren wir droben auf der Schneid’, wo’s von die Sebenberg ’nuntergeht ins Prantlkar, und gleich hab’ ich g’sagt: ,Duhrlaucht, jetzt müssen wir heim!’ Und durchs Prantlkar wären wir leicht zur Schutzhütten ’nunter’kommen bis auf ’n Abend. Aber der Herr Fürst hat positivi übern Sebensee heim wollen … no ja, und wie so gahlings der Nebel eing’fallen is, da sind wir dag’standen wie der Schuster, wenn er ein’ Kittel machen soll.“

Ettingen lachte.

„Ja, gelten S’, jetzt können S’ lachen. Aber da droben hat’s schiech ausg’schaut! Ich sag’ Ihnen, Fräul’n: aufg’schnauft hab’ ich, wie ich das gott’sliebe Licht’l von Ihrem Hütt’l g’sehen hab’!“

„Siehst du, Lo’!“ fuhr Gustl in heißer Erregung auf. „Siehst du, es hat geholfen! Ja, denken Sie nur, Pepperl … Lo’ hatte die Läden schon geschlossen und hat sie wieder aufgemacht, damit das Licht hinausleuchtet!“

„Fräulein?“ Ettingen blickte zu dem Mädchen auf, das am Tische den Thee bereitete. „Sie haben vermutet, daß wir kommen würden?“

„Ja. Ich hatte Ihren Schuß gehört.“

„Da müssen wir Ihnen doppelt dankbar sein!“ Er nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen. „Wie wohlgeborgen müssen sich die Ihrigen fühlen in Ihrer Liebe, da Ihre Sorge schon so warm für fremde Menschen redet!“

Sie hielt seinen Blick aus und erwiderte lächelnd: „Fremde Menschen? Menschen, die man in Gefahr weiß? Die stehen uns doch immer nah’. Und Sie, Herr Fürst? Nach allem, was Sie mir von meinem Vater sagten? Nein! Sie sind kein Fremder für mich und die Meinen! Aber ...“ Aufatmend löste sie ihre Hand aus der seinen und ging zum Herd. „Haben Sie Erfolg auf der Jagd gehabt?“

Pepperl kicherte. „So, Duhrlaucht, jetzt können S’ Ihnen aber sauber schenieren vorm Fräul’n! Ja, was sagen S’, Fräul’n … auf fufz’g Schritt’ is ihm der Gamsbock dag’standen … und nobel hat er ihn g’fehlt! So ein Schütz wie der Herr Fürst! An was S’ da ’denkt haben, Duhrlaucht, das weiß der heilige Peterl droben … und der net g’wiß!“

„Ja, Pepperl,“ versicherte Ettingen mit herzlichem Lachen, „an Ihren Gemsbock hab’ ich nicht gedacht. Das stimmt!“

Der Thee duftete aus der Kanne, Lo’ brachte die in eine Serviette gehüllten Eier zum fertig gedeckten Tisch, und das Mahl konnte beginnen. Aber da ergab sich eine Schwierigkeit: vier Tischgäste und nur zwei Sessel! Pepperl zog für sich die Truhe zum Tisch, und auf ihr saß er so tief, daß er gerade noch mit dem Kinn über die Tischplatte reichte. Lolo wollte den Platz auf ihrem Sessel mit dem Bruder teilen, aber Gustl holte sich zwei große Holzscheite vom Herd, stellte das eine senkrecht, legte das andere quer darüber, und so hatte er den „schönsten Schaukelstuhl“, mit dem er freilich bei jeder leisen Bewegung umzukippen drohte. Diese glückliche Lösung der Platznot leitete den Schmaus mit Heiterkeit ein, und während draußen der Regen prasselte, der Donner krachte und der Sturmwind rüttelnd um die Holzwände fuhr, wurde im Schutze dieses traulichen Daches mit Lachen geplaudert und gespeist.


12.

Ein Glück war es, daß Loisli am Morgen frischen Vorrat an Butter und Ehrwalder Weizenbrot gebracht hatte, sonst würde sich wohl der Speiseschrank des kleinen Seehauses als zu arm erwiesen haben für den gesunden Appetit der beiden Jäger, die seit dem Frühstück um drei Uhr morgens keinen Bissen mehr [203] genossen hatten. So aber wurden, wie Ettingen lachend versicherte, „die Wölfe allmählich zahm“; je toller es draußen zuging, desto fröhlicher steigerte sich die Laune am Tisch; der trauliche Reiz dieser Stunde und die wohlige Stimmung dieser sicheren Ruhe inmitten des rumorenden Ungewitters lachte und leuchtete von allen Gesichtern, am hellsten aus den Augen des Fürsten. Aus jedem seiner Blicke sprach das dankbare Wohlgefallen an der stillen, aufmerksamen Art, mit welcher Lo’ ihren Gast bediente und für ihn sorgte. „Wer das immer so haben könnte,“ sagte er, „nicht nur für eine Stunde, für immer: sich in allem Sturm, den das Leben bringt, so sicher und herzensfroh zu fühlen, wie wir da sitzen, während draußen alles drunter und drüber geht!“

„Das können S’ ja haben, Duhrlaucht!“ meinte Pepperl lachend, während er sich zum fünftenmal die Tasse füllte. „Bleiben S’ da bei uns und verangaschieren S’ d’ Fräul’n Petri als Wirtschafterin ins Jagdhaus! Da kriegen wir’s gut!“

Heiter ging Lo’ auf den Scherz des Jägers ein, aber Gustl schien die Sache ernst zu nehmen und betrachtete mit beklommener Aufmerksamkeit bald die Schwester und bald den Fürsten, der keinen Blick von Lo’ verwandte und jedes Wort von ihren Lippen wie eine neue Freude zu empfangen schien.

Auch Pepperl war plötzlich nachdenklich geworden. Das „Jagdhaus“ mochte ihn an ein anderes Gebäude erinnert haben, das nicht weit davon lag. Mit seufzendem „Vergelt’s Gott!“ zog er, als Ettingen die Serviette faltete und Lo’ den Tisch zu räumen begann, die Truhe an ihre Stelle zurück, setzte sich wieder und lehnte sich mit gekreuzten Armen an die Hüttenwand. Auch Gustl, den das Balancieren und Turnen auf seinem „Schaukelstuhl“ ermüdet hatte, schien das Verlangen nach bequemer Ruhe zu haben; er trug die beiden Scheite zum Herd und schmiegte sich in die Ecke des Diwans.

So blieben Ettingen und Lo’ allein am Tisch, überschimmert vom Lichtkreis der Lampe, während alle Ecken und Wände der Hüttenstube in tiefem Schatten lagen. Und sie allein nur sprachen. Wie einer, der am Weg eine seltene Blume findet, sie betrachtet mit Lust und Staunen, an ihrer Schönheit sich nicht satt zu schauen vermag und die drängende Sehnsucht empfindet, das liebliche Wunder dieser Farben ganz zu verstehen, die Quelle dieses köstlichen Duftes auszuspüren – so fühlte sich Ettingen diesem Mädchen gegenüber. Er fragte und fragte, als sollte für ihn auf dem Grund dieser tiefen und klaren Menschenseele kein Licht und keine Regung verborgen bleiben. Wie mußte er staunen über die seltene Bildung dieses „Dorfkindes“! Ihr Wissen konnte nicht reicher sein, wenn sie die gerühmteste Schule besucht, den Unterricht der besten Lehrer genossen hätte. Und daß sie das alles wußte – als wie selbstverständlich betrachtete sie das! „Kann man denn leben, ohne an Wissen zu erwerben, was für uns erreichbar ist?“ Und wie ruhig und einfach sie das Leben ansah! Wie alle schreienden Fragen der menschlichen Daseinsnot für sie gelöst waren durch ihre wunschlose Zufriedenheit, durch die Herzensgüte, mit der sie alles und alles umschloß, durch ihren Glauben an das Schöne und an die zweckvolle Notwendigkeit alles Bestehenden, auch des Schmerzes. „Leben und leiden, das klingt zusammen und läßt sich nicht trennen … und könnten wir uns denn eine Freude denken, wenn wir den Schmerz nicht kennen würden? Wir lieben doch die Sonne nur, weil sie wiederkommt, wenn sie gesunken ist.“

Wohl mußte Ettingen bei seiner größeren Lebenskenntnis den Kopf zu so manchem Gedanken schütteln, den sie aussprach. Aber aus allem, was sie sagte, hauchte ihn eine Wärme an, die sein ganzes Wesen durchdrang. „Wie Sie von Welt und Menschen denken, mein liebes Fräulein, das alles ist so gut, so schön! Aber die Wirklichkeit des Lebens, die ist rauh und zwecklos häßlich, so grundverschieden von dem abgeklärten Bild, mit dem Ihre Seele alles widerspiegelt. Doch ich bin der letzte, der Sie in Ihrem Glauben irremachen könnte! Und wer weiß … vielleicht haben Sie dennoch recht … und wir Allerweltsklugen, die es besser wissen wollen, sind die Thoren, die alle Weisheit für sich haben, aber auch allen Schaden. Schließlich ist Wahrheit doch wohl etwas anderes als Wirklichkeit. Wahrheit, die sich greifen läßt und für alle gilt? Nein! Die giebt’s nicht! Wenn Wahrheit nicht in uns ist, dann ist sie nirgends. Nicht die greifbare Form der Dinge macht ihr Bild, sondern der Blick, mit dem wir sie sehen. Das Leben ist gut für Sie, weil Sie es sind. Sie stehen hoch, und Ihr Blick ist hell! Wer so sehen könnte wie Sie!“

„Liegt das nicht im Willen eines jeden?“

„Meinen Sie?“ Er schwieg und lächelte, als hätte er in Gedanken zu sich gesagt: Ich will’s versuchen!

Da hörten sie einen tiefen, schweren Atemzug, und alle beide blickten sie auf. „Ach Gott! Der arme Junge!“

Gustl war eingeschlafen, und in unbequemer Lage hing ihm der Kopf über die Lehne des Diwans hinunter.

Während Lo’ hinüberging, um den Knaben aufzurichten, riß auch Pepperl die Augen auf, der ebenfalls ein Nickerchen gemacht hatte und nun erwachte, da die Stimmen so plötzlich schwiegen.

Die Ermüdung dieser beiden mahnte Ettingen an die Zeit, an die er seit dem Eintritt in die Hütte noch mit keinem Gedanken gedacht hatte. Er sah nach der Uhr und sprang erschrocken auf. „Ach, du lieber Himmel! Zwölf Uhr! … Fräulein! Ich habe Sie um die halbe Nacht gebracht! Wie soll ich meine Unbescheidenheit entschuldigen? Ich kann es nur, wenn ich Sie zur Mitschuldigen mache … der Gast ist geblieben, weil ihn die Wirtin hielt. Jetzt aber fort! Auf, Pepperl! Wir gehen! Wir müssen gehen!“

Gehorsam erhob sich der Jäger und streckte die Glieder. Aber Lo’ sagte: „Sie können und dürfen nicht gehen! Das Gewitter scheint ja vorüber zu sein … man hört keinen Donner mehr! Aber dieser Regen … wie das gießt! Und jetzt, in der Nacht? Dieser Weg! Nein! Sie müssen bleiben! Ich erlaube nicht, daß Sie gehen.“

„Ja, Duhrlaucht, ’s Fräul’n hat recht!“ fiel Pepperl ein und öffnete die Thüre. Ein sausender Luftstrom fuhr in die Hütte herein und peitschte den Regen über die Schwelle. „Da schauen S’ ’naus, wie’s thut! Und die Finsternis! Da könnten wir den Hals riskieren! Na na, die Verantwortigung übernimm ich net! Jetzt müssen wir schon bleiben! Und’s Fräul’n wird net harb sein drum … gelten S’, na?“

Lo’ reichte dem Fürsten die Hand. „Wenn Sie gingen, jetzt, Sie würden mir nur eine Sorge machen. Ich bitte Sie, zu bleiben!“

Die Hand des Mädchens festhaltend, ließ sich Ettingen heiter auf den Sessel nieder. „Gut! Ich weiche der Majorität … und thu’ es gerne. Aber Gewissensbisse mach’ ich mir doch … und eine Bedingung stell’ ich: der arme Junge ist müd’, er soll sich ruhig niederlegen. Nicht wahr, Gustl, vor mir genierst du dich nicht?“

„Nein!“ sagte der Knabe mit seiner schlaftrunkenen Stimme. Er wartete nur, bis die Schwester ihm zunickte, dann zog er das Jöpplein aus und legte es sorgsam gefaltet über die Diwanlehne. In den Strümpfen und mitsamt dem Lederhöschen schlüpfte er unter die Decke, in deren Schutz er sich vollends entkleidete. „Lo’, jetzt lieg’ ich!“ – Das sollte heißen: Komm’ und sag’ mir Gute Nacht! Als fünfjähriger Bub hatte er sich’s angewöhnt, vor dem Einschlafen die Schwester so zu rufen – und daran änderte die Thatsache nichts, daß er im letzten Semester schon angefangen hatte, den „Cäsar“ zu lesen.

Sie ging zu ihm, und als er sie mit beiden Armen um den Hals nahm, küßte sie ihn auf die Wange und sagte ihm leis ins Ohr: „Denk’ an Papa!“

Während Ettingen schweigend die Geschwister betrachtete, stieg ihm warme Röte ins Gesicht, und er atmete auf, als wäre ein Wunsch in ihm erwacht, den er fühlte, ohne ihn zu verstehen. Als Lo’ zum Tisch zurückkehrte und eine grüne Blende um den Lampenschirm hängte, blickte er lächelnd zu ihr auf und sagte: „Wie gut der kleine Mann da drüben jetzt schlafen wird!“

Nun saßen sie wieder am Tisch, und damit der Junge den Schlummer leichter finden möchte, plauderten sie mit gedämpften Stimmen. Das machte sich auch Pepperl zu nutze, und es dauerte gar nicht lange, da hatte er schon wieder die Augen geschlossen.

Nur die beiden am Tische dort, die schienen keine Müdigkeit zu fühlen, kein Verlangen nach Schlaf. Und dieses leise Sprechen beim eintönigen Rauschen des Regens gab jedem Wort, das sie sagten, einen heimlichen, tieferen Sinn und umwebte die Plaudernden mit einer Stimmung, die sie einander näher brachte, ohne daß sie es wußten, und deren traulichen Reiz sie genossen, ohne ihm nachzufragen. Manchmal, nach einem ernsten Wort, verstummte ihr [204] Geplauder, und dann saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber, als hätten ihre nachklingenden Gedanken an diesem Worte noch zu raten. Nach solch einer Stille sagte Ettingen einmal, ganz unvermittelt: „Denken Sie, Fräulein … die ganze Zeit schon, während ich plaudere mit Ihnen, bei jedem Wort, das Sie sprechen, geht mir immer eine seltsame Empfindung nach …“

„Welche?“

„Daß wir nicht allein wären … hier am Tisch! Daß noch ein Dritter bei uns wäre … Ihr Vater!“

Wie es ihre Wangen überglühte, wie es aufleuchtete in ihren Augen, das verriet ihm, mit welcher Sehnsucht sie darauf gewartet hatte, daß er von ihrem Vater sprechen würde.

„Wirklich, Fräulein … bei so vielem, was ich von Ihnen hörte, hab’ ich mir immer denken müssen: er ist es, der zu mir redet! Und oft überkam mich völlig die Täuschung, als vernähme ich eine ganz andere Stimme, nicht die Ihrige, seine Stimme. Ich stelle mir vor, daß er ein tiefes, klangvolles Organ hatte – eine von jenen Stimmen, nach denen man sich unwillkürlich umsieht, wenn man sie hört?“

„Nein!“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Papa hatte eine ganz unauffällige Stimme, nicht stark und beinahe herb, fast immer ein wenig erregt und etwas ungeduldig … wie das so ist, wenn die Zunge den Gedanken nicht nachkommt. Aber wie weich und zärtlich konnte diese Stimme klingen! Wie sie ins Herz ging, so warm …“ Träumend blickte Lo’ vor sich hin, als ob sie lauschen möchte. Ein Schatten tiefer Wehmut glitt über ihre Züge. Dann atmete sie auf und sagte leis: „Das kommt nicht wieder! Da hilft kein Erinnern.“

Um die schmerzliche Stimmung zu verscheuchen, die sie befallen hatte, begann er von seinem Besuch in ihrem Haus zu sprechen und schilderte ihr den Eindruck, den er von jedem einzelnen Bild empfangen hatte. Lange hörte sie ihm schweigend zu, keinen Blick von seinen Lippen verwendend. Dann sprach sie manchmal ein paar flüsternde Worte dazwischen, um seine nicht völlig zutreffende Auffassung des einen und anderen Bildes richtigzustellen, oder um ihm zu sagen, aus welchem zufälligen und scheinbar unbedeutenden Erlebnis gerade dieses oder jenes besonders wirksame Motiv hervorgewachsen war. So kam sie allmählich ins Erzählen und schilderte ihm das ganze seltsame Schicksal ihres Vaters, die Anfänge seiner Kunst, das stille Glück seiner Liebe, als er in der Erzieherin eines vornehmen Hauses, in dem er Zeichenstunde gab, seine Frau gefunden, – seinen häuslichen Sorgenkampf, seine Verzweiflung über das lachende Unverständnis, dem er mit seinem eigenartigen Schaffen und Sinnen begegnete, seine Verbitterung und die Flucht aus der Stadt, sein resigniertes Aufatmen im stillen Dorf und im Verkehr mit der Natur, die schönen Traumwochen am Sebensee, die Liebe zu den Seinen und die Freude an seinem Haus, den Anfang dieser handwerksmäßigen Schilderei, die er im Zorn der Verbitterung begann, um sie mit heiterer Ironie dann weiter zu treiben, fast mit einer Art von Freude an ihr, weil sie anderen Freude machte – die Rückkehr zu neuem, reiferem Schaffen, die Aengstlichkeit, mit der er die neu entstandenen Werke in seinem Haus verschloß, damit sie nur ja keinem „Kunstaugur“ vor Augen kämen, sein ganzes Leben bis zu jenem letzten Tag nach dem Wolkenbruch, bis zu seinem lächelnden Sterben und seinem letzten Wort: „Meine Blumen …“

Stunde um Stunde verging dabei – und sie merkten nicht, daß über dem kleinen Dach das Rauschen des Regens immer leiser wurde und daß durch die Ritzen der Fensterläden sich schon ein mattes Grau des erwachenden Morgens schlich.

„So starb er.“

Lange saßen sie sich schweigend gegenüber, bis Ettingen die Hand des Mädchens nahm und sagte: „Ich kann es Ihnen nachfühlen … wie müssen Sie ihn schwer verloren haben!“

„Ja!“ Sie sagte sonst kein anderes Wort. Doch ihre Augen verschleierten sich feucht. Und erst nach einer Weile konnte sie wieder sprechen: „Aber das Lächeln, mit dem er starb, der leichte Seufzer, mit dem er die Augen schloß … das war mein Trost, und das hat mir hinübergeholfen über das Schlimmste, so daß ich die Mutter und den Bruder stützen konnte in ihrem Schmerz. Und er hat mich ja doch gelehrt, das Leben lieb zu haben, aber auch den Tod nicht zu fürchten, nichts anderes in ihm zu sehen als einen Wandel der Form und eine schöne Ruhe, in die kein Schrei und Weh des Lebens mehr hineinklingt! Und weil er starb … deshalb hat er uns nicht verlassen! Immer seh’ ich ihn, immer ist er bei mir … und wenn schon Sie das empfinden mußten, der Sie ihn gar nicht kannten … wie muß ich das fühlen, ich, sein Kind! Als ob er noch lebte, wirklich und wahr, so seh’ ich ihn vor mir stehen … nur so still!“ Ihre Stimme schwankte. „So schweigsam! Und wie ich auch all mein Erinnern sammle … seine Stimme hör’ ich nicht mehr, auch nicht im Traum … und wenn ich sie zu hören meine, dann klingt sie anders … nicht mehr so, wie sie war. Und das ist eine Sehnsucht, die mich nie verläßt: seine Stimme noch einmal zu hören … nur jenes einzige Wort, das er immer zu mir sagte, wenn ich ihm eine Freude machte … mit der gleichen Zärtlichkeit, mit dem gleichen Ton: ‚Meine gute, liebe, kleine Lo’!‘ Das möcht’ ich noch einmal hören, nur ein einziges Mal! … Aber ich weiß, das kommt nicht wieder!“ Zwei schimmernde Thränen lösten sich von ihren dunklen Wimpern und sickerten langsam über die Wangen nieder.

„Fräulein …“ Das war ein Laut, so erregt und ungestüm, wie aus quälendem Schmerz heraus.

Und da erwachte der Jäger. Ein wenig mühsam erhob er sich, denn alle Glieder schienen ihn zu schmerzen, und öffnete die Thür. Weiße Helle und frische Morgenluft quoll in den Lampenschein der Stube. „Da schauen S’ her, Herr Fürst! Tag is worden! Und der schönste Morgen!“ Lachend rieb er sich die Augen und trat über die Schwelle hinaus.

Die beiden am Tisch erhoben sich. „Tag? Wirklich, es ist Tag geworden!“ Ettingen faßte die beiden Hände des Mädchens. „Und wenn ich jetzt gehe … ich danke Ihnen, Fräulein, für diese Nacht ... und ich nehme um Ihretwillen einen Wunsch mit fort …“

„Einen Wunsch?“

„Daß Sie das noch einmal hören möchten in Ihrem Leben … mit der gleichen Zärtlichkeit und mit dem gleichen Ton: Meine gute, liebe, kleine Lo’!“

Zögernd ließ er ihre Hände, ging zum Diwan hinüber und küßte den schlummernden Knaben auf die Stirn. Gustl erwachte, richtete sich in den Kissen auf, blinzelte mit den Augen und sagte: „Guten Morgen!“ Das wirkte so drollig, daß sie lachen mußten, alle beide. Zärtlich klopfte Lo’ den Knaben auf die Wange. „Guten Morgen, Bubi! Aber leg’ dich nur wieder hin und schlaf’ noch ein Weilchen. Es ist ja noch gar nicht Tag … erst vier Uhr früh!“

„So? Aber gelt, wenn die Sonne kommt, dann weckst mich, Lo’?“

„Ja, Bubi!“

Gustl gähnte mit singendem Ton und drehte sich auf die Seite. Nach einer Minute schlief er schon wieder.

Lo’ und Ettingen traten vor die Hütte.

Im weißen Frühlicht lebten schon alle Farben der Landschaft auf, und all diese Farben hatten etwas Neues, Ungewöhnliches und Kraftvolles. Doch nur in der Ferne erschienen sie klar. Ueber allen Farben der Nähe lag’s wie ein Hauch des Reifes, wie ein grauer Seidenschleier, und unter der Schwere zahlloser Wassertropfen waren alle Kelche der Blumen gebeugt, all ihre Blätter und Zweige zu Boden gedrückt. Doch während Tropfen um Tropfen von ihnen niederrollte, begannen sie schon langsam sich wieder aufzurichten, frischer und schöner, wie von neuem Leben erfüllt. Von den Büschen des Gartenzaunes, und reichlicher noch von den schweren Nadelzweigen des Harfenbaumes, ging ein unaufhörliches Geriesel nieder, und das war in der Stille des Morgens wie eine leise, heitere Murmelstimme, in die sich mit tiefem Orgelton das ferne Rauschen der wasserreichen Wildbäche mischte.

Ruhig dampfte der See, doch die Dünste, die von ihm aufstiegen, zerflossen wieder in den Lüften. Vereinzelte Nebelsäulen rauchten über die schwarzgrünen Kämme der Wälder empor und zogen sich langsam an den Gehängen der Berge hin. An den Wänden, die gegen Westen blickten, waren in nassem Blau alle Formen verwaschen, in hartem Bleigrau aber und scharf gezeichnet starrten alle Felsen, die gegen Osten sahen, von wo die Sonne kommen sollte. Sie kam noch nicht. In kalter Helle leuchtete das dünne Blau des Himmels, und mit erlöschendem Schimmer zitterte ein großer Stern noch zwischen dem letzten grauen Gewölk, welches langsam davonzog über den Grat der südlichen Berge. Aber hoch am [205] Himmel, hoch, begann sich eine kleine Herde winziger Lämmerwolken schon mit zartem Rot zu überhauchen. Und als sie leuchteten, diese Wölklein, wie in die Lüfte gestreute Rosen, schwamm fern im Osten über einem langen dunklen Bergzug ein Glimmen und Glasten herauf, in dem alle Formen der Zinnen mit doppelter Linie gezeichnet waren: die eine blauschwarz und die andere gleißend wie ein goldener Faden.

Da zog von den Wänden ein frischer Windhauch über das stille Seethal nieder, bewegte sacht alle Zweige an Busch und Bäumen, machte die Tropfen in Menge fallen und strich über alle Bäume und Gräser hin wie mit Flüsterstimme: Sie kommt, sie kommt! Leise rauschten die Wälder im tieferen Thal – und jählings war es, als hätte strömend der Duft aller Blumen sich gelöst, als stiege würzig und stark aus dem Schoß der Erde herauf, was ihre getränkte Scholle nur immer besaß an Wohlgeruch.

In solcher Luft, wie war das ein leichtes und frohes Wandern!

Bald klangen die Schritte der beiden Jäger auf kahlem Gestein wie Hammerschlag, bald wieder erloschen sie, wenn der Weg über feuchten Rasen ging. Ettingen atmete tief und tief, als wäre in seiner Brust ein unersättlicher Durst nach allem Duft und aller Frische dieses Morgens. Und immer wieder blieb er stehen, winkte mit der Hand und grüßte mit dem Hut zurück nach dem kleinen Haus dort oben, auf dessen Schwelle noch immer das Mädchen stand, regungslos, die schlanke Gestalt wie von nebelhaftem Feuerglanz umwoben: vom rötlichen Lampenschein, der aus der Stube quoll.

(Fortsetzung folgt.)


Helgoland einst und jetzt.
Von Gustav Kopal. 0 Mit Illustrationen von H. Haase.

„Helgoland in Sicht!“


„Helgoland in Sicht!“

Das war gute Mär. Was „seefest“ geblieben unter den Schiffsgästen der „Cobra“, eilte nach vorn, um nach dem soeben an der Kimmung auftauchenden Felsen Ausguck zu halten. Und wer „sich etwas angegriffen fühlte“ – mehr wollten einige entschieden bleichwangig gewordene Herrschaften nicht zugeben –, dem verlieh die erfreuliche Kunde neuen Lebensmut. Denn alle die vielgepriesenen Mittel gegen die Seekrankheit, sie hatten sich wiederum nicht in gewünschter Weise wirksam erwiesen. Nur eins giebt’s, das hilft gewiß, und das ist das Wiederbetreten des „festen Walles“, wie der Seemann das Land zu nennen beliebt. Und dort lag es ja, wenn auch nur als winziges blaugraues Viereck ….

„Wie, jetzt schon?“ äußerte erstaunt neben mir mein alter Schulfreund, ein nach dreijahrzehntelangem Aufenthalt „drüben“ endlich heimgekehrter „Ueberseeer“, den ich an Bord getroffen hatte. „Das ist ja kaum möglich!“

„Ja, weshalb denn nicht? Um acht Uhr sind wir von der St. Pauli-Landungsbrücke abgefahren; um drei Uhr ist die ‚Cobra‘ in Helgoland fällig. Geht’s dir etwa zu schnell?“

„Ich erinnerte mich nur meiner ersten Fahrt nach Helgoland, Anno 1867. Da mag es so ungefähr in dieser schönen Gegend gewesen sein, als ich auf die verzweiflungsvolle Frage an einen der Schiffsmaaten: ‚Wie lang’ noch bis Helgoland?‘ die trostlose Antwort erhielt: ‚Bi düßen Wind noch soß, söben Stünnen.‘ Dabei schlingerte der alte Kasten so toll! Nun auf diesen prächtigen neuen Schnelldampfern gehört nicht viel dazu, standzuhalten; man merkt ja die Bewegung kaum, und selbst das schwache Geschlecht, das übrigens auch in dieser Beziehung gar nicht so schwach ist, bleibt meistens kreuzfidel.“

„Wie geht’s denn deinem Herrn Sohn?“

„Der sitzt dort hinter dem Radkasten und spielt einen ‚gemütlichen‘ Skat, wie er es nennt – der echte Deutsche der Gegenwart! Ringsum erhabenste Natur, daß einem das Herz aufgehen möchte vor Freude und daß ich alter Kerl mich nicht sattsehen kann an diesen wunderbaren grünen Wogen, wie sie schäumend daherrollen und im Sonnengold glänzen, und an den flinken Möwen, wie sie so geschickt die zugeworfenen Brocken auffangen – da sieh nur die, die soeben kreischte, das Tier ist förmlich zahm! – und die vielen Schiffe, die wir schon gesichtet haben, vom stolzen [206] Fünfmaster bis zum fixen kleinen Finkenwärder Fischer-Ewer: das alles findet mein Söhnchen lange nicht so herrlich wie seinen Grand mit vier Jungen, von dem er mir vorhin triumphierend erzählte. Nette Gemütserhebung das!“

„Demgemäß spielst du selbst nicht Skat?“

„Ich rührte überhaupt keine Karte mehr an seit meiner Reise nach Helgoland 1867. Damals hab’ ich mir’s gelobt. Komm, laß dir’s erzählen. Steward, zwei Cognacs, Dreistern! Also, als wir endlich vor Helgoland Anker warfen und ausgebootet wurden – ich glaube, zwölf Schillinge Hamburger Courant, also neunzig Reichspfennig jetziger Währung, kostete damals das Anlandsetzen – da war’s so gut wie dunkel und der Regen goß in Strömen, von Spazierengehen keine Rede. Logis genommen, trocken Zeug auf den Leib, einen Riesenhummer vertilgt in dem ehemaligen langweiligen Konversationshause an der Bindfadenallee, mitten im Unterland, ohne Seeaussicht.


Ein gemütlicher Skat.


Aber gute Freunde von Hamburg getroffen; die zeigten mir ‚Helgoland bei Nacht’ ganz gründlich. Zunächst die ‚Grüne Woge’, den berühmten Tanzsaal, wo uns gegen Erlegung eines preußischen Thalers ein Helgoländer Paar in Volkstracht den der Insel eigentümlichen Tanz vortrippelte, zu dem eine sonderbare eintönige Weise gesungen wird ...“

„Kannst du heutzutage auch noch haben. Das ,Sling, mien Möderken, sling’ hat sich unverändert erhalten.

Die hübsche, eigenartige Volkstracht der Helgoländer ist freilich selten geworden und wird fast nur von Badegästen angelegt, die sich darin photographieren lassen wollen.“

„Schade; sie sahen so nett aus, die Helgoländerinnen, wenn sie nach Hamburg kamen im ‚Peik’, dem roten, gelbgrün besetzten Rock, reichgesticktes Mieder dazu, auf dem Kopf den vielfältigen schwarzen ‚Südwester’, in der Hand unfehlbar das ‚Nöösdook’ (Schnupftuch) – und wir Jungens redeten sie auch wohl an: ,Snake jüm Hollunder?’ – Diese Frage: ‚sprechen Sie helgoländisch?’ war freilich das einzige, was wir von ihrer friesischen Mundart gelernt hatten; das Gespräch erwies sich daher als nicht entwickelungsfähig.“

„Wenn’s eine echte Helgoländerin war;“ schaltete ich ein; „unechte Exemplare aber, die damals in Hamburg nicht selten vorkamen, setzte man dadurch in Verlegenheit.“

„Na, von der ‚Grünen Woge’,“ fuhr mein Freund fort, „kreuzten wir durch verschiedene Weinkneipen weiter und weiter; Bier war, nebenbei bemerkt, damals auf Helgoland ein für Badegäste völlig unbekannter Begriff. Endlich strandeten wir in einem hellerleuchteten großen Zimmer, wo schwarzbefrackte Herren uns sehr zuvorkommend die Wahl zwischen Roulette und Trente-et-Quarante anheimstellten. Der Champagner dort kostete gar nichts, erwies sich aber dennoch als recht teuer, denn als ich am nächsten Mittag mit schwerem Kopfe in meinem Quartier aufwachte, konnte ich nur mit Mühe und Not aus meinen Taschen das Logisgeld und die zwölf Schillinge für die Fahrt an Bord zusammenklauben. So warf ich denn noch einen betrübten Blick nach der Düne, die zu besuchen mir nicht einmal die Zeit blieb, leistete mir, abermals bei strömendem Regen, ein Häppchen Spaziergang ins Oberland und ärgerte mich schließlich noch über den vierschrötigen englischen Polizisten in Blau mit häßlicher Lederkappe, der auf dem Landungssteg stand, denn sein Bulldogggesicht hatte ich gestern spät schon gesehen; das Raubnest, wo ich so schmählich geplündert worden war, erfreute sich des hohen, obrigkeitlichen Schutzes.“

„Tröste dich, alter Junge; das ist seitdem gründlich anders geworden. Mit einem guten Fernrohre könntest du vielleicht jetzt schon an derselben Stelle einen Gewappneten in Grün mit weißem Lederzeug und blanker Pickelhaube bemerken, einen königlich preußischen Gendarmen, dem es ein Vergnügen machen würde, eine Spielhölle auszuheben; ich glaube aber kaum, daß eine solche noch vorkommt auf dem heiligen Eiland der Helga.– Doch ich will nun nach den Meinigen sehen. Im Damensalon halten meine Frau und meine, Nichte angeblich ein Nachmittagsschläfchen; das dürste jetzt überstanden sein. Und nun giebt es bald etwas zu sehen. Das Gestein dort beginnt rötlich zu werden; der weiße Streifen der Düne schimmert gleichfalls schon deutlich erkennbar.“

„Und durch meinen Feldstecher erblicke ich das Grün des Oberlandes:

Grön is dat Land,
Rot is de Kant,
Witt is de Sand;
Dat sünd de Farben
von Helgoland.

Das ist alles unverändert. Ueberhaupt, wetten möchte ich, daß ich nicht viel Neues finde im Gegensatz zu 1867. Die Helgoländer sind konservativ durch und durch; das wirst doch zugeben?“

„Stimmt! Aber trotzdem dürfte innerhalb dreier Jahrzehnte einiges verändert worden sein. Du wirst es schon herausfinden. Also auf Wiedersehen, heute abend oder morgen!“

„Wo treffen wir uns?“

„Auf Helgoland findet man sich überall.“ - -

Am Abend saßen wir vor der Strandhalle, die Damen beim Kaffee, die Herren beim Münchener, und mein Freund lachte: „Wie ich dir’s prophezeit habe: ich finde nur Unerhebliches verändert. Dort die Kaiserstraße, in die wir hineinblicken, hieß früher Queen Victoria-Street, und der ‚Duke of Wellington’, wo ich dereinst wohnte, führt nunmehr ‚Graf Moltke’ im Schilde. Aber es ist genau dieselbe blitzblank reine Straße, es sind dieselben schmucken holzverkleideten Häuser, hinter jedem Fenster saubere Gardinen und Blumentöpfe – du glaubst nicht, mit welcher Freude ich diese langentbehrte deutsche Eigenart überall wieder begrüße!“

„Erlaube einmal, liegt gerade darin nicht schon eine recht bedeutende Veränderung, daß jetzt eine urdeutsche Insel mit kerndeutscher Bevölkerung endlich wieder zum Vaterlande gehört?

Da am Tisch die schneidigen Seeoffiziere, hier die mit strammem [207] Soldatengruß vorübergehenden Matrosen-Artilleristen, und dort jenseit der Düne gar ein deutsches Panzergeschwader – es signalisiert, wie ich vorhin gehört habe, allabendlich mit farbigen Lichtern nach der Insel – das alles hast du doch keineswegs bemerkt, ehe du über das große Wasser gingst?

Händler mit Seesternen und andere Raritäten.


Ist es nicht herzerhebend, daß von diesem Felsen, der früher als Stützpunkt zur Blockade von Elbe und Weser dienen konnte, jetzt deutsche Geschütze auf weiten Meilenumkreis das Meer feindesfrei zu halten vermögen?“

„Nun ja, im großen kann ich nichts gegen dich verrichten, drum fang’ ich es im kleinen an, mit Faust zu reden,“ meinte der Deutsch-Amerikaner nachdenklich. „Da sieh den halbwüchsigen Burschen, der den Badegästen Muscheln und Seesterne anpreist. Er wird von ihnen zweifellos dieselben hohen Preise fordern wie einst sein Geschäftsvorfahr von mir; nur mag beim Umrechnen des Hamburger Courants in Reichsmünze die übliche Abrundung nach oben stattgefunden haben, also zum Beispiel zwölf Schillinge gleich einer Reichsmark rund, das ist besser zu rechnen. ,Verdienen muß immer mit einem großen V geschrieben werden’, sagt der Hamburger, und diese hanseatische Lebensregel gilt auch in Helgoland jetzt wie dazumal. Das Bier – gut ist's! Aber vor acht Tagen trank ich es an der Quelle für 26 Pfennig das Liter, und hier kostet es ungefähr das Vierfache.“

„Jene 26 Pfennig sind ein Sonderrecht, um das der Bayer von ganz Deutschland beneidet wird. Auf dem Bier liegt hier eine hohe Verzehrungsabgabe, deren die Helgoländer Gemeindekasse nicht entraten kann, denn sie hat schwere Kriegskosten in ihrem steten Kampf mit dem Meere um die Erhaltung der Insel zu. tragen. Früher hingen Düne und Insel zusammen; 1720 schlug der ,blanke Hans’


Strandpromenade zwischen abgestürzten Felswänden.


den letzten sie noch verbindenden Steinwall fort. – Da sieh nur die mächtigen Balkengestänge der Uferschutzbauten dort zur Rechten – wie Schwefelhölzchen hat sie der Wogenprall geknickt und zerstückelt, als vor vier Jahren die große Sturmflut losbrauste, die auch einen so beträchtlichen Teil der Düne wegriß. Jahrelang wird der ,Dünendoktor’ daran zu flicken haben.“

„Was ist denn das für ein absonderlicher Badearzt?“

„Ein Bauunternehmer Hanken aus Oldenburg. Mit 560 000 Mark Kosten soll nunmehr ein Teil des verlorengegangenen Strandes dem Meere wieder abgewonnen werden. Ein Senkstück nach dem andern – so nennt man ein aus Faschinenwerk hergestelltes Floß – wird mit Steinen beschwert und in die Tiefe gelassen, um neuen Vorstrand zu schaffen. Die Erhaltung des Dünenbades ist Lebensfrage für die Helgoländer, denn hier an der Insel selbst, in der sogenannten Krebssuppe, badet man nur im Notfalle.“

Auf die Frage einer der Damen gab ich die Erklärung, daß als „Krebssuppe“ der die eigentliche Insel zunächst umgebende Wassergürtel bezeichnet wird. Die anscheinend rötliche Färbung rührt von dem vielen abgebröckelten Gestein her. Jahraus, jahrein verkleinern die Wellen der Nordsee das rote Triasgestein, bei ruhigem Wetter langsam nagend, zu Sturmeszeiten mit ungeheurer Gewalt ganze Blöcke losreißend. Namentlich die Westküste ist diesen Angriffen ausgesetzt und daher auch am meisten zerklüftet. Ein Gang um die Insel zur Ebbezeit, selbstverständlich nur in Begleitung eines erfahrenen Helgoländers und unter Beobachtung der höchsten Vorsicht, gewährt den deutlichsten Einblick in die Höhlen und Risse, die Einschnitte und Spalten, alle diese klaffenden Wunden, an denen im Lauf der Jahrhunderte der jetzt noch so lebenstrotzig standhaltende starre Felskörper dahinsiechen muß, bis er dereinst verschwunden sein wird im Wellengrabe ...

Schon am nächsten Tage zur Ebbezeit weilten wir zwischen den abgestürzten Felsblöcken am Weststrande. Reiche Ernte hielten das kunstbegabte Fräulein für ihr Skizzenbuch, der Deutsch-Amerikaner für seine neuangelegte Muschelsammlung, und den drohenden Gefahren durch die etwa von oben frisch losbröckelnden Massen entgingen wir glücklich. Auch ward uns nach dem Weiterwandern zur Ostseite eine besondere Augenweide, nur denen beschert, die schon im Mai und Juni Helgoland [208] besuchen: an windgeschützten Steilwänden entfaltete der wilde Kohl (Brassica oleracea L.) seine gelben Blüten in ungeheuren Mengen, von Tausenden von Kohlweißlingen umschwärmt, gewissermaßen ein Idyll gegenüber der gewaltigen Großartigkeit der riesigen Grotten, Zacken, Säulen und Thore der Westseite.

Fahrt nach der Badedüne

Wer die zur Herbstzeit veranstalteten Beleuchtungen dieser Küsten mit Fackeln und Feuerwerkskörpern vom Korso der lämpchengeschmückten Boote aus betrachtet hat, der wird den feenhaften Anblick nie vergessen. – –

„Hier aber hat sich denn doch ganz und gar nichts verändert,“ so kam am nächsten Tage bei der Ueberfahrt zur Düne mein Freund auf unsere Streitfrage zurück. „Nach wie vor dienen die großen schweren Fährboote als Verkehrsmittel, auf eine Viertelstunde mehr oder weniger kommt’s nicht an – und das zu unseren Tagen, in denen Zeit geradezu Geld bedeutet!“

„Nun, ein kleiner Fortschritt der Neuzeit ist dir entgangen: bei Windstille und bei entgegenstehendem Winde liegt eine Dampfbarkasse zum Schleppen der Boote bereit; sie hat schon im vorigen Jahre gute Dienste gethan. Aber die Ueberfahrt in diesen sehr sicheren Booten ist an sich so genußreich, daß die große Mehrzahl der Badegäste sicherlich einen Fährdampfer gar nicht besteigen würde. Wahrscheinlich ginge es damit ebenso wie mit dem eisernen Fahrstuhl neben der Treppe zum Oberlande, den ich gleichfalls auf das Konto der Veränderungen zu buchen bitte. 193 Stufen zu steigen, das klingt schrecklich: aber die Stufen sind breit und bequem, und von den grünen Bänken ,nur für Badegäste‘ auf den Absätzen bietet sich die immer entzückender werdende Aussicht auf Unterland, Meer, Düne – es ist die herrlichste Bergpartie, die sich denken läßt. An rüstigen Menschenkindern verdient der Fahrstuhl blutwenig. – Noch ein paar Kleinigkeiten: die Rose, die du da im Knopfloch trägst, stammt jedenfalls von einem der 4000 Stöcke der Rosenzüchterei auf dem Oberlande; das gab’s 1867 nicht. Ebenso war es Ziegenmilch, was man hier früher zum Kaffee genoß, denn Kühe hielt nur der Gouverneur; jetzt ist eine ganze Meierei vorhanden.“

Die Landungsstelle war nahe; die Fährleute holten das Segel ein und griffen zu den „Riemen“, den überaus langen Rudern. Bald war der schwanke Steg überschritten, und auf der Höhe der Düne zwischen Seedorn und Strandhafer auf dem weichen warmen Sandboden gelagert – ach, wie himmlisch lassen sich dort unter dem frischen Hauch des Seewindes ganze Stunden im süßesten Nichtsthun verträumen, zum Labsal der armen abgehetzten Nerven! – blickten wir hinüber nach dem langgestreckten Eiland mit den hellen Häuschen, wie Kinderspielzeug so niedlich, darüber emporragend der Leuchtturm, die Kirche, das Wassertreibwerk bei den Kasernenbauten . . . „Möge sich’s verändert haben oder nicht,“ meinte frohbewegt der Heimgekehrte, „das eine steht fest: es war und ist ein köstliches Kleinod, das wir da wiedererworben haben 1890, und mit Recht wird es die Perle der Nordsee genannt!“


Landung auf der Düne.


[209]

Die Komödie des Todes.

Eine Dorfgeschichte aus Steiermark von Peter Rosegger.


1.

Der Ferge Meinhardt kauerte am Ufer des Flusses und lehnte sich an den Block, an welchen der Kahn gebunden war. Er stützte den Ellbogen aufs Knie und den Kopf auf die Hand. Sein gebräuntes noch jugendliches Gesicht hatte einen Zug finsteren Grames. Er schaute hinaus in die abendliche Gegend. Vor ihm der breite Fluß, auf welchem die grauen Wässer des Hochgebirges rasch und lautlos dahinwogten. Diesseits grünes Hügelgelände mit Landhäusern und Obstgärten; jenseits die steilen, schluchtigen Berghänge mit den dunklen Fichtenwäldern. Hinter den Bergen war die Sonne vergangen und hatte einen brennenden Goldgrundhimmel zurückgelassen. Wozu? – Die schöne Natur ist nichts, wenn der Mensch ein banges Herz hat. Der Ferge sah nicht die liebliche Landschaft, er sah nur sein inneres Elend. Unglückliche Liebe – zu seiner Frau! Seit drei Jahren mit der drallen, schneidigen Frau Josefa verheiratet, hatten sie in Zank und Streit alles verwüstet, was einst so taufrisch und heilig aufgewachsen war in ihren Herzen. Die süße, die innige Neigung zu einander war dahin, die Eifersucht war geblieben. Frau Josefa hielt ihm vor, daß er, wenn ein junges Weib auf dem Kahne sei, langsamere Fahrt mache über den Fluß als sonst, was ja gar nicht möglich war, weil das Fahrzeug, das vermittelst Tau und Rädchen an dem querübergespannten Strange lief, vom Wasser selbst getrieben wurde. Da kann der Ferge mit dem Ruder nicht viel dazuthun. Aber sie mußte wohl eine Entschuldigung brauchen für ihre eigene Aufführung! Der Zottel! Dieser Stadtzottel! Der schwarze Kohlenschreiber vom Eisenwerk! – Dort oben ….

Meinhardt lauerte durch das Buschwerk. – Dort auf dem Fußsteig schleicht er ja wieder. Jetzt deckt ihn das lange Korn, so daß nur der Hut sichtbar ist – wie ein Rabe über den Aehren. Meinhardt hatte sein Weib heute wieder zur Rede gestellt, was sie so viel mit dem Kohlenschreiber zu schwatzen habe? Warum sie aus dem Hause trete, so oft er vorüberging? Das hatte er sie gefragt. Und sie gab lachend zur Antwort: „Damit er nicht ins Haus zu treten braucht.“ Sie wolle es sich aber nicht vorschreiben lassen, mit wem sie plaudern dürfe und mit wem nicht! – Es käme darauf an, was geplaudert würde! Darauf seine Gegenrede. Und sie: „Na, streiten thun wir nicht, der Schreiber und ich, das kannst glauben.“ So lockte ein böses Wort das andere hervor, anfangs hämisch, dann zornig, endlich wütend, bis er ihr die wildesten Schimpfworte, die schwersten Flüche ins Gesicht schleuderte und wie rasend davonlief. Da saß er nun in friedlicher Abendstunde am wogenden Wasser und überdachte alles wieder. Tief schmerzten ihn die bissigen Bemerkungen, die sie ihm zugeworfen, noch tiefer aber die kieselharten Worte, die er ihr an den Kopf geschleudert hatte. Als nun der Kohlenschreiber dort oben vorbeigehuscht war, wohl die Richtung her, wo am Raine das Haus des Meinhardt stand, da kam der Ferge neuerdings in Aufruhr. Der Kohlenschreiber Franz Grassing war noch nicht lange in der Gegend, hatte aber schon seinen Ruf. Einen doppelten. Die wunderlichen Kleider waren zuerst aufgefallen, in denen der aus der Stadt zugereiste Beamte umherging. Er trug sich immer schwarz, hatte an den Sonntagen sogar den hohen Seidenhut auf dem Kopf, und wenn er ihn bei höflichem Gruße abzog, sah man, wie fein sein dunkles Haar geölt, wie reizend es gekräuselt war. Sein ebenso sorgfältig gewundenes Schnurrbärtchen soll sehr zart und weich gewesen sein, wußte mehr als ein Weibsbild zu sagen. Uebrigens kannte man sich an dem Kohlenschreiber nicht recht aus. Wenn er nüchtern war, that er überaus ernst und redete mit Männern unheimlich wenig; wenn er Wein getrunken hatte, schwatzte er manchmal arg viel und krauses Zeug. Da legte er gerne aus, wie verliebt er sei und wie unmöglich die Weiber ihm widerstehen könnten. Dann geschah es auch, daß er betrübt und klagend wurde, weil er die eine, die er meine, immer noch nicht herum hätte, und plötzlich wurde er zornig und schrie gewaltig in die Wirtsstube hinein, daß noch ein Unglück geschehen werde! – Die Leute machten sich über den eitlen, überspannten Menschen lustig, aber nicht alle. – Eben heute, mittags, hatten der Meinhardt und sein Weib des Kohlenschreibers wegen gestritten. Von einem solchen Zorn im Wirtshaus war die Rede gewesen, da hatte die Josefa gesagt: „Wenn er ein heißes Herz hat! Gut für den, der eins hat. Der, wenn er die Rechte findet, ist noch auf gleich zu bringen. Die Dummheiten müßte man ihm freilich abgewöhnen!“

„Na, Respekt!“ hatte hierauf ihr Mann bemerkt, „du kannst den Leuten die Dummheit abgewöhnen!“

„Verkehr’ die Red’ nicht!“ hatte sie scharf zurückgeworfen, „ich hab’ nicht gesagt, die Dummheit, ich hab’ gesagt, die Dummheiten. Die Dummheit kann man niemand abgewöhnen. Die Dummheiten hat schon oft einer sein lassen, wenn das rechte Weib dazugekommen ist!“

„Wolltest es nicht du probieren?“ hatte er giftig entgegnet.

„Wenn ich nicht mehr Glück hätte als bei dir!“ darauf sie.

So hatten sie sich wieder einmal hineingeredet in allen wüsten Herzensgrimm. Des Kohlenschreibers wegen!

Und diesem Menschen eilte Frau Josefa aus dem Hause entgegen, wenn er vorüberging! Beim Brunnen standen sie und plauderten, er sehr artig, sie sehr schneidig, aber doch so voller Munterkeit und Gütigkeit, wie sie zu ihm – dem Ehemann – fast nie mehr war. An den Gauch verschwendete sie all ihre Liebenswürdigkeit, so daß für ihn, den Meinhardt, wenn er von seinem harten Tagwerke heimkam, nichts übrig blieb als Zank und Hader.

Von Marienthal her klang das Glöcklein zum Ave Maria. Der Ferge zog nicht den Hut vom Haupt, er war zu verbittert, um jetzt beten zu können. Das Gebet wollte er sich nicht vergiften. Aber heimgehen wollte er jetzt und ihr einmal gehörig den Standpunkt klar machen, der ihr dem Gatten, dem Ernährer und Beschützer, dem Wahrer der Ehre des Hauses gegenüber gebührte. Und wenn es Trümmer giebt, heute ist ihm alles eins!

Noch untersuchte er das Seil, ob der Kahn wohl gesichert wäre, da schrillte vom jenseitigen Ufer herüber ein Pfiff. Dort stand ein Mann in fahlfarbiger Kleidung, die sich vom Erdboden kaum abhob. Er legte seine hohlen Hände an den Mund und rief wie durch ein Sprachrohr: „Hol’ über!“

Der Ferge legte die hohle Faust ans Auge, die war sein Fernrohr, durch das er den Blick zu schärfen pflegte. Er erkannte sofort den Mann und schrie hinüber: „Heut’ wird nicht mehr gefahren. Es hat Acht geschlagen!“

„Was es geschlagen hat, wirst du später hören. Hol’ nur über!“ So der andere.

„Bleib’ drüben, alter Lump!“ rief der Ferge.

Und der andere: „Aber schau, Brudersmensch, Lumpen können unmöglich herüben bleiben, da im Wald giebt’s kein Wirtshaus!“

„Kannst so wieder den Fahrgroschen nicht zahlen!“

„Hol’ über!“ rief der andere.

Da dachte der Meinhardt: Was soll der arme Teufel denn machen drüben im Walde! Hakte den Kahn los, der glitt über die Wellen hinaus und das Rädchen rasselte am Eisenstrange dahin.

Und drüben stand er, in seinem zerschlissenen Anzug, auf dem Kopf eine alte Zipfelmütze, die einmal bunt gewesen war. Auf schlankem, strickaderigem Halse ein eingetrocknetes Gesicht, ein bartloses und ein zeitloses, denn man wußte nicht, ob es jung oder alt war. Zwischen den sehr engestehenden listigen Aeuglein ragte eine scharfe, geierschnabelähnliche Nase. So stand er da mit verschränkten Armen und gackerte. Denn so war sein Lachen, als er das Fahrzeug mit dem Fährmann herangleiten sah. Bevor dieser noch gelandet, sprang er vom Ufer flink hinein, dem Meinhardt um den Hals fallend, so daß beide wankten und dem Sturze nahe waren.

„Wie?“ lachte er dann dem Fergen ins Gesicht. „Bist du denn nicht glückselig, daß du deinen Klacherl wieder hast, den alten Busenfreund, für den du immer betest, daß ihn der Teufel holen soll? Mußt ein großer Sünder sein, weil dein Gebet noch nicht erhört worden ist!“

„Willst hinüber? Dann laß das Frozeln.“

Der Klacherl ließ es aber nicht. Als sie mitten auf dem reißenden Flusse waren und bei jedem Wellenstoß das Tau wie eine Saite dröhnte, sagte er dem Meinhardt gar süßlich unters Gesicht hinein: „Wenn der Strick jetzt reißt, holt er – derjenige! – [210] uns allzwei beide miteinand? Und für dich ist er am Ende gar nicht einmal angegangen worden!“

„Mir wär’s schon bald einerlei“, brummte der Ferge und stieß das Ruder so heftig ins Wasser, daß der Kahn einen Ruck that und der Klacherl sich noch mit Mühe am Bord festhalten konnte, um nicht überzukippen.

„Man soll ihn nicht an die Wand malen!“ lachte er gixend.

Als sie am andern Ufer waren, blieb der Klacherl hocken auf seinem Brett.

„Na, wird’s?“ sagte der Ferge und bedeutete seinem Passagier, auszusteigen.

Der andere blieb noch immer sitzen, fuhr mit den dürren Händen in seinen Taschen umher – er hatte sie nicht an Stellen, Wo andere sie haben – und fing an, leise zu singen: „Kleingeld hab’ ich keins im Sack …“

„Das weiß ich. Schau, daß du weiterkommst!“

„Wenn du mir wechseln wolltest?“ sagte der Klacherl und zog aus dem Lappen eine Banknote hervor.

Der Meinhardt erschrak fast. Ein Fünfzigguldenschein war’s. Dann fragte er – und die Stimme gab keinen Klang: „Woher hast du den?“

Nun rückte der Klacherl sich auf dem Brette zurecht, als hätte er die Absicht, noch lange in diesem Nachen sitzen zu bleiben; dann hielt er mit beiden Händen das Papier auf, als sei es ein Bild, das man betrachten müsse.

„Woher hast du es?“ fragte der Ferge schärfer.

„Das da? Den da? Denke dir, schöner Wassermann, diesen kaiser-königlichen Reisepaß – weißt du, den hab’ ich von – von –. Na, alter Freund, ich will dich doch lieber anlügen!“

„Das kann ich mir denken, mit der Wahrheit bist du nie verheiratet gewesen!“

„Das schon. Einmal schon. Hab’ mich aber scheiden lassen. ’s ist halt so, die Wahrheit glaubt man unsereinem nicht – alsdann greift man nach und nach zu ’was anderm. – Den da? Wo ich ihn her hab’? Lachen muß ich. Probieren wir’s einmal. Jetzt schau, Meinhardt, heut’ hast du mich herübergeholt. Diesen Fünfziger aber hat mir einer geschickt, dafür, daß ich dich hinüberholen soll.“

„Geschwätz, dummes!“ knurrte der Ferge.

„Also, das glaubst du mir nicht. Na, so wird mir das Trumm Geld halt wer geschenkt haben!“

„Wahrscheinlich!“ lachte der Meinhardt auf.

„Oder ich hab’s gefunden?“

„Sicherlich! Bevor es einer verloren hat!“

„Also auch das nicht. Nachher weiß ich nicht, was wir machen. Kann’s denn nicht auch einmal etwas ganz Unglaubliches geben? Kann ich mir das Geld nicht verdient haben?“

Der Ferge sprang von seinem Sitze auf vor Entrüstung, daß der Vagabund ihm eine solche Mär zu glauben zumutete. Der Klacherl zog ihn wieder aufs Brett. „Mein lieber Freund,“ sagte er, „der Spaß hat immer einmal eine Kehrsumseite, so wie die kleine Klumserkathel, du kennst sie eh, die schaut von hinten aus wie ein junges Dirndl und von vorn wie ein altes Weib. Du wirst höllisch große Augen machen, Kamerad, vor dem alten Weib, das bei meinem Spaß auf der Kehrsumseite dran ist. Es wird zwar schon finster, aber wir zwei müssen heut’ noch lang’ miteinander reden. Hast Zeit? Versäumst zu Haus?“

„Oh nein,“ antwortete der Ferge zerstreut. Es that fast wohl, daß der Schwätzer ihm die bitteren Empfindungen einlullte.

„Also, Meinhardt,“ fuhr der Klacherl fort, „ich hab’ dich angelogen und du hast nichts geglaubt. Das ist ganz in Ordnung. Fürs erste: ich hab’ mein Lebtag viel probiert, aber verdient hab’ ich mir noch wenig. Beim Wegschuttführen bin ich krank worden, beim Bauarbeiten bin ich durchgegangen, beim Erzgraben hat mich der Aufseher verjagt. Das war mein Glück, sonst hätt’ ich mich noch weiß Gott wie lang’ schinden müssen bei der dummen Arbeit. – Fürs zweite: ich bettle alle Leut’ an, immer einmal giebt’s einen Kreuzer, immer einmal ein Stückel Brot, immer einmal eine Auszeichnung mit dem Stiefelabsatz, aber so ein Pflaster, wie das da, hat mir noch keiner geschenkt. – Fürs dritte: suchen thu’ ich immerfort, hab’ mein Glück schon überall gesucht. Die Straßen sind mit Schotter und Dreck gepflastert, aber nicht mit Banknoten. So ein Pflaster, sagt der Wegmacher, thäten die Handwerksburschen aufreißen!“

Der Kahn war am Pflock befestigt worden und schaukelte leicht die beiden Männer, die drin saßen. Der Meinhardt starrte in die Wellen, an denen das Abendrot in allerlei Gestalten zuckte, in Schlangen, in Blitzen und Zacken, in lodernden Herzen und Blutlachen …

Da zog der Klacherl seine Mütze über die Ohren nieder und klapperte mit den ausgedörrten Stiefeln auf den Dielen des Kahnes. Dann that er einen liefen Atemzug und sagte: „Ja, mein lieber Kapitän, so geht’s! – Daß du mich heut’ herübergeholt hast, ist doch gut gewesen. Sonst könnten wir jetzt nicht so gemütlich beisammensitzen. Du magst mich zwar nicht, obschon wir auf der Schulbank gut Freund gewesen sind. Da könnt’ der Kösten-Klacherl freilich lang’ laufen, bis er einen einholen thät, der ihn mag! – Aber schau, Meinhardt, ich wollte dir ja was sagen. Du hast mir die Lügen nicht geglaubt, jetzt die Wahrheit wirst du mir noch viel weniger glauben wollen. Wie ich zum Geld gekommen bin? Soll ich dir was erzählen? Versäumst zu Haus?“

Diese Frage zum zweitenmal schien dem Fergen nicht ganz unabsichtlich zu sein. Nun dachte er: Jetzt ist sie sicherlich allein im Hause. Sie soll nur warten auf mich. Vielleicht fällt’s ihr ein, daß einem Ueberführer beim Wasser auch einmal was geschehen könnte. Ein bissel Angst mag ihr nicht schaden.

„Na also, Admiral, soll ich?“

Da fuhr er ihn an: „Weißt was, so red’ nicht lang’ um und sag’s!“

Sie blieben sitzen im schaukelnden Kahn. Am Himmel blinkten schon Sterne und der Fluß, der am Tage so still dahinzuwogen schien, rauschte jetzt. Aber ganz dumpf, so daß man den Klacherl wohl verstehen konnte, so leise er auch sprach.

„Du weißt, wo ich jetzt logier’,“ so hub er an. „Unter der Moosbachwand im Rehhüttel. Gewiß auch noch, wo der Jäger im Winter das Heu hat zum Rehfüttern. Jetzt im Sommer ist die Wohnung frei, so bin ich eingezogen. Daß ich einen Platz hab’ für meinen Buckelkorb; alleweil kann ihn der Mensch nicht auf dem Buckel tragen, sonst möcht’ er am End’ anwachsen. Und denk dir, gestern abends, wie ich heimkomm’ vom Tagwerk – auf der Schwaigeralm bin ich gewesen betteln, weil dort die Weiberleut’ noch Religion und Buttermilch haben – wie ich also heimkomm’, find’ ich was in meinem Korb. So ein kleines Pakel, in ein rotes Schnupftüchel gewickelt. Deuxel, denk ich mir anfangs, wer schenkt denn mir eine Tabakspfeife! Es ist aber was anderes gewesen. Rate einmal, Schiffskapitän, was es gewesen ist! Willst nicht? Nachher sag’ ich dir’s auch so. Ein Revolverl ist’s gewesen, ein sechsläufiges! Bumfest geladen alle sechs, und extra noch ein Dutzend Patronen in der Schachtel. Hau, denk ich, soll das eine Anspielung sein? – Wenn du nicht glaubst, Ferge, so greif’! Da drinnen hab’ ich das Instrumentel!“ – Er schlug die Jacke auseinander, so daß durch das zerrissene Unterfutter der lose niederhängende Sack hervortrat, in welchem ein schweres Ding pendelte.

„Jetzt, mein lieber Meinhardt, sitzen wir noch ganz gemütlich beisammen,“ fuhr der Vagabund in zärtlich singendem Tone fort, „wenn’s nur anhält! Du bist als gebildeter Mensch sicherlich nervös. Nachher wird’s bald ein Wetter geben!“

„Geh, geh, Klacherl, thu’ dich nicht so auseinander!“ sagte der Ferge lachend. „Daß man sich etwa fürchten soll vor dir! Deine Kurasch’ kenne ich von der Schulzeit her!“

„Du, wer weiß!“ spitzte der andere auf. „Von hinten! Und wenn einer dafür gezahlt wird! Du mußt mich ausreden lassen. Wie ich die Patronenschachtel untersuch’, ob nicht doch etwan auch was Brauchbares drinnen wär’, ist ein Briefel vorhanden, ein gut zusammengelegtes, und ist die Banknote da! – Erschrocken bin ich dir nicht schlecht. Im Eisenwerk beim Zahlmeister hab’ ich einmal so einen gesehen, danach hab’ ich ihn erkannt, den gnädigen Herrn Fünfziger. Und jetzt die Schenkungsurkunde. Bin neugierig gewesen, was auf dem Briefel steht. Bist du’s nicht auch? Nicht? Sollst aber doch. Steht auch von dir was drin. Schau, ich bin ein ordentlicher Mensch und hab’s bei mir!“

Er suchte eine Weile in seinen Taschen, und schon glaubte er, sein Eigenlob zurücknehmen zu müssen, da hatte er’s. – „Licht, wenn du hättest. Ein Ferge soll immer die Latern’ mithaben, weil man nie wissen kann, ob nicht bei der Nacht ein wichtiger Brief zu lesen ist.“

[211] Halb willenlos, fast im Banne des Schwätzers, hatte der Meinhardt sein Streichholzbüchschen hervorgethan. Bald staken im roten Licht die beiden Köpfe beisammen und lasen den Brief. Der war ganz schlecht und spießig mit Bleistift geschrieben, und so stand’s zu lesen:

 „Lieber Johann Klacherl!

Ich kenne Dich, Du mich nicht, und wirst Dich wundern über den Glücksfall. Da hast fünfzig Gulden, die gehören Dein, wenn Du binnen acht Tagen den Fergen Sebastian Meinhardt –“ Das Streichhölzchen brannte dem Genannten an den Fingern, er mußte es wegwerfen und ein neues anzünden. Dann lasen sie weiter: „– den Fergen Sebastian Meinhardt totmachest, so bekommst Du auf demselben Weg das Doppelte. Ich weiß, wir können uns aufeinander verlassen. Ein schwer leidender Freund.“     

Und das stand auf diesem Papier!

Der Meinhardt war nicht aufgesprungen, er saß gelassen da und sagte: „Mir scheint, man spielt mit mir eine Komödie!“

„Glaubst du, daß es eine Fopperei ist?“ fragte der andere. „Freund, ich laß mich foppen!“ Den Geldschein hob er in die Lüfte: „Diesen Aufsitzer laß ich mir gefallen, allemal!“

Nachdenklich sagte der Meinhardt: „Johann! Ein Haderlump bist du, das weiß jeder in ganz Marienthal. Aber daß du schlecht sein solltest! So schlecht, daß dir jemand im Ernst so etwas zutrauen sollte können!“

Der Klacherl langte so ein wenig in die Gegend des Sackes, in dem er den Revolver hatte, und sagte in seiner singenden Weise: „Scharf geladen – alle sechs. Das Doppelte, schreibt er! – Meiner Seel’, Schiffskapitän, heut’ wär’ ein Abend zum Geldverdienen!“

Der Meinhardt lachte. „Das macht mir keine Sorge!“ Nach diesen Worten war der Klacherl ganz still, ganz bewegungslos. Dann tastete er tölpisch nach der Hand des Fergen und holperte die Worte hervor: „Dank dir’s Gott, Schulkamerad!“

Der Meinhardt verstand ihn wohl, diesen Dank des Verkommenen, Verachteten, den Dank dafür, daß es noch einen Menschen gab, der ihm das Schlimmste nicht zumutete.

„Aber was anderes, mein Lieber!“ setzte sich der Meinhardt fort. „Sei so gut und zeig’ ihn her noch einmal.“

Bei dem Brande eines weiteren Streichholzes betrachtete er den Brief. Die Schrift war absichtlich entstellt, das mußte jeder sehen. Eine Frauenschrift konnte es nicht sein, nein, nein. Zwar heißt es, daß eine Schrift, die mit dem Daumen und dem kleinen Finger der linken Hand geschrieben wird, nicht zu erkennen sei. Und die Weiber sind findig. Falsch sind sie alle. Besonders, wenn das Plangen nach einem schlechten Mannsbild dazukommt. – Aber das ist ja abscheulich, wie ich von meinem Weib denke! so weckte er sich selbst auf. – Doch er – der andere!

„Hast du ein Lichtl, wer dir die Sachen zugeschickt hat?“ fragte er den Klacherl.

Dieser zuckte die Achseln und antwortete: „Ganz finster.“

„Hast du nichts gehört, daß wer eine Feindschaft gegen mich hätte?“

Wieder ein Achselzucken. Dann: „Wer hätte denn keinen Feind? In solchem Besitz ist sogar der arme Klacherl, der sein Lebtag niemand was Gutes gethan hat!“

„Du meinst, niemand was Böses!“

„Freund, merk’ dir das: die meisten Feinde schafft man sich durch Gutheit!“

Auf den Kopf gefallen ist er nicht, der Klacherl. Und ganz schlecht? Halt auch ein Mensch, wie die meisten anderen.

Dem Meinhardt war nun aber das wehe Herz überquellend geworden. „Johann,“ sagte er, „ich hab’ einen Verdacht. – Kennst du den Kohlenschreiber Grassing?“

„Den Halbteppen?“

„Du, pass’ auf, ob der nicht abgefeimter ist als wir allmiteinander! Kennst du ihn?“

„Natürlich, den Herrn Grassing! Hat mir erst am vorigen Sonntag beim Fasselwirt vorgeweint wie ein kleines Kind!“

„Geweint hat er? Warum denn lauter?“

„Das hat er wahrscheinlich selber nicht gewußt. Wegen der Lieb’, hat er gesagt. Dummheiten! Einen Rausch hat er gehabt. Ein Unglück thät geschehen, hat er geschrien und mit der Faust auf den Tisch geschlagen, daß alle gelacht haben.“

„Johann,“ sagte der Ferge, „der Grassing hat dir den Revolver geschickt!“ Der Vagabund klatschte die Hände zusammen.

„Das wär’ noch schöner!“

„Der will mich totmachen lassen, damit er mein Weib heiraten kann.“

„Dein Weib möcht’ er haben? Und da soll ich ein bissel kuppeln? Mit dem Revolverl da? Schau, du? – Aber zahlen könnt’ er. Brauchet mich mit dem Doppelten auch nicht zufrieden zu geben. Müßt’ nachher schwitzen, so viel ich verlanget. Und wenn er dein Weiberl schon einmal gar so gern hat, da muß man doch Mittel machen, mein Mensch! – Und meinst, daß auch sie gern eine Veränderung hätt’?“

„Weiß nicht, ob sie nicht dahintersteckt!“

„So!“ sagte der Klacherl. „Verdacht hast. So, so.“

„Das will ich nicht sagen!“ rief der Meinhardt und sprang ans Ufer. „Aber wissen möcht’ ich’s! Das möcht’ ich doch wissen, wer mich umbringen lassen will!“

„Natürlich, das weiß der Mensch allemal gern,“ sagte der Klacherl, stieg ihm nach, faßte mit beiden Händen seinen Arm und zischelte ihm zu: „Du, hörst, jetzt ist dem schlechten Haderlumpen was eingefallen. Wenn du dir raten läßt von deinem alten Kameraden, so sei morgen früh tot. Mausetot, gewiß auch noch! Es ist das Allerbeste!“

Der Ferge riß sich los.

„Du hast mich nicht verstanden, Kapitän!“ setzte der Vagabund bei. „Hast denn gar nicht ein bissel Geist? Siehst du, und mit dem erscheinst du ihnen nachher, wie sie beisammen sind. Dann kannst sie beim Schopf fassen. He!“

Absonderlich, wie es jetzt aufblitzte im Kopfe des Fergen. Der Gram war nur so hingepurzelt und die übermütige Abenteuerlust reckte keck ihr Haupt auf. War er denn nicht auch einmal ein verfluchter Kerl gewesen? Wie tolllustig in den Knabenjahren, wenn er auf Baumwipfeln von einem zum andern sprang wie eine Wildkatze, oder wenn er im Wettersturm auf halbgeborstenem Kahn über den See fuhr! Vor Jahren war’s gewesen, als der Erzherzog über Land reiste, daß die Marienthaler ihm zu Ehren das Ritterschauspiel von der Pfalzgräfin Genoveva veranstaltet hatten. Da erkrankte am vorletzten Tage der Mann, der die Rolle des Siegfried geben sollte. Der junge Meinhardt wagte es, sprang ein und spielte den Siegfried mit glänzendem Erfolg. So verwegen wie damals kam er sich auch jetzt vor. Es war ihm, als ob er kühn und trotzig seine Seele ins Spiel werfen sollte, um sie zu gewinnen oder zu verlieren. Aber bevor er das, was plötzlich in ihm wirbelte, zum Ausdruck bringen konnte, streckte der Klacherl seinen Arm in die Luft – ein Doppelblitz und ein Doppelknall – der hier blendend und schmetternd an die Sinne und dort drüben an die finsteren Berge schlug.

„So, mein lieber Meinhardt, jetzt bist du hin!“ sagte der Vagabund, und der Ferge verstand ihn. Die Entschlossenheit der Willensschwachen kam über Meinhardt, er war entschlossen, mit sich thun zu lassen, was der andere wollte. Dann standen sie beisammen bei den Erlbüschen und redeten leise miteinander. Nur einmal rief der Meinhardt lebhafter: „Du bist doch ein durchtriebenes Band!“

„Auf mich verlaß dich! Gieb nur acht, daß du dich nicht vergackelst!“

„Aber ein Frevel ist’s! Ein abscheulicher Frevel!“

„Wieso denn? Wir thun doch nichts. Sie machen ja alles selber, wirst es sehen,“ sagte der Klacherl. „Jetzt wollen wir halt übers Wasser fahren allzwei, denn daherüben auf der Marienthalerseiten ist für Tote kein gesunder Aufenthalt. Du sollst derweil mein Gast sein im Rehhüttel oben. Mach’ die Nußschale flott, ich bin bald wieder da!“ Und dann huschte der Schelm durch das Gebüsch hinauf und die Straße dahin bis zum Wirtshaus, um Brot und Rauchfleisch zu kaufen. Sie wunderten sich, daß er Geld hatte; er antwortete, es wäre ein Glücksfall eingetreten. Endlich kam er wieder zurück zur Furt. Schweigend und eilig setzten sie sich in den Kahn und fuhren ans andere Ufer. Der Strang schrillte unheimlich laut. Das soll er ja nicht! Den Fergen schauerte. Als sie drüben ausgestiegen waren, stieß der Klacherl mit einem Fußtritt den Kahn los, dieser glitt hinaus bis in die Mitte des Flußes, dort blieb er hängen und schaukelte hin und her auf dem wogenden Wasser. Ueber den Hügeln der Marienthaler Seite alles dunkel. Nur in einem einzigen Fensterlein glomm eine trübrote Glut …

(Schluß folgt.)


[212]

Der Ruhmestag von Eckernförde.

(Zu dem Bilde S. 213.)

In den schweren Kämpfen, welche die Schleswig-Holsteiner, von deutschen Bundestruppen unterstützt, vor fünfzig Jahren gegen Dänemark geführt haben, war der Sieg bei Eckernförde eine der denkwürdigsten Heldenthaten. Die Kunde, daß deutsche Landgeschütze den Angriff einer übermächtigen feindlichen Flotte siegreich abgewehrt und die besten Kriegsschiffe der Dänen kampfunfähig gemacht hatten, rief in der hochbewegten Zeit des Jahres 1849 allgemeinen Jubel hervor. Und heute, wo der Gedenktag jenes Sieges zum fünfzigsten Male wiedergekehrt ist, ehrt das deutsche Volk in dankbarem Gedächtnis die tapferen Helden, die für Deutschlands Einheit ihr Leben in die Schanze schlugen. –

Der Waffenstillstand von Malmö war abgelaufen und Anfang April 1849 rückten wieder das Bundesheer und die schleswig-holsteinischen Truppen gegen den Feind vor. Da erhielt ein Teil der dänischen Kriegsflotte unter Kapitän Hendrik Paludan den Befehl, einen Scheinangriff gegen Eckernförde zu unternehmen, um deutsche Truppen von der dänischen Grenze fortzuziehen. Die Bucht, an welcher das freundliche, damals etwa 4000 Einwohner zählende Fischerstädtchen Eckernförde liegt, war durch zwei Schanzen der Schleswig-Holsteiner geschützt. Die Nordschanze, die vom Artilleriehauptmann Jungmann kommandiert wurde, war mit zwei 24-Pfündern, zwei 18-Pfündern und zwei 84pfündigen Bombenkanonen ausgerüstet, während in der von dem Unteroffizier Theodor v. Preußer befehligten Südschanze vier 18-Pfünder aufgestellt waren. Auf unserm Bilde ist diese Schanze im Vordergrunde sichtbar.

Um 6 Uhr abends, am 4. April, meldete ein Alarmschuß von der Nordschanze das Nahen des Feindes, und kurz vor Sonnenuntergang sah man in dämmernder Ferne eine dänische Eskadre, welche, von Alsen kommend, sich vor der Bucht gesammelt hatte, in die Hafeneinfahrt hineinsteuern. Voran bewegte sich mit gerefften Marssegeln die Korvette „Galathea“, dann folgten das Linienschiff „Christian VIII“, die Fregatte „Gefion“ und zwei Dampfer. Später erschien noch der Kriegsdampfer „Geiser“ mit drei Jachten im Schlepp, auf welchen sich eine Kompagnie dänischer Infanterietruppen befand.

Deutscherseits wurden auf die Alarmnachricht von der zwischen Eckernförde und Kiel stehenden Reichs-Reservebrigade Infanterietruppen und eine nassauische Batterie mit 6 leichten Feldgeschützen nach der bedrohten Stelle geschickt.

Freundlich brach der 5. April – es war ein Gründonnerstag – an. Ein frischer Meeresduft ruhte auf Ufer und Strand. Um 6 Uhr setzte sich die feindliche Flotte in Bewegung; das Linienschiff wendete und kreuzte mit geschwellten Segeln nach der See zu, die „Gefion“ folgte. Schon hatten die seit 3 Uhr am Südufer der Bucht lagernden Bundestruppen enttäuscht den Rückmarsch angetreten. Da wendete 20 Minuten später das größte Orlogschiff, näherte sich im Bogen dem nördlichen Ufer und rauschte nun vollständig gefechtsklar heran; „Gefion“ und „Galathea“ sowie die fauchenden Kriegsdampfer „Hekla“ und „Geiser“ folgten weiter südwärts, während die drei Jachten am Hafeneingang kreuzten. So waren 180 dänische Kanonen und Mörser im Anrücken gegen 10 eiserne schleswig-holsteinische Vorderlader und 6 leichte nassauische Feldgeschütze. Aber die deutschen Kanoniere ließen trotz der erdrückenden Uebermacht nicht den Mut sinken. Jungmann und Preußer standen beim Einpassieren der Schiffe furchtlos auf der Brustwehr; ersterer rief dem Feinde mit gezogenem Säbel sein Hurra entgegen. Gegen 8 Uhr fiel von der linken Flanke der Nordschanze der erste Schuß auf das gewaltige dreideckige Linienschiff, worauf zwei Fuß unter Jungmann der Gegengruß des „Geiser“ einschlug. Der Geschützkampf begann. Die feindlichen Schiffe ließen ihre Kanonen mit furchtbarer Gewalt gegen die beiden Schanzen spielen und erschienen bis zu den höchsten von der Morgensonne beleuchteten Spieren und Bramraasegeln in blauschwarzen Qualm gehüllt.

Die deutschen Schanzen hatten unter dem Hagel der Geschosse schwer zu leiden. Die Brustwehren wurden zerstört, es gab Tote und Verwundete, und fünf Geschütze wurden demontiert, aber das Feuer ward mit Nachdruck erwidert, und namentlich der „Gefion“ arg zugesetzt, welche durch die eingehende Strömung ins Treiben kam und wiederholt der Länge nach von der Südschanze bestrichen wurde. Dabei nahm der Ostwind stetig zu und drängte die Schiffe der gefährlichen Küste immer näher. Der stiller werdenden Nordschanze kamen zwei der nassauischen Kanonen unter Oberleutnant Werren zu Hilfe. Bald waren die Dampfschiffe des Geschwaders „Hekla“ und „Geiser“ sowie die Korvette „Galathea“ genötigt, die Bucht zu verlassen, und nun sahen sich die beiden größten Schiffe der Dänen „Christian VIII“ mit 84 Kanonen und „Gefion“ mit 48 Kanonen von den beiden Schanzen wie von einer eisernen Zange gepackt. Gegen 10 Uhr brach in der Taukammer des „Christian“ ein Brand aus. Kapitän Paludan wollte jetzt das Gefecht abbrechen und signalisierte den Dampfer „Hekla“ heran, damit er das Linienschiff aus der Bucht herausbugsiere; dieser konnte jedoch die erwünschte Hilfe nicht leisten, da sein Steuer beschädigt war. Auch der Zustand der „Gefion“ verschlimmerte sich von Stunde zu Stunde, matter und matter wurde ihr Widerstand.

In dieser verzweifelten Lage ließ Kapitän Paludan die weiße Flagge hissen. Er sandte einen Parlamentär ans Ufer mit der Forderung, man solle ihm freien Abzug aus der Bucht gewähren, und drohte, im Falle der Weigerung die Stadt Eckernförde in Brand zu schießen. In dem zerschossenen Offiziershäuschen der Nordschanze wurde die ablehnende Antwort entworfen und darin die Beschießung der Stadt als ein Vandalismus bezeichnet, dessen Verantwortung Paludan zu tragen hätte.

So begann der Geschützkampf von neuem. Die 4 nassauischen Feldgeschütze, die sich unweit der Stadt aufgestellt hatten, unterstützten aufs wirksamste das Feuer der Südschanze, während die Nordschanze vor allem den „Hekla“ abhielt, damit er die Schiffe „Gefion“ und „Christian VIII“, die ihre Manöverfähigkeit verloren hatten, nicht aus der Bucht hinausbugsierte. Alle Bemühungen der Dänen, aus der eisernen Umklammerung der feindlichen Schanzen herauszukommen, waren vergeblich. Die „Gefion“ ergab sich zuerst, dann lief „Christian VIII“ auf den Strand, und um 6 Uhr sank vor den glühenden Kugeln der Südschanze und den Kartätschen und Vollkugeln der übrigen Geschütze endlich sein stolzer, so zäh verteidigter Danebrog.

Nun fuhr Preußer mit dem Boot des Parlamentärs nach dem Linienschiff, auf dem der Brand immer weiter um sich griff, und brachte von dort den Kommandeur-Kapitän Paludan ans Ufer, der am Strande dem Herzog Ernst II von Sachsen-Koburg und Gotha, dem Befehlshaber der Reservebrigade, seinen Degen übergab. Von den Höhen und von der Stadt strömte die jubelnde Volksmenge herbei. Preußer aber ging nochmals an Bord, um an der Rettung des Schiffes und Bergung der Verwundeten teilzunehmen. Vergebens, das Rettungswerk sollte ihm nicht mehr gelingen! Auf der Föhrde war es schon dunkel geworden. Da wurde um 8 Uhr die Finsternis plötzlich taghell erleuchtet. Aus allen Luken des stolzen Orlogschiffs brachen Feuergarben hervor, auf dem Deck explodierten Pulverkarren und -Fässer, Kanonen donnerten über die Bucht. Der größere obere Teil des Kolossalschiffes löste sich samt den Masten der Länge nach ab und sauste, unter einem gewaltigen, betäubenden Knall, der die Erde weithin erschütterte, in unzählige Trümmer und Fetzen zerspringend, in die Lüfte empor. Hoch oben verbreiterte sich die riesige Feuergarbe, aus welcher viele blaue Leuchtkugeln, krepierende Granaten und sprühende Funken hervorzuckten, und streute einen Regen von Trümmern nach allen Seiten aus. Leider fand bei dieser Katastrophe auch der tapfere Theodor v. Preußer den Tod, mit ihm ein Fischer und über hundert Dänen.

Vor fünfzig Jahren konnten die Schleswig-Holsteiner die Früchte ihres Opfermutes nicht ernten; aber vergeblich hatten die Tapferen ihr Blut nicht vergossen. In späteren Kriegen wurde Deutschlands Einheit erstritten, und heute feiern die Söhne der meerumschlungenen Lande den Gedenktag ihrer ruhmreichen Kämpfe, mit dem alten Stammlande auf ewig vereint.
C. Voß-Kiel.     

[213]

Das Gefecht bei Eckernförde am 5. April 1849.
Nach der gleichzeitigen Lithographie von Wilh. Heuer im Verlag von Ch. Fuchs (Inh. A. Macarez) in Hamburg.




Didiers Braut.
Novelle von A. Noël.
(Schluß.)


In den nächsten Tagen schwirrten allerlei Gerüchte in der Luft herum. Vermutungen, die sich mit dem Schicksal Marguérites beschäftigten, tauchten auf. Es hieß, daß die Damen Perraul ihr das Haus abkaufen wollten, damit sie von Metz fortkönne und nichts sie mehr da zurückhalte. Allein die Damen Perraul erklärten Detlev, der sie darum befragte, dies sei ein Gerede und ihr Vermögen viel zu gering, um ihnen den Ankauf zu gestatten. Was Marguérite betraf, so würde sie unzweifelhaft mit Frau Morel nach Nancy gehen. Was sollte sie sonst wohl thun?

Drüben in dem düsteren Hofzimmer, wo Madame Dormans gestorben war, wurde dieselbe Angelegenheit behandelt.

„Mein Kind,“ begann Madame Morel, die fetten Händchen über dem Magen gefaltet, „es ist mir recht unangenehm, daß die Fräulein Perraul das Haus nicht zu kaufen gedenken. Das hätte die Sache sehr vereinfacht. Aber schließlich ist das kein Hindernis. Madame Joß ist doch eine vertrauenswürdige Person. Sie kann das Haus verwalten, und Didier wird auf seinen Reisen immer in Metz Station machen und nach dem Rechten sehen. Vielleicht findet sich später eine Gelegenheit, es loszuwerden. Auf jeden Fall wird es dir erwünscht sein, nicht länger hier zu bleiben, wo du dich einsam und verwaist fühlst. Alles, meine arme Marguérite, erinnert dich hier unablässig an deinen Verlust. Du kommst also zu mir. Wir werden trachten, sobald wie möglich den Hochzeitstag festzusetzen. Doch einige Zeit müssen wir immerhin noch warten. Unterdessen wirst du bei uns Trost finden, dich erholen. Blanche und Simonne freuen sich schon sehr auf dich. Die Schicklichkeit wird auch gewahrt, da ja Didier eine größere Geschäftsreise nach dem Norden antritt. Wir werden bereits heute abend daheim erwartet. Also packe deine Koffer, meine Tochter. Ich denke, du kannst noch alles erledigen.“

Dies alles sagte die würdige Dame mit großer Entschiedenheit wie jemand, der nicht gewohnt ist, Widerstand zu finden. Das Kind war es gewohnt, einer Mutter zu gehorchen, woher sollte es einen eigenen Willen haben? Madame Morel erwartete nun zuversichtlich ein Wort dankender Zustimmung von Marguérites Lippen. Statt dessen blieb das junge Mädchen eine Weile stumm, dann sagte sie sanft, aber gar nicht weniger entschieden als Frau Morel: „Ich danke Ihnen für Ihre große Güte, die Ihnen diesen Vorschlag eingiebt. Allein ich kann ihn nicht annehmen.“

„Wie?“ riefen Mutter und Sohn einstimmig. „Warum?“

„Ich verlasse das Grab meiner Mutter jetzt noch nicht, und ich verlasse diese Wohnung nicht, wo wenigstens noch ihre Spuren vorhanden sind. Ich weiß, ich finde bei Ihnen eine Familie, eine Mutter, Schwestern, aber mein Herz ist zu verwundet, um für irgend etwas empfänglich zu sein. Ich muß eine Zeit lang mir selbst leben, mit meinem Schmerz allein sein. Während des ersten Trauerhalbjahres werde ich nicht an den Altar treten. Möge die Hochzeit im Herbst stattfinden! Bis dahin bleibe ich hier.“

Während dieser Rede hatte sich Madame Morel mehrmals auf die vollen Lippen gebissen und ihrem Sohn eigentümliche Blicke zugeschleudert. Auch Didier war rot und blaß geworden vor Ueberraschung. „Hier wollen Sie bleiben, Marguérite?“ fragte er gedehnt, zärtlich vorwurfsvoll, aber lange nicht entrüstet genug. Seine Mutter warf ihm einen strafenden Blick zu. Mit beleidigter Miene und spitzer Stimme sagte sie: „Man hält einer Trauernden manches zu gute, aber auf diese Antwort war ich nicht gefaßt. Mein Kind, daran ist nicht zu denken. Du kannst hier nicht bleiben! Bedenke, du schuldest nicht nur deiner Mutter Pietät. Auch die Lebenden haben Anspruch auf ein wenig Rücksicht. Ein junges Mädchen allein!“

[214] „Ich bin nicht allein. Ich habe die Joß und die Fräulein Perraul, die mich gern überallhin begleiten, die guten Seelen …“

„Und den schönen Offizier nebenan!“ murmelte Didier. „Das ist doch auch etwas!“

Marguerite preßte die Lippen aufeinander, verschmähte es jedoch, auf diese Worte zu antworten.

„Du hörst, mein Kind –“

„Wenn Didier mir nicht traut, hätte er meine Hand nicht verlangen sollen.“

Ein Zornesblitz schoß aus Madame Morels Augen. In ihrer Entrüstung wäre sie jetzt imstande gewesen, es zu einem Bruch zu treiben, aber ein Blick auf Didier belehrte sie eines Besseren. Der Sohn war ihr Liebling, und er liebte das Mädchen nun einmal. „Der Offizier nebenan! Ich frage dich, ist das schicklich? Wenn Didier auch Vertrauen hat! Er muß darauf dringen, daß seine Braut ihren Ruf hütet und die böseste Zunge kein Wort zu reden findet –“

„Das geht sehr einfach“, erklärte Marguerite kühl. „Ich werde dem Leutnant sogleich die Wohnung kündigen. Wenn er auszieht, fällt dieser Grund der Unschicklichkeit weg, nicht wahr? Ich habe zwei Tugendwächterinnen an Octavie und Célestine Perraul. Mehr kann Didier nicht wünschen, und da er selbst die Zeit auf Reisen zubringt, so ist es für ihn gleich, ob ich hier bin oder in Nancy …“

„Es ist gar nicht dasselbe,“ schmollte Didier, „indessen –“

„Du willst die Zimmer leer stehen lassen?“

„Warum nicht? Mamas Krankheit verschlang Geld, und deshalb vermieteten wir die Zimmer. Aber jetzt? Ich komme auch ohne dies aus. Ich kann sie übrigens an jemand anders vermieten: an Damen, an Eheleute oder an einen alten Herrn … An irgend eine Persönlichkeit, über die es nichts zu reden giebt … Madame Joß mag es dem Offizier sagen, daß er ausziehen muß. Wenn dieser Stein des Anstoßes entfernt ist, können weder Sie, Madame, noch Didier etwas gegen meinen Entschluß einwenden!“

„O, nichts!“ Madame Morel zuckte höhnisch die Achseln. Sich an einen fremden Willen zu stoßen, an einen so unsinnigen, unberechtigten Willen obendrein, und dabei nicht die Möglichkeit zu haben, ein Machtwort zu sprechen, das ertrug sie nur sehr schwer. Sie erstickte fast an ihrem Zorn und warf dem Sohn einen herausfordernden Blick zu: „Nun sprich du!“

Didier kam denn auch heran, streckte seiner Braut beide Hände entgegen und rief in leidenschaftlich dringendem Ton: „O, Marguerite, komm zu uns! Niemand wird dich in deiner heiligen Trauer stören! Niemand! Verstehst du denn nicht, daß ich keine Ruhe finden kann, wenn ich dich hier weiß, einsam, mit einem Schatten als Gesellschaft? Wir wollen dich hegen wie unseren Augapfel, und du wirst sehen, in unserem stillen wohnlichen Hause daheim wird deine Seele gesunden! Komm mit uns! Bei meiner Liebe beschwöre ich dich!“ Er sprach in aufrichtigen Herzenstönen, hingebend, beschwörend, leidenschaftlich. Wenn sie ihn liebte, konnte sie nicht ungerührt bleiben.

Aber Marguerite erbleichte wie im Schrecken, sie entzog sich rasch den sie umschlingen wollenden Armen des jungen Mannes und schüttelte den Kopf. „Lassen Sie mich hier, Didier! Es ist besser für uns beide. Ich kann jetzt nicht zu euch kommen. Haben Sie Nachsicht mit mir … Ich kann nicht!“

Ihre Worte klangen angstvoll flehend. Es that ihr weh, ihn abweisen zu müssen, aber die Stimme, die in ihrem Innern „Nein“ rief, war zu laut, zu dringend. Sie konnte nicht … Deutlich genug verriet sie hierdurch, daß sie ihren Verlobten nicht liebte, und Didier fühlte das. Seine Blicke verfinsterten sich, und er sah scheu zur Mutter hinüber, die hocherrötet auf das Paar schaute. O, sie war nicht dumm, Madame Morel, auch sie merkte, wieviel es geschlagen hatte. „Die Beschwörung bei deiner Liebe scheint ja großen Eindruck auf Mademoiselle zu machen!“ sagte sie ironisch. „Meine Gnädigste, man kann manchmal zu weit gehen. Ich finde – Ihren Eigensinn sehr übel angebracht, denn schließlich … Weißt du auch, was du wagst, Marguerite?“

„Mama!“ unterbrach Didier.

Frau Morel ließ sich nicht irremachen. „Du legst deinem Bräutigam eine lange Brautzeit auf und willst ihn noch obendrein von dir fern halten. Dabei läufst du Gefahr –“

„Mama, an meiner Treue soll Marguerite doch wohl nicht zweifeln?“

„Doch muß sie sich sagen, daß ein Verlobter, den man so behandelt, berechtigt ist, sich zu fragen, ob auf seiten seiner Braut überhaupt die Zuneigung vorhanden ist, die er fordern darf!“

Bei diesen halb drohend hingeworfenen Worten errötete Didier dunkel und erhob die Hand, wie um die Mutter am Weitersprechen zu hindern. Marguerite jedoch schien von der bedeutungsvollen Warnung, die Madame Morel an sie richtete, nicht betroffen. Sie sah geradeaus vor sich hin und erwiderte in schwermütig gelassenem Tone: „Didier ist über meine Gefühle für ihn vollständig im klaren.“

Nun errötete Didier noch dunkler, während Madame Morel erbleichte. Sie sah ihren Sohn mißtrauisch an. „Was soll das heißen?“ fragte sie scharf. Indessen fürchtete sie, nur zu gut zu verstehen. Mit der Andeutung der Möglichkeit, Didier könnte sich anders besinnen, hatte sie ihren letzten Trumpf ausgespielt. Und das war der Erfolg! Das junge Mädchen fürchtete sich nicht: sie war ruhig, Didier ängstlich, als fürchtete er Erklärungen. Die argwöhnisch zwischen den beiden jungen Leuten hin und her wandernden blanken Aeuglein Frau Morels bemerkten das wohl, und ihr Verdacht verstärkte sich zur Gewißheit. Immer hatte sie das Mädchen zu kühl gefunden, zu wenig dankbar für die große Ehre. Sie selbst hatte nicht sehr freudig in die Verlobung gewilligt. Germaine Dormans war ihr eine liebe Freundin gewesen, aber den einzigen Sohn, der die reichsten Erbinnen von Nancy haben konnte, an diese arme Kirchenmaus verschleudern? Sie gab ihn nicht gern so billig ab und hatte sich ihre Zustimmung nur abringen lassen, weil Didier sein Lebensglück davon abhängig erklärte. Madame Morel gehörte zu den Müttern, die ihren Sohn überhaupt für jedes Mädchen zu gut finden. Als sie dann bei ihrem ersten Besuch statt der wonneseligen Braut, die sie zu finden erwartete, die scheu in sich selbst eingesponnene Marguerite traf, befremdete sie das wohl ein wenig, aber die französische Mädchenerziehung forderte ja diese Zurückhaltung. Marguerite benahm sich dem Herkommen gemäß. Jetzt aber gab es keine Beschönigung mehr. Wenn Marguerite ihren Sohn geliebt hätte, wäre ihr in ihrer Vereinsamung das Haus seiner Eltern als die beste Zufluchtsstätte erschienen, und sie hätte sich um so inniger an ihn und die Seinigen geschmiegt! Nein, sie liebte ihn nicht, und, was noch mehr: Didier wußte es, sie hatte es ihm gesagt! Diese Entdeckung machte sie so stutzig, daß sie verstummte. Sie wußte nun nicht mehr, auf welche Weise sie einen Druck auf Marguerite ausüben sollte. Und so setzte nach einigem Hin- und Herreden Marguerite ihren Willen durch. Die Morels nahmen von ihr Abschied und kehrten ohne sie nach Nancy zurück. Noch im Hotel hatte Madame Morel eine scharfe Auseinandersetzung mit ihrem Sohne. Didier gestand halb und halb zu, daß Marguerite ihn noch nicht liebte. „Mein Gott, ihr Herz ist eben noch nicht recht erwacht! Sie wird mich lieben lernen!“

„Wozu? Je weniger sie dich liebt, desto mehr wird sie deine Herrin sein!“ spöttelte die Mutter trocken. „O, sie macht kein schlechtes Geschäft, diese liebe Marguerite. Sie nimmt alles und giebt gar nichts dafür. Und das geschieht dir, nach dem zu Hause die hübschesten und reichsten Mädchen schmachten!“

„Mädchen, die ich nicht will, und diese will ich!“ beendete Didier den Streit.

Für Detlev war es keine geringe Ueberraschung, als ihm Madame Joß am anderen Morgen einen Brief von „Mademoiselle“ brachte. Ein wenig betroffen nahm er ihn entgegen. Vorerst dachte er nicht daran, was sie ihm wohl schreiben könne, sein Auge ruhte mit Innigkeit auf den Zügen der Adresse. Das also war ihre Schrift! So schrieben ihre schlanken Finger seinen Namen? Dann öffnete er den Brief und überflog verständnislos die wenigen Zeilen der Mitteilung. Marguerite hatte französisch und sehr kurz geschrieben. Aber es dauerte eine Weile, bis Detlev begriff, daß er mit den ersten Zeilen von dieser lieben Hand – seinen Laufpaß erhielt. Madame Joß gab ihm mündlich die nötigen Erläuterungen. Die Nachricht, daß Marguerite nicht nach Nancy ging, erleichterte ihm ein wenig den schmerzlichen Abschied von ihrem Hause. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens sagte er zu Madame Joß: „Ich begreife die Gründe Ihres Fräuleins und füge mich, so schwer es mir auch fällt. Wann soll ich denn gehen?“

„Sie sind gesetzlich berechtigt, bis zum Fünfzehnten hier zu bleiben,“ erklärte Madame Joß. „Wenn aber der Herr Leutnant früher eine Wohnung bekäme, vielleicht schon zum Ersten –“

[215] „Ich verstehe. Je früher, desto besser!“

„Ach, wenn Sie doch graue Haare hätten, Monsieur!“ rief Madame Joß bedauernd.

„Einige habe ich bereits an mir entdeckt! Doch es scheint, sie genügen nicht. Melden Sie dem Fräulein, daß ich noch heute auf die Suche nach einer Wohnung gehe. Ich werde sie so bald als möglich von meiner Anwesenheit befreien.“

Er sagte das ganz heiter und gleichmütig, und Madame Joß konnte demnach ihrer jungen Herrin mit Recht berichten, daß der Leutnant die Kündigung mit ziemlich guter Art aufgenommen habe und nicht sehr verzweifelt scheine. Es sei offenbar viel leichter, einen Mieter hinaus als herein zu bekommen.

„Und wenn wir auch keinen finden!“ meinte Marguerite. „Ich brauche jetzt so wenig.“

Aber Madame Joß teilte diese Auffassung der Sachlage nicht.

*      *      *

In ganz anderer Stimmung als zum erstenmal ging Detlev diesmal aus, eine Wohnung zu suchen. Es war ihm jetzt ganz gleich, wie das „Loch“ aussah, das ihn aufnehmen sollte. Nur gar zu weit entfernt von der Belle-Islestraße sollte es nicht sein. Er mußte es daher für einen immerhin günstigen Zufall halten, als er am Vincenzplatz ein annehmbares Logis entdeckte. Am Vincenzplatz! Schräg gegenüber, mit ihren beiden gotischen Türmen ein Wahrzeichen der Stadtgegend, die Vincenzkirche, in welche die beiden Perrauls und auch Marguerite ja so häufig zur Messe gingen. Wie leicht war es möglich, daß er sie dort eintreten oder herauskommen sah! Er blieb in ihrer Nähe. Da die Wohnung sofort zu haben war, entschloß er sich, bereits am 1. Februar umzuziehen.

Am letzten Tage, den er in seinen ihm lieb gewordenen Zimmern verbrachte, ging er hinüber, von Marguerite, die er seit dem Leichenbegängnis nicht gesehen hatte, persönlichen Abschied zu nehmen. Auf sein Klopfen an der Glasthüre erfolgte keine Antwort, wohl weil droben auf dem Flur die Kinder des Agenten Räuberspiele aufführten und damit jedes andere Geräusch übertönten. Er drückte also die Klinke nieder und trat ein. Das kleine Zimmer war leer, und vom Begräbnis her schien ihm noch ein leiser Weihrauchduft zurückgeblieben zu sein. An der Thüre der Wohnstube klopfte Detlev lauter, und auf das erfolgte „Entrez!“ trat er gedämpften Schrittes ein.

Marguerite saß in einem der Lehnstühle nahe beim Ofen, der einladende Glut ausströmte. Das Zimmer sah aus wie sonst, nur leerer und noch düsterer. Der Vorhang des Alkovens war herabgelassen und bildete den dunklen Hintergrund, von dem sich Marguerites vom Feuer bestrahltes Profil abhob. Frühe Nachmittagsdämmerung verwischte in dem dunkelfarbigen Raum alle Linien und Umrisse und umgab Marguerites Kopf mit einem blassen, flackernden Heiligenschein. Sie war unbeschäftigt. Ihre Hände ruhten müde in ihrem Schoße, und ihr Gesicht hatte den Ausdruck eines verlassenen Kindes, das auf die Heimkehr seiner Mutter wartet.

„Sie sind es?“ sagte Marguerite aufblickend. Sie erhob sich und kam ihm langsam entgegen.

„Ja, ich, der Verstoßene!“ antwortete Detlev. „Störe ich?“

„Worin sollten Sie mich wohl stören? Sie sahen es ja! Ich saß am Feuer und blickte in die Glut.“

Er faßte ihre Hand, und da sie nun in den Bereich des Fensterlichts getreten war, sah er sie mit mitleidiger Prüfung an. „Es thut Ihnen nicht gut, so viel allein zu sitzen … Ich darf Ihnen nicht Gesellschaft leisten, darein muß ich mich ergeben. Aber warum rufen Sie nicht die Damen Perraul herein? Oder die kleine Jeannette?“

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich muß allein sein, ganz allein!“

Er sah sich unwillig in den vier Wänden um. „Hier allein? Und immer allein! Fast möchte ich wünschen, daß Sie mit Madame Morel nach Nancy gegangen wären!“

Sie hatte ihm die Hand entzogen und ging wieder zu ihrem Sitz am Ofen. Detlev folgte ihr. Sie setzte sich und bot ihm einen Lehnstuhl an, der noch die Stellung hatte, in der ein früherer Besuch ihn verlassen haben mochte.

„Sie hätten mir das geraten?“ fragte Marguerite.

„Doch nein! Wenn es Ihnen nicht genehm war – gewiß nicht. Sie haben sicher Ihre guten Gründe gehabt.“

„Morels sind eine sehr heitere Familie … Zwei lebhafte Töchter sind da … Sie treiben es manchmal toll … Man würde sich alle Mühe gegeben haben, mich zu erheitern. Aber gerade das mochte ich nicht. Man soll sich nicht mit mir beschäftigen, man soll mich ruhig in meinem Winkel lassen. Ich bin nicht einsamer als früher. Meine Mutter ist bei mir.“

Diesmal schüttelte Detlev den Kopf. „Sie gefallen sich zu sehr in der düsteren Stimmung, die dieses Zimmer aushaucht. Wenn Sie mich schon von drüben vertreiben, so ziehen Sie selber hinüber! Da haben Sie doch keine schwefelgelbe Feuermauer vor sich. Die Zimmer sind hell. Sie sehen den Fluß mit seinen Eisschollen, die Straße, die den ganzen Tag voll Leben ist. Man sieht die Kinder aus der Schule kommen, Soldaten –“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ach ja, die Soldaten! Vielleicht ist das gerade der Grund, warum Sie nicht drüben wohnen wollen. Aber Sie brauchen gar nicht auf die Erde zu blicken, sondern zum Himmel. Hier haben Sie keinen Himmel und keine Luft.“

„Glauben Sie mir, mir ist am wohlsten hier!“ entgegnete Marguerite, träumerisch ins Feuer starrend. „Ich brauche die gewohnte Umgebung, die vertrauten Gegenstände. Einen Wechsel könnte ich nicht ertragen!“

Detlev sagte nichts mehr. Für eine Weile gab er sich stumm dem beglückenden Gefühle ihrer Nähe hin. Es war vielleicht das letzte Mal im Leben, daß er ihr ohne Zeugen gegenüber saß und, vom Halbdunkel begünstigt, die Blicke an ihrem lieben Gesichte hängen lassen durfte. Ihm war wohl und weh zugleich, wenn er sie betrachtete. Sie war so schön in ihrer sanften Blässe. Jedes Männerherz hätte sie gerührt mit ihrer schmucklosen Lieblichkeit.

„Morgen zieh’ ich aus!“ sagte er dann plötzlich rauh.

Sie hob den Kopf. „Sie haben schon eine Wohnung? Ist sie auch nett und freundlich?“

„Was liegt daran – wenn Sie mich nur los sind.“

„Es scheint undankbar, Sie fortzuschicken!“ gestand Marguerite sanft. „Sie sind sehr gut zu mir gewesen. Was wollen Sie? Es geht nicht anders. Sie werden sich schnell wieder eingewöhnen drüben. Wie heißt Ihre Wirtin?“

„Keine Französin diesmal. Frau Klara Schmidt. Sie werden sie kaum kennen.“

„O, ich kenne sie. Eine von ihren Töchtern ging mit mir in die Schule. Die ist schon verheiratet. Aber es sind noch zwei jüngere Töchter da.“

Detlev hatte die beiden Mädchen gesehen und schnitt eine leichte Grimasse, die ein leises Lächeln auf das ernste Gesicht des jungen Mädchens lockte.

„Sie scheinen zu glauben, daß ich mich gewohnheitsmäßig in meine Wirtstöchter verliebe, Fräulein!“

„O!“ wehrte Marguerite ab.

„Bitte, lassen Sie mich reden … Ich möchte Ihnen doch wenigstens sagen, wie es mir ums Herz ist! Nachdem es mir kaum noch gestattet war, Ihnen einen Schritt näher zu treten, führt uns das Leben wieder auseinander. Auf Ihren Wunsch entferne ich mich aus Ihrem Gesichtskreis. Die Geschichte ist hoffnungslos, ich weiß es. Aber einmal will man sich doch aussprechen. Sie haben es wohl nie geahnt, daß ich Ihnen gut gewesen bin vom ersten Blick an?“ Es war eine halbe Frage, aber Marguerite saß regungslos. Bloß einen Seufzer glaubte Detlev zu vernehmen.

„Und ich habe Sie kennengelernt, als Sie noch unversagt, unverlobt waren! Aber wenn ich mich da auch gemeldet hätte, es wäre ja doch keine Hoffnung gewesen, keine –“

„Keine,“ murmelte Marguerite leise.

„Zu vieles stand zwischen uns. Ihre Mutter … Aber, vor allem würden Sie selbst wohl nie einen Deutschen haben lieben können … Oder wäre es denkbar gewesen, wenn Sie noch über Ihre Hand zu verfügen gehabt hätten? Hätte ich Sie erringen können, wenn der andere mir nicht zuvorkam?“

„Wozu die Frage? Ich bin Herrn Morels Braut!“

„Wozu die Frage?! Es wäre Balsam für mich, zu wissen, daß nicht in Ihrem Herzen das Hindernis lag. Aber, nein, Sie [216] hätten mich nie geliebt. Sie haben gelernt, uns als Feinde zu betrachten, und darüber kommen Sie nicht hinaus …“

„Ich betrachte Sie nicht als Feind.“ Marguerite sagte es weich. „Allein wozu von unmöglichen Dingen reden? Auch wenn ich nicht mit Herrn Morel verlobt wäre, auch dann könnte ich nicht daran denken … O gewiß nicht! Schlagen Sie sich das alles aus dem Kopf, Herr von Bode!“

„Jawohl, ich muß es mir aus dem Kopf schlagen!“ gab Detlev nicht ohne Bitterkeit zurück. „Selbst wenn Sie keinen Bräutigam hätten, stünden noch immer berghohe Vorurteile zwischen uns.“

„Ich hege keine Vorurteile,“ entgegnete Marguerite traurig. „Dennoch könnte und wollte ich nichts thun, was meine Mutter, wenn sie lebte, nicht gutheißen würde. Darin besteht die Pietät gegen unsere Toten, daß wir ihrem Willen nachleben in ihrer Abwesenheit –“

„Und dieser Pietät würden Sie auch die Wünsche Ihres Herzens opfern?“ Detlev sprang erregt auf, sein Blick hing mit schmerzlichem Ausdruck an ihrem Gesicht.

„Ich würde es thun,“ sagte das junge Mädchen langsam. „Aber ich habe nichts zu opfern!“

„Wenn ich gewiß wüßte, daß Sie in dieser Ehe glücklich sein werden, wie gern wollte ich mich bescheiden! Aber Sie glauben das selbst nicht! In Ihrem ganzen Wesen prägt es sich aus, daß Sie nicht auf das Glück hoffen … O, Fräulein Marguerite, lachen Sie mich aus, wenn Sie wollen, aber Sie werden keine Heimat finden in diesem Nancy! Sie mit Ihrer holdseligen sinnigen Anmut, Sie passen nicht zu dem kleinen schwarzen Franzosen … Ihre ganze Natur weist Sie zu – uns!“

Er machte einige Schritte im Zimmer und sah mit zärtlicher Bekümmernis auf das junge Mädchen nieder, das bleich am Kamin lehnte. „So lange Ihre Mutter lebte, da wußte ich, es sei aussichtslos, an Sie zu denken. Aber sie, die die Bitterkeit über ihr beraubtes Leben so tief im Herzen trug, sie ist tot, und es ist unsinnig, sich den Toten zu opfern. Sie fühlen nicht wie die Mutter, nichts scheidet Sie von uns … Hören Sie auf die Stimmen in Ihrem Innern, und wenn da eine sich zu meinen Gunsten erhebt, heißen Sie sie nicht schweigen! Lauschen Sie ihr, es ist die Stimme des Glücks, Marguerite, die sich vernehmlich machen will!“

Marguerite machte eine Handbewegung. „Endigen wir diese Unterredung, Herr von Bode … Ich darf Sie nicht länger anhören, Sie sollen nicht so zu mir sprechen … Ich bin eines anderen Braut! Achten Sie meine Einsamkeit … Gehen Sie, ich bitte Sie darum!“

„Vergeben Sie mir wenigstens, ehe ich gehe. Ich wollte das alles unausgesprochen mit mir hinwegnehmen, aber es ging nicht. Verzeihen Sie mir?“

Statt zu antworten, nickte Marguerite mit dem Kopfe. Er ergriff ihre Hand, die eiskalt war, und drückte sie an seine Lippen.

„Leben Sie wohl! Seien Sie glücklich!“ murmelte er. Dann ging er, ohne sich umzusehen. –

In der neuen Wohnung fühlte sich Detlev sehr unbehaglich. Er ging umher wie einer, der seine Seele verloren hat, und die Schmidtschen Mädchen wunderten sich sehr über den melancholischen Offizier. So einen hatten sie noch nicht gehabt in der bunten Reihe ihrer Mieter.

Stefan sprach fast täglich bei Madame Joß vor und hörte da die kleinen Ereignisse des Tages. Von den Knaben des Agenten war einer auf der Treppe gestürzt, Mademoiselle Octavie Perraul hatte sich in der Kathedrale einen Schnupfen geholt, von Monsieur Morel waren ein Brief gekommen und Blumen, und Fräulein Marguerite hatte diese auf den Friedhof gebracht. Auf diese Weise erfuhr er doch etwas von ihrem Leben, und er drückte deshalb ein Auge zu, wenn Stefan, der ein entschiedener Freund von rotem Haar zu sein schien, den Weg etwas zu oft nach der Belle-Islestraße nahm.

Einige Zeit später fragte ein älterer Major im Kaffeehause Detlev, ob er mit seiner vorigen Wohnung zufrieden gewesen sei und warum er sie aufgegeben habe. Detlev gab kurzen Bescheid über die Ursache seiner Wohnungsverändernng und riet Major Pröhl, die Wohnung zu nehmen, da er gewiß zufrieden damit sein würde.

„Aber recht teuer haben Sie gewohnt, Herr Leutnant!“ meinte der Major. „Mir ist der geforderte Preis ein wenig zu hoch.“

„Wenn Sie die Wohnung mit anderen vergleichen, werden Sie das nicht finden!“ entgegnete Detlev, „doch glaube ich, daß man Ihnen vielleicht etwas vom Preise ablassen wird, wenn Sie es verlangen.“

Dies war dann auch wohl der Fall, denn Major Pröhl bezog wirklich Detlevs verlassene Wohnung. Er war ein älterer Junggeselle, der von der traditionellen Schneidigkeit des preußischen Offiziers sehr wenig abbekommen hatte. Allein trotz seines behäbigen Phlegmas im praktischen Dienst, das mit seiner Neigung zur Fülle in Verbindung stehen mochte, war der Major doch ein tüchtiger Fachmann in militärischer Theorie. Den größten Teil seiner Dienstjahre hatte er in Festungen zugebracht, er besaß eine kleine militärische Bibliothek, die hauptsächlich Werke über Festungswesen enthielt. Detlevs Interesse für das Lieblingsstudium des Majors hatte diesen schon früher auf den jungen Premierlieutenant aufmerksam gemacht. Jüngere Offiziere pflegten diese Teilnahme für Major Pröhls Steckenpferd nur zu bekunden, wenn ihnen daran lag, sich seine Gewogenheit zu sichern. Aber Bode war doch darüber hinaus. Er diente nicht in seinem Regiment. Der Major mußte also wohl voraussetzen, daß nur ein sachlicher und kein persönlicher Grund den jungen Premier bewog, allen seinen Erläuterungen ein sehr aufmerksames Ohr zu leihen. So lud er ihn denn jetzt ein, ihn zu besuchen, um seine Bibliothek zu besichtigen. Auf diese Weise war es Detlev gegönnt, manchmal das Haus zu betreten, das er so ungern verlassen hatte.

Das trauernde blonde Mädchen gewann auch dem alten Herrn großen Anteil ab. „Sollte man glauben, daß das eine Französin ist?“ sagte er zu Detlev in dem an den Exerzierplatz stoßenden Kaffeehaus, wo sie sich zu treffen pflegten. „Ich kann es gar nicht fassen! Nicht nur des Aussehens, sondern auch des Charakters halber erscheint es unglaublich. Sie ist so ernst, so betrübt, das arme Kind … Na, lang’ wird sie nicht mehr im Verborgenen blühen … Kürzlich ist der Bräutigam dagewesen … Im März kommt er wieder. Wenn ich der wäre! So ein Mädchen hätt’ ich in meiner Jugend kennen sollen. Schade, daß so ein windiger Franzose die gekapert hat!“

Ob Didier im März in der That in Metz gewesen war, erfuhr Detlev nicht. Es vergingen zwei Monate, ohne daß er von einem Besuch Morels bei seiner Braut hörte. Er selbst kam selten zum Major; es ergab sich eben nur wenig Gelegenheit dazu, und diese wenigen Male war ihm das Glück nicht günstig: die Glasthüre ließ nichts erblicken, nicht einmal einen Schatten. Die Beobachtung an seinem Fenster hatte ebenfalls keine besonderen Erfolge. Auch konnte er ihr nicht sehr viel Zeit widmen: der Beruf verlangte seine Abwesenheit von Hause gerade zu der Zeit, die zu seinen Fensterbeobachtungen am geeignetsten gewesen wäre. Die Damen Perraul erblickte er freilich sehr häufig, wie sie den Platz überschritten. Marguerite hingegen erspähte er nur sehr selten, und dann verhüllte der dichte Kreppschleier ihr Gesicht, so daß er sie mehr darunter erriet, als daß er sie wirklich erkannt hätte.

Es wurde Frühling … Längst war die letzte Eisscholle aus der Mosel verschwunden, die Luft wehte lau, und der Himmel nahm wieder eine südlich blaue Färbung an. Die Höhen um Metz schimmerten grün vom frischen Grase, das dort sprießte. An den Alleebäumen zeigten sich dicke Knospen, in denen der Saft stieg und stieg, und manche überzogen sich schon mit einem dünnen zartgrünen Schleier. Tag um Tag machte der Frühling neue Fortschritte, entdeckte man Schwellen und Sprießen dort, wo vorher nur dürres Astwerk gewesen war. In der Luft zwitscherten bereits die Schwalben. Doch niemals hatte Detlev dem neuen Werden so wenig Aufmerksamkeit zugewendet wie in diesem Jahre. Er hatte zu viel zu thun mit seinen inneren Zuständen. Nicht nur, daß er seine hoffnungslose Neigung für Marguerite nicht verwand, er litt noch mehr darunter als am Anfang. Das beste für ihn wäre gewesen, sich versetzen zu lassen.

Es traten jedoch Ereignisse ein, die ihm nicht nur eine Versetzung, sondern vielmehr einen ganzen Berufswechsel nahe legten. Schon seit Monaten schrieb ihm sein Onkel, der ihn

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Copyright 1898 by Braun, Clément & Cie. in Dornach i. E., Paris, New York.
Für den Großvater.
Nach dem Gemälde von A. Guillou.

[218] zum Erben eingesetzt hatte, Brief um Brief, um ihn zu bestimmen, daß er den bunten Rock ausziehe und zu ihm auf sein Gut komme, wo er beizeiten lernen könne, den Herrn zu spielen. Ein solches ihm zugefallenes Erbe gut zu bewirtschaften, sei auch eine Lebensaufgabe, und sein Vater habe immer gewünscht, ihn als Landwirt zu sehen. Detlev war auch nicht abgeneigt, den Wunsch des Onkels zu erfüllen, doch schob er es immer noch hinaus, einen entscheidenden Schritt zu thun. Litt er auch an seiner aussichtslosen Liebe, so waren ihm doch seine Leiden lieb. Metz verlassen hieß, sich auf ewig von Marguerite trennen. Und sie war ja noch nicht verheiratet, noch war der letzte Hoffnungsfunken nicht erloschen. Aber im April, als die weitläufigen Alleen um Metz sich grün umkleideten und die Büsche längs der Mosel im Blütenschauer standen, erlitt der alte Herr auf Rheinfeld einen leichten Schlaganfall, den Frau von Bode ihrem Sohn meldete. Zugleich bat sie ihn dringend, doch jetzt den Wunsch des Oheims zu erfüllen: das Gut brauche einen Herrn … Bald schrieb der Oheim einen Brief voll wehmütiger Todesahnungen. Er wollte noch gern selbst seinen Neffen in den neuen Wirkungskreis einführen und seine letzten Lebenstage durch seine Gegenwart erheitert sehen. Nun stand Detlev am Wendepunkte. Er nahm vorläufig einen längeren Osterurlaub und reichte zugleich sein Abschiedsgesuch ein. So bereitete er sich zur Abreise mit dem Bewußtsein vor, daß er nicht mehr nach Metz und zum Regiment zurückkehren würde … An einem laulichen Apriltage, der die Stadt in ein wahres Bad von Frühlingslicht tauchte, von dem seine Seele aber nichts wahrnahm, ging er in der Stadt umher, bei Vorgesetzten, Kameraden und deren Familien Abschiedsbesuche zu machen.

Den Weg zu Major Pröhl hatte er sich bis zuletzt aufgespart, denn er wollte nachher auch zu ihr gehen. Ein Abschiedsbesuch mußte ihm doch gegönnt werden. Er hatte bis zu ihrer Hochzeit in Metz ausharren wollen, um den letzten Schimmer von Hoffnung festzuhalten, bis sie unwiderruflich gebunden war, aber die Qual dauerte zu lange. Die letzten Monate waren unerträglich gewesen. Es war unmännlich, sich dieser hoffnungslosen Pein länger hinzugeben, und er ging dorthin, wohin ihn die Pflicht rief.

Der Major besprach eingehend seine Verhältnisse und Lebensaussichten mit ihm und gab ihm recht, daß er seinem Oheim willfahrte. „Wenn es zum Dreinschlagen kommt, sind Sie doch wieder da! Wollte, ich hätte vor zwanzig Jahren einen Onkel gehabt, der mir das Seinige hätte angedeihen lassen wollen!“

Dann kamen Regimentsnachrichten, und schließlich sprach der Major wie gewöhnlich auch von seiner jungen Wirtin. „Kirche und Friedhof: schöne Abwechslung für leuchtende Frühlingstage! Heut’ mag sie noch eine besonders böse Viertelstunde gehabt haben, das arme Ding!“

„Warum?“ Detlev fragte es ein wenig zu heftig.

„Stellen Sie sich vor,“ begann der Major mit seiner gemütlichen Langsamkeit, „heute morgen, während sie in der Kirche war, kam der Postbote, brachte mir einen Brief und wollte zu ihr hinein … Thüre verschlossen … Der Postbote wollte also den Brief durch die Spalte unten Hineinschieben, aber ich sage: Geben Sie nur her … Ich besorge das … Gut. Postbote geht … Ich drehe das große Couvert in der Hand um, es ist offen … Dann darf man sich’s doch ansehen, und so ziehe ich das steife Blatt heraus und sehe es an. Natürlich war’s Französisch, ein langes sinnloses Geschreibsel“ – der Major verstand wenig französisch – „der Teufel mag das lesen! Aber die Namen fielen mir auf: Mademoiselle Alphonsine Duval oder Dumont oder Dubois, ich weiß nicht mehr – und was könnte mir auch gleichgültiger sein? – und ein Herr empfahlen sich als Verlobte ... Und der Herr, das war kurios! – Der Herr … Was meinen Sie, wer das war?“

Detlevs Spannung war aufs höchste gestiegen. Er machte eine ungeduldige Bewegung.

„Er hieß,“ sagte der Major mit feierlich dröhnendem Baß, „ob Sie es nun glauben oder nicht: Er hieß – Didier Morel!“

Detlev sprang auf und starrte dem alten Herrn verwirrt ins Gesicht. „Unmöglich!“

„Aber wahr! Ich war auch ganz baff. Als ob es mich in den Fingern gebrannt hätte, schob ich das Couvert durch den Spalt hinein. Mochten ihre Füßchen darauftreten! Ein Bräutigam, der seiner Braut seine Verlobung mit einer anderen anzeigt!“

„Vielleicht war es bloß ein gleichnamiger Verwandter des Bräutigams!“

„Ach!“ sagte der Major überlegen. „Es ist schon so! Die Verlobung scheint schon lange in die Brüche gegangen zu sein; die Kleine hatte nur keine Veranlassung, es uns wissen zu lassen, nicht wahr? Vor einer Stunde war Madame Joß hier oben. Die examinierte ich. Sie sagt, sie hätte längst Lunte gerochen, weil kein Brief mehr aus Nancy kam, nichts. Das Fräulein sei jedoch seitdem weit heiterer. Die Geschichte würde ihr nicht das Herz brechen. Bloß die ‚Madame‘ … die drehte sich wohl im Grabe um, wenn sie’s erführe, meinte die Joß. Indessen, ich denke, bis auf den Ostfriedhof wird die Nachricht nicht dringen … Ob es die Kleine wirklich so leicht nimmt? Vielleicht macht sie bloß gute Miene zum bösen Spiele!“

Detlev verließ den Major so bald wie möglich und benahm sich dabei so auffällig, daß dieser ihm kopfschüttelnd nachsah. Marguerites Thüre war jedoch verschlossen, und Detlev rannte nun stundenlang wie besessen durch die Straßen, um die ungeheure Freude, die ihn erfüllte, in Bewegung austoben zu lassen.

Der laue Frühlingstag umkoste seine Stirne mit schmeichlerisch zärtlichem Hauch wie eine Glücksverheißung, und nun fiel der helle Sonnenschein auch ihm ins Herz und erwärmte es nach langer Winterstarre zum erstenmal wieder. Die ganze Zeit her hatte er sich in einem finsteren Gegensatz mit dem alles Vereiste lockernden und lösenden Lenzhauch befunden, jetzt aber, wo das Knospen der Hoffnung sich auch in ihm wieder zu regen begann, begrüßte er die Frühlingsherrlichkeit ringsum aus froher Seele.

Er war nach dem Friedhof hinausgeeilt, traf aber Marguerite dort nicht. Dann schweifte er planlos in der Umgebung der Stadt umher, wo auf den Höhen Rebenpfähle, zeltartig zusammengestellt, an die Gewehre erinnerten, die zu anderen Zeiten dort so aufgestellt gewesen sein mochten. Zwischen den Forts von Plantières und Saint Julien irrte er umher, kehrte dann auf einem Umweg durch die altertümliche Porte des Allemands in die Stadt zurück und schlug wieder den Weg nach der Belle-Islestraße ein. Es dämmerte bereits. Die Lichtfülle des Tages minderte sich allmählich. Atemlos erklomm er die Treppe, überzeugte sich durch einen Druck auf seine ehemalige Wohnungsthüre davon, daß Major Pröhl, wie er erwartet hatte, nicht zu Hause war, und klopfte dann bei Marguerite an. Es erfolgte kein Herein, doch als er unentschlossen in dem kleinen leeren Zimmer stand, wo sich schon Dämmerschatten aus den Winkeln streckten, rief aus der kleinen Küche zur Linken eine Stimme den Namen der Frau Joß. Der innere Jubel drohte Detlev zu ersticken, als er nach langer Zeit wieder diese Stimme hörte, und so hell und leicht klang sie obendrein. Eine übermütige Stimmung überkam ihn, und er antwortete laut und fröhlich: „Nein, ich bin’s.“

Beim Klang dieser männlichen Stimme kam Marguerite schnell herbei … Das schwarze Kleid mit einer Küchenschürze bedeckt, in einer Hand die Theebüchse, in der anderen ein Löffelchen, so erschien sie an der Schwelle. Als sie Detlev erblickte, lächelte sie, aber es war kein freudiges Lächeln.

Sie sind es, Herr von Bode?“ fragte sie langsam … „Nehmen Sie Platz und entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“

„Ich will Sie nicht in Ihrer Beschäftigung stören … Sie kochen Thee? Empfangen Sie mich doch in der Küche!“

Und ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, trat er hinter ihr in das Küchlein ein. Der kleine Raum war übervoll von der aus einer größeren Küche stammenden Einrichtung, aber gerade deshalb nur um so anheimelnder. Der Küchenschrank und die Geschirrborde an der Wand ließen Mengen von verschiedenem altväterischen Porzellan sehen. Messing und Kupfer glänzten an der Wand um die Wette, und auf dem sauberen und wohl selten benutzten Herde stand ein Spirituskocher, dessen blaue Flamme im Luftzug hell emporloderte. Theekanne und Theetasse daneben [219] verrieten, daß Detlev richtig geraten hatte. Marguerite stellte die Theebüchse, die sie noch in der Hand gehalten hatte, weg und legte jetzt erst die Hand in die, welche Detlev ihr entgegenstreckte.

„Wir haben uns lange nicht gesehen!“ sagte er leise, die Augen an ihr hängen lassend.

„Recht lange!“ gestand Marguerite zu. „Und jetzt … Sie kommen wohl Abschied nehmen, Herr Leutnant? Vorhin traf ich Major Pröhl im Flur, und er sagte mir, daß Sie eine Urlaubsreise antreten.“

„Nicht bloß eine Urlaubsreise … Ich trete aus der Armee aus … Sagte Ihnen Major Pröhl das nicht? Sie verstehen mich doch, Fräulein? Ich werde kein Soldat mehr sein …“ Er hatte sich nicht gesetzt, sondern lehnte an dem Kürhenschrank, zufrieden, daß er sie sah, sie ungestört betrachten durfte, ohne durch den Gedanken an Didier Morel gequält zu werden.

„Kein Soldat mehr?“ wiederholte Marguerite leise.

„Ich werde Landwirt. Ich soll das Gut meines Oheims bewirtschaften, der leidend ist.“

„Ich wünsche Ihnen Glück zu dieser Veränderung. Hoffentlich lieben Sie das Landleben.“

„Ich werde es lieben lernen. Und Sie, mein Fräulein? Lieben Sie es?“

„Ich kenne es kaum. Bedenken Sie doch, daß ich fast nie aus Metz fortgekommen bin … Indessen stelle ich es mir recht schön vor, auf dem Lande zu leben … Reisen Sie bald nach Deutschland?“

„Sehr bald,“ antwortete Detlev mit gepreßter Stimme und sie beobachtend. Der Mut sank ihm; sie schien ihm zu ruhig, unbeteiligt. Ob er blieb oder ging, es schien ihr gleichgültig!

Das Wasser kochte. Marguerite goß den Thee auf und löschte die Flamme. Dann nahm sie das Theebrett, auf das sie noch eine zweite Tasse gestellt hatte, und schickte sich an, es in das Wohnzimmer zu tragen. „Kommen Sie hinein, Herr von Bode, und trinken Sie Thee mit mir – zum Abschied!“

Er folgte ihr stumm. Drinnen im Wohnzimmer, wo es nach den Hyacinthen roch, die in einem Glase auf dem Fensterbord standen, hieß sie ihn auf dem Sofa Platz nehmen und deckte ein lavendelduftiges Tuch auf. Dann stellte sie den Thee, Zucker, Milch und Biskuits vor Detlev und bat ihn, zuzugreifen. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber, und stumm schlürften sie den heißen Trank.

„Wie blaß Sie sind, Fräulein!“ sagte Detlev nach einem langen Blick auf ihr schmales Gesicht. „Sind Sie leidend? Diese ewigen Gänge nach dem Friedhof!“

„Ich war gar nicht auf dem Friedhof, sondern in Plappeville mit einer ehemaligen Freundin, die ich getroffen hatte … Die Frühlingsluft ermüdet so …“

„So haben Sie doch auch Freundinnen? Eine Stockfranzösin natürlich!“

„Im Gegenteil … Die Familie stammt aus Königsberg, und Sie sollten einmal hören, wie die deutsch spricht … Wieso Herr Kühtmann gerade hierher kam, weiß ich nicht … Ottilie ist in Metz geboren wie ich.“

„Was ist Herr Kühtmann?“

„Oberlehrer.“

„Und das ist Ihre Freundin?“

„Wir hatten zusammen Zeichenstunde. Es ist ein recht liebes Mädchen, aber, natürlich, seit sechs oder sieben Jahren habe ich sie kaum mehr gesehen. Mama wünschte es nicht. Herr Kühtmann hat gegen uns gekämpft. Ich werde übrigens nicht wieder mit Ottilie verkehren. Bloß heute, weil wir uns gerade trafen. Sie kommt bald fort von hier. Sie heiratet.“

„Nach Deutschland?“

„Nein … einen Franzosen … Sie wird in Grenoble wohnen.“

„So?“ Detlev wurde ganz heiter. „Ein gutes Beispiel, das sie Ihnen giebt!“

„Mir?“ Marguerite zuckte die Achseln.

„Um es ihr nachzuthun, müßten Sie nach Deutschland heiraten,“ sagte Detlev, einen möglichst leichten Ton anschlagend, „Sie sind ja jetzt frei; denn wie ich hörte, ist Ihre Heirat –“

„In die Brüche gegangen,“ ergänzte Marguerite ruhig.

„Hat er sich Ihnen gegenüber etwas zu schulden kommen lassen?“ fragte Detlev.

„Klagen Sie ihn nicht an!“ fiel ihm das junge Mädchen rasch ins Wort. „Er hat keine Schuld.“

„Schenken Sie mir Ihr Vertrauen,“ bat Detlev, „und erzählen Sie mir, wie sich die Sache verhält. Sie wissen, ich glaubte nie, daß Sie ihn liebten …“

Marguerite senkte den Kopf. „Mama wünschte diese Heirat so sehr, und Herr Morel versprach, ihr ein guter Sohn zu sein. Ich wollte Mama von hier fort nach Nancy bringen. Herr Morel, war damit einverstanden, daß wir sie zu uns nehmen sollten. Er wußte freilich schon damals von Doktor Laurins, daß Mamas Tage gezählt waren. Ich hätte dennoch mein Wort nicht gebrochen … Gott weiß, daß ich die Absicht hatte, den Weg zu gehen, den Mama mir vorgezeichnet hatte. Bloß einige Monate der Freiheit wollte ich mir sichern. Wenn Didier nur Vertrauen und etwas Geduld gehabt hätte! Aber Geduld ist in der Familie Morel nicht zu Hause. Er wollte meinen Gemütszustand nicht verstehen, oder vielleicht verstand er ihn nur zu gut, merkte, daß ich mich bloß zu ihm zwang. Und das verletzte seine Eigenliebe tödlich. Als er zum letztenmal hier war, im März, stellte er mir ein Ultimatum: entweder die sofortige Heirat oder der Bruch unseres Verhältnisses. Ich wählte den Bruch, worauf er es ja abgesehen hatte. So ist es gekommen. Nun eifere ich den Damen Perraul nach, und man wird bald von den drei alten Jungfern aus der Belle-Islestraße sprechen.“

Detlev schob seine Theeschale zurück, daß sie klirrte. „Eine reizende Aussicht! Ich weiß ein anderes Bild. Darf ich es Ihnen ausmalen? In einem schönen Schlosse, dessen romanische Bogenfenster nach dem Rhein gehen, kenne ich ein trauliches Gemach mit behaglichem Eichengetäfel. Ein großer weißblauer Ofen füllt die Ecke. Der Tisch in der Nähe ist sauber gedeckt. Die Theekanne fängt an zu singen, das blaue Flämmchen zischt. Am Theetisch waltet eine schlanke blonde Frau, schön wie ein Madonnenbild und lächelnd wie ein glückliches Weib. Möchten Sie nicht lieber diese blonde Frau sein als die Dritte im Bunde der Perrauls? Marguerite, sprechen Sie! Liebe Marguerite!“

Seine Worte erstarben in einem Flüstern heißer Sehnsucht und Zärtlichkeit.

Marguerite hatte die Hände im Schoß ruhen lassen und vor sich hingestarrt wie gebannt.

Jetzt, als Detlev neben sie auf den Teppich hinkniete und ihren Leib umschlang, stieß sie einen Seufzer aus, fuhr sich mit der Hand über die Augen und murmelte: „O meine Mutter!“

„Marguerite,“ sagte Detlev innig, „glauben Sie nicht, daß Ihre Mutter Ihr Glück höher geschätzt hätte als alles? Daß sie ihren Haß hätte opfern können?“

„Sie würde nie eingewilligt haben,“ murmelte das junge Mädchen. „Wie hat sie gelitten!“

„Aber nun leidet sie nicht mehr!“ rief Detlev, mit herzlichem Druck die Hand des jungen Mädchens fassend und festhaltend.

„Nun ist sie hinaus über irdisch kleinliche Bedenken und Gefühle … Jetzt kann es für Sie, Marguerite, nur ein Bestimmendes geben, Ihr Gefühl … Marguerite, rührt Sie meine Neigung nicht? Habe ich mich getäuscht, wenn ich mir einbildete, Ihr Herz neige sich mir zu?“

„Kann ich eine Wahl treffen, die meine Mutter in Trauer und Bestürzung setzen würde?“

„Sie wollen also lieber mich, den Lebenden, der noch fühlt und leidet, unglücklich machen?“ fragte Detlev hastig, ihre Hand loslassend und aufstehend. „Vermögen abgeschiedene Geister herab zu sehen auf diese Erde, so werden Ihre Eltern Sie lieber glücklich in einem deutschen Heim als einsam und trostlos im Vaterhause sehen. Den Toten stört nichts mehr ihren Frieden, mir aber zerstören Sie, wenn Sie mich abweisen, mein Lebensglück. Wollen Sie das?“

„Ich kann nicht … O Gott, quälen Sie mich nicht …! Ich kann nicht …“ Marguerite erhob sich und floh zum Fenster. Detlev folgte ihr. Er sah wohl, daß er einen mächtigen Bundesgenossen an ihrem Herzen hatte, und das flößte ihm Mut ein. Er kämpfte nicht nur für sein Glück allein. Auch für das ihrige.

„Marguerite!“ begann er wieder in beschwörendem Ton. [220] „Keinem Vorurteil wird es gelingen, uns zu trennen … Ich lasse Sie nicht … Nur eines könnte mich bewegen, mich zu entfernen. Wenn Sie mir sagen, daß Sie mich nicht mögen, daß Sie an meiner Seite nicht glücklich zu sein vermöchten. Können Sie das behaupten?“

Sie schüttelte das Haupt … Zu dieser Lüge fehlte es ihr an Mut, an Kraft … Das Glück lockte wie der warme Herd den bis ins Mark durchfröstelten Wanderer … Da schlang er den Arm um sie und erstickte ihre Bedenken in heißen Küssen … Wieder einmal siegte die Liebe über feindliche Gewalten.

Diesmal verlangte Marguerite keinen langen Aufschub. Wenige Tage, nachdem Detlevs Abschiedsschmerz sich in hohe Freude verwandelt hatte, kam Frau von Bode in Metz an, um der Braut ihres Sohnes beizustehen. Marguerites Angelegenheiten wurden schnell abgewickelt, indem die Damen Perraul sich durch besonders günstige Bedingungen doch dazu bewegen ließen, das Haus – Major Pröhl als Mieter mitinbegriffen – zu übernehmen, und nachdem Marguerite noch einmal an ihren teuren Gräbern geweint hatte, hielt sie nichts mehr fest, und sie verließ ihr Vaterhaus. Aber nicht nach Westen, wie sie einstmals gemeint, sondern nach Norden führte ihre Straße, und nicht an Didiers Seite, sondern als Detlevs erklärte Braut zog sie, begleitet von Lerchentrillern und Schwalbengezwitscher und übergossen von Frühlingsgoldglanz, ihrem neuen Leben entgegen.




Riesenfernrohre.

Von Dr. H. J. Klein.


Durch die Tagesblätter läuft die Nachricht, daß als eine der Hauptsehenswürdigkeiten der nächsten Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 ein ungeheures Fernrohr geplant sei, welches den Besuchern die Wunder des Himmels in nie gesehener Pracht vor Augen führen solle. Ueber die zu erwartenden Leistungen dieses Riesenglases verlauten die abenteuerlichsten Versicherungen, und in weiten Schichten sind die Erwartungen des Publikums aufs höchste gespannt. In der That ist es etwas sehr ungewöhnliches, wenn man vernimmt, daß der Beschauer durch dieses Teleskop den Mond ungefähr so genau sehen würde wie seine irdische Umgebung etwa von einem mäßig hohen Berge aus. Unter diesen Umständen kann man sich ja mit Leichtigkeit selbst überzeugen, ob der Mond bewohnt ist oder nicht, und selbst über das Leben und Treiben etwaiger Mondbewohner eine ziemlich richtige Vorstellung gewinnen. Daß solches von höchstem Interesse sein und die größten sonstigen Sehenswürdigkeiten der Ausstellung in Schatten stellen würde, ist zweifellos. Die Frage ist nur: Kann man ein Fernrohr, welches dieses leistet, herstellen? Und an diese knüpft sich naturgemäß die andere: Wie verhält es sich überhaupt mit den heutigen Riesenfernrohren? Der Aufforderung des Herausgebers der „Gartenlaube“ folgend, will ich versuchen, den Lesern die Leistungen der optischen Kunst in Herstellung großer Fernrohre vorzuführen und ihnen dadurch ein richtiges Urteil über das, was in dieser Beziehung möglich und nicht möglich ist, zu verschaffen.

Schon im vorigen Jahrhundert gab es große Fernrohre. Das mächtigste war unstreitig das sogenannte Riesenteleskop Herschels, welches eine Länge von 40 Fuß besaß und dessen Hauptteil ein polierter Hohlspiegel von über 3 Fuß Durchmesser und mehr als 5 Centnern Gewicht war. Das gewaltige Rohr hing in einem mächtigen Holzgerüst und wurde durch ein System von Seilen auf und nieder bewegt. Indessen hat dieser Leviathan unter den Fernrohren nur wenige Jahre Dienste geleistet, denn seine Handhabung war zu umständlich, und in einer kühlen Nacht verlor der große Spiegel seine Politur, die nicht wieder ohne Beschädigung seiner genauen Form hergestellt werden konnte. Auch fand Herschel, daß in England die Luft nur höchst selten klar und ruhig genug ist, um die volle Kraft eines solchen Riesenteleskops ausnutzen zu können. Von der gewaltigen Größe des Rohres kann man sich übrigens eine Vorstellung machen, wenn man hört, daß Herschel bequem durch dasselbe hindurchspazieren konnte. Im gegenwärtigen Jahrhundert hat man noch ein paarmal Spiegelteleskope hergestellt, welche dem Herschelschen Riesenteleskop an Größe gleichkommen, ja dasselbe übertreffen. Eigentliche Erfolge am Himmel sind aber mit einer ganz andern Klasse von Teleskopen errungen worden, und nur diese meint man überhaupt, wenn man gegenwärtig von Riesenteleskopen spricht.

Bei diesen modernen Fernrohren besteht der Hauptteil, der dabei in Betracht kommt, aus einer großen Glaslinse, und zwar einer doppelten, welche man das Objektivglas nennt. Das ganze Fernrohr führt den Namen Refraktor. Schon zu Herschels Zeit hatte man allerdings auch Refraktoren, aber die größten besaßen nur Glaslinsen von höchstens 4 Pariser Zoll Durchmesser, weil man eben keine größeren Stücke optisch fehlerfreien Glases herstellen und, selbst wenn man sie besessen hätte, keine größeren Objektivgläser schleifen konnte. Deshalb kam Herschel darauf, eine beträchtliche Steigerung der Wirkung durch die leichter herzustellenden metallischen Spiegel zu erzielen, obwohl bei gleicher Größe diese weit weniger leisten als ein Refraktor. Um dies genauer zu bezeichnen, will ich bemerken, daß ein heutiger Refraktor von 10 Zoll Objektivdurchmesser und 12 Fuß Länge weitaus dem 40fußigen Herschelschen Riesenteleskop vorzuziehen ist. Zu Herschels Zeiten, und selbst im ersten Viertel unsres Jahrhunderts war es aber absolut unmöglich, ein Objektivglas von 10 Zoll Durchmesser herzustellen, und erst dem Genie eines Deutschen gelang es, das schier Unmögliche zu verwirklichen.

Dieser Mann war Josef Fraunhofer, 1787 zu Straubing als Kind armer Leute geboren und bis zum 11. Jahre Gänsehüter, dann Glasschleiferlehrling in München. Von seinem Lehrherrn, der Lesen und Schreiben für überflüssige Künste hielt, konnte der Knabe nichts lernen, so sehr er den Drang nach Ausbildung in sich spürte, und er wäre vielleicht zu Grunde gegangen, wenn nicht ein Unglücksfall ihm rettend zu Hilfe gekommen wäre. Es stürzte nämlich das elende Häuschen des Glasschleifers zusammen und begrub unter den Trümmern den Meister samt der Meisterin und dem Lehrlinge. Vier Stunden lang lagen sie verschüttet; die Frau fand man tot, der Meister und der Lehrling aber waren unversehrt geblieben. Es war wie ein Wunder und ganz München sprach davon. Der Kurfürst Maximilian Josef ließ den jungen Menschen zu sich kommen, sprach einen Augenblick mit ihm und schenkte ihm 18 Dukaten. Wer hätte damals ahnen können, daß diese geringe Geldsumme der Preis für die Eröffnung der Himmelsräume sein würde, daß sie die Zahlung bildete für die Enträtselung der Geheimnisse des Weltalls, der Zusammensetzung des Sonnenballs wie der entferntesten Sterne, ja der Enthüllung der Vorgänge beim Entstehen und der Zerstörung ganzer Weltsysteme! Alle diese bewundernswürdigen Entdeckungen knüpften sich an die Erhaltung und das fernere Geschick des armen Glaserjungen! Noch waren diesem selbst die Anfänge der Bildung fremd, aber sein Geist drängte vorwärts, er wollte lernen, und zwar zunächst Rechnen und Schreiben. Deshalb opferte er eins der Goldstücke seinem harten Lehrherrn für die Erlaubnis zum Besuch der Sonntagsschule, schaffte sich einige Bücher an, ebenso eine Glasschleifmaschine und gab schließlich den Rest des Geldes hin, um sich von der Lehrzeit frei zu kaufen. Nun aber fand er als Glasschleifer nirgendwo Arbeit und mußte mehrere Jahre lang in kläglicher Weise durch Herstellen von Visitenkarten sein Brot erwerben. Endlich (1806) führte ihn ein Zufall mit dem berühmten Reichenbach, dem Leiter eines optisch-mechanischen Instituts, zusammen; derselbe erkannte das schlummernde Genie des jungen Mannes und stellte ihn als Optiker an.

Jetzt war Fraunhofer im richtigen Fahrwasser, und in wenigen Jahren gelang ihm, was die ganze damalige Welt für unmöglich gehalten. Er erdachte neue Schleif- und Poliermaschinen, neue Methoden zur genauen Prüfung des optischen Glases, sowie endlich ein Verfahren, solches Glas von vorzüglicher Reinheit und gleichmäßiger Dichte in größeren Blöcken herzustellen. Dies war bis dahin völlig unmöglich gewesen und [221] ist auch später viele Jahre hindurch keinem Glasfabrikanten gelungen, trotzdem ungeheure Summen auf Versuche dazu verwendet wurden. Fraunhofers Methode zur Herstellung solcher Glasschmelzen wurde von seinen Nachfolgern als tiefes Geheimnis bewahrt, und erst seit Anfang der fünfziger Jahre gelang es einigen Fabrikanten in England und Frankreich, Glas zu großen Ferngläsern in tadelloser Beschaffenheit zu erzeugen. Fraunhofers größtes Fernrohr hat ein Objektiv von 9 Pariser Zoll Durchmesser und eine Länge von 14 Fuß, es wurde 1824 von der russischen Regierung für die Sternwarte in Dorpat angeschafft und erwies sich als das beste Instrument der damaligen Zeit. Noch heute bildet es eine Zierde jener Sternwarte und hat von seiner Wirkung nichts verloren. Fraunhofer war von Körper schwächlich und starb bereits 1826, nachdem sein König ihm den Adel verliehen hatte. Auf seinem Grabstein liest man die Worte: „Er hat uns die Sterne näher gebracht.“

Die nächsten Nachfolger Fraunhofers gingen in der Herstellung großer Fernrohre weiter, aber so beträchtlich waren die zu überwindenden Schwierigkeiten, daß nach seinem Tode viele Jahre lang vergeblich an einem Objektiv von 12 Zoll Durchmesser gearbeitet wurde und es nur gelang, ein solches von 10½ Zoll Durchmesser, zu welchem ein Rohr von 17 Fuß Länge erforderlich war, herzustellen. Später kam man im optischen Institut zu München indessen auch zu 14- und selbst 18zolligen Gläsern, aber damit war die Grenze der Leistungsfähigkeit erreicht.

Die Schwierigkeiten, welche sich der Herstellung sehr großer Fernglasobjektive entgegenstellen, entspringen aus zwei verschiedenen Quellen. Zunächst muß man über große optisch fehlerfreie Glasblöcke verfügen können und dann muß der Optiker imstande sein, den beiden Linsen, die aus diesem Glase geschliffen werden, solche Gestalt und hohe Politur zu geben, daß das aus ihnen zusammengesetzte Objektiv die Gegenstände klar, scharf und ohne störende Farbensäume darstellt. Beiden Erfordernissen ist außerordentlich schwer zu genügen.

Das Riesenteleskop der Yerkes-Sternwarte.

Vor Fraunhofer mußten die Optiker, um ein Objektiv von 2 oder 3 Zoll Durchmesser herzustellen, nicht selten ein Dutzend Glaslinsen schleifen, weil beim Polieren die richtigen Krümmungen der Oberflächen wieder verloren gingen und nicht mehr hergestellt werden konnten. Auch die optische Beschaffenheit der zu den Linsen erforderlichen Glassorten muß man genau kennen, um danach die Krümmungen der Oberflächen der Gläser berechnen zu können, wozu auch kein sicheres Mittel bekannt war. Als man daher in England, wo zu Anfang des Jahrhunderts die besten Fernrohre angefertigt wurden, hörte, Fraunhofer verfertige ein Objektivglas von 9 Zoll Durchmesser, spottete man darüber, weil man auf Grund der eigenen Erfahrungen annahm, er müsse mindestens 100 Gläser dieser Größe schleifen, um nur 2 darunter zu finden, welche, zusammengepaßt, sich als brauchbar erweisen würden. Allein Fraunhofer hatte Mittel gefunden, die Beschaffenheit der Gläser vor dem Schleifen aufs genaueste festzustellen, ferner durch Rechnung die richtigen Krümmungen der Glasoberflächen zu bestimmen und endlich mittels höchst sinnreicher Instrumente die Gläser so zu polieren, daß die richtige Gestalt der Oberfläche nicht verloren ging. Diese Seite der Technik war durch ihn gewissermaßen zum Abschluß gebracht worden, und seine Vorschriften sind bis zur heutigen Stunde noch in Geltung.

Anders war es mit der Herstellung der Glasblöcke. Auch in dieser Hinsicht hat Fraunhofer die größten Verdienste, indem er den richtigen Weg zeigte, und sein Schüler und Nachfolger Georg Merz, der Sohn eines Leinwebers, machte noch weitere Fortschritte, so daß bis zur Mitte dieses Jahrhunderts die Merz’schen Refraktoren so gut wie ausschließlich zur Himmelsbeobachtung dienten. Nach jahrelangen Bemühungen gelang es endlich Feil in Paris, sowie Bontemps in England, ebenfalls fehlerfreie Glasblöcke zu Objektiven von 12 bis 18 Pariser Zoll Durchmesser zu erzeugen, und seit 1871 verpflichtete die Firma Chance Brothers u. Co. in Birmingham sich sogar, Glasplatten bis zu 1 Meter Durchmesser zu liefern. Erst nachdem dieses Ziel erreicht war, konnten auch andere Optiker als Fraunhofers Nachfolger daran denken, sich an der Herstellung großer Refraktoren zu versuchen. Da war es nun wieder ein aus niedrigen Verhältnissen entsprossener Mann, der auf diesem Gebiete den höchsten Preis errang. Alvan Clark, dessen Urgroßvater als Steuermann der „Mayflower“ mit 101 tapferen Personen beiderlei Geschlechts, welche die unchristliche Verfolgungswut der englischen Bischöfe aus ihrem Vaterlande vertrieben hatte, nach Amerika kam, ist es, der nebst seinem Sohne Georg als Schöpfer der heutigen Riesenteleskope zu betrachten ist. Er wurde in einem kleinen Orte des Staates Massachusetts 1804 geboren und arbeitete in seiner Jugend als Tagelöhner, suchte sich aber, ähnlich wie Fraunhofer, in den wenigen Freistunden, die ihm blieben, zu höheren Fertigkeiten auszubilden. An Optik dachte er nicht und ein Fernrohr hatte er niemals gesehen, vielmehr versuchte er sich als Zeugdrucker und Formstecher. Dabei entdeckte er in sich ein großes Talent zum Zeichnen und Malen und bildete dieses soweit aus, daß er sich in Boston als Dekorationsmaler niederlassen konnte und zu einem erträglichen Wohlstande gelangte. Hier war es nun sein 1832 geborener Sohn Georg, der, man weiß nicht genau durch welche Veranlassung, dazu kam, einen kleinen Teleskopspiegel zu schleifen. Der Vater sah der Arbeit zu, half dabei und gewann Interesse daran, so daß ein zweiter Teleskopspiegel in Angriff genommen wurde. Aus dem Maler wurde bald ein kleiner Optiker, dessen Spiegelteleskope guten Absatz fanden. Rasch erkannten aber die beiden Clarks, daß ein Refraktor leistungsfähiger als ein Spiegelteleskop ist, und warfen sich nun mit Eifer auf die Herstellung von Objektivlinsen. Es ist für den Fernstehenden geradezu unbegreiflich, wie es beiden Leuten, ohne eigentliche Vorbildung in diesem Fache, gelingen konnte, in wenigen Jahren Fernrohre herzustellen, welche an Größe und optischer Kunst mit den vorzüglichsten Erzeugnissen der Fraunhoferschen Schule siegreich wetteiferten.

Schon im Jahre 1861 stellte Clark einen Refraktor mit 18½ zolligem Objektivglase her, den größten und vortrefflichsten, den die Welt bis dahin gesehen hatte. Auch machte Georg Clark, [222] als er dieses Instrument am Himmel prüfte, damit sofort eine Entdeckung, welche seinen Namen über den ganzen Erdball trug. Der berühmte Astronom Bessel hatte nämlich anfangs der vierziger Jahre durch Beobachtung und Rechnung gefunden, daß in der Nähe des glänzenden Sternes Sirius noch ein dunkler Stern stehen müsse, aber kein Fernrohr war stark genug, diesen zu zeigen. Als Georg Clark am 31. Januar 1862 sein eben vollendetes großes Objektiv auf den Sirius richtete, sah er sofort den dunklen Stern in der Nähe desselben, genau an dem Orte, den Bessel vorher berechnet hatte. Das war ein ungeheurer Triumph für die amerikanische Optik, und sogleich kaufte ein reicher Bürger Chicagos das bewundernswürdige Instrument, um es seiner Vaterstadt zum Geschenk zu machen. Die Clarks aber ruhten nicht und versuchten sich an noch größeren Fernrohren, wozu sie das Rohglas aus England bezogen. Im Jahre 1870 erhielten sie von der nordamerikanischen Bundesregierung den Auftrag, das größte überhaupt herstellbare Fernrohr auszuführen, und seitdem hat die Firma Alvan Clark u. Sohn von Zeit zu Zeit immer wieder den Auftrag erhalten, „das größte überhaupt mögliche Fernrohr“ herzustellen.

Es ist dabei interessant, zu sehen, wie die Grenzen des Größtmöglichen sich seit 1870 erweitert haben. Damals war es ein Glas von 26 engl. Zoll Durchmesser oder „Oeffnung“, wie die Optiker sagen, welches diese Grenze bezeichnete. Das Gewicht dieser Doppellinse beträgt 180 Pfund; 1873 war das ganze Instrument vollendet und auf dem Marineobservatorium zu Washington aufgestellt. Es war nunmehr das mächtigste Fernrohr der Welt und bewährte dies in den nächsten Jahren dadurch, daß es zwei Monde des Planeten Mars zeigte, deren Vorhandensein so unerwartet war, daß die europäischen Astronomen zuerst die Nachricht ihrer Entdeckung für Humbug hielten. Der Beobachter, dem diese Entdeckung mittels des großen Fernrohrs gelang, Professor Asoph Hall, war übrigens auch ein Mann der eigenen Kraft, denn er hatte sich vom Zimmermann durch eifriges Studium, wobei ihm seine Gattin, eine ehemalige Lehrerin, half, bis zum Astronomen emporgeschwungen.

Die Begeisterung für die Clarkschen Riesenfernrohre nahm nun in Nordamerika große Dimensionen an. Ein reicher Privatmann, dem es auf ein paar hunderttausend Mark nicht ankam, bestellte für sich sofort ein ebenso großes Instrument wie dasjenige in Washington, und kaum war dieses vollendet, als von San Francisco wiederum eine Anfrage nach dem „größten überhaupt herstellbaren Fernrohr“ einlief. Es war der vielfache Millionär James Lick, welcher die Mittel zu einer Sternwarte auf dem Mount Hamilton spendete, deren Hauptinstrument alle andern übertreffen sollte.

Schematische Darstellung des projektierten Riesenfernrohrs für die Pariser Weltausstellung im Jahre 1900.

Natürlich konnte niemand anders als Clark die Herstellung dieses Riesenglases übernehmen. Im Jahre 1881 machte er sich anheischig, ein Objektiv von 36 engl. Zoll Durchmesser, wozu Feil in Paris die Rohglasscheiben für den Preis von 150 000 Frcs. herstellte, in einigen Jahren zu liefern. Im Jahre 1885 war das Objektiv vollendet und bald darauf auch die von Warner u. Swassey verfertigte Montierung desselben.

Man kann sich einigermaßen eine Vorstellung von diesem ungeheuren Sehwerkzeuge machen, wenn man bedenkt, daß das Rohr, welches aus Stahlblech besteht, eine Länge von 58 engl. Fuß und ein Gewicht von 80 Centnern besitzt. Dieses Rohr ist mittels einer 23 Centner schweren Achse an einer fast 400 Centner schweren Gußeisensäule befestigt und kann nach allen Richtungen des Himmels mit größter Leichtigkeit bewegt werden. Ist das Fernrohr einmal auf einen bestimmten Stern gerichtet, so folgt es mittels eines gewaltigen Uhrwerkes, dessen Pendel 11/4 Centner wiegt, diesem Stern so genau, daß derselbe unverrückt im Gesichtsfelde bleibt. Steht das Rohr senkrecht, so ragt das am oberen Ende befindliche Objektivglas 65 Fuß über den Boden. Im ganzen wiegt das Instrument mit allem Zubehör nicht weniger als 1200 Centner und hat mit der eisernen Kuppel, unter der es steht, alles in allem 654000 Mark gekostet. Die Leistungen desselben sind diesen Verhältnissen entsprechend. In der klaren und ruhigen Luft des Mount Hamilton, 4250 engl. Fuß über dem Spiegel des Großen Oceans, hat dieses Fernrohr zu überraschenden Entdeckungen geführt. Unter diesen ist eine der merkwürdigsten die Auffindung eines fünften Mondes des Jupiter, der so klein und lichtschwach ist, daß er nur ein paar Meilen im Durchmesser halten kann.

Erst wenige Jahre war dieses Rieseninstrument in Thätigkeit, als ein Bürger Chicagos, Charles J. Yerkes, den Plan faßte, auf seine Kosten eine Sternwarte erbauen zu lassen, die ein noch größeres Fernrohr erhalten sollte. Zu diesem Zwecke erging an Clark wiederum die Aufforderung, den „möglich größten Refraktor“ herzustellen, gleichgültig, welches die Kosten desselben sein möchten. Clark besaß gerade zwei Glasblöcke, die für ein 40zolliges Objektiv ausreichten, uod da die Herstellung von noch größeren Blöcken jedenfalls einen Zeitraum von mehreren Jahren beansprucht hätte, so stimmte Yerkes zu, daß ein 40zolliger Refraktor ausgeführt werde. Zum erstenmal lehnte indessen Clark die Verantwortung für das Gelingen des Objektivs in dieser Größe ab. Es war eine überflüssige Vorsicht; denn schon im September 1895 konnte er dasselbe zur Prüfung bereitstellen, und es erwies sich als höchst vorzüglich.

Das ganze, ungeheure Instrument ist jetzt unter der Riesenkuppel der Yerkes-Sternwarte zu Lake Geneva in Wisconsin aufgestellt. Das Objektivglas allein wiegt 10 Centner, das 63 Fuß lange stählerne Rohr, an welchem es befestigt ist, 120 Centner; die 44 Fuß hohe Säule, die das Ganze trägt, 800 Centner. Steht das Fernrohr senkrecht, so ragt es 72 Fuß über den Boden, also bis zur Höhe eines mäßigen Turmes. Jede Beschreibung dieses Instruments ist unzulänglich, ich führe statt dessen dem Leser eine Abbildung desselben auf Seite 221 vor, die nach einer Photographie angefertigt worden ist. Das riesige Fernrohr befindet sich, wie man sieht, unter der Drehkuppel und der Beobachter ist gerade auf der um den viereckigen Aufbau herumlaufenden Galerie beschäftigt.

Wie man aus der Abbildung erkennt, ragt dieser Aufbau frei aus dem Fußboden, auch ist der Boden von der Umfassungsmauer der Kuppel getrennt, und zwar zu dem Zwecke, um ihn durch hydraulische Kraft höher oder tiefer stellen zu können, damit der Beobachter in jeder Lage des großen Instrumentes bequem und gefahrlos seine wissenschaftlichen Untersuchungen anstellen kann. Die Kosten des Objektivs allein beziffern [223] sich auf 265 000 Mark, die Gesamtkosten der Montierung, der Drehkuppel etc. erreichen etwa 700000 Mark. Das ist nun das größte und mächtigste Fernrohr, welches zur Zeit auf der Erde existiert, und es bezeichnet sehr nahe auch die Grenze des für unsere Hilfsmittel zur Zeit Erreichbaren. Als Georg Clark, der nach dem Tode seines Vaters Alvan Clark (1887) das Objektiv herstellte, dasselbe vollendet hatte, sagte er, jetzt sei er von einer drückenden Last befreit. Ein Jahr darauf erlag er einem Schlaganfalle; der letzte seines Stammes. Kurz vor seinem Tode erklärte er indessen dem berühmten Astronomen Barnard, er sei bereit, auch ein Objektiv von 60 Zoll Durchmesser herzustellen, falls das Rohglas dafür zu haben wäre.

Für das Riesenteleskop der Pariser Weltausstellung ist ein Fernrohr von etwa 200 Fuß Länge und beinahe 50 Zoll Objektivdurchmesser in Aussicht genommen und der Schliff der Linsen hat bereits begonnen. Es ist indessen ganz unmöglich, ein Rohr von solcher Länge an einer Säule zu befestigen, so daß es nach allen Richtungen gedreht werden kann. Man ist deshalb auf folgende Anordnung gekommen, die durch unsere Abbildung auf Seite 222 veranschaulicht wird. Das große Rohr liegt horizontal und unbeweglich auf einer Reihe von niedrigen Steinpfeilern; vor dem Objektiv aber befindet sich ein großer völlig ebener Spiegel, der nach allen Richtungen des Himmels gewendet und der Bewegung der Gestirne entsprechend durch ein Uhrwerk gedreht werden kann. Das auf diesen Spiegel fallende Licht der Sterne wird von hier auf das Objektiv des großen Fernrohres geworfen und geht durch dasselbe hindurch bis zum Beobachter, der am anderen Ende des Rohres sich befindet. Diese Anordnung ist äußerst sinnreich und hat sich bei kleineren Fernrohren gut bewährt.

Fragen wir nun nach den Leistungen solcher Riesenteleskope, so vernehmen wir, daß das Yerkes-Teleskop Vergrößerungen bis zu 3600fach gestattet. Das heißt, auf den Mond angewandt: es zeigt diesen so genau, als er dem besten unbewaffneten Auge erscheinen würde, wenn er uns 3600 mal näher stände als in Wirklichkeit. Nun kann uns der Mond bis auf etwa 48000 Meilen nahe kommen, in jenem Fernrohre wird er sich also bestenfalls so zeigen, wie dem bloßen Auge aus 131/3 Meilen Entfernung. Das ist noch sehr weit von den Leistungen, welche dem Publikum mit dem Fernrohre der Pariser Weltausstellung verheißen werden, und nun wird jedem Verständigen klar, daß diese Verheißungen maßlos übertrieben sind! In der That ist dies in so hohem Grade der Fall, daß man dreist voraussagen darf, eine große Enttäuschung werde den meisten zu teil, welche durch das große Fernrohr der Pariser Weltausstellung den Himmel betrachten werden.

Wenn der Leser aber denken sollte, daß überhaupt die Herstellung von Riesenteleskopen der wissenschaftlichen Erkenntnis nur verhältnismäßig wenig Nutzen bringe, so würde diese Meinung völlig irrig sein. Die großen Instrumente der Gegenwart haben vielmehr unter Zuhilfenahme des Spektroskops und der Photographie unsere Kenntnisse vom Bau des Weltalls und von den Zuständen der fernen Himmelskörper in geradezu wunderbarer Weise erweitert und stellen ferner große Ergebnisse in Aussicht.




Schill und seine Offiziere.

(Zu unserer Kunstbeilage.)

„Es zog aus Berlin ein tapferer Held,
Er fübrte sechshundert Reiter ins Feld,
Sechshundert Reiter mit redlichem Mut,
Sie dürsteten alle Franzosenblut!“

So beginnt das „Lied vom Schill“, das der wackere Ernst Moritz Arndt gedichtet, und noch andere dichterische Kränze, auf deren Schleifen Namen wie Max von Schenkendorf und Friedrich August Stägemann stehen, ruhen auf Schills Sarg. Die Sänger der Befreiungskriege haben den Vorläufer und Vorkämpfer derselben gefeiert, mehr sogar als die siegreichen Marschälle, welche Hunderttausende in den Kampf führten.

Die Befreiungskriege sind ein großes welthistorisches Heldengedicht; der Zug Schills und der Seinen ist ein Trauerspiel der Geschichte, und wenn wir hier auf unserem Bilde die tapfern Jünglinge sehen, welche dem Kriegsgericht zum Opfer fielen und von den Kugeln der Franzosen vor den Thoren von Wesel erschossen wurden, so weht uns aus der Begeisterung für das Vaterland, die bei dem schönen Opfertod aus ihren Zügen spricht, bereits der Geist entgegen, der später auf den Schlachtfeldern siegreich die Adler des Cäsars daniederwarf und auf allen deutschen Bergen die Siegesfeuer entzünden konnte.

Und die Gestalt dieses wackern Offiziers, der in seinem heißen Zorn über die Fremdherrschaft zum Bruch der Disciplin und zu seiner verwegenen That verleitet wurde, taucht wieder vor uns auf.

Der vielbesungene Held jenes ruhmvollen Freischarenzugs, der allerdings mit Truppen des Königs unternommen wurde, Ferdinand von Schill, war 1776 auf dem väterlichen Gute Wilmsdorf bei Dresden geboren. Sein Vater war ein tapferer Veteran, der in österreichischen und sächsischen Diensten gestanden hatte, ehe er in die preußischen übertrat. Noch 1806, in hohem Alter, sammelte er bei dem Ausbruch des Krieges gegen Napoleon ein Korps von Förstern und Jägern, das aber durch den dirigierenden Minister der Provinz, den Grafen Hoym, wieder aufgelöst wurde. Der alte Schill ließ es sich jedoch nicht nehmen, seinen tapfern Sohn in Pommern zu besuchen, wo dieser den französischen Heerscharen zähen Widerstand leistete.

Schon früh hatte sich der junge Schill dem Waffenhandwerk zugewendet und war bei der leichten Reiterei eingetreten; später nahm ihn General Graf Kalckreuth in sein eigenes Dragonerregiment Anspach-Bayreuth auf. Doch zeigte Schill keine großen militärischen Talente; er war nach einer siebzehnjährigen Dienstzeit noch Sekondelieutenant. Ein Offizier der alten Schule, der ihm früher nähergestanden hatte, rief später, als der Ruhm des kühnen Soldaten sich in weiten Kreisen verbreitet hatte: „Ei, wer hätte das gedacht! Wie hat doch aus dem Schill noch etwas werden können, der nicht einmal verstand, einen Zug gehörig anzuführen.“

In der Schlacht von Auerstädt 1806 wurde er nach tapferer Gegenwehr schwer verwundet. Er schleppte sich nach Kolberg und nahm, dort wieder genesen, einen regen Anteil an der Verteidigung der Festung. In kurzer Zeit sammelte er in der Umgebung ein Freikorps von 1000 Mann zu Fuß und zu Pferde. Durch eine Reihe kühner Streifzüge wurde sein Name berühmt.

Nach dem Frieden zu Tilsit im Jahre 1807 wurde den Schillschen Truppen die ehrenvolle Auszeichnung zu teil, die ersten unter den vaterländischen Kriegsvölkern zu sein, welche in die Hauptstadt zurückkehren und einen Teil der Garnison derselben bilden sollten. Die ganze Bevölkerung Berlins jubelte den Einziehenden entgegen. Schill war der Held des Tages, der Liebling des Volkes; auch im Theater wurde er mit stürmischem Beifall begrüßt.

Diese Huldigungen berauschten den kühnen Reiterführer, so daß er die richtige Schätzung seiner eigenen Bedeutung und der Weltlage verlor, und sie trugen nicht wenig bei zu dem verhängnisvollen Entschluß, den er später faßte und der die kühnen Offiziere und braven Truppen dem sicheren Verderben weihte.

Als im Jahre 1809 die Oesterreicher gegen Napoleon ins Feld rückten, als in Hessen unter dem Obristen von Doerenberg aufrührerische Bewegungen das Schattenkönigtum Jérômes bedrohten, da glaubte er den Zeitpunkt gekommen, der zögernden preußischen Kabinettspolitik einen mächtigen Impuls zu geben. Er übernahm es, auf eigene Hand Napoleon den Krieg zu erklären als ein bahnbrechender Vorläufer, dem die preußische Armee nachfolgen würde; er glaubte, es bedürfte nur eines mutigen Vorgehens, um den überall angehäuften Zündstoff der nationalen Erbitterung in lichten Flammen auflodern zu lassen. Sein Feuergeist, von der einen Idee beherrscht, reich an genialen Gedankenblitzen, aber wenig geneigt zu ruhiger Erwägung der thatsächlichen Verhältnisse, hatte die gleichgesinnten Gemüter der jungen Kameraden mitentzündet, und er durfte [224] darauf rechnen, daß sie an dem bisher geheimgehaltenen Unternehmen, das er plante, sich mit Begeisterung beteiligen würden, sobald er zu ihnen das entscheidende Wort gesprochen. Und so geschah es am 28. April 1809, als das Regiment dem Anschein nach zu einem Uebungsmarsch zum Halleschen Thor hinausrückte. Auf dem Wege nach Potsdam ließ der Befehlshaber plötzlich Halt machen und hielt eine Anrede an die Truppen, worin er ihnen erklärte, die Zeit sei gekommen, um gegen den großen Thronräuber, der ihr Vaterland in Unglück und Jammer gestürzt, ins Feld zu ziehen. Die begeisterten Worte zündeten um so mehr, als der Redner im überströmenden Erguß seines Herzens eine goldgestickte Brieftasche in die Höhe hielt, welche jeder als ein früheres kostbares Geschenk der Königin Luise erkannte. Offiziere und Gemeine erklärten sich bereit zu jedem Opfer für König und Vaterland. Alle glaubten, das Regiment sei nur der Vortrab eines größeren Heeres, welches ihm auf dem Fuß folgen werde.

Der Würfel war gefallen; vergeblich versuchte das Gouvernement von Berlin durch einen Stabsoffizier, Major von Zellin, Schill zum Rückmarsch zu bewegen. Dieser beharrte bei seinem Vorsatze; der Bruch der Disciplin wurde ein vollständiger, und auch später setzte Schill den Befehlen seines Monarchen entschiedenen Widerstand entgegen. Anfangs ging alles gut, Schill rückte in Dessau ein; überall kamen die Sympathien der Bevölkerung ihm entgegen. Da trafen die Unglücksnachrichten ein, die Niederlage der Oesterreicher bei Regensburg, die Unterdrückung des Doerenbergschen Aufstandes, die Beschlagnahme der Papiere Rombergs, der als Schills westfälischer Agent mit den dortigen patriotisch gesinnten Bauern verhandelte – alles dies beschleunigte den Entschluß Schills, den westfälischen Regimentern entgegen zu rücken, um vielleicht durch einen Sieg das Volk in jenen Gegenden zum Widerstand gegen die Fremdherrschaft zu entflammen.

Bei Dodendorf kam es zum Treffen: der Sieg neigte sich den Schillschen zu; die westfälischen Truppen wurden zersprengt, ihre Geschütze erobert; doch die französischen Kompagnien behaupteten sich auf dem steilen Kirchhofberge: der Mangel an Infanterie hinderte die Erstürmung der Höhe.

Schill zog sich nun die Elbe abwärts nach Stendal. Hier und dort kamen einzelne Zuzügler; doch von einer Volksbewegung konnte nicht die Rede sein. Die Siege Napoleons über die Oesterreicher hatten die Stimmung in Norddeutschland niedergedrückt. Der schwunghafte Aufruf Schills an die Deutschen, „meine in den Ketten eines fremden Volkes schmachtenden Brüder“, welchen der Tollkühne in Dessau hatte drucken lassen, fand nur ein geringes Echo.

Von Kassel aber kam die Erwiderung: ein Dekret des Königs Jérôme, das Schill als einen Briganten bezeichnete und seine Soldaten den bewaffneten Räuberbanden gleichstellte, allen Militärkommandanten und Civilbeamten befahl, auf ihn Jagd zu machen, ihn zu verfolgen, in Verhaft zu nehmen und sich seiner und der Seinigen tot oder lebendig zu bemächtigen; auf seinen Kopf wurde ein Preis von 10000 Franken gesetzt. Was half dem Geächteten das Manifest, das er darauf an die Einwohner Westfalens richtete und in dem er sie zu den Waffen rief: nicht an der Spitze einer Räuberbande sei er erschienen, sondern an der Spitze der tapfersten und edelsten deutschen Männer, welche bereit seien, alles zu opfern, was ihnen teuer ist, um das Joch des fremden Eroberers zu zerbrechen. Deutsche Nationalehre und deutscher Sinn sollten nicht länger unterdrückt sein; nach dem großen Beispiele der Spanier und Tiroler gelte es, sich dem gemeinschaftlichen Feinde unseres deutschen Vaterlandes kräftig entgegenzustellen.

Doch die westfälischen Truppen, die den „Räuber“ Schill einfangen sollten, waren schon unterwegs. Gleichzeitig traf die ihn noch empfindlicher berührende Achtserklärung ein, die König Friedrich Wilhelm III von Königsberg aus gegen ihn erließ. Der Major von Schill und alle, die mit ihm gegangen waren, sollten einem strengen Militärgericht unterworfen werden, die Gesetze des militärischen Gehorsams nach jener unglaublichen That geschärfte Anwendung finden. Jedermann wurde aufs ernstlichste verwarnt, sich ähnlicher Vergehungen schuldig zu machen.

Diese Bekanntmachung erschien zu spät, um den Ausmarsch eines Teiles des leichten Infanteriebataillons von Schill zu hindern, das unter Führung des Leutnants von Quistorp Berlin verlassen hatte und in Arneburg an der Elbe bei den Schillschen eingetroffen war. Quistorp eroberte bald darauf die kleine mecklenburgische Festung Dömitz. Indessen erfuhr man, daß der General Gratien mit einem Korps holländischer Truppen von der Weser aus anrücke. Die kleine Feste war unhaltbar, ihre Behauptung auch unnötig, nachdem Schill mit dem Hauptkorps bis an die Ostsee nach Wismar vorgerückt war; sie wurde von den Schillschen geräumt und von den Holländern besetzt. Nach einem siegreichen Gefecht bei Damgarten, in welchem mecklenburgische Truppen geschlagen wurden, rückte Schill nach Stralsund vor, wo er die ahnungslose kleine französische Besatzung überraschte, nach kurzem Kampf überwand und einen Artilleriepark von 100 Geschützen, sowie einen Vorrat von 300 Centnern Pulver und eine Menge anderer Kriegsbedürfnisse vorfand. Schill nahm Stralsund und die Provinz im Namen ihres rechtmäßigen Herrn, des Königs von Schweden, in Besitz, stellte die von den Franzosen gesprengten Festungswerke wieder her, berief den Landsturm von der Insel Rügen ein und rüstete sich zum Widerstand gegen holländische und dänische Truppen, die als Alliierte Frankreichs gegen die Festung anrückten.

Der Heldenkampf in Stralsund gehört zu den ruhmreichsten Erinnerungen der deutschen Kriege gegen Napoleon; es war ein Verzweiflungskampf; denn so sehr auch Schill darauf trotzte, Stralsund behaupten zu können, so sehr er sich gegen den Gedanken einer Flucht nach England wehrte, wozu von den Kameraden schon einige Vorbereitungen getroffen wurden – er wußte doch, daß seine Sache verloren sei, und er wollte, wie er an den Erzherzog Karl schrieb, aus Stralsund ein Saragossa machen.

In fieberhafter Aufregung traf er alle Anordnungen; er hatte den Ungehorsam, den Zweifel, den Spott niederzuhalten, der ihm bisweilen bei den Untergebenen entgegen trat; er war wie im Rausch – und als der Feind, die Holländer und Dänen, endlich in die Stadt drangen, da setzte er sich zur Wehr wie einer jener Berserker der alten Sage, blindwütig niederhauend, was ihm in den Weg kam.

Doch er konnte den Gang des Verhängnisses nicht aufhalten. Schill hatte an dem entscheidenden Tage, am 31. Mai, die Feinde am Triebseer-Thor erwartet; daß dieselben ihren Hauptangriff auf das Knieper-Thor richten würden, überraschte ihn. Hier war offenbar die schwächste Stelle der Befestigungen, und dies mußte der Feind durch irgend eine Verräterei erfahren haben; die Verschanzungen waren hier noch nicht vollendet und die am wenigsten geübten Mannschaften aufgestellt. Trotz tapferer Gegenwehr wurde die Landwehr auf den Wällen in die Flucht geschlagen; Dänen und Holländer drangen durch das Thor, die Schillschen Truppen schlugen sich in Einzelgefechten mit ihnen.

Schill selbst sprengte nach dem Hafen zu durch die Fahrstraße, geriet ins Handgemenge und erhielt von einem dänischen Husaren einen schweren Hieb über die Stirn. Er hielt die Hand über die klaffende Wunde und wollte gerade umkehren, als er auf einige Holländer stieß, die an einer Pumpe damit beschäftigt waren, einem verwundeten Soldaten vom Schillschen Korps die Wunde abzuwaschen. Dieser gewahrte seinen Chef, rief aus: „Da ist Schill!“ – und sogleich schoß einer der Holländer dem schwerverwundeten Schill eine Kugel durch den Hinterkopf, so daß er tot vom Pferde fiel. Die Holländer rissen ihm den Verdienstorden vom Halse, plünderten ihn ganz aus und trugen den Toten auf den Altmarkt zum General Gratien. Schills Leichnam wurde nach dem Rathause gebracht und auf einer der dort befindlichen Fleischbänke niedergelegt. Mitglieder des Stadtrats, Schillsche Soldaten, auch der schwedische Offizier v. Parsenow, in dessen Hause Schill gewohnt hatte, wurden herbeigerufen, um die Leiche zu rekognoscieren. Parsenow dankte in gezierten Redensarten in französischer Sprache dem General Gratien, daß er die Stadt von diesem Räuber befreit habe; doch dieser sprang auf und rief: „Schill war kein Räuber, er war ein Held!“

In den Straßen wurde noch immer planlos gekämpft und geschossen, und es war keine leichte Arbeit, dem Kampf ein Ende zu machen und die zerstreuten Truppen zu ihren Kompagnien zu sammeln.

[225]

Orchesterprobe der Musiklehrlinge.
Nach dem Gemälde von O. Piltz.

[226] Dem allgemeinen Untergang hatte sich indes eine Abteilung der Schillschen unter Führung des Leutnants von Brünnow entzogen; es waren 150 Schillsche Husaren und 300 Mann Infanterie; die sich ihm anschlossen. Sie rückten gegen das Frankenthor an; alles, was ihnen in den Weg kam, wurde niedergehauen, die Passage durch das Frankenthor erzwungen.

Vor dem Thor nahm Brünnow Aufstellung; es befanden sich bei ihm einige zwanzig Offiziere; ein holländischer Parlamentär forderte sie zur Uebergabe auf. Brünnow erklärte, er würde sich unter keiner Bedingung ergeben; wenn man ihm nicht freien Abzug auf der Stelle mit Pferd und Waffen einräume, so werde er sich lieber bis auf den letzten Mann wehren und nach zehn Minuten zum Angriff auf Tod und Leben den Befehl erteilen. Gratien wollte sich auf den Kampf mit so entschlossenen kriegsgeübten Männern nicht einlassen, er bewilligte den verlangten Abzug und bestimmte, daß die Kavallerie auf Demmin, die Infanterie auf Greifswald marschieren solle. Ein dänischer Offizier wurde kommandiert, den Schillschen Truppen das Geleite bis zu jenen Städten zu geben. Außerdem wurde von den Schillschen Truppen noch eine Abteilung von etwa 500 Mann gerettet, die sich am 24. Mai nach Rügen eingeschifft hatte. Sie landete in Swinemünde und ergab sich General Blücher auf Gnade und Ungnade. Die Offiziere beider geretteter Abteilungen wurden vor ein preußisches Kriegsgericht gestellt und milde abgeurteilt. Der alte Blücher hatte sich ihrer angenommen; 900 Mann Infanterie und 240 Mann Kavallerie waren, wie er selbst schrieb, in seiner Verwahrung. Er habe an den König um ihre Begnadigung geschrieben, sie hätten „braff“ gethan; sowohl Offiziere wie Unteroffiziere und Gemeine seien schuldlos, da Schill ihnen gesagt, es geschehe mit königlicher Bewilligung, daß sie über die Elbe gingen.

Traurig gestaltete sich dagegen das Schicksal der Schillschen Krieger, welche in die Gewalt der Feinde geraten waren. Die gefangenen Soldaten wurden unter die französischen Galeerensklaven gesteckt. Die Offiziere schleppte man über Braunschweig und Kassel nach Thionville, von dort nach Wesel, wo sie in einer Kasematte der Citadelle eingesperrt und dann vor eine militärische Specialkommission gestellt wurden. Diese elf jungen Helden waren die Leutnants Jahn, von Keller, Gabain, von Flemming, von Keffenbrink, von Trachenberg, Albert von Wedell, Karl von Wedel! und Schmidt, sowie die zwei von Schill zu Volontäroffizieren ernannten Galle und Felgentreu. Zum Verteidiger war Jean Noel Perwez aus Lüttich ernannt worden, und er führte die Verteidigung mit Kraft und Unerschrockenheit; er hob hervor, daß die Angeklagten geglaubt hätten, Schill handelte auf Befehl des Königs, und daß die Bekanntmachung desselben, in welcher er das Schillsche Unternehmen mißbilligte, nicht zu ihrer Kenntnis gekommen sei. Der Major Schill sei kein brigand gewesen, noch weniger die Offiziere seines Regiments, die, nach den bestehenden Vorschriften, der militärischen Subordination verpflichtet gewesen seien, den Befehlen ihres Chefs Folge zu leisten; er berief sich darauf, daß man einem Teile des Schillschen Korps, welches in Stralsund gekämpft hatte, eine ehrenvolle Kapitulation zugestanden habe, die man ihnen nicht bewilligt haben würde, wenn man sie als brigands angesehen hätte. Perwez zog sich durch seine energische Verteidigung der Gefangenen den Zorn Napoleons zu; er wurde nach seiner Vaterstadt Lüttich verwiesen und dort unter polizeiliche Aufsicht gestellt. Was aber konnte die wärmste, nicht auf Trugschlüssen, sondern auf Thatsachen gestützte Verteidigung nützen, wenn das Urteil schon von Haus aus feststand? Hatte man doch schon bei Anbruch des Tages, an welchem das Urteil gesprochen werden sollte, drei Gräber für die Schlachtopfer bereit gehalten. Nach einer kurzen Beratung von einer Viertelstunde wurde bereits sämtlichen Offizieren das Todesurteil verkündet.

Man gestattete ihnen noch, an ihre Angehörigen zu schreiben. Dann wurden sie auf den Richtplatz geführt, zwei und zwei mit Stricken aneinandergekettet. Mutig schritten, wie Georg Bärsch in seinem Buche „Ferdinand von Schills Zug und Tod“ berichtet, die tapferen Jünglinge auf die Richtstatt, wo 66 Musketiere ihrer harrten; für jeden von ihnen waren sechs Kugeln bestimmt. Sie baten um nochmalige Verlesung des Todesurteils und um die Vergünstigung, daß ihnen nicht die Augen verbunden würden. Das wurde ihnen auch gestattet. Auf dem Richtplatz umarmten sie sich noch einmal und riefen: „Es lebe unser König, Preußen hoch!“ Flemming warf seine Mütze in die Höhe; 66 Musketen krachten und getroffen sanken zehn von den elf zu Boden. Nur dem einen, Albert von Wedell, war bloß der Arm zerschmettert worden. Er richtete sich auf und rief den Musketieren zu, besser auf das preußische Herz zu zielen. Da trat eine neue Sektion vor, gab Feuer, und auch Albert von Wedell sank tödlich getroffen zu Boden. Von einigen dazu kommandierten Pionieren wurden die blutigen Leichname entkleidet und in die mit Wasser gefüllten drei Gruben geworfen.

So starben die Jünglinge, deren Namen in der deutschen Ruhmeshalle aufgezeichnet bleiben. Noch wenige Jahre, und ihre Rächer waren erstanden und in der Völkerschlacht bei Leipzig wurde das Joch der blutigen Fremdherrschaft zerbrochen.

Rudolf von Gottschall.     




Heinrich Schaumberger.


Vor fünfundzwanzig Jahren, am 16. März, verstarb im Alpenkurort Davos, kaum dreißig Jahre alt, einer der liebenswürdigsten Dichter, die deutsches Volks- und Landleben mit treuem Erfassen geschildert haben, der thüringer Volksschullehrer Heinrich Schaumberger. Nur fünf Jahre waren ihm zum Schaffen vergönnt; in diesem kurzen Zeitraum sind „Vater und Sohn“, „Im Hirtenhaus“, „Zu spät“, „Fritz Reinhardt“, die „Bergheimer Musikantengeschichten“ entstanden. Als Schaumberger starb, waren seine Werke nur teilweise und nur in engeren Kreisen bekannt; Friedrich Hofmann, als er 1876 in der „Gartenlaube“ dem verstorbenen Landsmann den warmempfundenen Aufsatz „Der nordfränkische Zschokke“ widmete, war einer der ersten, die seiner Dichtung ihrem vollen Wert nach gerecht wurden. Seitdem ist die Gemeinde Schaumbergers immer mehr angewachsen, und am 16. März d. J. ist in seiner Vaterstadt Neustadt, im Herzogtum Koburg, der Grundstein zu seinem Denkmal gelegt worden, das zu Pfingsten feierlich enthüllt werden soll. Dem Komitee, das sich dort unter dem Vorsitz von Rektor Lange gebildet hat, haben sich zahlreiche Männer aus allen deutschen Gauen angeschlossen; möge der Aufruf desselben, welcher um Beiträge bittet, bei den Lesern der „Gartenlaube“ wärmste Teilnahme finden! In den Dienst des Unternehmens tritt auch eine Gedächtnisschrift, verfaßt von Dr. W. Rullmann in Graz, der das große Verdienst hat, den Dichter auf dem dornenvollen ersten Weg an die Oeffentlichkeit einst wesentlich gefördert zu haben. Dieser als Beitrag zur Enthüllungsfeier geplanten Festschrift können wir schon heute im Auszug den folgenden treuen Bericht über Schaumbergers schlichten und doch so ergreifenden Lebensgang entnehmen, welch letzterer von Hugo Möbius in einer umfangreicheren Biographie eingehend geschildert worden ist.

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In einem Dachstübchen des Schulhauses von Neustadt im Herzogtum Koburg hat Heinrich Schaumberger am 16. Dezember 1843 das Licht der Welt erblickt. Der Vater, Fritz Schaumberger, bekleidete dort die Stelle eines Kantors und Lehrers, die Mutter Margarete war die Tochter eines Grundbesitzers von Weißenbrunn vorm Walde. Der junge Heinrich war sechs Jahre alt, als sein Vater nach Weißenbrunn versetzt ward, und dies Heimatsdorf der Mutter wurde nun seine zweite Heimat und später der Schauplatz verschiedener seiner Erzählungen.

Der Knabe war zehn Jahr alt, als sein Inneres von dem ersten großen Schmerz berührt wurde. Er verlor die gute Mutter, die leider das Halsleiden, an dem sie starb, dem Sohn vererbte. Später hat Schaumberger schöne Worte gefunden, um das Glück der Kindheit zu schildern; daß auch damals schon dunkle Schatten in das sonnige Glück seiner Kinderjahre fielen, zeigen die nachfolgenden Aufzeichnungen seines Tagebuchs: „Der Vater kümmerte sich wenig um mich und die Großeltern verzogen mich. Oft wochenlang sah der Vater nicht nach mir und fragte nie, ob ich etwas lerne oder was ich sonst treibe. War er dann einmal übelgelaunt, großer Gott! wie ging mir’s! Der Vater und die Großeitern lebten nicht gut zusammen und all ihren wechselseitigen Zorn mußte ich erfahren.“

Nach seiner Konfirmation blieb der Knabe noch drei Jahre, in denen er sich häuslichen Beschäftigungen und der Arbeit auf dem Felde widmen mußte, in dem Hause des Vaters, der zum zweiten Male geheiratet hatte. Endlich ging ihm der Wunsch seines Herzens in Erfüllung: im Mai des Jahres 1861 bezog er das Seminar in Koburg, um sich dem Lehrerberufe zu widmen. Am Schlusse der Seminarzelt erteilte er einige Monate hindurch Unterricht an der Mädchenschule in Koburg; im Frühjahr 1864 bestand er das Examen und Ende desselben Jahres finden wir ihn als Lehrer in dem kleinen Orte Einberg thätig. Im Sommer 1866 machte der junge Lehrer von hier einen Ausflug nach Seidmannsdorf, um seinen Kollegen Bauer zu besuchen, und dort lernte er dessen achtzehnjähriges Töchterchen Klara kennen. Die Schönheit und der Liebreiz des jungen Mädchens machen einen tiefen Eindruck [227] auf das Gemüt des Dichters; es erwacht eine Neigung in ihm, die erwidert wird, und nachdem Schaumberger eine etwas besser bezahlte Stellung in Ahlstadt gefunden, konnte am 16. September 1866 das junge Paar die Hochzeit feiern. Leider sollte dieser Bund schon bald genug wieder gelöst werden; die Geburt eines Knaben im Februar 1868 gab der Mutter den Tod. Traurig schaute nun Schaumberger in die Zukunft. Was ihm das Leben lebenswert gemacht hatte, war ihm für immer geraubt worden. Und dasselbe Unglücksjahr, das seinen Geist so schwer niederschlug, sollte auch seinem Körper gefährlich werden: es zeigten sich die Anfänge eines Halsleidens, das ihn bis zu seinem Tode nicht mehr verlassen sollte. Der nächste Frühling bringt ihm einen neuen Schicksalsschlag: den Tod des Vaters, mit dem er in den letzten Jahren in bestem Einvernehmen gelebt hatte. Er wird der Nachfolger des Vaters in dem Weißenbrunner Lehramte, und eine bedeutungsvolle Epoche seines Lebens beginnt mit dem Tage, an dem er sein Amt in dem Heimatsdorfe der Mutter und auf der Stätte seiner Kinderjahre antritt.

Das geschah im Mai des Jahres 1869; Anfang August traf auch ein neuer Seelsorger in Weißenbrunn ein, und bald spannen sich zwischen dem Pfarrhause und dem Schulhause Beziehungen hin und her, die für Schaumberger und die Entwickelung seines Talents von größter Wichtigkeit waren. Pfarrer Bagge hatte sich bereits als Volksschriftsteller in weiteren Kreisen einen bekannten und geachteten Namen gemacht. Unter dem Pseudonym Josias Nordheim hatte er mehrere Erzählungen veröffentlicht, in denen er sich als ein humor- und gemütvoller Darsteller des Volkslebens bewährt hatte. Bagge besaß zudem eine gründliche wissenschaftliche Bildung, war ein vortrefflicher Klavierspieler, seine Zeichnungen wurden von Kennern gerühmt. Auch Schaumberger hatte sich mit Glück als Zeichner und Maler versucht; wenn er im Pfarrhause seine Violine zur Hand nahm, begleitete ihn der Freund auf dem Klavier. Vor allem aber ermutigte das Beispiel Bagges als Volksschriftsteller den poetisch gestimmten jungen Lehrer zu eigenen Versuchen und wies ihm die Richtung. Im Frühjahr 1871 ward die Freundschaft der beiden Männer noch fester geknüpft. In der Tochter des väterlichen Freundes fand Schaumberger einen Ersatz für die verlorene Lebensgefährtin und eine zweite Mutter für seinen Knaben.

Heinrich Schaumberger.

Leider fiel die Verlobung mit einer Verschlimmerung seines Leidens zusammen, die ihn zwang, die Ausübung seines Lehramts zu unterbrechen. Da beschließt er, nach Davos zu gehen; der Ort hat schon an vielen Wunder gethan, die kränker waren als er. Wenn er dann als Gesunder oder wenigstens als Genesender in die Heimat zurückkehrt, darf er hoffen, daß das Mädchen seiner Liebe unter Einwilligung der Eltern bereit sein wird, sein Schicksal mit ihm zu teilen. Am 15. Juni 1871 kommt Schaumberger in Davos an. Bald kann der Arzt eine erfreuliche Wendung zum bessern konstatieren. Dabei wirkt die Großartigkeit der Hochgebirgswelt erfrischend und belebend auf seine Seele ein. Und während er die Gegenwart genießt, denkt er der Vergangenheit nach; mit dem Entzücken über die erhabene Schönheit der Natur, die ihn umgiebt, mischt sich die Sehnsucht nach der Heimat. „Ihm ward,“ sagt sein Biograph, „die Trennung von der Heimat zum Quell der Poesie.“ Von älteren Entwürfen sind es die „Schaumburg“ und „Umsingen“, die ihn in dieser Zeit beschäftigen. Mit besonderer Hingebung widmet er sich der Arbeit an „Vater und Sohn“. Aber so sehr das poetische Schaffen gedieh – er war kein Genesener, als er Anfang April 1872 wieder in der Heimat eintraf. Dennoch fand Magdalene Bagge den Mut, ihr Schicksal an das des Leidenden zu knüpfen. In ihrer Seele lebte ein großer kühner Gedanke: das Leben des über alles geliebten Mannes dem Tode abzuringen.

Am 26. Mai 1872 schlossen Heinrich und Magdalene den Bund fürs Leben. Sie ahnten beide nicht, wie kurz die Spanne Zeit von der Vorsehung bemessen war, für die sie vereinigt bleiben sollten. Von ärztlicher Seite hatte man Schaumberger die tröstliche Aussicht eröffnet, daß er bei längerem Aufenthalt in Davos doch genesen werde. Seine dichterischen Leistungen hatten Beachtung gefunden und er konnte daran denken, sich eine Existenz als Schriftsteller zu gründen. Am 10. August reiste das junge Paar nach dem Süden ab. Vier Tage darauf kam es in Davos an, wo man im sogenannten Schlößchen ein kleines Logis mietete. In diesen Räumen hat der arme Schaumberger anderthalb Jahre hindurch ein Martyrium durchlebt, das nur durch die aufopfernde Liebe seines Weibes und die Freude über seine ersten litterarischen Erfolge gelindert wurde. Der plötzliche Tod des Pfarrers Bagge verdüsterte dies Schicksal noch. Das eigene Leiden mit schweigender Geduld zu tragen, hatte Schaumberger längst gelernt; der Schmerz seiner Magdalene um den Vater, der ihm selber der treueste Freund gewesen war, drückte ihn ganz danieder. In dieser Stimmung schrieb er am „Fritz Reinhardt,“ dem „Roman eines Dorfschullehrers“, seinem reifsten Werk. Noch konnte er am 15. März 1874 die Nachricht empfangen, daß auch dieser Roman einen Verleger gefunden habe. In der Morgenfrühe des folgenden Tages bat der Sterbende, man möge den Fensterladen öffnen, damit er das Tageslicht noch einmal erkennen könne. Es geschah, und noch einmal fiel der Blick des Dichters auf die vom Frührot überglänzten Riesen des Hochgebirges.

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Längst liegt die Ernte dieses kurzen Dichterlebens in einer stattlichen Gesamtausgabe in neun Bänden vor, welche ein zehnter mit H. Möbius’ Biographie ergänzt. Sehr verdient um den Erfolg der Schriften Schaumbergers hat sich sein Verleaer Julius Zwißler in Wolfenbüttel gemacht. Ihm ist auch das schöne Denkmal zu danken, das dem Genius des Dichters vor drei Jahren in der Illustrierten Ausgabe seiner Werke, mit den Bildern von Rud. Koeselitz, erstand. Schaumbergers Witwe, die ihres Gatten einziges Kind in treuer Pflege heranzog, bis auch dieses einem frühen Tode verfiel, lebt, dem Kultus der Erinnerung hingegeben, in Dresden, wo sie ein Pensionat leitet.



Blätter und Blüten.



Die Beisetzung des Fürsten und der Fürstin Bismarck. (Zu dem Bilde S. 200 u. 201.) Am 16. März, dem gleichen Tage, an welchem vor 11 Jahren Kaiser Wilhelms I entseelte Hülle im Mausoleum zu Charlottenburg ihre bleibende Stätte fand, wurden auch des großen Kanzlers sterbliche Ueberreste an die Stelle verbracht, welche der Gewaltige sich einst selbst zur dauernden Rast ersehen hatte und an der sich nun das prunklose ernste Mausoleum erhebt, dessen Ansicht wir unseren Lesern auf Seite 99 dieses Jahrgangs vor Augen geführt haben. Am Tage vorher war die Leiche der Fürstin in Friedrichsruh von Varzin eingetroffen und in einem kleinen vor dem Arbeitsgemach des Fürsten gelegenen mit einfachen Trauerdekorationen ausgestatteten Zimmer des Schlosses hatte man dann ihren Sarg und den des Fürsten aufgebahrt. Hierher ward nach seiner Ankunft ½12 Uhr mittags am Beisetzungstage Kaiser Wilhelm II, nachdem er die anwesenden Mitglieder der Familie Bismarck begrüßt hatte, von dem Fürsten Herbert und dem Grafen Wilhelm geführt, und in stummem Gebet verweilte er tief ergriffen am Sarge des ersten Kanzlers. Dann wurden die mit Kränzen reich geschmückten beiden Särge in den Schloßhof getragen, wo die aufgestellte Ehrenkompagnie vom 2. Hanseatischen Infanterieregiment Nr. 76 präsentierte und die Regimentskapelle den Choral „Jesus meine Zuversicht“ anstimmte. Jetzt setzte sich der Trauerzug in Bewegung. Eröffnet wurde er von den Trommlern und der Musikkapelle des 76. Infanterieregiments, dahinter schritten zwei Geistliche, dann folgte der Sarg der Fürstin, abwechselnd von Förstern und von den in altspanische Tracht gekleideten Mitgliedern des Hamburger St. Anscharvereins getragen, sodann mit der Fürstenkrone aus Lorbeer zu Häupten der Sarg des Fürsten, den Unteroffiziere der Halberstädter Kürassiere und Mitglieder des Anscharvereins trugen. Unmittelbar hinter dem Sarge des Fürsten schritt der Kaiser in der Uniform des Halberstädter Regiments, ihm zur Linken Fürst Herbert Bismarck in Generalsuniform, hinter ihnen Graf Wilhelm mit Frau von Arnim, Gräfin Wilhelm Bismarck mit ihren Töchtern, Graf Rantzau mit seinen Söhnen, Graf Waldersee und das Gefolge des Kaisers. Die Fürstin Herbert Bismarck und die Gräfin Rantzau waren durch Krankheit an der Teilnahme verhindert.

Auf dem Wege vom Schlosse zum Mausoleum hatten die lauenburgischen Kriegervereine, die Ratzeburger Primaner und die Mitglieder des Hamburger Reichstagswahlvereins mit brennenden Fackeln in den Händen Spalier gebildet. In langsamem, feierlichem Schritt bewegte sich der Zug unter den Klängen des Beethovenschen Trauermarsches die Anhöhe jenseit der Bahn hinauf nach dem Mausoleum, dessen vergoldetes Kreuz von der Kuppel des stattlichen Turmes weit in das Land hinein leuchtet. Vor dem Eingange machte der Zug Halt. Die Särge wurden in die Kapelle getragen und das Trauergefolge gruppierte sich vor dem Mausoleum, wie es der Maler unseres Bildes lebensgetreu dargestellt hat. Vor dem Altar wurden die Särge niedergestellt, und der kleine Zug der ihnen Folgenden nahm im Mittelraum des Mausoleums Platz. Der [228] stimmungsvolle und einfache Trauerakt begann mit gemeinsamem Gesang: „Nun wir uns allhier beisammen finden!“, dem Lieblingschoral der verewigten Fürstin; darauf hielt Pastor Westphal aus Brunstorf die Trauerrede, welcher der Text Offenb. Joh. Kap. 14 Vers 13 zu Grunde lag: „Und ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.“ Zum Schluß gab die draußen aufgestellte Ehrenkompagnie drei Salven ab.

Die Zahl derer, denen es vergönnt war, dem Eisernen Kanzler das letzte Ehrengeleit zu geben, war nur klein, aber Millionen treugesinnter Deutscher haben an diesem Tage in inniger Verehrung des großen Toten gedacht und Millionen werden in Zukunft hinpilgern zu jener Stätte, wo unter den Wipfeln des Sachsenwaldes der Gründer des neuen Deutschen Reiches zum ewigen Schlummer gebettet ist.


Schreibtafel für Erblindete. Die Fälle, daß in späteren Lebensjahren durch Krankheit oder Unglücksfälle das Augenlicht verloren geht, sind nicht selten. Um solchen Unglücklichen die Möglichkeit zu verschaffen, ihre Korrespondenz nach wie vor selbst zu führen, hat man verschiedene, sinnreiche Apparate ausgedacht, die aber meist für die Praxis zu kompliziert oder zu teuer sind. Einen ganz neuen, leicht zu erlernenden haltbaren Apparat hat jetzt Richard Hamann zu Berlin, Stephanstraße 6 wohnhaft, konstruiert, der selbst im besten Mannesalter erblindet ist. Der Apparat besteht aus einer schwarz polierten, rechteckigen Weichholzplatte, an welche sich oben mit zwei Messingscharnieren eine 15linige Zinkplatte anlehnt, die gewissermaßen den Linienbogen für den Nlchtsehenden bildet. An dem linken Rande der Zinkplatte befindet sich außerdem eine Zeigervorrichtung, die dem Betreffenden ferner ganz genau die Zeile oder Stelle anzeigt, an welcher er infolge einer etwaigen Abhaltung beim Schreiben stehengeblieben ist. Zum Schreiben bedient man sich eines unliniierten Briefbogens, welcher auf die als Schreibunterlage dienende Holzplatte gelegt resp. eingeschaltet wird, und eines Tintenkopierstiftes, zu dessen Aufbewahrung sich an der Tafel noch eine Lederhülse befindet.


Sicilianisches Gefährt. (Zu dem Bilde S. 197.) In dem eigenartig bemalten Karren unseres Bildes bringen wir eine Eigentümlichkeit Siciliens, die man sonst nirgends findet. Es handelt sich nicht etwa um ein ausnahmsweise ausgeschmücktes Gefährt, sondern die zweirädrigen Lastkarren sind in Sicilien sämtlich derartig mit bunten Malereien verziert.

Der einachsige Karren ist eigentlich das einzige Beförderungsmittel in den meisten Gegenden Siciliens, die nicht von der Bahn berührt werden oder wegen starken Fremdenverkehrs auch außerhalb der großen Städte einen oder den andern vierrädrigen Mietswagen besitzen. Der bunte Karren dient aber nur als Lastwagen, Personen reisen auf dem Esel oder Maultier reitend. So arm die Bevölkerung Siciliens in vielen Gegenden der Insel auch ist, auf die Ausschmückung ihrer Fahrzeuge und Lasttiere hält sie viel.

Die Bauart der Karren ist auf der ganzen Insel fast die gleiche. Auf der Achse zwischen den beiden Rädern sitzt vermittels eines ziemlich hohen, oft reich geschnitzten Aufbaues ein rechteckiger Kasten, dessen Seitenwände aus abnehmbaren bemalten Brettern bestehen. Häufig ist auch das Brett an der Rückwand des Karrens in gleicher Weise geschmückt.

Das Merkwürdige an den sicilianischen Karren ist, daß diese Bemalung nicht etwa eine gewöhnliche dekorative in Gestalt von Blumen, Arabesken etc. ist, sondern Darstellungen ganzer Scenen, namentlich aus der biblischen Geschichte, bietet. Fast ausnahmslos zeigt jeder Karren vier Bilder an den Seitenwänden, deren jede in zwei Hälften geteilt ist. Die vier Darstellungen behandeln dann meist denselben Gegenstand. So zeigt der Karren unseres Bildes – wie durch Unterschrift bemerkt – die Geschichte der Esther. Uebrigens finden sich mitunter auch profane Darstellungen, Ritterschlachten etc. In künstlerischer Beziehung stehen die Darstellungen natürlich auf keiner hohen Stufe. Auch bleicht die sicilianische Sonne und Sciroccostaub die Farben bald, mit denen bei der Anfertigung der Bilder nicht gespart wird und deren Zusammenstellung häufig nicht sehr harmonisch ist.

Die Bemalungen zeigen übrigens niemals moderne Sujets. Die Darstellungen aus der biblischen Geschichte sind dadurch ausgezeichnet, daß die Personen auf ihnen stets in orientalischer oder arabischer Tracht erscheinen. Wie in so vielen Dingen in Sicilien, selbst in manchen Dialekten der Insel, haben wir hier auch wohl eine Reminiscenz an die ehemalige arabische Herrschaft. Außer den Hauptbildern zeigen die sicilianischen Karren noch eine ganze Menge von ornamentalen Verzierungen, die sich bei reich geschmückten Karren selbst bis auf die Deichsel und die Speichen der Räder erstrecken. Der Radkranz ist stets bemalt oder geschnitzt. Unser Bild zeigt einen etwas einfacheren Karren, bei dem Deichsel und Radspeichen glatt sind.

Große Sorgfalt wird ebenfalls auf die Ausschmückung der Lasttiere verwandt. Das weiße Maultier vor dem Karren unseres Bildes hat Sonntagsstaat angelegt, und die hohen Aufbauten von roter Wolle und Hahnenfedern werden wochentags heruntergenommen. Dem Lasttier ist der Wochentag sicher lieber, denn der Feiertagsputz ist nicht gerade bequem, der Lenker, ein echter sicilianischer „Ragazzo“, aber ist desto stolzer auf seinen Mulo.Dr. J. S.     

Frühlingsmelodien.
Nach einer Originalzeichnung von F. Reiß.


Orchesterprobe. (Zu dem Bilde S. 225.) Wollte man einen großen Musiker viele und schwere Sünden abbüßen lassen, so müßte man ihn an die Stelle des rundlichen Herrn auf unserm Bilde stellen, dem die entsetzliche Aufgabe zufiel, ein Dutzend Musiklehrlinge zum Orchesterzusammenspiel abzurichten. Verwöhnt ist er nicht, denn das Schicksal hat ihn tüchtig herumgestoßen, bis er hier an der kleinen „Schmiere“ ein Unterkommen fand, und „Nerven“, wie seine berühmten Kollegen, hat er auch nicht. Aber dennoch wird ihm manchmal schwül bei den Schauertönen, welche diese jungen Ungeheuer ihren Instrumenten entlocken, bei den überzähligen Taktteilen und den herumhinkenden Einsätzen, die auf eigene Faust da und dort den Anschluß suchen, uneingedenk des Taktstockes und des Meisters, der ihn energisch, aber fruchtlos schwingt! – Gut, daß wir nur das Bild zu betrachten haben und nicht zugleich hören müssen, was den schwierigen Blick des Vielgeprüften veranlaßt und die kurzen Haare auf seinem Haupte sichtlich in die Höhe sträubt. Bn.     

Kraftleistungen einzelner Insekten. Ueber die Kräfte einzelner Insekten hat ein amerikanischer Gelehrter interessante Untersuchungen angestellt, aus denen hervorgeht, daß sie im Verhältnis viel größer sind als die unseren, ja selbst als die unserer großen Raubtiere.

Von letzteren wissen wir, daß ein Löwe oder Tiger zum Beispiel imstande ist, mit einem Rinde im Rachen einen mannshohen Zaun zu überspringen, und das will etwas heißen. Was will das aber sagen dagegen, daß ein Hirschkäfer von 51/2 cm Länge und einem Gewicht von noch nicht 2 g ein Gewicht von 84 g, also mehr als das Vierzigfache seines Eigengewichts, mehrere Centimeter weit zu ziehen imstande war? Hierbei hat das Tier Muskelkräfte entwickelt, welche den unseren mehr als zehnfach überlegen sind.


Geheimmittel. Die nachstehend verzeichneten Mittel werden teils wegen ihrer Wirkungslosigkeit, teils wegen der schwindelhaften Art ihrer Anpreisung und ihres Vertriebs gemäß einer württembergischen Ministerialverfügung vom 26. Juli 1898 dem Verbot der öffentlichen Ankündigung ohne Rücksicht darauf unterstellt, ob ihre Zusammensetzung bekannt gegeben ist oder nicht: „Antirheumatischer und antiarthritischer Blutreinigungsthee“ von Franz Wilhelm, Apotheker in Neunkirchen, Niederösterreich, „Bandwurmmittel“ von Th. Konetzky in Säckingen, Baden, „Bruchheilmittel“ von Joh. Wöhrle in Langenargen, „Dentila“ von Geo Dötzer in Frankfurt a. M., „Glandulen“ von Dr. Hofmann Nachfolger in Meerane i. S., „Hämaton“ von Apotheker Haitzema in Amsterdam, „Herba polygonum (Knöterich)“ von Emil Gördel in Kolberg, „Kräuterthee, Russischer Knöterich (Polygonum avic.)“ von Ernst Weidemann in Liebenburg a. Harz, „Dr. R. Schiffmanns Asthma-Pulver“ vermittelt von G. L. Daube u. Cie. in Berlin, „M. Schützes Universalheilsalbe“ und „M. Schützes Blutreinigungspulver“ von Eduard Wildt in Köstritz, Reuß, „Volta-Kreuz, Elektro-Volta-Kreuz, Volta-Stern“, „Warners safe cure“.


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen obne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

R. W. in Düsseldorf. Als ein sehr praktisches Buch nennen wir Ihnen das in 6. Auflage erschienene Werk von A. Dreger „Die Berufswahl im Staatsdienste“ (Dresden und Leipzig, C. A. Koch’s Verlagsbuchhandlung), in welchem Sie genaue Auskunft über Anstellung und Beförderung in sämtlichen Zweigen des Reichs- und Staats-, des Militär- und Marinedienstes finden.

A. W. Salzburg. Die Artikel „Von der hansischen Flanderfahrt“ von Karl Braun-Wiesbaden, mit Illustrationen von H. Schlittgen, sind im Jahrgang 1884 der „Gartenlaube“ erschienen.

Alter Abonnent in Chicago. Sie meinen, „Dichten“ hänge mit „dicht“ zusammen, so daß unter dem Dichter einer zu verstehen wäre, welcher Vorstellungen dicht macht, verdichtet; das ist ein Irrtum. Nach dem vortrefflichen „Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Professor Fr. Kluge hieß dichten im Mittelhochdeutschen tihten und hatte dort die Bedeutung von „schreiben, schriftlich abfassen“, wie auch von „dichten, erfinden, ersinnen“. Die neuhochdeutsche Bedeutung ist sehr specialisiert gegenüber der Fülle der Bedeutungen im Mittelhochdeutschen. Kluge schreibt darüber: Noch im 16. und 17. Jahrhundert hatte Dichter (mhd. tihtaere) die allgemeine Bedeutung „Verfasser, Autor“ und bezeichnete den Prosaiker wie den Poeten. Der Ursprung von dichten (althochdeutsch: tihtón, schreiben, verfassen) aus dem lateinischen dictare, „zum Nachschreiben diktieren“, spätlateinisch auch „verfassen“, kann die Aenderung von tichten in dichten begünstigt haben. – „Dicht“ hatte schon im Mittelhochdeutschen ein d am Anfang (dihte). Von Kluges Etymologischem Wörterbuch, das wir Ihnen für ähnliche Feststellungen bestens empfehlen, ist soeben die 6. verbesserte und vermehrte Auflage erschienen (Straßburg, Karl J. Trübner).


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[228 a]
Allerlei Winke für jung und alt.



Die Notenstütze, eine Unterlage aus Karton, um einzelne Blätter, ungebundene Musikalien etc. gut und sicher auf das Pianino zu stellen, wurde schon mehrfach als praktische Erfindung empfohlen; eine neue Form für dieselbe ist folgende: das Kartonblatt wird wie ein Bucheinband in zwei Hälften geteilt, die man durch einen schmalen Rücken verbindet. Ausgeschlagen dient es als Unterlage, zugeklappt zum Verwahren und Transportieren einzelner Blätter. Zu verzieren ist es auf die verschiedenste Weise. Unsere Zeichnung


Notenstütze.


eignet sich für Malerei oder Stickerei aus Seide; der Grund ist bläulichgrau, die Türkenbundlilien sind von einem seinen Orangerot, mit braunvioletten Punkten nach innen, die Blätter in zwei Tönen von Blaugrün, Rücken und Ecken von rotbraunem Leder. Die Rückseite wird mit goldbedrucktem Brokatpapier ausgestattet. Doch läßt sich der Gegenstand auch recht hübsch in einfacherem Material, Brandmalern auf Lederpappe etc., ausführen. Einige Kenntnis der Buchbinderkunst ist für diese Art von Arbeiten recht vorteilhaft.

J.



Thüringer Baumlederarbeiten. Auf manchen Bäumen, namentlich den Weiden, wuchert ein lederartig aussehender Pilz, der sich infolge seiner unbedingten Haltbarkeit, Zähigkeit und sammetartigen Weichheit vorzüglich zum Bekleben resp. Ueberziehen von allerhand Gegenständen aus Holz oder Pappe eignet. Man kauft diesen Pilz in unregelmäßigen kleineren und oft sehr großen Stücken in getrocknetem Zustand in jeder Drogenhandlung, wo er unter dem Namen unechter Feuerschwamm (Boletus oder Polyporus igniarius) bekannt ist. Selbstverständlich wähle man sich nur gute, tadellose Stücke aus und sehe auch darauf, möglichst solche von gleicher Farbe zu bekommen. Letztere wechselt zwischen Hell- und Tiefdunkelbraun, so daß sich aus Hell und Dunkel ganz hübsche Muster zusammensetzen lassen, doch müssen eben dann die Zwischennuancen vermieden werden. Am besten verfährt man so wie bei Leder- oder Sammetmosaiken, d. h. man zieht zunächst die einzelnen Stücke mit dünnem Leim oder Kleister auf festes Papier auf und streicht dabei das Baumleder von der Mitte der nach allen Seiten aus, wodurch ein späteres Verziehen unmöglich gemacht wird. Nun überträgt man die Vorzeichnung auf die Rückseite, also das aufgeklebte Papier, und schneidet danach die einzelnen Formen mit der Schere heraus. Diese Formen haben einesteils aus der eigentlichen Musterung zu bestehen, großen Ornamenten, Blumen, Randleisten etc., andernteils aus dem Fond oder Zwischengrund, in welchen die Muster wechselseitig – genau wie bei Intarsien – eingelegt werden. Alles muß natürlich gut zusammenpassen, die Konturen dürfen weder lückenhaft noch faltig erscheinen. Das Aufkleben auf die Gegenstände geschieht mit Leim, welcher auf die Papierseite der Formen gestrichen wird. Eine mäßige Beschwerung bis zum Antrocknen ist gestattet, größerer Druck aber zu vermeiden. Buch- und Mappendecken, Kästen, Löscher, Wandtaschen, Rahmen, Säulen, Pflanzenkübel u. a. m. sehen auf diese Weise sehr apart und schön aus. In Thüringen werden solche Sachen jetzt massenhaft hergestellt. Man verziert sie hier aber noch mit Ziernägeln und Kupferbeschlägen aller Art, wodurch sich die Gegenstände viel effektvoller ausnehmen.



Rahmen für Fahrpläne. In manchen Häusern hängt der Eisenbahnfahrplan, oder der Plan für die Straßenbahnen im Hausflur an der Wand. Dies ist recht praktisch, sieht aber nicht hübsch aus. Um dabei einen gefälligeren Eindruck zu erzielen, ließ ich mir vom Tischler ein einfaches Brett machen, rund herum mit einer 5 cm breiten Leiste; die verzierte ich mit Kerbschnitt, man kann den Rand auch brennen. Auf dieses Brett habe ich den Fahrplan mit Heftzwecken befestigt, und das Ganze bildet nun einen Schmuck meines Vorplatzes. Die Größe des Brettes oder Rahmens richtet sich nach dem Fahrplan.



Kammdecke. Zum Auflegen der Kämme beim Frisieren bestimmt, wird die Decke 28 zu 38 cm

Kammdecke.

groß aus feinem Linnen oder einem hübschen Baumwollstoff gefertigt; Eckstücke, mit farbigem Garn in Kreuz- oder Stielstich ausgeführt, bilden die zierliche Ausstattung, ein Hohlsaum oder ein Spitzchen schließen den Außenrand ab.



Neuer Sammelsport. Der Sammelsport illustrierter Postkarten steht im Zenit, ja vielen, die ihm gehuldigt, bietet er keinen Reiz mehr. Zur Abwechselung könnte nun mit dem Sammeln von Tischkarten begonnen werden. Letztere sind oft ebenso künstlerisch ausgestattet wie die Postkarten, sie lassen sich ebenso in elegante Sammelalbums

Sammelbuch für Tischkarten.

einreihen und auch mit Unterschriften, zum Beispiel denen des Tischherrn und der Zunächstsitzenden, versehen. Wie wäre es? – Der Entwurf zu einem Sammelbuch für Tischkarten, Gouachemalerei auf feinem Leder, ist als Ideenanreger in obenstehender Abbildung dargestellt.

H. R.



Drahtkörbchen für Gebäck. Praktischer als flache Schalen und Teller ist zur Aufnahme von Gebäck ein Drahtkörbchen, das sich zierlich darstellt, wenn man es mit buntem Stoff überspannt oder mit einfarbigem Zeug, welches man mit Zierstreifen zusammensetzt, überzieht. Die Drahtkörbchen mit Henkel kauft man spottbillig in verschiedenen Größen in Küchengeschäften. Man bezieht den Korb sowohl innen wie außen und schneidet für die Innenseite am besten aus Rohleinen einen Bezug in Kreisschnitt. Den inneren Bezug stellt man einfach aus japanisch gemustertem Musselin oder aus einfarbigem Leinenstoff her, den man mit beliebig bestickten Zierstreifen besetzt, die unten am Boden zusammentreffen. Oben werden beide Bezüge mit einer Schnürborte versehen, die man durch ein Köpfchen oben am Bezuge deckt. Man zieht eine Schnur durch den Zugsaum und setzt zu beiden Seiten des Körbchens eine zur Stickerei oder zum Stoff passende Bandschleife. Der Henkel wird mit farbigem Seidenband umwunden. Der hübsche Bezug läßt sich leicht reinigen, so daß das Körbchen immer schmuck und sauber aussieht.

H.





Hauswirtschaftliches.



Gestrickte Besenhüllen sind beim Abstauben von Wänden und Plafonds recht nützlich; sie umschrießen sicher und sauber den eingesteckten Besen und gestatten ein kräftiges Abreiben. Zu ihrer Herstellung strickt man aus stärkstem Baumwollgarn in hin- und zurückgehenden Touren ein flaches Stück von 60 cm Breite zu 50 cm Höhe, legt dieses zur Hälfte seiner Höhe zusammen und schließt die aufeinander liegenden Außenränder durch feste Häkelmaschen, wobei jedoch in der oberern Mitte ein 23 cm langer Schlitz zum Einstecken des Besens bleibt. Diesen Schlitzrand behäkelt man mit einer durchbrochenen Stäbchentour (1 St., 2 L.), zum Durchleiten einer Luftmaschenschnur, und kleinen Picotzäckchen. Natürlich genügt es, den Bezug in hin- und zurückgehenden Touren stets nur glatt rechts zu stricken; hübscher sieht aber eine Musterung aus, vorzüglich wenn man ein Geschenk mit solchen Hüllen machen will. Schnell fördernd herzustellen sind folgende Muster für Rand und Fond, wie die kleine Abbildung sie zeigt; man schlägt für die Breite des Bezuges 120 Maschen aus und strickt hin- und zurückgehend zunächst einen 24 Touren hohen Rand aus je 4 Maschen breiten und 4 Touren hohen Würfeln, die in Rechts- und Linksmaschen wechseln und zu versetzen sind. Nach der 24. Tour setzt das Würfelmuster sich in 16 Maschen Breite nur als Seitenränder fort und wird nach innen je von drei sich auf der reckten Seite der Arbeit nur rechts markierenden Maschen begleitet. Mit diesen harmonieren vier sich ebenfalls rechts markierende Touren, nach denen für den Fond ein schräges Streifenmuster beginnt. Es besteht aus abwechselnd 2 Links- und 2 Rechtsmaschen, die in jeder Tour, aber stets nach der gleichen Richtung, um eine Masche weiter rücken. Der Fond zählt 96 Touren Höhe, dann wiederholt man die vier sich rechts markierenden Touren, und den Würfelrand wie zu Anfang.


Gestrickte Besenhülle.




Einfache kalte Gerichte für den Theetisch. Die folgenden Vorschriften geben meist treffliche Restverwendungen von Fleisch- und Fischüberbleibseln, welche rasch und einfach herzustellen und dabei sehr wohlschmeckend sind, so daß man sie selbst Gästen, welche das Abendbrot mit uns teilen, darbieten kann.

Weiße Kalbsbratenspeise. Kalbsbratenreste sowie hartgekochte geschälte Eier werden in Scheiben geschnitten und eingemachte Essiggurken würflig zerteilt. Man richtet Braten und Eierscheiben schichtweise in Kranzform an, bestreut jede Schicht mit Gurkenwürfeln und Perlzwiebeln. Man verquirlt dicke saure Sahne mit etwas Essig, Salz, Pfeffer und einer Prise Zucker, gießt sie über das Gericht und bestreut die Oberfläche entweder mit gehacktem Schnittlauch oder Kresse.

Käse in Aspik. Ein Rest seinen Käses, am besten Roquefort oder Chester, wird durch ein Sieb gestrichen, mit der gleichen Menge weich gerührter Butter vermengt und mit wenig Paprika gewürzt. Die Käsemasse wird ½ dick auf ein Blech gestrichen und dann zu runden Törtchen von der Größe eines Zweimarkstückes ausgestochen. Vorher hat man rasch aus guter Bouillon aus Liebigs Fleischextrakt, Citronensaft, Wein, etwas Kräuteressenz, Salz und weißer Gelatine eine klare Sulz hergestellt, die man so weit abkühlen läßt, daß sie anfängt zu erstarren. Dann zieht man die Käsestücke durch die Sulz, gießt eine dünne Schicht der Sulz in eine kleine glatte Form, legt den Käse ein und füllt die andere Sulz darüber. Man stellt die Schüssel kühl, stürzt den Käse beim Anrichten, garniert ihn mit Radieschenröschen und giebt mit Butter bestrichene Pumpernickelscheiben dazu.

Häckselbrötchen. Reste von Wildbraten und gekochtem Schinken zu gleichen Teilen wiegt man sehr fein. Man schneidet dann gleichmäßige Brotscheiben, röstet sie, bestreicht sie gut mit Butter und streicht dann von der gehackten Masse dick auf. In die Mitte legt man ein halbes gekochtes hartes Ei, bestreut dies mit Salz, Pfeffer und wenig gewiegter Petersilie, bedeckt es mit dicker Rémouladensauce und richtet die Brötchen zierlich an.

Hr.
[228 b]
Allerlei Kurzweil.

Scherzrätsel.

Ein Klostervorstand schließt sich ein;
Wie so kann das wohl Absicht sein?   E. S.


Charade (viersilbig).

Was man in 1 und 2 erkennt,
Mit Recht man launenvoll benennt.

Auf 3 und 4 versteht fürwahr
Sich wohl ein jedes Liebespaar.

Dem ersten und dem zweiten Wort
Nimm je das letzte Zeichen fort,

Dann zeigt, fügst du 1, 2, 3, 4
Zusammen, eine Frucht sich dir.


Kettenrätsel.

a ba be bee det fa fel fich he kas ker la la ma mes mi na ne

ne pa ra re rif si ta tau te tel ti tur.

Aus diesen 30 Silben ist eine Kette von 10 viersilbigen Wörtern zu bilden, bei denen die Endsilbe des vorangehenden Wortes mit der Anfangssilbe des folgenden übereinstimmt. 10 Silben müssen also je zweimal benutzt werden. Die Wörter bezeichnen 1. einen nordamerikanischen Staat, 2. einen Berg in den Pyrenäen, 3. einen Berg in den Sudeten, 4. eine der Kanarischen Inseln, 5. einen Glaubensschwärmer, 6. eine Farbstoff enthaltende Frucht, 7. einen Ausdruck für „Ausbesserung“, 8. einen Vogel, 9. einen Vogel, 10. ein Buch der Bibel. A. St.     


Rätsel.

Was in der Einzahl nie erfreut
Denjenigen, dem’s zuerkannt,
Erholung in der Mehrzahl beut
Im Sommer dir’s als Inselland.
 Oscar Leede.


Auflösung des Rösselsprungs auf dem Umschlag von Halbheft 6.

     Der Vogel singt
Und sragt nicht, wer ihm lauscht;
     Die Quelle rinnt
Und fragt nicht, wem sie rauscht;
     Die Blume blüht
Und fragt nicht, wer sie pflückt:
     O sorge, Herz,
Daß gleiches Thun dir glückt.
 Julius Sturm.


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 6.

Genthin (Gent – hin)

Auflösung der Charade auf dem Umschlag von Halbheft 6.

Ostern.

Auflösung des Bilderrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 6.

Blumen sind Grüße der Natur.

Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.




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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.