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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[388 c]

13. Heft. Preis 10 cents. 29. Juni 1898.

Max Weil & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[388 d]

Inhalt.
Seite
Die arme Kleine. Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach (6. Fortsetzung) 389
Der „Brutus“ der Mediceer. Von Isolde Kurz. Mit Abbildungen (Anfang) 392
Aus der Wiener Jubiläumsausstellung. Von Vincenz Chiavacci. Mit Illustrationen von Joh. Nep. Geller 397
Antons Erben. Roman von W. Heimburg (12. Fortsetzung) 399
Der Einzug des Reichserwesers in Frankfurt a. M. Mit Abbildung 410
Die Erforschung des Südpols. Von Prof. Dr. Sophus Ruge 410
Berühmte Ausgerottete. Von Dr. W. Haacke. Mit Abbildungen von A. Specht 414
Blätter und Blüten: William Ewart Gladstone †. (Mit den Abbildungen S. 413 und S. 417.) S. 417. – Rudolf Koller. (Mit Bildnis.) S. 418. – Das alte Rathaus zu Dortmund. (Mit Abbildung.) S. 418. – Das Wartburgfest von 1848. (Mit Abbildung.) S. 419. – Zuflucht im Walde. (Zu dem Bilde S. 393.) S. 420. – Kohlenvorrat der Erde. S. 420. – Die erste Einladung. (Zu dem Bilde S. 408 und 409.) S. 420. – Herzblättchen. (Mit Abbildung.) S. 420.
Illustrationen: Ein Riesenstrauß. Von J. Cavé. S. 389. – Abbildungen zu dem Artikel „Der ‚Brutus‘ der Mediceer“. Initiale. S. 392. Herzog Alessandro von Florenz. Von A. Bronzino. S. 396. – Zuflucht im Walde. Von R. Mahn. S. 393. – Abbildungen zu dem Artikel „Aus der Wiener Jubiläumsausstellung“. Von Joh. Nep. Geller. Pavillon der bosnischen Landesregierung. Wohlfahrtspavillon. Pavillon der Stadt Wien. S. 397. Gebäude des Uraniatheaters. Gebäude der Bäckereigenossenschaft. Pavillon des Brauherrenvereins. S. 398. Jugendhalle. „Urania.“ Brauherrenverein. Bäckereiausstellung. Avenue der Ernährung. Fesselballon. Bosnische Ausstellung. Rotunde. Pavillon der Stadt Wien. S. 400 und 401. – Der Einzug des Reichsverwesers in Frankfurt a. M. Von Fritz Bergen. S. 405. – Die erste Einladung. Von E. Brack. S. 408 und 409. – Abbildungen zu dem Artikel „Berühmte Ausgerottete“. Von A. Specht. Der Dodo. S. 415. Stellers Seekuh. Der Riesenalk. S. 416. – In der „Staatsmännerecke“ der Westminsterabtei zu London. Gladstones Grabstätte. S. 413. William Ewart Gladstone †.

Gladstones Leichenbegängnis. S. 417. – Rudolf Koller. S. 418. – Das alte Rathaus zu Dortmund. S. 418. – Das Wartburgfest im Jahre 1848. Von Fritz Bergen. S. 419. – Herzblättchen. Von Hans Knoechl. S. 420.


Hierzu Kunstbeilage XIII:0 „Sommerrosen“. 0Von F. M. Skipworth.




Kleine Mitteilungen.


Eine teure Fahrt durch den Suezkanal. Das größte Schiff, welches bis jetzt den Suezkanal passiert hat, dürfte der gewaltige russische Panzerkreuzer „Rossia“ von 146 m Länge und 12 000 t Deplacement gewesen sein. Auf der Fahrt nach den chinesischen Gewässern begriffen, traf der riesige Kreuzer, der nicht nur das größte Schiff der russischen Kriegsflotte ist, sondern seiner Länge und Breite nach neben einigen englischen Panzerkreuzern zu den größten Kriegsschiffen aller Seemächte gehört, Anfang dieses Jahres, mit dem Großfürsten Cyrill Wladimirowitsch an Bord, in Port Said ein. Da das mächtige Schiff bei seiner Kohlenfassung von 2000 t und einer schweren Armierung von 15- und 20 cm-Kanonen einen Tiefgang von etwa 71/2 m am Bug, 81/3 m am Heck besitzt, so war es nicht möglich, ihn ohne weiteres durch den 8 m tiefen Suezkanal zu bringen. Im Verlaufe von fünf Tagen wurde das Schiff durch die Ueberladung von 4000 Centnern Kohle in einige Leichterschiffe und durch die Verstauung von 300 t Artilleriematerial von hinten nach vorn so weit erleichtert, daß die gleichmäßige Tauchung des ganzen Kreuzers etwa 7,8 m betrug. Unter der Führung der beiden ältesten Kanallotsen wurde die Fahrt angetreten und mit Hilfe zweier Bugsierdampfer in 273/4 Stunden ohne Unfall vollendet. Während der Nacht lag der Kreuzer in den Bitterseen vor Anker, und während seiner ganzen Durchfahrtszeit mußte die Kanalpassage in der entgegengesetzten Richtung gesperrt werden. Da der Suezkanal mit Bezug auf die Abgaben der ihn benutzenden Schiffe zu den teuersten Schiffahrtsstraßen der Erde gehört, so war natürlich auch die Kanalgebühr für die Durchfahrt der „Rossia“ nicht gering. Es war für die Durchfahrt, abgesehen von den durch das Umladen etc. entstandenen Kosten, eine Kanalgebühr von 36 700 Frcs. zu entrichten. Bw.     

Putzzeugtasche für die Reise. Wer die modernen braunen Lederschuhe trägt und sie auf Reisen im Hotel nicht gern dem Hausknecht zur Behandlung übergiebt, muß das Putzzeug dazu, d. h. Bürsten, Flasche oder Dose mit Ledercreme etc., mit sich führen, und hierzu ist eine kleine Tasche aus braunem Segeltuch oder fester grauer Leinwand, die man leicht selbst anfertigen kann, sehr zu empfehlen. Das Maß richtet sich nach den einzupackenden Gegenständen, die Taschen werden mit einer nicht zu tiefen Falte auf das längliche Viereck von Stoff gesetzt, und in der Mitte bleibt so viel Raum, daß sich die gefüllten Taschen bequem zusammenlegen lassen; eine ziemlich breite Klappe mit Knopf- oder Bandverschluß ist im Schnitt vorzusehen. Die Ränder können mit schmalen braunen Seidenbändern eingefaßt, die Nähte mit Zierstichen überstickt, die Klappe mit einem Monogramm versehen werden. J.     

Zierkragen und -Manschetten an Reisekleidern. Die einfachen, meist in stumpfen grauen, grünlichen und bräunlich-gelben Farben getragenen Reisekleider sehen, so praktisch sie sich auf Touren und Fahrten auch bewähren, beim Eintreffen am Rastort, bei der Teilnahme am gemeinsamen Mittagsmahl sehr wenig nett aus, weil sie jeglichen Putzes entbehren. Ein Umziehen wird meist auf Wanderfahrten ausgeschlossen sein und das Anziehen der beliebten hübschen Hemdblusen bei dem Reisekleid vor Beginn der Wanderfahrt auch nicht ratsam erscheinen, da bei Eintritt kalter und rauher Witterung eine Erkältung bei so leichter Kleidung eintreten würde. Für solche Fälle sind Zierkragen und -Manschetten, welche eine geschickte Hand selbst herstellt und die man mühelos mitnehmen kann, ungemein empfehlenswert. Man stellt sie, je nach der Farbe des Kleides, aus weißem oder farbigem Tuch her, welchem sich oben und an den Seitenrändern schmale farbige oder weiße Flanellstreifen anschließen. Die Weite von Kragen und Manschetten richtet sich nach der Figur, die beste Breite für erstere ist 5 cm, für letztere 7 cm. Die Flanellstreifen werden so aufgesetzt, daß oben und an den Seiten ein schmaler Tuchstreifen stehen bleibt, worauf man die Sachen mit leichtem passenden Seidenfutter und den Flanellstreifen mit leichter Seidenstickerei versieht, welche zugleich den Ansatz des Streifens verdeckt. Kragen und Manschetten erhalten je zwei kleine Knopflöcher, durch die man die hübschen kleinen Knöpfe mit Kettchen steckt. Man trägt beide natürlich über dem Kleiderkragen und Aermel. Hübsche Farben sind Pompejanischrot mit Weiß, Weiß mit Heliotrop, Mattrosa mit Olive.

Reiseflasche. Nicht nur als Verzierung, sondern vor allem zum Schutz des Glases ist eine aus zwei runden Lederflecken geschnittene Umhüllung der Reiseflasche am Platz. Ein einfaches Ornament ziert die Vorderseite, am besten wirkt richtige Lederplastik, die Rosette leicht herausgetrieben, die Ausläufer flacher gehalten. Die Formen können leicht gebeizt oder mit Wasserfarbe gemalt sein, der ringsum durchlochte Rand ebenfalls; schmale Lederriemchen dienen zum Schnüren.

Schneiden der Rosen. Es ist sehr falsch, Rosenblüten, wenn sie verblüht sind, nur mit einem Stückchen Stiel abzuschneiden. Am Ende des Stieles sitzt ein Blättchen mit einem sehr unentwickelten Auge. Dieses Auge muß erst ausgebildet werden, ehe daraus ein neuer Trieb hervorgeht. Zur Ausbildung desselben gehört ziemlich viel Zeit. Schneiden wir dagegen die verblühten Blumen mit zwei Blättern ab, dann gehen wir bis auf kräftig ausgebildete Augen zurück, welche alsbald mit dem neuen Trieb beginnen und also früher Blüten liefern als die Knospen dicht unter der verblühten Blume. Falsch ist es auch, beim Abschneiden von Rosen für Vasen und Bouquets ängstlich zu sein. Man kann, ohne der Rose zu schaden, einen tüchtigen Stiel mit fortschneiden und die Verwendung der Blüten erleichtern, sowie die Dauer erhöhen. In dem reich illustrierten Rosenbuch von R. Betten, Verlag von Trowitzsch & Sohn, Frankfurt a. O., wird sogar nachgewiesen, daß das Abschneiden der Blüten mit langen Stielen den Rosenstöcken sehr dienlich ist, weil es eins der Abwehrmittel gegen den lästigen und gefährlichen Rosenrost, der besonders die Remontantrosen befällt, bildet. Man kann also durch den Schnitt von Blumen mit langen Stielen sich und den Rosen nützen.

Akelei. Wo man für den Garten alle Pflanzen kaufen will, da wird der Garten oft ein recht teures Vergnügen – und mancher erlahmt in der Thätigkeit für seinen Garten, weil er es nicht fertig bringt, zur rechten Zeit einzuhalten oder die Beschaffung der Pflanzen auf billigere Art und Weise zu ermöglichen. In vielen Fällen läßt sich dies thun, immer dann sogar, wenn wir es versuchen, alle jene Pflanzen, die leicht aus Samen in großer Zahl heranzuziehen sind, selbst zu ziehen. Der Samen ist im allgemeinen billig, viel läßt sich auch an eigenen Stöcken gewinnen. Zu den Pflanzen nun, welche der Gartenfreund leicht aus Samen heranziehen kann und die ihm mit ihrer Blütenpracht große Freude machen, gehört auch die Akelei. Man säet den Samen Mitte bis Ende Juli in Schalen oder Kästen aus, stellt diese halbschattig auf, belegt die Erde mit ein wenig Moos und hält sie feucht. Es geht auch ohne Moos recht gut. Die Samen keimen bald und die jungen Pflänzchen müssen in andere Kästen verstopft werden. Sie bleiben vorläufig auch noch halbschattig stehen. Mit ihrer zunehmenden Größe werden sie immer mehr in die volle Sonne gerückt, damit sie recht gedrungen wachsen. Ende August oder in den ersten Tagen des September werden die Akeleipflanzen auf hübsch gegrabene, sonnige Beete gepflanzt. Sie entwickeln sich hier sehr rasch und geben im nächsten Frühling schon Blüten. Von dem Beete aus kann man sie im zeitigen Frühling über den Garten verteilen und dorthin bringen, wo man sie gern haben möchte.

Glockenblume. Wo eine dankbar blühende Zimmerpflanze gesucht wird, da darf man ruhig Campanula garganica anschaffen. Sie bringt ununterbrochen ihre hübschen Glockenblumen, wenn sie einen verhältnismäßig großen Topf hat und in kräftiger Rasen- oder Lehmerde steht. Campanula garganica liebt feuchte Luft. Es ist ihr daher am Ost- und Westfenster wohler als am Südfenster. Im Sommer hat sie gern viel Luft. Da die Zweige von Campanula garganica hübsch herunterhängen, kann man sie als Ampelpflanze brauchen, darf aber häufiges Gießen nicht vergessen. Nur wenn die Pflanze regelmäßig feuchten Boden hat, treibt sie üppig und gesund. In zu feuchtem Boden bringt sie manchmal gelbes Laub. Das Verpflanzen geschieht alljährlich einmal im Frühjahr, und man nimmt dann vom Ballen ziemlich viel alte Erde weg. Da diese Glockenblume sich sehr leicht aus Stecklingen vermehren läßt, so kann man im Sommer und im Herbst und im Frühjahr neue Pflanzen aus Stecklingen ziehen. Im Winter wird Campanula garganica häufig etwas kahl. Wenn man sie aber im Frühjahr nach dem Verpflanzen zurückschneidet, so ist der Nachteil des Winters bald durch eine große Zahl junger, kräftiger Triebe, die fortwachsend immer neue Blüten bringen, gut gemacht.

[388 e]

Copyright 1897 by Franz Hanfstaengl in München.

SOMMERROSEN
Nach dem Gemälde von F. M. Skipworth

Die Gartenlaube 1898.0 Kunstbeilage 13

[389]

Halbheft 13.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Die arme Kleine.

Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.

 (6. Fortsetzung.)


Heller, lieblicher Herbstmorgen, köstliches Geschenk des alternden Jahres. Nach all dem Blüten- und Früchtesegen, den es verschwenderisch gespendet hat, noch so leuchtender Sonnenglanz, so erquickende Wärme, so mild wehende Luft! Jeder Blick über die lichtverklärte Erde wird Wonne, jeder Atemzug wird Dank. Luise empfand ihn, sein herrliches Gefühl durchdrang und erweiterte ihr Herz. Selig, wer es hat! selig, wer seinen himmlischen Reichtum auszuströmen vermag im vollen Maß – ohne Maß.

Luise preßte ihre Hände, die sich unwillkürlich gefaltet hatten, zusammen: Für alles Dank! auch für die Fähigkeit, zu danken.

Sie war unter dem Hausthor stehen geblieben und überblickte ihr Vorgärtchen: ein Rasenplatz mit einer Gruppe Monatsrosen, von einem Resedenkranz umgeben, und, vor dem neu aufgerichteten, grün angestrichenen Zaun junges Flieder- und Jasmingebüsch, das hoffentlich schon im nächsten Jahre blühen wird. Das Vorgärtchen machte den ganzen Luxus aus, den sie sich gestatten durfte; hinter dem Hause pflegte sie einige Gemüsebeete, da machte der Nutzen sich so breit, als der Raum es irgend zuließ; einige Obstbäume, der Schuppen mit dem Holzvorrat, eine kleine Bleiche füllten ihn aus. Am „End’ der Ende“ kam dann die zierliche Meierei, der eine Magd vorstand. Ein ältliches Wesen, an äußeren Vorzügen arm, an guten Charaktereigenschaften groß und im Besitz des wohlverdienten Vertrauens ihrer Gebieterin.

Als Luise über die Schwelle trat, wurde sie angenehm überrascht. Da stand an die Wand gelehnt ein Flüchtling – ihr windverwehter Sonnenschirm, und trug alle Spuren einer im Freien auf feuchtem Grunde zugebrachten Nacht. So ganz echt konnte seine braunrote Färbung wohl nie gewesen sein und erschien jetzt marmorartig gesprenkelt und gefleckt. Ja, das kommt davon, wenn einer eine Luftreise unternimmt, der nicht fliegen kann. Seine Eigentümerin betrachtete ihn, wendete ihn hin und her: in defektem Zustand ist er heimgekehrt, aber besser doch als gar nicht. Und der ihn gebracht hat, der redliche Finder, muß wie ein Einbrecher über den Zaun gestiegen sein, denn das Gitterpförtchen ist noch verschlossen.

Wer mag das gewesen sein? Ein Heger, oder einer der Jünglinge aus Velice, der vor Tau und Tage einen Spaziergang unternommen hat?

Sie nahm sich nicht Zeit, lang’ darüber nachzudenken, sie spannte den Wiedergeschenkten auf, mehr zu seinem als zu ihrem Nutzen, und ging ihre Wirtschaft bestellen. Wenn auch nur klein, gab sie doch zu thun, ein paar Stunden vergingen, ehe Luise zurückkehrte. Sie meinte ihren Gast noch schlafend zu finden. Indessen wurde sie in der Nähe des Hauses von den zirpigen


Ein Riesenstrauß.
Nach dem Gemälde von J. Cavé.

[390] Tönen des greisen Spinetts begrüßt. Es stand im Salon, neben der Thür, die auf einen schmalen Altan mit bauchigem Gitter führte und geöffnet war. Elika musizierte. Sie spielte in allerfreiester Manier – eine offenbar eigene Komposition. Einem ohrenbeleidigenden Allegro folgte ein wunderliches Andante, dem eine Coda angehängt war, die kein Ende finden konnte. Höchst lächerlich und doch wieder rührend, dies ausdauernde Suchen und nicht Finden. Endlich beschied sie sich, die Kompositeurin gab die vergeblichen Versuche, ihr Gefühl musikalisch zum Ausdruck zu bringen, auf, und die Sängerin machte sich ans Werk. Ihre junge, noch etwas schrille Stimme erhob sich und schmetterte laut, jubelvoll und begeistert in die Lüfte hinaus:

„Willkommen du neuer, du sonniger Tag,
Du reiner, du heller, pulsierender Schlag
Vom klopfenden Herzen der Zeit!“

Es war aus, fing aber gleich wieder von neuem an. Unermüdlich, mit immer höherem Schwung trug Elika ihr Jubellied vor. Sie ließ sich durch Luisens Eintreten nicht stören, saß da, wie sie aus dem Bette gestiegen war, in einem langen Nachthemde, das ihr bis an die Knöchel reichte, und trat das Pedal mit nackten Füßchen.

„Hör’ nur zu,“ sagte sie, „das ist mir eingefallen gleich beim Erwachen, wie ich gesehen hab’, daß es so schön ist.“

„Das Wetter?“

„Freilich. Gefällt dir mein Lied? … Ja? Nein? Sag’s aufrichtig.“

„Soll ich wirklich? Nun, ich weiß nicht recht; es kommt mir ein bißchen wie ein Unsinn vor. Aber jetzt an deine Toilette, Kind!“

Am Nachmittag kam ganz Velice herüber. Die Tanten mit Frau Heideschmied und Apollonia zu Wagen, Kosel und seine Söhne zu Pferde, Herr Pfarrer und Herr Heideschmied zu Fuße. Man versammelte sich im Salon, dem sogenannten „gemütlichen Prunkgemach“. Für die Gemütlichkeit sorgten die traulichen Kattunschlafröcke der Möbel, den Prunk vertraten die Wände. Als man von ihnen die zerfetzten Tapeten herabgerissen hatte, waren schadhafte, aber schöne Panneaux zum Vorschein gelangt, die sorgfältig aus den Rahmen gelöst, geputzt, geflickt und gestopft wurden. Eine herrliche Winterarbeit, an der die Damen aus Velice und ihre Gefolgschaft sich eifrig beteiligten. Nun erfreute der alte Wandschmuck sich wieder des Tageslichtes. Bescheiden und würdig grüßte er herunter in seinen diskreten Farben, seiner korrekten, braven Zeichnung. Goldene Karossen fuhren, kühne Reiter sprengten vorbei, blauseidene Herren verbeugten sich zierlich vor rosaseidenen Damen unter einem grünlich schimmernden seidenen Himmel. Und die Wölbungen und die Decke zeigten, nachdem sie gehörig gefegt worden und jede Spur der häuslichen Niederlassung auch der letzten Fledermausfamilie weggetilgt war, noch Ueberreste von Freskomalereien. Was sie vorstellten, war aber nicht mehr zu erkennen. – Und das ist gut, dachte Renate, denn es war gewiß etwas Mythologisches.

Liebe alte Renate! Da saß sie jetzt in ihrer Sofaecke, hörte der Schilderung zu, die Luise und Elika von ihrem gestrigen Abenteuer im Walde machten, hatte den großen Arbeitssack vor sich auf dem Tische liegen und hatte ihn noch nicht einmal aufgemacht.

Die Jahre verflogen immer rascher, wie ihr schien, und jedes der leise hineilenden legte ihr eine schwerere Last, unter der ihre einst hohe und tannengerade Gestalt sich immer etwas tiefer, immer etwas schiefer neigte, auf den Rücken. Unaussprechlich sorgenvoll konnte sie manchmal aussehen, so tief bekümmert, daß die Optimistin Charlotte unruhig wurde und wie in diesem Augenblick ihre Hand auf die der Schwester legte und in aufmunterndem Tone fragte:

„Nun, was ist denn?“

„Nichts zum Glück!“ sagte Leopold. „Aber wie war Ihr denn, als der Blitz so nahe von Ihr eingeschlagen hat?“ Wenn er Elika besonders lieb hatte, sprach er immer zu ihr in der dritten Person. Er rückte seinen Sessel in die Nähe des ihren und umschlang dessen Lehne mit wahrer Zärtlichkeit. Franz war auf einem Schemel zu ihren Füßen placiert – die Sitzgelegenheiten des Prunkgemachs reichten für die zahlreiche Gesellschaft nicht aus – und sah mit brummiger Liebe zu der Kleinen hinauf:

„Was hat sie auch auszugehen beim Gewitter! Herr Bornholm hat recht, daß er gefragt hat.“

Nun war der Name des Mannes ausgesprochen, der schon die ganze Zeit hindurch die Gedanken Tante Renatens peinlich beschäftigte. Bornholm, Bornholm! – War der Verkehr mit ihm nun angebahnt zum Unheil für die beiden Jünglinge, die einem schlechten Einfluß vielleicht zugänglicher waren als ihr Bruder Joseph? Sie hatte nun doch zur Strickerei gegriffen, förderte mit bedächtigem Eifer die Vollendung eines ausgezeichneten „Seelenwärmers“ und seufzte einmal ums andere tief auf, denn es war jetzt nur noch die Rede von Bornholm.

„Ich muß ihn sehen! ich gehe zu ihm!“ rief Leopold, und Franz: „Ich gehe mit!“

„Aber junge Herren!“ „Was fällt euch – was fällt Ihnen ein?“ „Aber Kinder, Kinder!“ wurde ihnen fast zugleich von dem Herrn Pfarrer, von Kosel, von Heideschmied und von den alten Tanten erwidert. Die junge Tante aber sprach: „Denkt nicht daran; ihr würdet miserabel empfangen, und von Joseph erfahrt ihr durch Herrn Bornholm nichts. Wenn ihr gesehen hättet, wie er gegen Elika war! … Noch nie ist jemand so widerwärtig gegen sie gewesen.“

Die Röte der Entrüstung stieg Franz in die Wangen: „O je, dieser, dieser … wirklich? und wie denn?“

„Als ob es lächerlich und vorwitzig wäre, daß sie nach ihrem Bruder fragt: ‚Wissen Sie das nicht?‘ ‚Das wissen Sie ohnehin?‘ ‚Schreibt er Ihnen denn nicht?‘ – das waren seine Antworten. Die Kleine ist aber auch bös’ geworden. Nach dem Gewitter am Himmel gab’s eines in einem Fingerhut.“

Sie erzählte von dem Zorn Elikas, und die Damen schüttelten die Köpfe, Apollonia schlug die Hände zusammen und murmelte: „Nein, das Kind!“

Der Herr Pfarrer jedoch erhob drohend den Finger: „Ei, ei, Fräulein Elika, wo ist da die Geduld geblieben, die weibliche Sanftmut?“

Die Kleine hatte bis jetzt geschwiegen, ein lammfrommes Gesicht gemacht und nachdenklich vor sich hingesehen. Langsam erhob sie nun ihren Blick zu dem geistlichen Herrn und sprach inständig flehend: „O, Herr Pfarrer, erbarmen Sie sich seiner, gehen Sie zu ihm!“

„Was?“ „Wer?“ „Wohin?“ erscholl’s im Kreise.

„Ich? Was soll ich bei ihm?“ fragte der Priester und Leopold sprach:

„Er ist ja ein Atheist.“

Renate ließ ein warnendes „Pst!“ vernehmen, von einem Augenwink begleitet, den leider Elika bemerkte. Ein sogleich unterdrücktes Lächeln glitt über ihre Lippen.

„Auf alle Fälle ist Bornholm ein Protestant,“ sagte Kosel.

„Das macht nichts, Papa, trotzdem könnte der Herr Pfarrer ihm doch zureden, ein besserer Mensch zu werden und gut gegen die Verwandten von seinem Freund; denn Joseph ist sein Freund.“

Alle sahen einander erstaunt an. Leopold hatte einen seiner gewohnten Heiterkeitsanfälle:

„Ich sag’s ja, unsere arme Kleine, ein Engel, ein purer Geist!… Und daß der Bornholm so grob mit Ihr war, ärgert Sie gar nicht?“

„O ja! es hat mich ja geärgert, ich bin ja zornig gewesen.“

„Ihr Zorn! Wenn Sie zornig ist, das ist, wie wenn ein andrer am freundlichsten und liebsten ist.“ Ihre Brüder behaupteten, Apollonia bestätigte es, und sie kannte das Kind, von seinem ersten Atemzug an kannte sie’s.

Elika heimste das Lob ohne Vergnügen ein und lehnte es endlich ganz ab. „Wer weiß, wer weiß, ob du mich kennst,“ meinte sie und ließ Poli reden, und behelligte den Herrn Pfarrer von neuem mit ihrer Bitte, diesem Bornholm geistlichen Zuspruch zu gewähren, und von neuem bemerkte Kosel, daß Bornholm „auf jeden Fall“ ein Protestant sei. Auch die übrigen sagten etwas, sogar die vorsichtige Frau Heideschmied placierte ihr „petit mot“. Jeder und jede wiederholte sich mit Ausdauer und die Konversation wurde ein gesprochenes Ringelspiel.

Franz brachte zuerst Abwechslung in die Sache, indem er [391] laut ausrief: „Und ich gehe hin und nehm’ den Monsieur Bornholm bei den Ohren, damit er lernt artig sein.“

„O weh!“ seufzte Renate, „da haben wir schon südaustralische Sitten!“

„Monsieur Bornholm! Wenn er einen Herrn nicht mag, nennt er ihn Monsieur,“ sagte Elika vorwurfsvoll und sah schwer bekümmert aus. Franz war unzufrieden mit ihr und mit sich und dem feinfühligen Heideschmied dankbar, als der zu ihm trat, ihm auf die Schulter tippte und zum Haken gekrümmt leise sprach:

„Kommt mir nicht vor, lieber Franz, daß Sie beabsichtigten, sich heute noch mit Mathematik zu beschäftigen?“

„Es wird Ihnen schon so vorgekommen sein und mir auch,“ erwiderte der Jüngling und sprang auf. „Also adieu!“

Leopold, der ihn begleiten wollte, empfahl sich ebenfalls. Die Gesellschaft ging wie sie gekommen war, partienweise. Das Behagen war längst entwichen. Etwas peinlich Bedrückendes, das alle empfanden, lag in der Luft. Erst im Wagen wurde der Tante Charlotte wieder wohl.

„Welche Atmosphäre dort oben!“ sagte sie. „Ganz voll von Stoff zu drohenden Streitigkeiten. Kommt über den fünften Weltteil aus Valahora dahergeweht. Wirklich unangenehm!“


Herr von Kosel war noch da. Er machte manchmal nur deshalb unmäßig lange Besuche, weil er vergaß, fortzugehen. Nun wurde er durch seine Tochter erinnert, daß es Zeit sei, aufzubrechen.

„Willst du mir erlauben, noch ein bißchen bei dir zu bleiben?“ fragte sie. „Ich führe die Meta, ich thue das so gern, und wir sprechen zusammen, du und ich. Luise muß in die Wirtschaft und ist froh, wenn sie Ruhe hat.“

Sie holten Meta aus der Meierei ab, wo sie eingestellt worden war. Kosel warf ihr den Zaum über den Kopf, und Elika nahm ihn und führte das schöne Tier, das hinter ihr herging wie ein gehorsamer Hund. Sie wendete sich oft um, küßte es auf die Nüstern und versicherte es ihrer Liebe. Dazwischen sagte sie auf einmal langsam und bedächtig:

„Der Herr Pfarrer wird also nicht zu Herrn Bornholm gehen.“

„Es ist schwer – es ist wohl schwer – weil doch …“

„Denk nur, Papa,“ unterbrach sie ihn, mit einem leichten, entschuldigenden Neigen des Kopfes, „was Bartolomäus mir gesagt hat, wie er mich nach Hause getragen hat: Herr Bornholm bleibt den ganzen Winter in Valahora.“

„Ach geh! den ganzen Winter; was wird er denn den ganzen Winter in Valahora bleiben!“

„Er will Sammlungen ordnen für Museen“ – sie lachte: „Bartolomäus sagt, ‚Musen‘ in Schweden oder in Norwegen, oder wo. Es sind schon viele Kisten gekommen und Joseph schickt noch viele nach mit Waffen und Pflanzen, Mineralien und Gerätschaften …“

„Mineralien und Gerätschaften.“ Kosel blieb stehen, dachte nach und richtete seine Augen fragend auf die Kleine:

„Wie sie wohl verpackt sein werden, die Mineralien und Gerätschaften? Gut verpackt werden sie wohl sein?“

„In Zeitungen,“ erwiderte Elika, die Gedanken ihres Vaters erratend – o nur zu recht hatte Apollonia, sie eine Hellseherin zu nennen! – „Ganz gewiß erscheinen in Australien eine Masse Zeitungen.“

„Eine Masse. Soviel ich weiß, in Sidney allein fünf große Blätter. Was der ‚Sidney Morning Herald‘ für eine Zeitung ist! und ‚Echo‘, ‚Daily‘ … und die Wochenschriften und die Monatsrevuen. Einzelne Nummern sind da, Joseph schickt ja einiges, aber der Zusammenhang fehlt und alle Zeitungen kann man nicht halten. Denk nur, die Masse!“

„Herr Bornholm ist gewiß auf einige abonniert, glaubst du nicht, Papa? … Aber pfui, Meta!“ Sie wendete sich und gab dem Pferde einen Klaps auf das Maul. „Was thust du, dumme Alte? Schau nur, Papa, sie knuspert an meinem Hut herum, die dumme, liebe, alte Gans!“

„Die alte Gans,“ wiederholte Kosel mechanisch, und dabei ging sein Geist seine eigenen Wege, oder stand vielmehr still und wurzelte sich fest ein. „Er muß wohl Zeitungen halten. Es ist nicht anders möglich. Ein Wollhändler! ‚Daily Shipping Gazette‘ muß er halten.“

„Schau nur! … Wenn wir im Verkehr mit ihm wären, könnten wir uns bei ihm alle Zeitungen ausleihen, die er hält. Willst du nicht in Verkehr mit ihm treten, Papa? Gieb Ruh’, Meta – gieb Ruh’, Alte! … Nachbarn sind wir einmal, der Herr Pfarrer geht nicht zu ihm. Schau, Papa, ich glaube, du solltest zu ihm gehen.“

– „Ja,“ versetzte Kosel, und seine Augen hatten ein so schönes Blau und eine so liebliche Freundlichkeit wie der wolkenlose Himmel, „es ist nicht anders möglich ‚Daily Shipping Gazette‘ wird er halten müssen.“

Elika ließ sich durch diese Zwischenrede keinen Augenblick irre machen:

„Geh zu ihm, Papa, mache mir die Freude! Ich sage dir auch, warum es mir eine Freude machen würde. Ich habe mit Bartolomäus gesprochen, gestern, du weißt, und ihm gesagt: ‚Ihr habt einen bösen Herrn.‘ – ‚Is bös,‘ hat er geantwortet, ‚hat niemand ihn gern.‘ – ‚Habt auch Ihr ihn nicht gern, Bartolomäus?‘ – ‚Ich nicht, is bös‘. Ich frag’ ihn weiter, recht aufs Gewissen: ‚Was thut er Ihnen denn böses?‘ ‚Kommandierte,‘ kommt heraus. Er kommandiert! ja, das verträgt der alte Bartolomäus nicht. Er will allein Herr sein in Valahora. Denk’ nur, Papa, ist das nicht traurig, in seinem eigenen Hause als Eindringling betrachtet werden? Einen einzigen alten Diener haben und von ihm angefeindet zu werden? Denk nur, wie viele Menschen haben uns lieb und ihn niemand. Wie arm ist man, wenn einen niemand lieb hat. Nicht einmal seine Hunde mögen ihn, die hat Bartolomäus, glaube ich, schon darauf dressiert. Man erkennt das gleich, daß sie nur Furcht vor ihm haben … Vor dem Einschlafen ist mir das alles eingefallen … und auch einmal in der Nacht, wie ich aufgewacht bin … und weißt du, was ich gethan habe? Geweint hab’ ich. Ein Mensch, den niemand mag – das ist zu traurig, man kann gar nicht begreifen, wie traurig das ist. Und ich habe mir vorgenommen, über einen so Armen ärgerst du dich nie mehr, und du thust ihm etwas Gutes, du schickst den Herrn Pfarrer oder den Papa zu ihm.“ Sie lehnte den Kopf schmeichelnd an seinen Arm. „Papa, wirst du zu ihm gehn?“

„Ich?“ sprach Kosel wie erwachend, „zu wem?“

„Zu Herrn Bornholm.“

„Zu Herrn Bornholm, ja so.“

„Der die australischen Zeitungen hat, und der“ – ihre Augen leuchteten, ihre Stimme zitterte leise – „und der der Freund unseres Joseph ist.“

Sie hatte halb und halb das Bewußtsein gehabt, daß sie ein Selbstgespräch führe, und doch nicht zu reden aufgehört. Die feste Zuversicht beseelte sie, daß eines oder das andere ihrer Worte den Nebel der Zerstreutheit durchbrechen werde, in dem ihr Vater zu wandeln pflegte.

Nun waren sie am Fuß der Anhöhe angelangt, von der aus man noch hinab nach Vrobek und schon hinauf nach Valahora sehen konnte.

„Unseres Joseph,“ wiederholte Kosel, „ja, ja – unseres Joseph,“ und hatte nun auf einmal ein merkwürdig wehmütiges Lächeln und etwas in seinem Blick, das sein kleines Mädchen umschmeichelte wie eine Liebkosung: „Kränk’ dich nicht, das ist nicht gut für dich.“ Er brachte die Zügel des Pferdes in Ordnung und stieg in den Sattel. „Ja, aber die Tante – wo die ist –“

„Euch nachgegangen ist sie,“ antwortete Luise selbst, „und hat euch eingeholt. Es war nicht schwer, ihr seid alle fingerlang stehen geblieben.“

Man nahm Abschied. Kosel ritt in kurzem Galopp die Anhöhe hinauf und bog dann links in den Wald ein. Die beiden Fräulein hatten ihm nachgesehen.

„Wohin denn?“ fragte Luise.

„Nach Valahora.“

„Das hast du durchgesetzt, Kleine. Was soll dabei herauskommen?“

„Was Gutes.“ Sie schlang den Arm um die Taille der Tante, und sie schritten auf dem Feldweg längs der Kastanienallee [392] dem Sonnenuntergang entgegen. Blendend und strahlensprühend versank das Tagesgestirn hinter der fast geraden Linie, die von den fernen Karpathen am Horizont gebildet wurde. Elika hatte einen Augenblick hingesehen. „So sterben!“ rief sie.

„Das hat sich schon Karl Moor gewünscht. Mir wär’ lieb, wenn mein Liebling lieber nicht vom Sterben spräche,“ versetzte Luise und legte auf die Silbe „lieb“ jedesmal besonderen Nachdruck.

„Ist’s nicht besser, als wenn ich euch eine Ueberraschung mache mit meinem Tode? So seid ihr wenigstens vorbereitet.“ Elika sagte das scherzend, es war aber sehr ernst gemeint. „Es ist schön, früh zu sterben, und am schönsten, wenn noch so früh, doch schon nach einer gelösten Aufgabe.“

„Das gewiß. Aber hör’ mich an, laß uns jetzt vernünftig sein und pedantisch zum Entsetzen. Pro primo: Warum glaubst du denn, daß du früh sterben wirst?“

Elika wurde durch diese Frage in große Verwunderung versetzt. „Alle glauben’s doch,“ erwiderte sie gedehnt, „und ich – ich, weißt du, ich weiß es.“

„So? Wieso weißt du’s?“

„O – ich bekomme manchmal solche Stiche im Kopf, und Herzklopfen hab’ ich auch, und ohnmächtig bin ich schon zweimal geworden. Und Frau Heideschmied hat gewimmert: ‚Elle se meurt!‘“

„Mit ‚pro primo‘ wären wir im reinen. Jetzt kommt pro secundo. Was ist das für eine Aufgabe, die du vor deinem Tode noch lösen willst? Antworte, sei nicht beleidigt!“

„Du lachst mich aus.“

„Kind, geliebtes, wie fern liegt mir das! Und du wärst stumpfsinnig, wenn du’s nicht wüßtest. Also: Heraus mit der Sprache! Die Aufgabe –“

„Die Aufgabe ist,“ sagte Elika und schmiegte sich in warm aufwallender Zärtlichkeit an Luise: „einen bösen Menschen zu einem guten machen.“

„Aha – den dort oben. Ich staune, daß du an den Halbwilden noch denkst.“

„Weil er jetzt fort ist von dem einzigen, der ihn mag. Weil ich noch nie einen Menschen gesehen habe, den niemand mag. Wenn man etwas ganz Neues sieht, bildet man sich allerlei ein. Das thut doch jeder.“

„Glaubst du. Ich weiß es nicht aus Erfahrung.“

Elika zuckte ihre magern Achseln: „Bei mir ist es so. Und von Herrn Bornholm bilde ich mir jetzt ein: Der geht in einer Verkleidung. Nicht zufleiß, er kann vielleicht nichts dafür, er ist vielleicht ein Verwunschener, wie die in den Märchen, die ich als Kind so gern gelesen habe. In einem Ungeheuer, einem Bären, einem Delphin steckt ein ganz schöner netter Prinz … Am Ende steckt in der groben Hülle des Herrn Bornholm ein guter Mensch.“

„So lös’ ihn aus, aus der Hülle, versuch’s! Sei die Fee mit dem Zauberstabe, die ihm seine wahre Gestalt wiedergiebt!“

„Ich kann das nicht. Das könntest eher du. Ja, ja, an dir liegt ihm, ich hab’s bemerkt – lache, wenn’s dich freut – ich hab’s bemerkt,“ wiederholte sie eindringlich und setzte nach kurzer Ueberlegung rasch und brüsk hinzu: „Und deinen Schirm hat er auch gebracht.“

„Was dir einfällt! Bornholm?“

„Bornholm.“

„Höchst unwahrscheinlich. Er hätte den Schirm gestern so leicht fangen können und hat nicht einmal die Hand nach ihm ausgestreckt.“

„Dafür hat er heute einen Biß bekommen von seinem Gewissen.“ Sie machte eine komisch altkluge Miene: „Seine Motive durchschaue ich nicht, aber den Schirm hat er gebracht.“

„Hellseherei,“ erwiderte Luise. „Als Hellseherin brauchst du dich übrigens um Motive gar nicht zu kümmern.“

„Es war keine Hell-, es war eine ganz ordinäre Seherei.“

Elika nahm wieder Luisens Arm und sprach zutraulich: „Ich war früher auf als du, ich bin zum Fenster gegangen und habe durch die Jalousien nach dem Wetter ausgeguckt. Da habe ich ihn gesehn. Er hat am Gitter gerüttelt, und wie er merkt, daß zugesperrt ist, steigt er drüber, kommt her, lehnt den Schirm an die Mauer und geht wieder. Das ist das Ganze. Glaubst du’s jetzt?“

„Ja – wenn du es sagst, glaub’ ich auch das Unglaubliche.“

(Fortsetzung folgt.)


Der „Brutus“ der Mediceer.[1]

Von Isolde Kurz.

Das Geschlecht Giovannis di Bicci, des Stammvaters der Mediceischen Familie, teilte sich in zwei Linien: die eine hochbegabte, die von dem alten Cosimo abstammte und zuerst ihre Vaterstadt beherrschte, und die jüngere, von dessen Bruder Lorenzo gegründete, die mit Cosimo I die erbliche Großherzogswürde empfing. Zwischen dem Niedergang der ersten und dem Aufgang der zweiten Linie liegt die blutige Tragödie jener Dreikönigsnacht, wo der grausame Alessandro de’ Medici unter dem Dolch seines Vetters Lorenzino endigte. Dieser Fürstenmörder, der, ohne es zu wollen, seiner eigenen bis dahin zurückgesetzten Linie zum Thron verhalf, ist ein seltsames Naturspiel, das nur der Entartung einer genialen Rasse entspringen konnte; ein Mittelding zwischen dem Helden, dem Verbrecher und dem Narren, gehört er zu den fragwürdigsten Charakteren der Geschichte, die immer aufs neue die Phantasie der Dichter reizen, das Interesse der Psychologen fordern.

Die beiden Päpste aus dem Hause Medici hatten sich das Ziel gesteckt, ihrer republikanischen Vaterstadt eine mediceische Dynastie aufzuzwingen, sie wollten für ihre Nepoten nicht die unter bürgerliche Formen versteckte Autorität, wie sie der alte Cosimo und Lorenzo Magnifico besessen hatten, sondern einen erblichen Fürstenthron.

Jedoch der Tod hatte in ihrer Linie aufgeräumt; als Clemens VII den Stuhl Sankt Peters bestieg, waren von seiner engeren Familie nur noch zwei blutjunge Bastardsöhne, Ippolito und Alessandro, übrig, auf die der Papst mit Uebergehung der rechtmäßigen Seitenlinie seine ganze Fürsorge häufte.

Aber nicht der schöne und liebenswürdige Ippolito, des Herzogs Giuliano Sohn und somit in gerader Linie Enkel des Lorenzo Magnifico, sollte die Dynastie begründen; diesem glänzenden Jüngling mit den soldatischen Neigungen wurde mit achtzehn Jahren von dem päpstlichen Oheim der Kardinalshut aufgedrungen, damit der bessere Platz seinem Liebling, dem zwei Jahre jüngeren Alessandro, offen blieb. Die Schwäche des Papstes für diesen klugen, aber häßlichen und mit rohen Instinkten zur Welt gekommenen Mulatten war so auffallend, daß man nicht anstand, ihn für Clemens’ eigenen Sohn zu halten; offiziell wurde jedoch die Vaterschaft Lorenzo dem Jüngeren, Herzog von Urbino, zugeschrieben. Das einzige, was über Alessandros Abkunft wirklich feststand, war, daß ihm eine Schwarze, die in Collevecchio unweit Rom mit einem Stallknecht des Hauses Medici verheiratet war, das Leben gegeben hatte.

[393]

Zuflucht im Walde.
Nach einer Originalzeichnung von R. Mahn.

[394] Um diesen Bastard auf den Thron zu setzen, hielt Clemens zehn Monate lang das unglückliche Florenz belagert, und Karl V mit seinen Spaniern und Deutschen that ihm Schergendienste, bis die florentinische Freiheit aus der Brust des eisernen Ferrucci zu Gavinana ihren letzten Atem verhaucht hatte und der Verräter Malatesta die edle Stadt geknebelt und verblutend den ruhmlosen Siegern zu Füßen legen konnte. An jenem Tage starb Florenz, um niemals mehr im Lauf der Geschichte aufzuerstehen; aber es hat mit dem letzten heroischen Verzweiflungskampf die Sünden vieler Jahrhunderte, seine Uneinigkeit, Verweichlichung und Entartung gut gemacht und der Welt ein glorreiches Beispiel hinterlassen, wie das Große untergeht.

Jetzt noch einen Vertragsbruch, eine Massenproskription mit Bluturteilen und Verbannungen – dann konnte der Bastard Alessandro als Herzog von Florenz und künftiger Eidam des Kaisers im Juli 1531 seinen Einzug halten.

Der neue Herr kam mit reinen Händen, denn die Kreaturen des Papstes hatten das Rachewerk für ihn besorgt. Ueber dreihundert der besten Bürger waren aus der Heimat vertrieben, viele andere hatten unter dem Beil geendet, und die Stadt, die schon durch die lange Kriegsnot und durch die Pest verwüstet war, lag in Friedhofsruhe. Handel und Gewerbe hatten aufgehört, die Finanzen waren verblutet, denn was der Krieg noch übrig gelassen hatte, das fraß nun die Kontribution; die kleinen Leute waren ohne Brot, die Großen in Trauer um ihre hingerichteten Familienhäupter, Ernten und Viehstand vernichtet; die herrlichen Villen und Landgüter vor der Stadt, die „Krautgärtchen der Florentiner“, wie sie Clemens spöttisch nannte, der geglaubt hatte, um ihretwillen würden seine Landsleute sich nie auf einen ernstlichen Widerstand einlassen, waren von den Bürgern selbst unter der Leitung Michelangelos während der Belagerung zu militärischen Zwecken rasiert worden.

Es wäre gar nicht nötig gewesen, mit so drakonischer Strenge bei der Entwaffnung der Bürger vorzugehen, wie Alessandro that, denn niemand dachte mehr an Widerstand. Dennoch wurden, als alle Waffen längst abgeliefert waren, die Häuser noch nach schneidenden Küchenwerkzeugen durchsucht, und sogar die ex voto in den Kirchen aufgehängten Messer mußten entfernt werden.

Zögernd kam damals Michelangelo aus seinem Versteck im Glockenturm von San Niccolò hervor und begab sich mit Widerstreben an seine Arbeit in der Sakristei von San Lorenzo, die Vollendung der Mediceergräber, die der Papst ihm mit Erlassung seiner politischen Sünden auferlegt hatte. Aber der Zorn des Künstlers in diesen Tagen der Schmach hat sich wie glühendes Erz in einen Vierzeiler ergossen, der so unvergänglich ist wie seine monumentalen Werke. Als einer der Strozzi, die zu dem mediceischen Kreis gehörten, unter die wunderbare Statue der Nacht in der Grabnische des Herzogs Giuliano die Verse angeheftet hatte:

„Die Nacht, die hier so hold der Schlaf umflicht,
Ist Marmor, doch ein Engel[2] gab ihr Leben.
Sie schläft und also lebt sie – glaubst du’s nicht,
Weck’ sie nur auf, sie wird dir Antwort geben –“,

ließ der furchtlose Meister seine Statue erwidern:

„Gut, daß ich schlafe und von Marmor bin,
Weil Schmach und Unheil meine Heimat trafen.
Nicht seh’n noch hören ist mir Hochgewinn,
Drum stör’ mich nicht, sprich leis und laß mich schlafen!“[3]

Damit nichts mehr an die alte Freiheit erinnere, wurde auch die große Glocke, die viele Jahrhunderte lang in Zeiten der Gefahr das Volk zusammengerufen hatte, vom Turm des Palazzo Vecchio herabgeholt und in Stücke geschlagen, zur Strafe, daß sie vier Jahre früher beim letzten Aufstand gegen die Medici dem jetzigen Herrn und seinem Vetter Ippolito ins Exil geläutet hatte.

Der kaiserliche Kommissär Alessandro Vitelli terrorisierte mit seinen Söldnern die Stadt, und die waffenlosen Bürger wichen auf Straßenweite aus, wenn nur der Schritt der Patrouille durch die engen Gassen ertönte. Ein Polizeichef, Ser Maurizio, den man aus Mailand verschrieben hatte, weil man keinem Einheimischen traute, verwaltete sein Amt mit so barbarischer Grausamkeit, daß, wer ihn mit seinen Sbirren auf der Straße nur von weitem sah, für den ganzen Tag nicht mehr froh wurde. Die Leibwache, die den Herzog mit ihren neumodischen, aus der Rüstkammer der Landsknechte stammenden Spießen überall begleitete, war den Florentinern vollends ein ganz ungewohnter Anblick und vermehrte den Schrecken. Dazu war das Aeußere des jungen Herzogs abstoßend: negerartiges Kraushaar und aufgeworfene sinnliche Lippen, aus denen brutale und cynische Reden gingen, ein polterndes Betragen – der Typus eines Gewaltherrschers und Usurpators.

Zwar fehlte es ihm zu Anfang seiner Regierung nicht ganz am guten Willen, bald aber rissen ihn die wilden Gelüste seines Negerbluts und das schrankenlose Machtbewußtsein hin; die Geschäfte langweilten ihn und wurden summarisch abgethan, roher Genuß ward sein einziger Lebenszweck, und er stürzte sich in maßlose Ausschweifungen. Daß die schönsten Edeldamen bei seinen Gelagen erscheinen und sich sein Wohlgefallen zur Ehre schätzen mußten, genügte ihm nicht; er brauchte die Gewalt zur Würze seiner Vergnügungen, darum brach er bei Nacht mit seinen Schergen in verschlossene Privathäuser ein, und mit besonderer Vorliebe machte er die Klöster zum Schauplatz seiner Gewaltthaten, wie er auch bei seinen Festen selber gern als Nonne verkleidet erschien.

Seine Vertrauten suchte er sich in der Hefe des Volks: zwei Verworfene, Giomo da Carpi und einen gewissen Unghero, erhob er zu seinen Kämmerern, und mit ihnen zog er des Nachts auf Abenteuer, wobei es selten ohne Blutvergießen abging und mitunter des Herzogs eigenes Leben in Gefahr kam. Fand man des Morgens eine Leiche auf der Straße, so wußte man, daß der Herzog sich in der Nacht belustigt hatte, und es wurde kein Aufhebens darüber gemacht. Ser Maurizio, dem man nachsagte, er wäre im stande, Johannes den Täufer[4] foltern zu lassen, wußte, wie man die Leute zum Schweigen bringt.

Wenn der Herzog durch die Straßen ritt, so saß fast immer ein kleines, mageres, finster blickendes Männchen in schlechter Kleidung hinter ihm auf dem Pferd, wie die „schwarze Sorge“, von der die Horazische Ode singt. Es war sein Verwandter und Günstling Lorenzino de’ Medici – das Diminutiv führte er in der Familie wegen seines schwächlichen Wuchses und weil er der Jüngste dieses Namens war –, das Volk aber nannte ihn Lorenzaccio, durch welche Endung die italienische Sprache etwas Niedriges und Verabscheuungswürdiges ausdrückt. Ihm schrieb man den Hauptanteil an des Herzogs Missethaten zu; man erzählte sich, daß er den Despoten aufhetzte gegen sein Volk, daß er ihm zutrug, was in der Stadt über ihn geredet wurde, daß er unzüchtige Lieder und Komödien zu des Herzogs Vergnügen verfaßte und sich zu seinem Kuppler hergab. Man haßte und verachtete ihn zugleich, wie ein giftiges Gewürm, das man nicht zertreten darf.

Bei Hofe hieß er nur der „Philosoph“, denn er kleidete sich unscheinbar und altmodisch und ging gern einsam und melancholisch einher; auch wußte man, daß er ein Gelehrter war. Der Herzog konnte ohne ihn nicht leben. Lorenzino mußte ihm die Strickleiter halten, wenn er über fremde Mauern kletterte, und stand mit Giomo und dem Unghero Wache vor den Thüren, in die Alessandro gewaltsam eindrang. Lorenzino war unermüdlich, des Herzogs Liebeshändel zu vermitteln. Er belustigte ihn durch seine böse Zunge und seine zur Schau getragene Feigheit: beim Anblick einer bloßen Waffe erbleichte er und machte Miene davonzulaufen, nicht einmal nennen durfte man in seiner Gegenwart ein solches Mordgerät; der Herzog, der unerschrocken und stark war wie ein Goliath, lachte Thränen über die Furchtsamkeit seines Vetters und beschützte den Kleinen mit wegwerfender Herablassung.

Und dieses labyrinthische Gemüt brütete über einem Blutgedanken, der auch den Tapfersten erschrecken konnte: Lorenzino hatte sich das Ziel gesetzt, mit eigenen Händen den Tyrannen zu [395] töten und seiner Vaterstadt die Freiheit wiederzugeben! Um sein Opfer zu umgarnen, machte er sich selbst zum Werkzeug der Gewalt und zog den allgemeinen Abscheu auf sich. Eine dämonische Ruhmgier, die ihn von Kindheit an verzehrte, war ohne Zweifel sein oberster Beweggrund.

Lorenzino gehörte zu den Begabtesten unter den Medici; aber seine Familie, die einst sehr reich und angesehen gewesen, war durch schlechte Wirtschaft seines Vaters Pierfrancesco zur Armut herabgesunken; von klein auf sah er sich bei den Unterdrückten. Dann war er nach seines Vaters Tode eine Zeit lang zusammen mit seinem glücklicheren Vetter Cosimo de’ Medici, dem Sohn des berühmten Söldnerführers Giovanni delle Bande Nere,[5] erzogen worden, und durch die Zurücksetzung, die er damals erfuhr, hatte sich sein ehrgeiziges Gemüt verbittert. Als nun der Papst unter seinen Verwandten die Glücksgüter zu verteilen begann, wurde Lorenzino mit seinen Geschwistern übergangen, da er, ebenso wie Cosimo, der jüngeren Linie angehörte. Wohin er kam, mußte er hinter denen zurückstehen, die er geistig unter sich sah. Aber der Haß gegen die Mächtigen lag ihm auch schon von Hause aus im Blut, denn man war in seiner Familie von je her demokratisch und hatte sogar zu Savonarolas Zeiten in offener Opposition gegen die herrschende Linie gestanden.

Dazu kam, daß er körperlich schwächlich war, in einem Jahrhundert, wo Kraft und physischer Mut unendlich mehr galten als in unsern Tagen.

Arm und unansehnlich von Person, fand er den einzigen Weg zur Auszeichnung in den Studien, die er ohne Lehrer mit solchem Erfolg betrieb, daß er bald zu den feinsten Kennern der alten Litteratur gehörte. Aber auch unter den Büchern verfolgte ihn die Sucht nach Größe, seine überreizte Phantasie berauschte sich an den klassischen Großthaten, Brutus und Timoleon wurden sein täglicher Umgang, er mußte ihnen gleich werden, die niedergehaltene Leidenschaft drängte nach einem Ausweg, nach Bethätigung um jeden Preis.

Schon als Sechzehnjähriger hatte er sich in Rom eine traurige Berühmtheit erworben. Dort waren einmal in einer Nacht gegen Ende des Jahres 1530 den römischen Kaisern am Triumphbogen des Konstantin die Köpfe abgeschlagen, auch in San Pancrazio, auf dem Forum Romanum und in der Paulskirche antike Skulpturen in Menge verstümmelt und zerstört worden. Der Kultus der Antike stand dazumal auf seinem Gipfel, und ein vielfacher Mord wäre in den Augen der Römer ein leichtes Vergehen gewesen gegenüber einer solchen That. Papst Clemens schäumte vor Zorn, er gab Befehl, den Schuldigen, wo man seiner habhaft würde, auf der Stelle zu hängen; den einzigen Fall ausgenommen, fügte der päpstliche Erlaß mit Vorsicht hinzu, daß der Kardinal Medici selbst der Thäter wäre.

Aber der leichtlebige Ippolito war nicht an diesem Streich beteiligt. Ein Aufseher der Paulskirche hatte in einem Trupp junger Leute, der eingebrochen war, um an einem antiken Sarkophag die Köpfe der Musen abzuhauen, Lorenzino de’ Medici als Anführer erkannt. Die Empörung war ungeheuer, und wenn der Thäter mit knapper Not am Galgen vorüberkam, so hatte er es nur seinem Vetter Ippolito zu danken, der als Fürbitter zu Clemens eilte und ihm das Bubenstück als Ausfluß der in der Familie Medici herrschenden maßlosen Sucht nach dem Besitz solcher Antiquitäten darstellte.

Lorenzino entkam nach Florenz, doch wurde vom Magistrat ein Preis auf seinen Kopf gesetzt, und der Senator Molza schleuderte ihm in einer schwülstigen lateinischen Rede den Fluch der ganzen civilisierten Welt nach. Jahre später, als die Geschicke sich erfüllt hatten, erschien es wie ein prophetischer Zug, daß der Redner, auf die verstümmelten Musenbilder anspielend, die Muse der Tragödie aufgerufen hatte, dem Frevler in seinem eigenen Hause ein furchtbares Trauerspiel zu bereiten.

In Florenz zog Alessandro ihn an seinen Hof. Der Ton, den der Herzog dort angab, konnte nur ein brutaler sein. Geist und hohe Kultur, die sonst im Palaste Medici ihren Sitz hatten, galten nichts mehr, sein Zuname „der Philosoph“ wurde dem feingebildeten Lorenzino halb aus Spott angehängt; wollte er sich zur Geltung bringen, so mußte er sich der herrschenden Frivolität anpassen, was seiner aalglatten Natur nicht schwer fiel.

Schnell durchlief der Jüngling die Schule des Lasters, die er am herzoglichen Hofe fand, und that es an Cynismus allen zuvor. Tiefste Verderbnis und hochfliegende Exaltation vertrugen sich nebeneinander in seiner widerspruchsvollen Seele. Er kannte und liebte das Schöne, aber das Beispiel seiner Umgebung und ein eigener innerer Hang zogen ihn in den Schmutz. Er konnte in diesem Zwiespalt nicht fröhlich sein; was er redete, trug stets eine ironische Färbung, sein Lachen war ein Grinsen, das seinem wohlgebildeten dunkelblassen Gesicht einen satanischen Ausdruck gab. Auch sein starkes poetisches Talent neigte zur Parodie und Satire.

Alessandro fand Gefallen an diesen Eigenschaften und machte ihn zu seinem erklärten Günstling.

Es wird nicht möglich sein, alle Falten dieses verborgenen Charakters zu lüften, doch zweifellos spielte sein phantastischer Geist schon früh mit dem schrecklichen Gedanken, der später der Mittelpunkt seines Daseins wurde. In Alessandro sah er zum erstenmal einen Tyrannen in Fleisch und Blut vor sich, und für ihn, den echten Sprößling der Medici, war dieser Herzog mit der gequetschten Nase und dem Wollhaar nicht einmal ein Verwandter, sondern nur der Sohn der Schwarzen und eines Stallknechts aus dem mediceischen Hause. Dazu gesellte sich das Gefühl der persönlichen Beleidigung, denn trotz der herzoglichen Gunst genoß er auch bei Hofe kein Ansehen; ein Giomo durfte es wagen, bei ihm um die Hand seiner Schwester zu werben, als ob dieser Medici zu den Verworfensten der Verworfenen herabgesunken wäre.

Ein neuer Grund des Hasses kam hinzu, als der Herzog den Erbschaftsprozeß zwischen den Kindern Pierfrancescos und dem Sohn Giovannis delle Bande Nere, an dem Lorenzinos ganze pekuniäre Existenz hing, parteiischerweise zu Gunsten des schlauen Cosimo entschied.

Durch diesen Schlag wurde er mittellos und war nun ganz auf die Gnade des Tyrannen angewiesen, die er durch die schmählichsten Dienste bezahlen mußte. Er, der vom Kaiser zu Alessandros Nachfolger bestimmt war, falls jener kinderlos stürbe, stand als halber Hofnarr und als Kuppler am Throne seines Vetters. Fanatischer Haß durchglühte den Tiefentwürdigten, in dem trotz der Entsittlichung noch Funken moralischen Bewußtseins lebten. Mit der Freiheit der Vaterstadt hatte er zugleich die eigene Ehre zu rächen, die durch die Gnade des Herzogs über und über besudelt war, und die Last der Mißachtung, die auf ihm lag, wäre nicht zu tragen gewesen, hätte er sich nicht heimlich an der Vergeltung berauscht.

Diese Gefühle verbarg er hinter seiner undurchdringlichen ironischen Maske. Nur ab und zu machte er sich durch beißende Reden Luft.

„Haltet alle Florentiner für Eure Feinde – mich nicht ausgenommen,“ pflegte er dem Herzog in seiner mephistophelischen Weise zu sagen, und wenn Alessandro ihn wegen seiner Furchtsamkeit zum besten hatte, ging er auf die Neckereien ein und gab die doppelsinnige Antwort: „Wenn Euch Euer Leben lieb ist, so hütet Euch wohl, daß Ihr es niemals meiner Tapferkeit anvertraut.“ –

Neben dem herzoglichen Hofhalt gab es damals in Florenz einen zweiten, fast noch glänzenderen und luxuriöseren im Palast des Krösus von Italien, des kinderreichen Filippo Strozzi. Dieser herrschte im Kreis der Lebemänner durch geistreichen Sarkasmus, Eleganz und ausschweifende Sitten. Er besaß großen politischen Einfluß, war fein und vielseitig gebildet, der Freund der großen Herren und der schönen Frauen und selbst ein schöner Mann, dem die Jahre nichts von seiner unbändigen Lebenslust rauben konnten. Als Gatte der stolzen Clarice de’ Medici, der Tochter Pieros und Enkelin des Magnifico, hatte er die Geschicke des [396] mediceischen Hauses im Fallen und Steigen geteilt und dem Papst zulieb auch die Ernennung des Bastards, auf den er innerlich heruntersah, mit Eifer gefördert.

Gleich nach Alessandros Einzug war er nach Florenz geeilt, um sich die erste Rolle in seiner Heimat zu sichern. Als Ratgeber des jungen Herzogs genoß er fast mehr Ansehen als dieser selbst; er war es, der ihm den Plan jener Festung[6] eingab, durch die Florenz auf immer geknechtet werden sollte – Michelangelo wagte den Kopf, als er sich weigerte, für die Zwingburg seiner Vaterstadt nur einen Finger zu rühren. Sogar die Gelder für den Bau schoß Filippo aus der eigenen Kasse vor und ahnte nicht, daß eine grausame Ironie des Schicksals für ihn selbst ein schmähliches Ende innerhalb dieser Mauern bereit hielt.

Im Hause Strozzi fühlte man sich durch die legitime Herkunft, den ungeheueren Reichtum, die feine Bildung dem Usurpator überlegen und wollte es unvorsichtigerweise merken lassen. Der tollköpfige Piero, Filippos ältester Sohn, fiel zuerst in Ungnade, weil er den Herzog in der Oeffentlichkeit und bei schönen Frauen auszustechen suchte. Wie diese Familie, die so viel dazu beigetragen hatte, ihre Heimat unter das mediceische Joch zurückzuführen, allmählich mit den Medici in Todfeindschaft geriet, ist ein ganzer Roman für sich – es genügt, davon ein einziges Kapitel zu berühren, das tragische Ende der schönen, lebenslustigen Luisa Strozzi, Filippos Tochter, die weder die Geselligkeit des Hofes meiden, noch sich den Werbungen des Tyrannen ergeben wollte, sondern mit erhobenem Haupt und strahlend von Schönheit an dem Herzog, der ihre Abweisung erfahren hatte, vorüberging. Sie starb bei einem Festmahl an Gift – durch die Rachsucht Alessandros, wie gemeinhin angenommen wird; andere sagen, auf Anstiften ihrer eigenen Brüder, die sie den Nachstellungen des Herzogs entziehen wollten, um ihre Familienehre zu sichern.

Herzog Alessandro von Florenz.
Nach dem Gemälde von A. Bronzino in der Galerie der Uffizien in Florenz.

Zwischen den Söhnen Filippos und dem „Philosophen“ bestanden von alters her gute Beziehungen, und sie machten einander aus ihrem Haß gegen Alessandro kein Hehl. Ab und zu fielen Vorschläge, wie der Tyrann zu beseitigen wäre. Aber Lorenzino wollte keine Mitverschworenen – ob er von der Wagehalsigkeit der Strozzi das Fehlschlagen seines Unternehmens voraussah, ob er die Späher fürchtete, von denen er selbst umlauert war: er ging hin und überbrachte dem Herzog die Anschläge, die gegen ihn geschmiedet wurden.

Filippos Söhne, vielleicht von dem unergründlichen Lorenzino selber gewarnt, konnten rechtzeitig aus der Stadt entweichen, der Vater wurde vom Papste in diplomatischer Stellung verschickt, und solange Clemens lebte, blieb der Bruch in der Verwandtschaft verklebt; aber heimlich glühte die Feindschaft weiter. Und Lorenzino, der das Vertrauen beider Teile hatte, fuhr fort, mit unendlicher Kunstfertigkeit auf dem gefährlichen Seile zu balancieren.

Alessandros Regiment wurde nachgerade auch seinen Anhängern unleidlich, und viele sagten sich wie die Strozzi von ihm los. Erpressungen, Grausamkeiten und Gewaltthaten aller Art waren alltägliche Ereignisse.

Mit Zustimmung des Papstes fanden in kurzen Zwischenräumen immer neue Proskriptionen statt. Schon wimmelte es durch ganz Frankreich und Italien von vertriebenen Florentinern, die den Ruf von Alessandros Missethaten über die Welt verbreiteten. Man nannte diese Nation von Verbannten die „Ausgewanderten“, unter welcher Bezeichnung man sowohl die Flüchtigen, denen die Rückkehr verboten war, wie die auf Staatsbeschluß Ausgewiesenen und die zum Zwangsaufenthalt Verurteilten begriff. Auf den Verkehr mit ihnen stand die nämliche Strafe, von der sie selbst betroffen waren.

Unter den Ausgewanderten befand sich fast die ganze Blüte der florentinischen Nation. Noch glücklich die, deren Spruch auf einfache Verbannung lautete und die umherirrten, um Aufnahme zu finden; wen man ganz zu Grunde richten wollte, den verurteilte man zum Zwangsaufenthalt in einer unwirtlichen oder von Seuchen heimgesuchten Gegend, wo der Sträfling entweder sein Brot nicht erwerben konnte und im Elend verdarb, oder von Miasmen getötet wurde. Am liebsten wählte man solche Orte, die gerade von der Pest heimgesucht, oder solche, die durch tödliche Sumpfluft berüchtigt waren. Wer den Strafplatz ohne Erlaubnis verließ, verfiel der Acht und seine Güter wurden eingezogen. Es war das das einfachste Mittel für den Tyrannen, seine Kasse zu füllen; wenn er Geld brauchte, wanderte ein Schub Verdächtiger, die man unter den Reichsten und Angesehensten suchte, ins Exil. Die Klagen der Mißhandelten fanden bei dem Kaiser taube Ohren; in seinen ewigen Händeln mit Franz I von Frankreich brauchte er die Freundschaft oder wenigstens die wohlwollende Neutralität des Papstes, und außerdem sollte seine Tochter Margarete, gleichfalls eine Frucht ungesetzlicher Liebe, sobald sie erwachsen wäre, den Thron des Bastards teilen.

Der unerwartete Tod des Papstes veränderte plötzlich die ganze Lage. Filippo Strozzi fiel jetzt offen von Alessandro ab, er eilte nach Rom und entfaltete eine heftige Agitation gegen den Herzog. Von Florenz aus wurde er samt seinen Söhnen in die Acht erklärt. Vertreibung des Tyrannen, Herstellung der Republik, war seine Losung, auf die von allen Winkeln der Erde die vertriebenen Florentiner in Rom zusammenströmten.

An ihre Spitze trat jetzt eine Persönlichkeit, an der schon lange insgeheim alle Hoffnungen hingen, der junge Kardinal Medici.

Zwischen ihm und dem Sohn der Schwarzen herrschte Todfeindschaft, schon als Kinder hatten sie sich hinter dem Rücken des päpstlichen Oheims gerauft und geschlagen. Als Clemens die beiden noch unmündigen Neffen im Jahre 1525 unter der Regentschaft des Kardinals Passerini zu Herren ihrer Vaterstadt eingesetzt hatte, mußte er ihnen einen getrennten Hofhalt anweisen. Damals galt Ippolito für die Hauptperson, er führte den Titel „Magnifico“, der seit dem Tode des großen Lorenzo keinem Medici mehr so gut zu Gesicht gestanden hatte wie diesem glänzenden Epigonen. Alle Welt hielt damals ihn für den künftigen Gebieter, und Ippolito konnte diesen kurzen Traum der Herrschaft nie vergessen. Er war, wenn nicht von legitimer Geburt, so doch von edlem Blute, denn eine vornehme Dame aus Urbino hatte ihm das Leben gegeben, und durch seinen persönlichen Zauber, die feine Bildung und den Ruf einer unbegrenzten Freigebigkeit war er ganz dazu geschaffen, an die alten mediceischen Traditionen wieder anzuknüpfen. Wiederholt hatte er schon versucht, den verhaßten Vetter durch Ueberrumpelung vom Throne zu stoßen, aber Clemens und der Kaiser vereitelten seine Pläne. Zur Entschädigung wandte der Papst ihm die reichsten Pfründen zu, die er mit echt mediceischer Freigebigkeit verschwendete.

(Schluß folgt.)


[397]

Aus der Wiener Jubiläumsausstellung.

Von Vincenz Chiavacci.0 Mit Illustrationen von Joh. Nep. Geller.
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0397 1.jpg

Pavillon der bosnischen Landesregierung.
( gemeinfrei ab 2025)

Ja ist es denn möglich, an der Neige unseres Jahrhunderts eine Ausstelluug zu bieten, die den gebildeten Mitteleuropäer noch zu reizen vermag? Hat man nicht seit fünfzig Jahren diese Industriebazare und Weltjahrmärkte durchwandert und trotz alles Raffinements in der Anordnung und aller verblüffenden Größe der Ausdehnung doch immer wieder dasselbe gesehen? Aehnlich urteilen viele, aber trotzdem üben die immer wiederkehrenden Ausstellungen eine große Anziehungskraft aus und bieten dem zahlreichen Publikum thatsächlich neues. So muß auch ein Gang durch den Park der Wiener Jubiläumsausstellung im Prater, welche am 7. Mai durch Kaiser Franz Josef feierlich eröffnet wurde, den vorurteilslosen Besucher belehren, daß das Programm dieser Ausstellung schon durch den besonderen Anlaß eine wirklich originelle und interessante Ausgestaltung erfahren hat. Sie ist gedacht als ein großartiger Huldigungsakt zum fünfzigiährigen Regierungsjubiläum des Monarchen und hat den Zweck, die Entwicklung und die Fortschritte auf allen Gebieten der Produktion, der Industrie, des Gewerbes und Unterrichtswesens, der Bildung wie der Wohlfahrtseinrichtungen während der Regierungszeit des Kaisers darzustellen. Die Ausstellung, welche der niederösterreichische Gewerbeverein und die Landwirtschaftsgesellschaft veranstalten, ist mit wenigen Ausnahmen nur eine Ausstellung Wiens und des Landes Riederösterreich; doch wirkt sie teilweise wie eine Reichsausstellung, da das mächtige Kulturcentrum Wien die Entwicklung des Gesamtreiches am getreuesten wiederspiegelt.

Schon die Namen der einzelnen Gebäude: „Wohlfahrt“, „Bildung“, „Jugendhalle“, „Urania“, „Polizei“, „Rettungsgesellschaft“, „Feuerwehr“, „Stadterweiterung“, verraten, daß in diesen Veranstaltungen die kulturelle Entwicklung und die sozialreformatorische Arbeit des Volkes und der Gesetzgebung zum Ausdruck gelangen sollen.

Der Monumentalbau der Rotunde (vergl. Abbildung S. 400 und 401), welcher aus der Weltausstellung von 1873 herrührt, bildet auch jetzt den Kern der Ausstellung. Der ungeheuere Rundbau mit seinen Galerien, Transepten, Höfen und Annexen enthält eine Gewerbe- und Industrieausstellung, immer mit dem Hinblick auf die Entwicklung der einzelnen Zweige während der Regierungszeit des Kaisers. Hierher darf sich der Schritt des flüchtigen Besuchers gar nicht wagen. Die einzelnen Gruppen, Wohnung, Verkehr, Kleidung, Kunstgewerbe, Heeresausrüstung, Arbeit, der Silberhof, der Seidenhof, verlangen Stunden der treuesten Hingebung.

Rechts vom Haupteingang an der Südavenue (zur Rechten auf unserem Bilde) fesselt den Blick ein zierlicher in orientalischem Maßwerk ausgeführter Bau, in dem sich stets zahlreiche Besucher drängen. Er enthält die Ausstellung der bosnischen Landesregierung. Der Architekt Josef Urban hat den Holzbau errichtet und die Maler Alphons Mielich und Hans Wild haben ihn mit Wandmalereien geschmückt.

Es ist kein Wunder, daß dieser Teil der Ausstellung das Interesse des Publikums in ganz besonderer Weise erweckt. Der Wiener liest wohl ab und zu in den Berichten aus den Delegationen, was der Reichsfinanzminister Kallay über die Kulturfortschritte in jenen interessanten, der Monarchie seit zwanzig Jahren angegliederten Ländern erzählt, aber trotz Eisenbahnen und Dampfschiffen ist der Verkehr dorthin ein sehr geringer. Der Wiener erinnert sich an Bosnien, wenn er eine Kompagnie der fezgeschmückten Landessöhne von jenseit der Save über die Ringstraße marschieren sieht, und hier und da schließt eine böhmische Köchin mit einem der schmucken baumlangen bosnischen Soldaten eine Allianz, ohne sich weiter um Geographie und Ethnographie zu kümmern. Für die österreichische Regierung ist aber das Aufblühen und die kulturelle Entwicklung dieser Länder eine wahre Herzenssache, so eine Art Fleißaufgabe, mit welcher sie dem übrigen Europa beweisen will, daß sie gar wohl imstande ist, die Kultur nach Osten zu tragen. Und nach dem, was uns diese Ausstellung zeigt, muß man den Beweis für erbracht halten. Eine zielbewußte Hand hat in den zwei Jahrzehnten eine überraschende Fülle von Kulturkeimen ausgestreut, die in dem genügsamen und intelligenten Volke Wurzel geschlagen und zum Teil auch vielversprechende Blüten angesetzt haben. Uralte halbvergessene Industrien blühen wieder auf und erstarken an den Mustern moderner Kunst. Das Tauschieren, Inkrustieren, Ciselieren, einst durch byzantinische und venezianische Einflüsse in hoher Blüte, war ganz in Verfall geraten, der Geschmack war verroht, die Stilarten hatten sich verwischt. Hier hat die Regierung energisch eingesetzt und der Erfolg lohnte ihre Bemühungen. Heute steht diese Industrie in Bezug auf die Technik der Ausführung auf der höchsten Stufe. Wir verfolgen mit Interesse die Arbeit dieser Kunsthandwerker, die in ihrer Landestracht in bazarähnlichen Räumen vor uns schaffen; daneben sitzen Arbeiterinnen vor den Webstühlen, allerlei künstliche Gewebe fertigend. Wir sehen da einen echten Perserteppich entstehen, eine mühsame Knüpfarbeit, und daneben die Flachweberei, welche minderwertige Arbeit liefert. Die land- und forstwirtschaftlichen Erzeugnisse, die berühmte Tabak- und Weinkultur, die Fischzucht, die Zwetschgenkultur, Schaffelle und Wolle, Honig und Wachs, sowie die im Entstehen begriffene Seidenkultur zeugen von der Ergiebigkeit des Bodens. Die unablässige, stille und kluge Kulturarbeit der Regierung zeigt sich aber am eindringlichsten bei den zahlreichen Modellen von den bereits ausgeführten gemeinnützigen Gebäuden. Man sieht hier Schulen (Medresses), Bäder, Spitäler, nach dem Pavillonsystem konstruiert, das Modell zum Rathaus in Serajevo, ganz in orientalischem Stil gebaut. Der Schöpfer dieser Ausstellung und der werkthätigste Förderer der bosnischen Kulturarbeit, Hofrat Konst. Hörmann, ist als Organisator, Gelehrter und Publizist ein Apostel des Fortschritts.

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Wohlfahrtspavillon.
Pavillon der Stadt Wien.

( gemeinfrei ab 2025)

Sowohl durch Originalität, als auch durch überragende Größe fesselt das Gebäude der Wohlfahrtsausstellung den Blick. Sie giebt ein überaus reiches Bild der während der Regierungszeit des Kaisers geschaffenen öffentlichen und privaten Wohlfahrtseinrichtungen. Der Kampf zwischen alter und neuer Kunstrichtung wird auch bei diesem Bau zum Ausdruck gebracht, und man muß gestehen, daß der Architekt Ernst v. Gotthilf bei allem Respekt vor der Tradition für eine moderne Sache eine moderne Kunstsprache mit Erfolg angewendet hat.

Ohne übermäßigen Prunk, wie Säulenordnungen, Attiken, Balustraden, steht der Pavillon in seiner charakteristischen Einfachheit da: die pylonenartigen Seitenflügel tragen als Krönung ein pergolaähnliches Lattendach. Den einzigen Schmuck bildet ein al fresco gemalter Fries von Ferd. Graf: „Der Hain der Wohlfahrt“.

Das Innere ist ein Gabentempel des menschlichen Mitleids. Die Sorge für die Schutzbedürftigen und Schwachen und all die Schöpfungen zu ihrem Wohle, wie Waisenhäuser, Kinderasyle, Rettungshäuser, Taubstummen- und Blindeninstitute, Kindergärten, Kinderkrippen, bilden die eine Abteilung. Das Sanitätswesen, die Assaniernngseinrichtungen, Wasserleitungen, Kanalisation, Lebensmittelpolizei die zweite Gruppe. Daran schließen sich in schier unübersehbarer Zahl alle [398] übrigen Wohlfahrtseinrichtungen. Wir können daraus nur die in eigenen Pavillons untergebrachten Ausstellungen der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft, der Kinderbrutanstalt, des Leichenverbrennungsvereins „Die Flamme“ und, was für jedermann von besonderem Interesse ist, die überaus gelungene Ausstellung der k. k. Pölizeidirektion hervorheben. Der Präsident und Organisator der Wohlfahrtsausstellung, dieses imposantesten Werkes der ganzen Ausstellung, ist der Sanatoriumsdirektor Dr. Anton Löw.

Von prunkvoller, überladener Architektur, aber von großer, dekorativer Wirkung ist der Pavillon der Stadt Wien, ein preisgekröntes Werk der Architekten Brüder Drechsler. Hier findet der alte Wiener tausend Anregungen für einen stillen, melancholischen Rückblick. Im Saale von Alt-Wien kann er stundenlang bei den zahlreichen Aquarellen mit Motiven aus vormärzlicher Zeit verweilen und mit heimlicher Rührung all die trauten Plätzchen aufsuchen, die einst den Schauplatz leuchtender Jugendträume bildeten. Die Basteien und Glacis, der Stadtgraben mit seinen Pappeln, das Wasserglacis mit seinem heiteren Kindertreiben und das „Paradeisgartl“! Da stehen sie vor ihm, die Männer mit der Nankinweste, den Stulpenstiefeln und dem Kastorhut und die Frauen mit dem „Wal“ und „Retikul“ und dem großdachigen Strohhut. Sie reden von „Backhändeln“ und süßem Wein und von der letzten Beleuchtung, und in ihren Beinen zappelt ein unerlöster Walzer von Strauß oder Lanner.

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Gebäude des Uraniatheaters.( gemeinfrei ab 2025)

Rechts vom Huldigungsfestsaal, der mit einer Kaiserstatue von der Meisterhand Rudolf Weyrs geschmückt ist, sieht man Neu-Wien mit bildlichen Darstellungen des jetzigen und des zukünftigen Wien, der Boulevards und der Stadtbahn. Auch das Bürgermeisterzimmer mit den Porträts der einstigen und der gegenwärtigen Stadtoberhäupter ist viel besucht. Die Gesamtthätigkeit der städtischen Verwaltung ist durch eine große Zahl sehr instruktiver Modelle, Pläne und Ansichten dargestellt. Nicht minder reichhaltig ist die benachbarte Ausstellung des Stadterweiterungsfonds, der Donau-Regulierungskommission und der Kommission für Verkehrsanlagen.

Die sehr ausgedehnten Bauten, welche die Bezeichnungen „Jugendhalle“ und „Bildung“ führen, dienen beide dem Zwecke, die Entwicklung und die Fortschritte aufzuweisen, welche das Erziehungswesen und die der allgemeinen Bildung dienenden Künste und Industrien während der Regierungszeit des Kaisers gemacht haben. Die Jugendhalle enthält auch einen Vortragssaal, in welchem populäre Vorlesungen und Skioptikon-Vorstellungen stattfinden.

In erhöhtem Maße noch trägt die „Urania“ dem Bildungsbedürfnisse Rechnung. Auf einer Bodenfläche von 13 000 Quadratmetern ist hier eine Anzahl von Gebäuden vereinigt, die verschiedenen wissenschaftlichen Zwecken dienen. Die Mitte nimmt das wissenschaftliche Theater ein; an dieses schließen sich im doppelten Halbkreis die Ausstellungssäle, die Sternwarte, der Projektionssaal und der Botanische Garten an. Das imposante Gebäude ist von dem Architekten Ludw. Baumann entworfen und mit modernsten Motiven ausgestattet. Dr. Aristides Brezina ist der Leiter des Unternehmens, das dem mustergültigen Vorbild der Berliner „Urania“ nachgebildet wurde. Im Theater werden im Laufe der Saison vier Stücke aufgeführt werden: „Das Eisen“, „Quer durch Oesterreich“, „Der Kampf mit dem Nordpol“ und „Fahrt durch den Gotthard“. Außerdem phonographische und kinematographische Produktionen und anderes mehr, so daß die Besucher den ganzen Tag in Atem gehalten werden. Die Aufzählung all der vielfachen Anschauungsmittel zur Erweiterung des Wissens auf allen Gebieten würde ermüden.

Aber auch der eifrigste Besucher wird früher noch als der bekanntlich stets „geneigte“ Leser des „trockenen Tones“ satt, und er sehnt sich hinaus „aus der Straßen quetschender Enge“, um sich im Freien zu ergehen und sich mit Tausenden von Gesinnungsgenossen des herrlichen Licht- und Farbenbildes zu erfreuen, das der Ausstellungspark und das fröhlich auf und ab flutende Publikum bieten. Und diese gegenseitige Selbstausstellung ist ein wichtiger Teil jeder Ausstellung.

Die ungemein große Zahl derer, welche die Ausstellung erst nach des Tages Last und Mühen besuchen können, macht keine langen Umwege, sondern sucht auf dem nächsten Weg die „Avenue der Ernährung“ auf, wo es Atzung in tausend lockenden Gestalten giebt. Während sich die Südavenue, die Avenue der Belehrung, zu einem eleganten Korso gestaltet, hat die „Avenue der Ernährung“ ein sehr wißbegieriges Publikum, das den einzelnen Objekten, wie „Wiener Brauherrenverein“, „Pilsner Brauerei“ und „Weißhappel“, Weinkosthalle und Kleinoscheggs Champagnerpavillon, dem Riesenfaß und wie die freundlichen Oasen alle heißen mögen, die gründlichste Beachtung schenkt. Ja, es giebt gewissenhafte Besucher, welche von einem Pavillon zum andern pilgern, um zu kosten und Vergleiche zwischen den einzelnen Bieren anzustellen. Das Hauptrestaurant und das Hauptcafé, welche die Mitte der Ausstellung einnehmen, bieten Tausenden Unterkunft. Hier spielt Musik, hier verkehrt das Publikum zwischen der Nord- und Südavenue. Wie mächtig und prächtig hebt sich von hier aus der Rotundenbau vom Firmament ab! Und wenn man Geduld hat, braucht man nicht einmal aufzustehen, um etwas zu sehen; denn die Ausstellungsobjekte fliegen auch in der Luft herum. Alle zehn Minuten steigt der Fesselballon, ein scheußliches Ungeheuer, „halb Molch, halb Drache“, etwa dreihundert Mieter in die Luft. Man kann dann manchmal eine todesmutige Luftseglerin im Korbe beobachten, welche für 10 Kronen das Gruseln lernt und mit ihrem Sacktuch eifrig von der Menschheit Abschied nimmt.

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Gebäude der Bäckereigenossenschaft.
Pavillon des Brauherrenvereins.
( gemeinfrei ab 2025)

Von den hervorragendsten Objekten der Ernährungsausstellung seien hier der Wiener Brauherrenpavillon und der Pavillon für Bäckereiausstellung erwähnt. Im Pavillon des Brauherrenvereins, einem ausgedehnten Bau mit lustigen Lauben, bringen 16 Brauereien von Niederösterreich ihre Biere zum Ausschank. Die Wände der offenen Hallen sind mit Fresken geschmückt, welche Scenen aus dem Hopfenbau und der Bierbereitung darstellen.

Die Wiener Bäckereigenossenschaft hat sich von den weitbekannten Theaterarchitekten Fellner und Helmer einen Palast im Renaissancestil erbauen lassen, der aus zwei mit Arkaden verbundenen Flügeln besteht. Ueber den Arkaden läuft eine Galerie, die in eine prächtige Terrasse übergeht, auf der abends ein kühles und angenehmes Verweilen ist. Unter den Arkaden sieht man die feineren Erzeugnisse der Bäckerei sowie die der verwandten Gewerbe. Hier kann man die Erzeugung des Wiener Gebäcks, welches einen Weltruf genießt, in der nächsten Nähe beobachten.

Es gäbe noch unzählige Gegenstände, die eine eingehende Würdigung verdienten, so die Ausstellung landwirtschaftlicher Produkte, die Gartenbauausstellung, die Spezialausstellung der Bukowina; doch das würde den Umfang eines orientierenden Artikels weit überschreiten. Soviel kann heute schon gesagt werden, daß die Ausstellung den Wienern und sichtlich auch den Fremden gefällt. Die schönen Tage Mitte Mai wiesen eine Besuchsziffer von 30000 bis 50000 Personen auf. Wien, die immer jünger und schöner werdende Kaiserstadt, schmückt sich gar prächtig zum goldenen Hochzeitsfeste mit ihrem Herrn, und eine Reihe glänzender Feste, wie das fünfte österreichische Bundesschießen, der Huldigungsfestzug der Kinder und andere Jubelakte, wird den Ruf des alten fröhlichen Wien aufs neue befestigen.


[399]

Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.

 (12. Fortsetzung.)

Christel ist bei Heines gerade zur rechten Zeit eingetroffen. Nicht die Kinder, die kleine Frau Heine selbst ist erkrankt und er geradezu in Verzweiflung.

Man hat, so gut es geht, in der engen Wohnung ein Absperrungssystem eingerichtet und ein blutjunges Mädchen, die Tochter des Portiers, gebeten, vorläufig auf die drei Kleinen, die in einer nach dem Hofe gelegenen Stube untergebracht sind, zu achten. Sie hilft im Theater bei Ballett- und Volksscenen, eine ihrer Glanzrollen ist z. B. die Braut in der „Puppenfee“, und scheint der ihr ungewohnten Aufgabe nicht gewachsen. Der Junge schreit gottserbärmlich nach Tante Heine, die kleinen Schwestern zur Gesellschaft mit, und das bleichsüchtige sommersprossige Mädchen ist nahe daran, zu verzweifeln. Ein paar Klapse auf Lothars zornig geballte Hände machen die Situation nicht besser. Das Hausmädchen fährt wie eine Tolle ins Zimmer.

„Lassen Sie doch die Kinder nicht so brüllen, die Frau kann’s vor Kopfweh nicht aushalten!“

„Ich auch nicht!“ antwortet das verdrießliche Geschöpf, „warten Sie die Schreihälser selber! Ich gehe!“

„Na, dann laufen Sie! ’s is kein Schade!“ schreit das Dienstmädchen, das Frau Heine von Wartau gefolgt ist. „Wenn ich nur um Gottes willen wüßte, wo ich in der fremden Stadt hier eine Menschenseele finden könnte, die da hilft!“ jammert es dann. Es hat ganz den Kopf verloren. „Lotharchen, bis doch stille! Ich kauf’ dir auch ein Pferdchen – ja, bist stille?“

Und nun läuft sie wieder in die Krankenstube der Frau. „Nee, so’ne Last, so’ne Last!“ murmelt sie.

Heine ist derweilen in die Apotheke gegangen. Als er zurückkommt, trägt eben ein Arbeiter einen Kindersarg ins Haus. Er weiß, droben im vierten Stock ist das dreijährige Mädchen gestorben. Auf einmal hört er hinter sich einen Laut, einen unterdrückten Schreckensruf, und als er sich umsieht, steht da eine große Frau am Fuße der Treppe und blickt mit starrem Auge dem Manne nach, der eben um eine Biegung der Stiege verschwindet.

„Mein Gott!“ Mit zwei Sprüngen ist Heine wieder unten.

„Frau Mohrmann! Nein, zu uns trägt er’s nicht, unsere sind – noch sind sie gesund, Frau Christel! Aber – meine Frau, die ist krank! Ach, Frau Mohrmann – na, gehen Sie vorauf; gelt, ich weiß, warum sie kommen?“

„Die Kinder! Wenn Sie sie mir anvertrauen wollen?“

„Gottlob!“ antwortet er.

Kaum dreiviertel Stunden später rollt die Droschke mit Christel und den drei Kindern zur Bahn. Sie hat keinerlei Hilfe, das Mädchen ist bei der kranken Frau Heine nicht zu entbehren. Sie nimmt zwei Dienstmänner, die die Zwillinge tragen, faßt Lothar an der Hand und drängt sich durch das Menschengewühl in ein Coupé dritter Klasse. Hier giebt’s mitleidige Seelen, alle helfen Christel. Die kleinen Mädchen, so gleich groß und sich so ähnlich in ihren grauen Mäntelchen und Kapotten, erregen allgemeine Bewunderung. Während der Fahrt steht der Junge am Fenster und sieht aufmerksam in die vorüberfliegende Gegend; das eine der kleinen Fräulein schläft auf dem Sitz in Decken gebettet, das gutherzige Frauen bereiten halfen, das andere in Christels Armen. Sie wagt kaum, sich zu rühren, um das Kind nicht zu stören, ihr ist so wehmütig glücklich zu Mute.

Sie hat mit Heine ausgemacht, daß Mohrmann nichts wissen darf, er würde sich nur ängstigen über die Folgen der Gefahr, in der die Kinder geschwebt haben, und es ist überhaupt besser. „Nicht wahr, Sie versprechen mir’s, Heine? Es bleibt immer unter uns?“ hat sie gebeten. „Ja, ja, Frau Mohrmann, ich verstehe schon, warum.“

Christel weiß nun auch, wo Anton weilt. Mit einem Berliner Kaufmann, einem Güterspekulanten, ist er in der Provinz Posen, um dort die Administration eines Gutes zu übernehmen, das der reiche Mann erstanden hat und auf dem er allein nicht fertig wird. Eine verantwortliche Stellung, die wenig einbringt, in der es täglich viel Aerger giebt, aber doch Thätigkeit, Arbeit – um zu vergessen.

Christel seufzt. Sie kann sich den frischen, stolzen Menschen schwer vorstellen unter der Oberhoheit eines solchen Herrn, ihn, der die Güterspekulanten so gehaßt hat, der so frei zu handeln gewohnt ist. Ihre Augen irren von der Kleinen im Schoße zu der Schlummernden neben sich, von dort zu dem Jungen.

„Sind wir bald da?“ fragt er.

„Bald. Aber einmal müssen wir noch in eine andere Bahn steigen.“

„Ich möchte aber nicht mehr Eisenbahn.“

„Ja, ja. Wenn wir angekommen sind, dann steigen wir aus und setzen uns in einen Wagen mit zwei schönen braunen Pferden davor.“

Die Kinderaugen leuchten. „Ist mein Papa da?“ fragt er.

„Nein, Lothar.“

„Onkel Heine hat’s aber doch gesagt?“ Die Miene des Kindes verzieht sich zum Weinen.

„Vielleicht kommt er bald, mein Junge; wir wollen ihn darum bitten, aber du mußt artig sein und darfst nicht weinen. Sieh mal, nun pfeift’s und wir setzen uns in eine Eisenbahn, die klingelt, wenn sie fährt.“

Auch hier wieder geschäftige hilfreiche Hände; Christel ist so gar nicht gewöhnt, mit Kindern umzugehen, aber sie kommt doch glücklich ins Coupé. Ein Frauencoupé erlangt sie freilich nicht in der Eile, es sitzt ein Mann darin, Schwager Wendlandt. Er scheint ein bißchen verlegen, als er die Frau mit der Kinderlast sieht, Louischen hat ihm die halbe Nacht von der Verrücktheit Christels vorgepredigt, aber er hilft ihr bereitwillig, und Christel dankt mit so herzlichen Worten, daß er seufzt, wie er an seine fehlgeschlagene Werbung denkt.

Wie sie so lieb ist mit den Kindern, wie ihre Augen leuchten! Daß Schwestern so verschieden sein können!

„Lassen Sie nur, Schwägerin,“ wehrt er, als Christel Lothar auffordert, von den Knieen des Mannes zu gehen, „der Junge wird mir nicht zu schwer.“ Und dann zieht er eine Tüte Bonbons aus der Tasche, die er für seine Kinder eingekauft drunten im Flecken, wo er geschäftlich zu thun hatte, und hält sie dem kleinen Wicht hin: „Iß, mein Junge!“

Aber der schüttelt den Kopf. „Ich esse keine Bonbons, die sind zu süß, Papa mag auch keine,“ antwortet er verächtlich.

Christel lächelt unmerklich. Das Aeußere hat das schöne Kerlchen von seiner Mutter, aber Antons Sinnesart ist’s über und über. Und der einfache Mann, der ihn auf den Knieen hält, lächelt auch. „Bleib’ nur so bei,“ sagt er leise und streichelt die seidigen braunen Härchen, die unter dem etwas verbrauchten Matrosenmützchen hervorsehen, „wirst’s nötig haben.“ – Er hilft Christel dann noch in ihren Wagen nach der Ankunft auf der Station, und als sie wohlverpackt darinnen sitzt, reicht er ihr treuherzig die Hand.

„Adieu, Schwägerin, und lassen Sie’s mich nicht entgelten, was Louise redet – sie meint’s wohl nicht so böse.“

„Nein, Schwager, sie meint’s sicherlich nicht böse, und wie Sie denken, das weiß ich ja,“ erwidert Christel und drückt ihm besonders herzlich die breite Rechte. Dann besteigt auch er sein Gefährt und Christel fährt ihre kleinen Gäste heim in den Rödershof.

Als Frau Wendlandt durch ihr Stubenmädchen hört, daß die „Rödershofsche“ mit drei Kindern heute mittag heimgekommen sei, ruft sie ihrem Manne zu, der eben aus der Thüre gehen will: „Na, nun füttert sie Antons Erben!“ Sie lacht dabei, daß ihr die Thränen in den Augen stehen, und der älteste sechsjährige Stiefsohn erhält einen Klaps, weil er mitgelacht hat.

„Komm’, mein Fritzchen,“ sagt Wendlandt und nimmt das weinende Kind mit sich.


Das ist eine Lust in der Kinderstube des Rödershofes! Das alte Haus hat schier ein vergnügtes Aussehen gewonnen, seitdem hinter den Scheiben droben die Kindergesichter sich zeigen und die kleinen Nasen an dem Glase sich breit drücken. Die Mägde und Knechte gucken mit Lachen hinauf und Christel steht hinter den Kindern und läßt sie hinuntergrüßen und nicken; für sie ist’s ein [400]

Nach einer Aufnahme der Graphischen Kunstanstalt von F. Kuranda in Wien.

Jugendhalle. Brauherren[?]in. 0 Avenue der Ernährung. Bosnische Ausstellung.     Rotunde.
„Urania“ Bäckereiau[sste]llung. Fesselballon. Pavillon der Stadt Wien.
Die Jubiläums-Ausstellung in Wien.


einziger schöner Traum. Von dem dunklen Hintergrunde der einsamen gramvollen letzten Jahre heben sich die lebensfrischen Kinderköpfchen zauberhaft ab. Und Christel giebt sich ganz dem neuen Glücke hin, das doch nur ein erborgtes ist, sie opfert sich wahrhaft auf in der Sorge für die kleinen Geschöpfe.

Nach einigen Tagen hängen die Kinder schon an ihr, als habe sie dieselben seit Anbeginn gepflegt und gewartet. Die „Erben“, wie Frau Wendlandt im Gespräch mit andern die Pflegekinder ihrer Schwester nennt, wachsen fest in dem Herzen der Rödershofschen, so fest, daß ein Losreißen, das ja unvermeidlich ist über kurz oder lang, blutige Wunden bedeuten würde. Mit Spannung durchsucht Christel die Zeitung nach den Gesundheitsberichten aus Dresden, mit Spannung erwartet sie den Briefträger, der Nachricht bringen soll von dem Ergehen der kleinen Frau Heine. Und eines Tages liest sie:

„Meine Frau ist heute zum erstenmal wieder aufgestanden; ich denke, in etwa vierzehn Tagen werden wir Sie von der Last befreien, Frau Christel, werde ich die Kinder holen können.“

Sie ist so erschüttert darüber, so verzweifelt, daß sie nach ihrer Schlafstube flüchtet und in heiße Thränen ausbricht. Noch nie war sie so glücklich wie in den letzten vier Wochen. Sie hat das Gefühl, als müsse sie denjenigen, der ihr die Kinder nehmen will, wie eine gereizte Löwin anspringen. Warum darf sie sie nicht behalten? Was haben die Heines für ein Recht auf sie? Keins! – Nur daß der Vater sie ihnen übergab, ja, ja, das ist’s!

Sie geht umher, als sei ein ihr teures Leben dem Tode verfallen; die Kinder sehen ihr scheu in die Augen. Sie will sich zusammennehmen, sie schilt sich selber aus, sie hat’s ja doch gewußt, daß ihr nur auf kurze Zeit die Freude gegönnt sei, und bricht dann wieder zusammen unter dem Schmerz, sie hergeben zu sollen.

„Vielleicht verkauft er sie dir,“ sagt Frau Wendlandt, die doch sehr bald wiedergekommen ist zu Christel, „frag’ ihn doch? Da er jetzt doch nichts mehr besitzt, sind Erben überflüssige Gegenstände, und du hast ja nun wohl wieder ein bißchen, was du vertrödeln kannst für andere?“

Christel antwortet ihr nicht. Die Schwester ist kaum zu ertragen mit ihrem hämischen Spott und stellt ihre Geduld auf eine harte Probe. Christel sitzt unter ihren Lieblingen in der [401] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



Kinderstube und näht. Eine ganze kleine Aussteuer hat sie für die Würmchen schon fertig; es wird ja bald Frühling und die kleine Frau Heine wird während ihrer Krankheit kaum imstande gewesen sein, für Söckchen und Röckchen, Leibchen und Hemdchen zu sorgen.

Frau Wendlandt hat sich in die Nähe des Ofens gesetzt, ohne abzulegen, und betrachtet die drei Kinder. Der Junge baut auf der Diele ein Haus aus den roten und weißen Sandsteinen seines Baukastens, und die kleinen Mädchen spielen mit hölzernen Tierchen auf dem alten Teppich. Marie bringt einen Brief und fragt, ob der Postbote eine Tasse heißen Kaffee haben solle, es sei ein gar scharfer Märzenwind draußen.

Christel nickt. Sie wendet das Schreiben hin und her und fürchtet sich, es zu öffnen, es steht ja doch nichts weiter darin, als die Meldung von Heines Kommen, der die Kinder holen will. Endlich, immer unter der Schwester beobachtenden Augen, erbricht sie das Couvert, und ein paar Sekunden später sitzt sie auf dem Teppich neben den kleinen Mädchen und küßt sie unter Lachen und Weinen. So außer sich vor Freude ist diese große Frau, daß die Schwester ein halblautes: „Sie ist verrückt!“ murmelt und sich erhebt.

„Lothar!“ ruft Christel, „du bleibst bei mir, noch lange, lange!“

„Na, drum auch!“ murmelt Frau Louischen, „da gratuliere ich herzlich; hab’s ja gestern abend noch gesagt zu meinem Mann, die Heines wären blau, wenn sie die Last wieder nähmen. – Und wann kommt denn der Vater dazu?“

Was schert Christel das Gerede! Vorläufig bleiben ihr die Kinder, das überwiegt auch das Widerwärtigste; sie ist in ihrem Glücksrausch nicht fähig, sich zu ärgern. Sie nimmt eine Mark aus dem Geldbeutel. „Da, Lothar, trag’s dem Mann hinunter, der den schönen Brief gebracht hat.“

Der Kleine zieht ab mit seinem Geldstück in der Faust, ganz wichtig und glücklich.

„Na, dann will ich nur gehen,“ erklärt Louischen, „du hast ja doch wohl keine Zeit jetzt für mich?“ Auf der Treppe begegnet sie dem zurückkehrenden Jungen.

„Tante Ise böse ist?“ fragt er, als die Frau ihn ärgerlich ansieht. Aber er bekommt keine Antwort und trippelt ganz empört darüber wieder nach der Kinderstube, wo Christel, [402] noch am Boden bei den Schwesterchen sitzend, den Brief liest. Heine teilt ihr mit, daß er eine Stellung gefunden habe, daß er unverzüglich nach Ostpreußen abreise, wohin ihm seine Frau sobald als möglich nachfolgen soll. Unter diesen Umständen bitte er herzlich, die Kinder einstweilen noch behalten zu wollen, bis er dort eingerichtet sei und mit Herrn Mohrmann gesprochen habe, den er aufsuchen werde.

In diesem Augenblick glaubt Christel an alles Gute in dieser Welt, in diesem Augenblick ist sie fähig, jede böse Auslegung ihrer Handlungsweise zu tragen, an Mohrmann zu schreiben: Lasse mir die Kinder, ich will sie erziehen! Wenn du mich auch nie geliebt hast, so wirst du doch in unserer Ehe die Ueberzeugung gewonnen haben, daß du dann die Kinder dem Schutze einer pflichttreuen Persönlichkeit anvertraust. Ich will keinen Dank, ich verlange nicht, daß du mich auch sehen sollst, wenn du das Bedürfnis fühlst, deine Kinder zu besuchen. Du hast mich einst so arm gemacht, mache mich wieder reich, indem du mich zu ihrer Hüterin wählst.

Dann schreckt sie zusammen. Was wird er sagen, wenn Heine ihm erzählt, bei wem seine Kinder sind? Und wieder wird sie still unter den anstürmenden Zweifeln, dem Bangen, das ihre Seele erfüllt. Wie, wenn Heine schreibt: Herrn Mohrmann ist die Sache sehr fatal, er wünscht seine Kinder jetzt selbst zu haben, oder dergleichen?

Sie denkt nach; vor ihrer Seele entsteht das Bild des Mannes, mit dem sie jahrelang gelebt in treuer Gemeinschaft. Sie kennt ihn so genau, er war nicht kleinlich, nie; nein, das wird er nicht sagen, aber er wird sich vielleicht schämen, von ihr, der Verstoßenen, Wohlthaten zu empfangen. Ja, das wird’s sein, das!

Wenn sie ihm doch zeigen könnte, wie es in ihrem Herzen aussieht, das nie einen Groll, das nichts weiter als den Schmerz um seinen Verlust, als das Verlangen, ihn glücklich zu sehen, gekannt hat. Ihren gekränkten Stolz, wie bald hat sie den überwunden gehabt, und die Sehnsucht, ihm zu beweisen, daß sie ihm verzieh, ist heute noch ungestillt.


Scorodowo heißt das Gut, wo Anton eine Stelle angenommen hat. Ein einstöckiges, recht vernachlässigtes Wohnhaus, ebenso vernachlässigte Stallungen und Scheuern; ein Hof, auf dem man im Morast fast versinkt; ein Haufen verdrossener Leute, schlecht gepflegte Pferde, jämmerliche Kühe; an Inventar wertloses veraltetes Gerümpel – da steht er mitten inne und soll den Phönix aus der Asche neu erstehen lassen. Sein Prinzipal erwartet das von ihm, aber – es darf nichts kosten. Es soll ein Schaugericht werden, dieses Scorodowo, denn er will es baldmöglichst weiter verkaufen.

Anton hat das Nötigste, was durchaus geschehen muß, zusammengestellt, hat einen Kostenanschlag hinzugefügt und vor mehreren Tagen nach Berlin geschickt. Vorhin ist die Antwort gekommen: alles viel zu hoch gegriffen! Wozu die halbverrotteten Gebäude so gut wie neu bauen? Frische Tünche ist die Hauptsache! Die Löcher auf dem Hofe zuwerfen, andere alte Ziegel statt der zerbrochenen, schadhaften auf die Dächer, das genügt! Wenn man von Grund aus bessern wolle, sei nichts zu verdienen, das wisse der geehrte Herr Inspektor wohl aus eigener Erfahrung.

Anton sitzt in der ebenerdigen Stube des Herrenhauses, in welcher das ehemalige Parkett große Löcher zeigt und die Tapeten vor Feuchtigkeit locker geworden sind; prächtige Tapeten einst, aber verschmutzt wie alles hier. Die defekten Dielen hatte der polnische Besitzer einfach mit echten Smyrnateppichen zudecken lassen und auf den Tapeten hingen die großen Bilder seiner Ahnen; es sah äußerlich immerhin sehr stattlich aus – was darunter war, kümmerte ihn nicht, und seine Gäste erst recht nicht.

Anton friert in dem großen Raum, dessen Kamin kaum noch gebrauchsfähig ist. Ein paar dürftige Möbel stehen umher, die bei dem Juden im nächsten Orte gekauft sind. Auf dem wackligen Tisch vor dem Sofa, einem sogenannten Rückenbrecher, ist das Vesperbrot serviert. Das Birkenfournier dieses ungedeckten Tisches hat Brandstellen und Blasen von der langjährigen schlechten Behandlung, das Geschirr ist ganz defekt. Er war vom Felde gekommen vor einem Weilchen und hat den Brief des Besitzers vorgefunden mit der Ablehnung seiner Vorschläge. Anton hat den besten Willen gehabt, die Karre, die Scorodowo heißt, aus dem Schmutz zu ziehen; jetzt ist er entmutigt, gänzlich entmutigt. Was soll er hier? Um etwaigen Käufern die wertlose Klitsche aufzuschwatzen, nachdem sie frisch getüncht und mit Mühe und Not oberflächlich in stand gesetzt wurde?

Er würde jedem einzelnen sagen: „Geben Sie den Gedanken auf, wenn ich raten soll, dafern Sie nicht sehr viel überflüssiges Geld haben. Es ist alles faul hier, jämmerlich faul!“ Und er hätte doch froh sein müssen, diesen Platz so rasch gefunden zu haben, durch seinen Nachfolger auf Wartau, der ihm, gönnerhaft tröstend, seine Unterstützung verhieß, falls er eine Stelle suche, und der auch hielt, was er versprach, der Herr von Salamonsky. Der Unterschlupf fand sich – Scorodowo heißt er.

Anton Mohrmann sieht sich kaum noch ähnlich, Schlag auf Schlag hat’s ihn getroffen in den letzten Jahren; bis genau acht Wochen nach Ediths Tode das Ende kam. Wie er die Zeit nur überstanden hat, das Jammern der alten Damen, als die Siegel vor die Schränke und Zimmer gelegt wurden, den Tag, an dem die Kommission da war und die Käufer auf den Hof fuhren! Er stand bei Heine am Fenster, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt, und sah mit an, wie die Herren aus dem Schloß kamen, um die Ställe zu besichtigen und die Scheuern, allen voran der korpulente Baron mit der Adlernase und der schweren goldnen Uhrkette auf dem Magen. Die kleine Frau Heine war mit verweinten Augen um ihn herum geschlichen, immer vergebens ihm ein Glas Rotwein präsentierend, er hatte alles abgelehnt.

Die Kinder spielten nebenan in der Wohnstube, in welcher er so arbeitsreiche, gesegnete Jahre mit Christel durchlebt hatte; die alte Clauß ist zum letztenmal bei ihnen. Sie muß gehen, obgleich sie sich erboten hat, für den halben Lohn zu bleiben. Anton weiß, die Frau hat Kinder und Enkel, und was im ersten überschäumenden Mitleid geboten wird, soll man nicht annehmen, man soll den Leuten Zeit lassen, daß sie sich darauf besinnen, wieviel sie thun wollen und können für uns, ohne daß es ihnen eine Last wird, daß die Reue folgt. Gewöhnlich ist es dann wenig, was bleibt, mitunter auch gar nichts; aber besser, als voreilig Gebotenes, mit Seufzen Vollbrachtes annehmen.

Am liebsten wäre er mit den Kindern hinausgezogen in das Leben, das Armut und Arbeit für ihn bedeutet, aber sie sind noch gar so klein, sind noch so der Pflege bedürftig, die Würmer, sie können weibliche Hilfe noch nicht entbehren. Fräulein Josepha hat im Dorfe eine Stube mieten wollen für sich und die Kleinen, aber sie ist doch zu alt und zu kränklich, ihr guter Wille würde größer sein als die physische Kraft. Es bleibt nichts weiter, als Heines Anerbieten dankbar, wenn auch bedrückt, zu erfassen, die letzten Hundertmarkscheine ihm zu übergeben als Pension, obgleich die gutherzigen Leute sich sträuben, es anzunehmen, und vom Himmel zur Erde bitten: wenn Herr Mohrmann wieder in einer besseren Lage sei, würden sie sich’s einfordern. Aber davon hat er nichts wissen wollen, er muß ja eine Existenz finden, die ihm bald Brot verschafft, er muß – –

Es ist sehr schwer, er hat sich’s so nicht vorgestellt. Die Leute sind unzuverlässig: eine deutsche Wirtschafterin, die er auf eine Zeitungsannonce hin engagiert hatte, um doch eine verständige Person bei der Milchwirtschaft und der Geflügelzucht zu haben, ist auf dem Fleck umgekehrt, als sie das verlotterte Anwesen sah, und die schlampige polnische Person, die er als Ersatz bekam, läßt’s drüber und drunter gehen, fährt abends zu Tanz in den nächsten Ort und ist in der Woche regelmäßig ein paarmal betrunken. Die Mägde sind frech, faul und verstehen angeblich kaum ein deutsches Wort, und mit den Knechten ist’s erst recht keine Freude. Den deutschen Hofmeier, der auch neu ist, haben sie am letzten Sonnabend halbtot geschlagen, als er versuchte, ihnen Beine zu machen bei der Arbeit. Betrunken wie die Stiere lauerten sie ihm auf, als er vom Dorfe zurückkam; wäre Anton nicht dazwischen getreten, sie hätten ihn thatsächlich umgebracht.

Wie soll er fertig werden, wenn ihm die Mittel verweigert werden, durchgreifende Neuerungen zu schaffen? Wenn ihm keine tüchtigen Kräfte zur Seite stehen? Er hört eben wieder die gellende Stimme der polnischen Wirtschafterin, ein wahrer Höllenlärm dringt herein, Schimpfen, Gekreisch, dumpfes Gepolter. Er rührt sich nicht, es ist alle Tage so; ihm sind die Mägdeangelegenheiten des Haushalts stets widerwärtig gewesen, [403] er hat sich nie darum gekümmert. Und plötzlich erinnert er sich, daß er damals, als er Wartau pachtete, an seinen Freund Karl in Dresden schrieb: „Eine Frau gehört in solche Wirtschaft; ich will heiraten, alter Freund, eine brave arbeitsame Frau will ich nehmen – ich glaube, ich weiß eine.“

Ja, Christel, wenn du hier wärst! Eine Freude, neben dir zu schaffen, eine wahre Gottesfreude! Hab’s dir schlecht gelohnt und bin hart dafür gestraft worden, härter als du! Seine Gedanken kommen nicht fort von Christel, sie bleiben hängen, als hätten sie Häkchen. – Er sieht sie hier im Hause Ordnung schaffen, er sieht sie über seine drei mutterlosen Kinder gebeugt, er hört ihre Stimme: „Nur Mut, Anto, es wird alles gehen!“ Auf den Knieen würde er hinrutschen nach dem fernen Sachsen, nach dem Orte, wo sie lebt, um sie wiederzuholen – wenn er dürfte. Dann lacht er auf. Sie würde sich schön bedanken, und sie hätte recht!

Eine der polnischen Mägde meldet jetzt: „Da is sich fremder Mann draußen, will sich sprechen Pan Mohrmann.“

Anton erhebt sich. „Lassen Sie den Herrn eintreten.“ Im nächsten Augenblick steht Heine im Zimmer, ganz rot vor Freude.

„Ja, nun sagen Sie mal, Herr Mohrmann, wie geht es Ihnen denn? – Wie ich daher komme? Auf der Fahrt in meine neue Heimat natürlich! Ja, wie sonst wohl?“

Anton schüttelt ihm noch immer die Rechte. „Willkommen, Heine, lieber Heine! Wissen Sie, im ersten Augenblick, und wenn man so gar keine Ahnung hat – ich dachte, es wäre was mit den Kindern –“

„I bewahre, Herr Mohrmann, putzmunter, kreuzfidel, gar nicht besser zu wünschen! Aber wie geht’s Ihnen denn? Ich konnt’ schon nicht anders, hab’ den Umweg gemacht, bin in Kreuz ausgestiegen und herspaziert.“

„Wie es mir geht? Ach Gott, Heine – na – ich will lieber nicht davon anfangen –. Lange werd’ ich’s wohl nicht hier machen: wenn Sie mal etwas hören – –. Gottlob, mein Kontrakt läuft nur auf ein Jahr, im Juli ist’s überstanden; wenn die Klitsche früher verkauft wird, wär’s mir noch lieber. Aber vor allem setzen Sie sich, machen Sie sich’s bequem, lieber Heine; ein Bett bringe ich zur Not auch noch zusammen, und der polnische Satan wohl auch ein Abendessen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich will nur draußen bestellen –“

Als er wiederkommt, hat er eine Flasche Ungarwein in der Hand und zwei Gläser; ihm auf dem Fuße folgt eine der Mägde mit Holz, das bald mit heller Flamme im Kamin prasselt, der unwirtlichen Stube einen Schimmer von Gemütlichkeit gebend. Heine sitzt schon in der Sofaecke, er sieht seinem ehemaligen Herrn mit bekümmertem Gesicht entgegen.

„Ihr Wohl, Herr Mohrmann,“ sagt er nun, mit ihm anstoßend. Es würgt ihm etwas in der Kehle, als er den Mann so gedrückt und resigniert wiederfindet, so geradezu müde. Sie sitzen sich dann stumm gegenüber. Heine überlegt, wie er das, was er sagen muß, am besten einkleidet; Mohrmann brütet still vor sich hin, er hat sich das Sprechen beinahe abgewöhnt.

„Gehört der Wald, in dem Holz geschlagen wird, zu Scorodowo?“

„Ja,“ erwidert Anton, „Holzschlagen ist hier so ziemlich die Hauptarbeit; der Besitzer zieht heraus, was herauszuziehen ist, aber hineingesteckt wird nichts – es ist zum Gotterbarmen! Pflügen Sie mal mit den vorsündflutlichen Dingern! Alle Augenblicke hält die Karre still und es muß daran gehämmert werden und geflickt, neue Pflüge giebt’s nicht. Säen in den ausgemergelten Boden? Das Stroh wird eine Spanne lang und die Halme stehen dünn wie die Haare auf einem angehenden Kahlkopf. Ich habe im Herbst, als ich herkam, händeringend gebeten, künstlichen Dünger anwenden zu dürfen – ja, prosit Mahlzeit! Sie hätten nur die vorjährige Ernte sehen sollen, Heine, jammervoll, wahrhaftig!“

„I, Gott bewahre!“ sagt Heine, dann schweigt er wieder.

Wenn er nur wüßte, wie er’s anfangen soll, von den Kindern zu reden, die bei Christel sind; er hat ordentlich ein bißchen Herzklopfen, der Mann kommt sich vor, als hätte er ein Verbrechen zu beichten.

„Das thut mir ja sehr leid, Herr Mohrmann,“ beginnt er endlich, sein geleertes Glas hinstellend, „wenn ich was höre da droben herum, wohin ich nun gehe – das ist drei Stunden von Königsberg, Adlig-Bergen heißt’s – als Inspektor mit einem ganz netten Gehalt, dann schreibe ich, ja – und nun, warum ich eigentlich gekommen bin, Herr Mohrmann – meine Frau, die muß natürlich bald nachfolgen und – da wollt’ ich sprechen wegen der Kinder –. Sie sind uns nicht etwa eine Last, Gott bewahre, im Gegenteil, aber – sehen Sie, wie das so ist, ob sich Lieschen so recht wird um sie kümmern können, und –“

„Erbarmen Sie sich,“ fällt Mohrmann aufspringend ein, „wo sollen sie denn bleiben? Hier ist’s unmöglich, ganz und gar. Was soll denn aus ihnen werden? Haben Sie die Schlampe gesehen? Und keine Frau im Haus, Heine!“

Er geht ein paarmal heftig im Zimmer auf und ab. Die Sorge, die im Drange der Arbeit, im Kampf mit den niedrigen Verhältnissen momentan zurückgetreten war, hockt sich ihm aufs neue wie ein Ungetüm auf die Schultern; bisher konnte er doch wenigstens einigermaßen ruhig an die Würmer denken.

„Ich nehme Ihnen das nicht übel, Heine,“ sagt er dann, „ganz gewiß nicht! Jeder ist sich selbst der Nächste, und was für die eigenen Kinder selbstverständlich sein würde, das geht nicht auch für fremde. Verzeihen Sie, es klingt vielleicht bitter, soll’s aber nicht sein, gewiß nicht! Ich verstehe ganz gut, – in solch’ neuen Verhältnissen, wo zurecht zu finden Ihre Frau selber Mühe haben wird, da ist’s ja unmöglich, ganz unmöglich, ich sehe es ein, mein Gott, ich sehe es ein, wenn ich nur – –“

„Aber, Herr Mohrmann, beruhigen Sie sich doch!“ Heine ist ganz erschüttert von der Verzweiflung des Mannes.

„Ja, ja, ich bin ruhig, ganz ruhig. Dann bringen Sie sie nur, oder soll ich sie holen? Und wenn sie verkommen, so verkommen sie eben! Ich habe ja übrigens fast nichts zu thun, kann ja Kindermädchen spielen – –. Lieber, bester Heine,“ wehrt er ab, „ich bitte Sie, ich hab’s wirklich nicht übelgenommen – setzen Sie sich doch, trinken Sie doch –“

Er gießt mit vor Aufregung zitternden Händen ein zweites Glas Wein ein. Heine steht da mit seiner guten Botschaft, mit der Kunde von dem Geborgensein der Kinder und kann vor Mitleid mit dem trostlosen unglücklichen Mann und vor Angst, wie er die Nachricht aufnehmen wird, nicht reden. Wenn ihm um Gottes willen nur das Richtige einfiele. Er beginnt zu stottern, sich zu verheddern und endlich platzt er heraus: „Ja, wenn Sie die Kinder nur lassen wollten, wo sie nun schon sind, Herr Mohrmann, dann –“

Anton, der wieder im Zimmer umherläuft, bleibt stehen, er ist so erregt, daß das, was er da hört, ihm einen Blutstrom ins’ Gehirn treibt. „Sie haben die Kinder nicht mehr?“ keucht er, vor den Erschrockenen tretend. Das abgemagerte Gesicht ist grünlich bleich, die Augen funkeln und wie eine Schlange ringelt sich die Ader auf seiner Stirn.

„Aber Mohrmann!“ ruft Heine zurückweichend, „so hören Sie doch erst!“

„Ohne mein Wissen? Ohne mich zu fragen?“ schreit Anton, „das ist – –“ Er kennt sich nicht mehr und tritt wieder einen Schritt näher zu Heine.

Der bleibt jetzt stehen und sieht ihm ruhig ins Auge. „Nein,“ sagt er laut, „wir haben sie nicht mehr. In dem Hause, wo ich wohnte, brach Diphtheritis aus und meine Frau bekam sie zuerst, und gründlich. Und da – sehen Sie, Herr Mohrmann, da kam Frau Christel und holte die Würmer, und pflegt sie, als wären sie ihre eigenen. – So, nun ist’s heraus!“

Auf den rasenden Mann haben die Worte gewirkt wie ein elektrischer Schlag. Er steht bewegungslos ein paar Augenblicke, dann wendet er sich stumm, setzt sich in die Sofaecke, zieht sein Taschentuch hervor und birgt das Gesicht darin. Eine Totenstille herrscht im Zimmer.

Heine schleicht hinüber zu dem Fenster und starrt hinaus, als sei der verkommene Hof das Interessanteste, das es für ihn auf der Welt nur geben kann. Er will die Thränen da hinten nicht sehen, die Thränen, die ein jahrelanges Leid hinwegwaschen, die einer verbitterten, verzweifelten Seele den Glauben an die Menschheit wiedergeben.

Und in dieser Seele klingt’s wie mit Engelsstimmen, das einfache schlichte Wort: „Und pflegt sie wie ihre eigenen – Christel hat sie sich geholt!“


[404] „Die Frau is kein Mannsen mehr, die Frau is ein Weibsen geworden wie jede andere, auch mit Kinderpäppeln und Kinderputzen, man merkt’s, gottlob, man merkt’s,“ sagt der alte Oberknecht Hoch auf dem Rödershofe und schüttet einen Sack voll Kartoffeln, von den besten, die zum Verkauf bestimmt sind. „Da lieg du,“ spricht er zum vollen Sack, „morgen früh nehm’ ich dich mit in die Stadt, die Wernern ißt auch gern was Gutes.“

In der Gesindestube haben sie sich Branntwein geholt und machen Punsch. Die Frau kommt ja nicht, die sitzt in der Kinderstube.

Die Kleinen sind noch bei ihr; ein Jahr wird’s in einigen Wochen, seitdem sie dieselben pflegt. Sie weiß nicht, wie lange man sie ihr noch lassen wird, sie weiß nicht, wie Anton die Nachricht, daß die kleinen Geschöpfe bei ihr sind, aufgenommen, sie weiß nicht einmal, ob er es überhaupt erfahren hat. Heine schrieb ihr nur: „Behalten Sie die Kinder bis auf weiteres, Frau Christel.“

Das ist ein Jubel und eine Qual zugleich gewesen. Wie lange? Was heißt – bis auf weiteres? In der Furcht, sie eines Tages doch hergeben zu müssen, hat sie sich ihnen so ausschließlich gewidmet, daß ihr für nichts anderes mehr Zeit bleibt. Die tüchtige Wirtin, die umsichtige Herrin des Rödershofes, die praktische Geschäftsfrau – alles ist untergegangen in dem einen – Christel ist nur noch Mutter. Sie sieht, daß das Gesinde sie mit anderen Blicken betrachtet als sonst, sie ertappt es auf Unredlichkeiten und muß sein Herauslügen geduldig mit anhören, weil sie ihm das Gegenteil von dem, was es behauptet, nicht beweisen kann.

Schwager Wendlandt kommt eines Tages und sagt, über und über rot vor Verlegenheit, „Schwägerin, möchten Sie nicht ein wenig den Meier im Auge behalten?“

„Warum?“ fragt sie wie schuldbewußt.

„Der Kerl fährt den Dünger auf einen falschen Acker.“

„Lieber Himmel,“ ruft Christel, „und ich hab’ gemeint, er ist ein zuverlässiger Mann, Schwager. Ich kann jetzt nicht mehr stundenlang draußen sein und so überall dabei, es ist schon ein Elend, wenn einem die Zeit so knapp wird.“

„Sie wissen ja wohl, Schwägerin, daß sich der alte Racker da oben herum, wo Ihre Roggenbreite im letzten Sommer war, zwei Morgen Acker gepachtet hat vom Schullehrer aus Bischwerder; Bischwerder Flur grenzt ja dort, wie Sie wissen?“

Christel schüttelt erstaunt den Kopf. „Und dafür der Dung?“ fragt sie, und die Entrüstung färbt ihr die Wangen.

„Wahrscheinlich auch Zeit und Saatkorn,“ ergänzt Wendlandt.

Christel schweigt und faltet die Hände ineinander.

„Ich dachte mir, es sei besser, Sie wüßten’s,“ fährt Wendlandt fort. „Sie haben jetzt so ’n bißchen viel auf sich genommen, Schwägerin; wenn’s Ihnen über den Kopf wächst, kann ich ja, wenn’s Ihnen recht ist, ab und zu mal herüber schauen von meinem Stück aus?“ Es klingt so treuherzig mitleidig, aber in Christel regt sich der Stolz.

„Bin Ihnen sehr dankbar,“ sagt sie – „so ganz gelegentlich, wenn Sie wollen; werd’ aber jetzt selbst wieder hinter dem alten Freund her sein, und wenn’s nicht stimmt, geht er.“

„Nichts für ungut, Schwägerin.“

„Warum denn? Ich bin Ihnen dankbar, Wendlandt.“

Christel hat eine schlaflose Nacht. Wie soll sie’s nur machen?

Ein Kindermädchen muß sie anschaffen, sich wieder der Wirtschaft widmen, sie muß persönlich auf dem Platze sein. Die Maschine geht ja wohl ein Weilchen allein, aber dann dreht sich das eine oder andere Rad langsamer, oder es hängt sich etwas dazwischen und hindert den Lauf, und das Getriebe stockt eines Tages. Nein, Christel muß wieder auf ihren Posten, es geht nicht anders.

Wie sie die Kleinen angezogen hat am andern Morgen, läßt sie die alte Muhme Reeder holen und macht sie zur Herrscherin der Kinderstube. Ein sauberes altes Frauchen ist diese Muhme, die ihre wendische Tracht noch trägt und sich als Wärterin beinahe großartig ausnimmt, aber sie hört schwer und ist ein bißchen wortkarg und still. Christel schreit ihr in die Ohren, wie sie sich zu benehmen habe und daß die Kinder ganz nett miteinander allein spielen. Nur acht solle sie geben, damit keines falle und schreie, denn der Junge sei ein bißchen wild. Und die Alte hält ihr linkes Ohr etwas vor mit der Hand, um besser zu verstehen, und gelobt alles, was Christel verlangt.

Zu thöricht, mit so schwerem Herzen vom Hofe zu gehen! Vorher hat’s sie doch noch einmal getrieben, in die Kinderstube zu treten. Es ist sehr still darinnen gewesen, alle die drei, und das alte Weibchen dazu, haben gefrühstückt; die Zwillinge jedes ein Semmelchen in dem dicken Fäustchen, Lothar ein Butterbrot und die Alte eine mächtige Schnitte. Dabei haben die Kinder die neue Wärterin mit großen Augen angesehen. Vorläufig ist’s ja musterhaft, und Christel eilt davon.

Scheinbar findet Christel alles in Ordnung auf dem Felde. Die große Breite ist zur Hälfte umgeackert. Der alte Oberknecht schreitet würdevoll hinter dem Pflug her und der Knecht kommt ihr diesseits an der andern Seite entgegen. Drüben, über der Chaussee liegt ein bereits bestelltes Stück Acker, das Christel als dasjenige kennt, welches zur Lehrerstelle Bischwerder gehört. Sie wartet, bis der Alte herauf kommt und am Chausseegraben wendet. Er sieht eitel freundlich aus und erwidert auf die Frage, wem dort drüben der Acker gehöre, sehr stolz: „Hab’ ich mir gepachtet, und gepflügt hat’s der Wernern ihr Bruderssohn, der Wirt ist zum ‚Rautenberg‘ in Bischwerder; der hat zwei Spann Pferde und thut’s mich zu Gefallen.“ Er wartet gar nicht ab, bis sie ihn fragt, wer’s beackert hat, er umgeht diese Frage mit dreister Lüge.

„Wir könnten schon fertig sein hier, Hoch,“ sagt sie streng.

„Hiermit?“

„Ich dächte – der Zeit nach?“

„Wenn ich der Frau zu langsam schaffe, kann sie sich ja nach einem andern Meier umsehen, dann gehe ich Neujahr,“ lautet die in aller Seelenruhe gegebene Antwort.

„Schon recht,“ sagt Christel, äußerlich gar nicht aus der Fassung gebracht.

„Man hat so schon seine Ordnung nicht mehr richtig,“ fährt der Oberknecht fort und hebt kräftig die Pflugschar, um sie zu wenden, „das Essen ohne Saft und Kraft, und was die Butter ist, da spritzt einem die Milch ins Gesicht, wenn man sie aufstreicht. Für den Lohn kann ich’s ohnehin nicht mehr machen, wollt’s der Frau schon längst sagen.“

„Steht Ihnen nichts im Wege,“ antwortet Christel, „aber bis dahin bitte ich mir aus, daß Sie Ihre Schuldigkeit ordentlich thun, sonst fällt’s Zeugnis danach aus, verstanden?“

„Brauch’ kein Zeugnis mehr, ich dien’ nich’ wieder, ich heirat’ die Wernern nach Weihnacht, dann wirtschaften wir für uns,“ antwortet der Alte kurz.

„So, so!“ macht Christel und wendet ihm den Rücken. – Es ist eine Kalamität mit dem Landgesinde heutzutage, eine doppelte, wenn eine Frau der Gutsherr ist. Christel kommt mit gerunzelter Stirn nach Hause; sie ist furchtbar rasch gegangen, denn neben dem Bewußtsein, daß sie einen Ersatz für den Meier, ein Mittelding zwischen Herrn und Knecht, wird mühsam suchen müssen, hat sie plötzlich die Angst um die Kinder überfallen, und die treibt sie förmlich durch die Herbstnebel heim. Sie will nur einen Augenblick oben nachschauen, bevor sie sich, wie immer, in der Wirtschaft zu thun macht. Marie ist ja tüchtig, aber auch hier will sie wieder selbst schaffen, soviel sie kann wenigstens.

Droben ist kein munteres Plappern und Spielen wie sonst, unwillkürlich horcht sie ein wenig an der Thür. Lothar kniet auf dem Stuhl und wendet den Kopf nicht, als sie hereintritt, Toni sitzt auf dem Teppich mit verweintem Gesichtchen und die Muhme Reeder hat Josephachen auf dem Arme, und das kleine Ding sieht kaum Christel, als es in ein gellendes Geschrei ausbricht und mit den Armen nach ihr langt.

„Was ist denn geschehen?“ fragt Christel, entsetzt das in Wasser getauchte Taschentuch auf der Stirn des Kindes gewahrend.

Die Alte läßt die Kleine aus ihren Armen in die Christels übergehen und berichtet mit einer ihr sonst fremden Beredsamkeit, daß das arme Kind mit dem hohen Stühlchen, in dem es am Tische gesessen, umgefallen sei, ganz von allein. „Kein Mensch konnte da was vor! Ordentlich Kobolz ist sie geschossen. Zuerst hat sie gar nicht geschrieen und ist kreideweiß gewesen, und nun hat’s so eine dicke Brausche auf der Stirn.“ Aber sie, die Muhme Reeder, habe gleich mit dem Messerrücken darauf gedrückt und „Heile, heile Segen!“ gemacht. „S’ ist schon wieder ganz gut, die Frau braucht keine Angst zu haben.“

[405]

Der Einzug des Reichsverwesers in Frankfurt a. M.
Nach einer gleichzeitigen Lithographie gezeichnet von Fritz Bergen.

[406] Christel trägt das weinende Kind im Zimmer umher. „Tate hier bleiben, hier bleiben!“ jammert es und kann noch kaum sprechen. „Freilich, freilich!“ tröstet sie, „Tate bleibt bei euch, s’ist ja ganz egal, wie’s draußen geht, Tate bleibt bei euch!“

Lothar ist jetzt auch zu ihr gekommen. „Tante, schick’ die Frau fort,“ fordert er und die Kinderaugen sehen sie vorwurfsvoll an, „sie hat mich geschlagen.“

„Der Junge hat Ihnen nachgewollt,“ verteidigt sich die Alte, die Lothars Worte errät und sieht, wie er seine geschwollene Hand zeigt. „Wie ich die Thüre zugemacht habe, hat er mit den Fäusten dagegen gepoltert, und da hab’ ich ’n gehauen.“

„Du warst nicht artig, Lothar,“ tadelt Christel gepreßt.

„Die alte Frau hat immerzu geschlafen,“ erklärt er, „hat gar nicht gespielt mit uns, die alte Frau taugt nichts.“

„Lothar!“ ermahnt Christel und dankt Gott im stillen, daß die Alte schwerhörig ist.

„Du sollst bei uns bleiben, Tante,“ fordert er, „oder du sollst uns mitnehmen.“

„Ja, ich bleibe bei euch,“ wiederholt Christel und legt das noch immer leise schluchzende Kind auf sein Bettchen. Dann lohnt sie die Alte ab und sitzt nun da mit heißem Kopf und trüben wirren Gedanken. Wie soll sie es machen, um allem gerecht zu werden? Sie muß andere Arbeitskräfte gewinnen, einen zuverlässigen Inspektor etwa. Sie lacht leise auf – für das kleine Gut? Aber so geht’s doch nicht weiter, sie kann nicht überall dabei sein wie sonst, zumal im Herbst. In ihrem Kopfe schwirrt die Menge der nötigen Arbeiten wirr durcheinander, Rübenernte, Düngen, Pflügen, die Obstbäume, die ihrer Last entledigt sein wollen, Verwertung des Obstes, die Wintersaat, die Sicherung der Ställe vor Frost und Zug, bei allem ist sie sonst dabei gewesen oder hat gar selbst Hand angelegt – ach, und die Milchwirtschaft!

Der alte Hoch hat so unrecht nicht: die Butter war ein paarmal schlecht, der Händler hat sich auch beklagt. Marie ist manchmal flüchtig – nein, das zu behaupten wäre ungerecht; das fleißige Geschöpf hat eine wahre Ueberlast von Geschäften; sie sieht schon ganz jämmerlich aus und ist noch so jung, ist ja keine Wirtin, der die Erfahrung zur Seite steht, und macht sich manche unnütze Mühe. Auch hier möchte Hilfe am Platze sein.

Aber was thun Fremde dabei, die kosten nur Geld! Christel selbst muß schaffen, wenn ein Verdienst herauskommen soll. Dann also eine zuverlässige Frau für die Kinder?

Und da schüttelt’s plötzlich die Sinnende – wenn ihnen etwas passierte? Wenn ihr der leiseste Vorwurf gemacht werden könnte, diese Kinder nicht gut gewartet, nicht hingebend gepflegt zu haben? Gerade diese? – Nein, nein, mag’s drunter oder drüber gehen, wie es will, nur hier nichts versäumen!

Christel will sehen, daß sie eine Art von Inspektor bekommt; etwas Besseres als ein Meier, nicht völlig ein Herr, aber doch so, daß ihn die Leute anerkennen – ob es so etwas giebt? Und dann ein tüchtiges Hausmädchen zur Stütze für Marie. So viel sie selbst mit helfen kann, wird sie’s ja natürlich thun. Aber, wie das ins Geld laufen wird? Sie rechnet. Ihre roten Lippen, die noch so jung aussehen, bewegen sich leise, die blauen Augen sehen starr ins Weite dabei. Mit einem tiefen Seufzer steht sie auf. „Es geht nicht!“ spricht sie zu sich – „es geht nicht!“

Dann irrt ihr Auge zu dem schlummernden Kind mit der Kompresse auf der heißen geschwollenen Stirn. „Es muß aber doch sein,“ sagt sie jetzt laut und beugt sich zärtlich über die kleine Josepha, die das blonde Kraushaar ihres Vaters und seine bläulichgrauen klaren Augen hat. „So lange ich für euch sorgen darf, muß es sein – wer weiß, wie lange das noch dauert!“ Und ein zweiter Seufzer, noch tiefer als der erste, folgt.

Als jetzt Marie, müde und abgehetzt, eintritt mit einer Kanne Milch für die Kinder, legt Christel die Hand auf die Schulter des Mädchens und sagt freundlich: „So geht’s nicht weiter, Marie!“

„Ja, Frau, so geht’s nicht weiter, da haben Sie recht!“ antwortet diese mit zuckenden Lippen. „Wenn’s denn schon über die Kräfte von unsereinem geht, da mag’s noch sein, am letzten Ende hat der Mensch doch seinen Mund, um zu sagen: ‚So! Jetzt kann ich nicht mehr!‘ Aber wenn das Vieh auch darunter leiden muß, das nicht klagen kann, da wird’s zu toll.“

„Was ist denn geschehen?“ fragt Christel erschreckt.

„Der Wilhelm hat das Handpferd so geschlagen, daß der Meier es herführen mußte; es kam auf drei Beinen. Karl meint, das Tier sei hin.“

Christels Augen blicken finster an dem Mädchen vorüber. „Bleib’ bei den Kindern,“ befiehlt sie kurz und nimmt ihr Tuch.

„Frau,“ ruft Marie ihr ängstlich nach, „der Alte und der Wilhelm haben sich sehr erzürnt und der Wilhelm ist total betrunken!“ Aber Christel ist schon mit raschen Schritten die Treppe hinuntergestiegen. Es schlägt zwölf Uhr, als sie durch den Hausflur geht, über den Hof und nach dem Pferdestall, aus welchem Schelten und Geschrei ihr entgegendringen. Der Meier Hoch ist um das Pferd beschäftigt, als sie eintritt; er hat einen Eimer mit Wasser neben sich, darin ein Gewirr von Binden und Bandagen, und das rechte Hinterbein des Tieres blutet stark über der Fessel. Der betrunkene Knecht bemüht sich, das eben abgenommene Geschirr des Pferdes an die Haken zu hängen, hängt aber immer daneben, was zur Folge hat, das das Kummetzeug rasselnd zu Boden fällt. Als er Christel erblickt, lehnt er sich an die Wand, um sein Schwanken zu verbergen, und hält mit Fluchen inne; der Alte schimpft desto lauter.

„Ruhig!“ herrscht ihn Christel an. „Was ist’s mit dem Pferde? Wer von euch ist so roh gewesen?“

In nicht zu beschreibenden Ausdrücken fahren die beiden aufeinander los. Der Kleinknecht hat eine Kette in der Hand und macht Miene, auf den andern einzudringen. Christel versteht aus den häßlichen Reden nur so viel, daß jeder den andern beschuldigt. Der Alte droht dem „verlogenen tückischen Hund, der da säuft und das Vieh mißhandelt“, und der andere schreit, daß Saufen und Hauen noch kein Stehlen sei, und wenn so ein Beest widerhaarig wäre, da haue er zu mit dem, was er gerade in der Hand habe, und das sei in diesem Fall die Dunggabel gewesen.

Der Meier löst die Binden und fährt auf den Ankläger los bei dem Worte „Stehlen“; im nächsten Augenblick haben sich die Kerle am Kragen und der Alte, von den jungen, kräftigen Händen gepackt, kommt unter den Knecht zu liegen. Wie ein wildes Tier hockt der auf ihm und haut mit der Faust, wohin er trifft. Christel ruft dazwischen, aber die von blinder Wut gepackten Menschen hören nicht. Nun läuft sie zur Thür und schreit über den Hof: „Karl! Karl!“

Der große, stille Mensch, ein Riese mit melancholischen braunen Augen – er ist ehrlich und ordentlich – kommt aus der Scheuer von der Häckselmaschine angelaufen, reißt mit einem: „Du windschiefes Lotter, du!“ den Wilhelm zurück und gießt noch zum Ueberfluß den Stalleimer über den Trunkenen aus.

„Packen Sie Ihre Sachen,“ sagt Christel zu dem triefenden Menschen, „Sie sind entlassen.“

Das hätte er nicht nötig, ist die patzige Antwort, während er das Wasser abwischt.

„Das wird sich finden,“ antwortet Christel. „Karl, rufen Sie mal meinen Schwager; ich lasse ihn bitten, auf einen Augenblick –“

Der wäre sein Herr nicht, ruft Wilhelm frech dazwischen.

Christel zittert an allen Gliedern. „Ihr Herr bin ich,“ sagt sie, „und mein Schwager führt nur meine Befehle aus, wenn er Sie gewaltsam entfernt, falls Sie nicht sofort gehen.“

„Ja freilich, das Regieren verstehen die Weibsen noch nich g’nug,“ hohnlacht der Mensch, „wenn sie auch so thun; sie haben doch alleweile Angst vor unsereinem.“

Chnstel wendet sich ab, dem verletzten Pferde zu; ihre Zuversicht, ihr Selbstvertrauen ist schier gebrochen diesen Roheiten gegenüber. Der Oberknecht hat sich endlich auch aufgerappelt; zerzaust, halb erwürgt, mit verschwollenem Gesicht will er sich wieder an das Verbinden des Tieres machen.

„Lassen Sie das,“ befiehlt Christel barsch, „ich werde den Schmied rufen.“ – Der Schmied gilt auf dem Dorfe als Sachverständiger bei Krankheiten des Viehes.

„Na, wenn ich nicht mehr nötig hier bin, kann ich ja auch gleich gehen,“ höhnt der Alte, in der Meinung, er sei unentbehrlich, und wirft die Bandagen hin.

„Das können Sie,“ antwortet Christel.

Der Mann giebt dem ihm im Wege stehenden Eimer einen [407] Tritt und trottet aus dem Stalle, etwas von verfluchten Weibsen, die da wirtschaften wollen und es nicht verstehen, murmelnd. Der Knecht folgt ihm und ruft im Hinausgehen Christel zu: „Die Frau sollt’s nur wissen, daß ihre heurigen Kartoffelmieten bis ins Bischwerdersche reichen, und für Futtermöhren und Rüben ist auch die Graft da drüben schon gegraben, und ebenso für ihre Kartoffeln; mir kann es ja recht sein!“

Christel ist plötzlich allein in dem halbdunklen Stalle; sie geht zu dem mißhandelten Pferde hinüber, das so stumm seinen Schmerz trägt und den Kopf nach ihr wendet, sie ansieht mit den ergebenen duldenden Blicken der armen Kreatur, die willenlos in der Menschen Gewalt gegeben ist. Sie klopft ihm den Hals und streichelt es, als wolle sie abbitten: „’s ist meine Schuld, du armes Vieh, ich hab’ mich nicht genug um alles gekümmert, hab’ alles vergessen über dem einen.“ Und dann lehnt sie wie schwindelig den Kops an den Hals des Tieres und ein trocknes hartes Schluchzen kommt aus ihrer Kehle. – Es ist unmöglich, Hausherr zu sein und zugleich Mutter; sie fühlt es, sie kann die Last nicht weiter tragen allein, wie soll es werden?

Als Wendlandt jetzt in den Stall tritt, wendet sich ihm ein banges verzweifeltes Gesicht zu, so daß er die Frau staunend betrachtet. Ihre sonst so entschlossene, ruhige Miene ist verschwunden, sie wiederholt nur halblaut die Frage: „Wie soll es werden, Wendlandt? Ich habe den Oberknecht und den Wilhelm fortschicken müssen; der eine trinkt und der andere ist unehrlich geworden.“

Wendlandt antwortet nicht gleich. Er untersucht das Bein des Pferdes und sagt dann ruhig: „Sieht schlimmer aus, Schwägerin, als es ist, aber stehen muß es seine Zeit.“

Christel schweigt. Sie hat die Hände gefaltet und sieht zu, wie der Mann dem verletzten Tiere eine Binde anlegt, so einfach, so sachgemäß. Sie versteht’s auch, aber die Scene vorhin hat sie förmlich gelähmt. Als er sich wieder aufrichtet, fragt er: „Was haben Sie mit dem Volk angefangen, Schwägerin?“

„Sie gehen alle beide,“ sagt sie leise.

Er beißt sich auf die Lippen. „Und die Arbeit, Schwägerin?“

Sie hebt die Schultern. „Muß sehen, daß ich Ersatz bekomme.“

„Hm!“

„’s ist meine Schuld,“ spricht Christel wieder, „ich konnt’ nicht so wie früher dabei sein.“

In diesem Augenblick steckt die Stallmagd den Kopf zur Thür herein: „Ich wollt’ man fragen, ob’s heute Mittagbrot giebt. Die Küche riecht sengrig und die Marie ist nirgends zu finden.“

Christel faßt sich unwillkürlich nach den Schläfen. „Ich komme gleich,“ erwidert sie. „Bitte, Schwager, lohnen Sie die beiden ab; Marie ist bei den Kindern, ich muß sie ablösen.“ Sie zieht die Börse und nimmt einen Hundertmarkschein heraus, den sie ihm giebt; sie hat das Geld heute früh durch die Post bekommen, für gelieferte Kartoffeln.

Er nickt. „Ist schon gefüttert?“ fragt er.

„Nein – Karl muß es thun, ich werd’s ihm sagen; er ist zum Schmied gelaufen, wird aber jeden Augenblick zurückkommen.“

„Gehen Sie nur, Schwägerin,“ sagt Wendlandt, „ich werd’ aufschütten.“

Er öffnet den Deckel der Futterkiste und kraut sich hinter den Ohren sie ist leer, wie ausgefegt. Christel nestelt den Schlüsselbund vom Gürtel und giebt dem Manne den Schlüssel zur Haferkammer. Sie ist ganz betroffen; gestern abend hat sie erst Futter ausgegeben, und heute ist alles verbraucht!

Wendlandt steigt die leiterartige Treppe empor, die zur Haferkammer führt. „Dahier fehlt der Mann!“ sagt er halblaut zu sich selbst. Sie starrt ihm nach mit bekümmertem Gesicht, dann wendet sie sich seufzend um.

„Dahier fehlt der Mann!“ Die Worte trafen ihre Seele. „Er hat recht, er hat tausendmal recht!“ Und sie sinkt, ohne ein Wort zu sprechen, in den Lehnsessel am Ofen der Kinderstube und kann nicht antworten auf die Vorwürfe der Kleinen: „Tante, warum bist du denn so lange geblieben – Tante Marie hat den Tisch gedeckt, essen wir bald?“ – „Tata Hunger!“ klagt die kleine Toni und wackelt unbehilflich zu ihr, und die andere ist erwacht und schreit wieder über ihr Wehweh!

Mit stummen Liebkosungen sucht sie die kleine Gesellschaft zu beruhigen und als Marie endlich die Suppe bringt, legt sie ihnen vor und füttert sie, aber das Herz ist ihr schwerer denn je.

Dahier fehlt der Mann!

Die Worte schütteln ihre Seele, sie sind so wahr, so unumstößlich wahr. Und wenn tausend Federn schreiben und tausend Zeugen behaupten, die Frau könne einen Beruf haben neben den Pflichten des Weibes – es ist nicht wahr! Eines oder das andere, beides wächst hinaus über menschliche Kraft und die heilige Ordnung des Hauses und der Familie, die gebotenen Pflichten werden gröblich vernachlässigt. Oder fremde Kraft ersetzt die unsere. Fremde Kraft, gewiß, wenn wir durch sie imstande sind, Zeit für höhere Aufgaben zu gewinnen. Aber, giebt es etwas Höheres auf der Welt, als seine Kinder heranbilden, sie zu nützlichen Menschen machen, sie Zucht und Sitte lehren? Kann da eine Fremde die Mutter ersetzen?

Christel, die mutige, starke, fühlt ihre Ohnmacht. Wo bleibt der Nutzen all der Bestrebungen, wenn man sich in zwei Berufe zersplittert, in den des Hausherrn und den der Mutter?

Halbheiten sind’s, und das eine oder das andere kommt nicht zu seinem Recht!

Als Wendlandt nach einer halben Stunde klopft, um ihr das Mietsbuch des Knechtes zu bringen – der Alte hat ein Zeugnis verschmäht – sagt er: „Schwägerin, so geht’s doch nicht, Sie wenden zu viel Zeit an die Kinder. Nehmen Sie sich eine Wärterin, sonst geht’s mit der Wirtschaft zurück, und Sie waren doch so recht im Zuge. Sie haben’s Zeug dazu, wie man so sagt.“

Sie hebt das trostlose Gesicht zu ihm empor. „Wendlandt, wenn’s meine eigenen wären, und selbst dann nicht; es ist eine zu große Verantwortung.“

„Nun ja – Sie machen sich’s aber auch zu schwer, Christel; es giebt doch zuverlässige Personen –“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein – nie. Ich denke, es ist besser, ich nehme so eine Art Inspektor.“

Er schweigt.

„Ich lasse ein Gesuch einrücken.“

„Ja, Schwägerin, aber ich würde nicht dazu raten, das Gut ist zu klein.“ Und als sie nicht antwortet, reicht er ihr die Hand, „lassen Sie mich rufen, Schwägerin, wenn Sie mich brauchen können, ich komme herzlich gern.“

Damit geht er und sitzt dann bei Tische daheim seiner ärgerlichen Frau gegenüber, die natürlich schon von den Vorgängen auf dem Rödershofe weiß, und ist nicht imstande, Christel zu verteidigen.

„Du liebe Zeit,“ sagt sie spitzig, „sie hat’s nicht besser gewollt, und wenn einer dumm ist, muß er geprügelt werden. Geb’s Gott, daß es nicht zu spät ist. Die Kinder hat sie nun auch auf dem Halse und er läßt sich nicht wieder blicken. Paß auf, der verduftet nach Amerika und kommt nicht wieder!“

„Ist ja möglich!“ antwortet er.

„Und am letzten Ende fällt sie uns zur Last mitsamt den ‚Erben‘, denn die Wirtschaft geht zurück, das sieht jeder.“

Er antwortet nicht darauf, er redet von andern Dingen. Und nach Tische, bevor er auf die Felder wandert, geht er zum Schmied des Pferdes wegen und dann nach dem Gasthof, und wie er dort den, welchen er sucht, des Gastwirts Weiser jüngsten Sohn, vor der Thür stehen sieht, die Reservistenmütze auf dem Kraushaar, sagt er: „Karl Weiser, willst du mir einen Gefallen thun?“

„Gern, Herr Wendlandt.“

„Dann geh’ zur Aushilfe nach dem Rödershof, zum Säen und Pflügen und Düngerstreuen. Der Meier und der Kleinknecht haben sich erzürnt und sind beide fort seit heute; meine Schwägerin ist in Verlegenheit um einen Ersatz.“

„Herr Pate,“ antwortet der junge frische Mensch und schiebt verlegen die Mütze von einem Ohre zum andern, „länger Wie bis Anfang oder höchstens Mitte Dezember könnt’ ich aber nicht, dann will ich in die Stadt und meinen künftigen Schwiegereltern ein wenig im Laden helfen, und Neujahr gehe ich auf die landwirtschaftliche Schule.“

„Sollst auch nicht länger, Karl, aber geh’ jetzt hin; bis Anfang Dezember wird ein Ersatz da sein. Weißt ja Bescheid mit der Arbeit; und wenn du auf die Schule gehst, da zeige dich vorher bei mir, bist ja mein Patenkind – vergiß das auch nicht!“

(Schluß folgt.)


[408]

Copyright 1897 by Franz Hanfstaengl in München.
Die erste Einladung.
Nach dem Gemälde von E. Brack.

[409] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[410]

Der Einzug des Reichsverwesers in Frankfurt a. M.

(Zu dem Bilde S. 405.)

In der Chronik des Jahres 1848 steht der 11. Juli als ein glänzender Festtag verzeichnet. An diesem Tage hielt der von der Nationalversammlung zum Reichsverweser erkorene Erzherzog Johann seinen Einzug in die alte Kaiserkrönungsstadt am Main. Wieder prangten die Straßen und Plätze derselben in dem strahlenden Festgewand, in welchem sie am 18. Mai den Zusammentritt des Parlaments in der Paulskirche begrüßt hatte; Glockengeläut und der Donnergruß der Kanonen vereinigten sich mit dem Jubel des Volks zum Ausdruck der freudigen Hoffnungen, welche die ganze Nation an dieses Ereignis knüpfte.

Gleich in den Anfängen ihrer Thätigkeit hatte die Nationalversammlung das Bedürfnis nach einer provisorischen Centralgewalt empfunden, die an Stelle des vielköpfigen Bundestags bis zur Herstellung des neuzubegründenden Reichs die Beschlüsse des Parlaments vollziehen und die allgemeinen Angelegenheiten der Nation gegenüber den Einzelstaaten und dem Ausland vertreten sollte. Die Linke wollte dafür einen Vollziehungsausschuß mit einem verantwortlichen Präsidenten; die Majorität des für die Frage eingesetzten Ausschusses sprach sich dagegen für ein von den Regierungen zu erwählendes „Bundesdirektorium“ aus, das aus drei Deutschen von fürstlicher Herkunft bestehen sollte; den Erzherzog Johann von Oesterreich, den Prinzen Karl von Preußen und den Herzog Ernst von Sachsen-Koburg hatte man dafür im Auge. Da that Heinrich v. Gagern am 24. Juni den „kühnen Griff“ und nahm die Wahl der provisorischen Centralgewalt für das Parlament selbst in Anspruch. Er gewann damit eine bedeutende Majorität für seinen weiteren Vorschlag, statt eines Triumvirats nur einen Mann mit der Centralgewalt zu betrauen, und zwar die beliebteste und volkstümlichste der genannten drei Fürstlichkeiten, den Erzherzog Johann, „nicht weil, sondern obgleich er ein Fürst“ sei. Am 29. Juni erfolgte die Wahl: bei derselben fielen 32 Stimmen auf Adam v. Itzstein, 52 auf Heinrich v. Gagern, 436 auf Johann von Oesterreich. Unter dem stürmischen Beifall der Versammlung und der Galerien proklamierte dann Gagern als Präsident in der Paulskirche den Erzherzog zum „Reichsverweser über Deutschland“. „Er bewahre,“ rief er, „seine allezeit bewiesene Liebe zu unserm großen Vaterlande; er sei der Gründer unserer Einheit, der Bewahrer unserer Volksfreiheit, der Wiederhersteller von Ordnung und Vertrauen!“

Die außerordentliche Popularität, deren sich der Gewählte damals in so hohem Grade erfreute, wurzelte mehr in Gemütssympathien, die das Volk seiner Persönlichkeit entgegentrug, als in dessen eigenen Verdiensten. Der jetzt Sechsundsechzigjährige war der jüngste Bruder des regierenden Kaisers Ferdinand. Als Feldherr gegen Napoleon hatte er nur wenig Siege errungen; daß er aber die wenigen Siege gerade in Verteidigung seines geliebten Tirolerlands gewonnen, war ihm unvergessen geblieben. Sein leutseliges Wesen, seine Vorliebe für die deutschen Erblande der Monarchie, seine Verdienste um Verbreitung und Hebung der deutschen Kultur in Oesterreich hatte die Volkstümlichkeit seines Namens erhöht. Stärker aber wirkte dahin noch seine Liebesheirat mit einer Bürgerlichen, der schönen Postmeisterstochter Anna Plochl von Aufsee, und die Ungnade, in die er durch diese Ehe am Hofe des kaiserlichen Bruders geriet. Die Gegnerschaft, mit der ihn Metternich bedachte, der Trinkspruch, den er zu dessen Aerger 1842 als Gast Friedrich Wilhelms IV nach der Kölner Dombauweihe ausgebracht hatte: „Kein Oesterreich, kein Preußen – ein einiges Deutschland!“, richteten die Blicke der liberalen Patrioten auf ihn als einen Bundesgenossen. Als dann die Märzbewegung ihre Flutwelle gegen die Wiener Hofburg schlug, erfüllte er reichlich diese Erwartungen; gegen den Widerstand der anderen Erzherzöge hatte er den Sturz Metternichs durchgesetzt und den altersschwachen Kaiser für die Forderungen des Volks günstig gestimmt. Dem Vertrauen, das ihm nunmehr in den weitesten Volkskreisen von ganz Deutschland entgegengebracht wurde, entsprach jetzt die günstige Aufnahme der Deputierten des Frankfurter Parlaments, die dem in Wien Weilenden die Würde des Reichsverwesers antrugen. Erzherzog Johann folgte sofort dem Rufe, und am 11. Juli nachmittags 6 Uhr traf der mit freudiger Spannung von Tausenden Erwartete in Frankfurt ein.

„Es war kein Zusammenströmen, es war ein Rennen und Sichdrängen auf allen Straßen von allen Seiten her nach Frankfurt hinein, um den Einzug des Erzherzogs mit anzusehen. Keine Kaiserkrönung hat je so viele Tausende in der Mainstadt versammelt.“ So berichtet ein Augenzeuge, W. Zimmermann, von der Linken der Paulskirche.

Den reichgeschmückten Weg vom Allerheiligenthor, durch welches Johann, von Hanau kommend, einfuhr, bis zum „Russischen Hof“ in der Zeil, wo er vorläufig abstieg, umsäumte ein breites Spalier, gebildet von der Linienbesatzung und der Bürgerwehr in Galauniform, an die sich die Innungen der Stadt mit ihren Fahnen und Abzeichen schlossen, von denen manche schon bei vielen Kaiserkrönungen gesehen worden waren. Ein Teil der berittenen Bürgerwehr war mit dem Empfangsausschuß des Parlaments vor das Thor gezogen, von wo sie dann den Wagen des Reichsverwesers durch die Stadt eskortierten. Dieser Galawagen, den die Stadt Frankfurt gestellt hatte, war von sechs reichgeschirrten Pferden gezogen, Kutscher und Vorreiter hatten scharlachrote Livreen. Neben dem Erzherzog, der die schlichte hellgraue Felduniform eines österreichischen Generals trug, saß der Abgeordnete von Andrian, der Vicepräsident der Nationalversammlung, welcher zu den Deputierten gehörte, die den Erzherzog von Wien geholt hatten. Der Jubel, der den Einziehenden umrauschte, wollte kein Ende nehmen. Aus den Fenstern der Häuser regneten Blumen, Kränze auf den betagten Fürsten herab, der, mit treuherzigem Lächeln auf den Lippen, nicht müde wurde, zu grüßen und zu danken. Wiederholt mußte der Wagen halten zur Entgegennahme einer Ansprache, eines Ehrentrunks aus der Mitte des Volkes… Wer hätte damals geahnt, daß zwei Monate später auf denselben Straßen sich Barrikaden erheben würden, errichtet von verzweifelten Volksmassen, welche sich in ihren auf Parlament und Reichsverweser gesetzten Hoffnungen bitter betrogen fühlten? J. P.     


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Die Erforschung des Südpols.

Von Prof. Dr. Sophus Ruge.

Alle Naturkräfte, die auf der Erdoberfläche wirken oder zur Erscheinung kommen, können in ihrem ursächlichen Zusammenhange erst dann vollständig erkannt und verstanden werden, wenn es dem Menschen vergönnt ist, nicht bloß die Oberflächengestaltung von Pol zu Pol zu überschauen und das Antlitz der Erde unverhüllt zu erblicken, sondern wenn er auch an allen wünschenswerten Punkten mit seinen immer mehr vervollkommneten Meßinstrumenten längere Reihen von Beobachtungen anstellen kann. Erst dann wird die Erdkunde, in der weitesten wissenschaftlichen Bedeutung des Wortes, dem Ziel ihrer Aufgabe sich erfolgreich nähern.

Gegenwärtig klaffen uns noch die weitesten Lücken entgegen; denn abgesehen von den immer enger begrenzten Räumen unbekannter, von wissenschaftlichen Reisenden noch nicht betretener Landstriche im Innern der bekannten fünf Erdteile sind noch weite Flächen an beiden Polen unserer Erde vollständig verschleiert. Aber es giebt hier keine unüberwindliche Schranke der Erforschung. Fast jede groß geplante Unternehmung, fast jede gegen die Pole vordringende Expedition hat Erfolge zu verzeichnen gehabt und ihre Vorgänger überboten, und so hat unser 19. Jahrhundert naturgemäß mit seinen gewaltigen technischen Mitteln auch die bedeutendsten Fortschritte in der Erforschung der Polarregionen gemacht. Daß dabei die Entschleierung des arktischen Gebietes vor allem in Angriff genommen und gefördert ist, findet seine einfache Erklärung darin, daß alle Kulturvölker, die sich an dieser hohen wissenschaftlichen Aufgabe beteiligt haben, auf der nördlichen Erdhälfte in jenen Erdteilen wohnen, die das nordpolare Meeresbecken wie ein Ring umgeben.

Daher hat auch die arktische Forschung in diesem Jahrhundert, seit sie auf Anregung John Barrows 1818 von England thatkräftig wieder begonnen wurde, keine längeren Ruhepausen, keinen Stillstand erfahren, sondern Engländer, Nordamerikaner, Deutsche, Dänen, Norweger und Schweden haben sie rastlos weiter gefördert, bis Nansen in seinem ebenso kühn angelegten als erfolgreichen Unternehmen sich dem Nordpol schon bis auf etwa 33/4 Breitengrade genähert hat. Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, daß schon vor 15 Jahren innerhalb des Polarkreises unter Mitwirkung aller Kulturvölker ein Ring von Beobachtungsstationen thätig gewesen ist, von denen sehr wertvolles Beobachtungsmaterial heimgebracht worden ist.

Anders am Südpol, in der antarktischen Eiswelt.

Hier folgen die großen Expeditionen, die einen energischen Vorstoß in die südlichen Meere wagten, nur in großen Zwischenräumen und sie galten alle dem Aufspüren eines Phantoms, des großen unbekannten Südlandes, das die Kartographen des 16. Jahrhunderts in mächtigster Festlandsausdehnung geschaffen [411] hatten und das vom Südpol her bis in die Nähe der Südspitzen Amerikas und Afrikas reichen und in Neu-Guinea sich bis in die Nähe des Aequators erstrecken sollte.

Tasman drang 1642 im Indischen Ocean bis zum 49. Breitengrade südlich vor, Cook umkreiste 1773 den Pol und drang auf dieser seiner zweiten Reise im Januar 1774 bis 71° vor, ohne Land zu finden. Das Südland schien sich hinter unnahbaren Eisschranken zurückzuziehen, aber an seine Existenz wurde noch geglaubt. Unserm Jahrhundert blieb es vorbehalten, in den antarktischen Regionen Inseln und größere Küstenstriche zu entdecken. Es ist ein Zeitraum von 25 Jahren, von 1819 bis 1844, in dem die südpolare Forschung unter Beteiligung der Russen, Franzosen, Engländer und Nordamerikaner einen mächtigen Anlauf nahm, um dann wieder bis auf den heutigen Tag, also ein halbes Jahrhundert lang, fast völlig ins Stocken zu geraten. Es muß aber auch betont werden, daß die größten Expeditionen auf Staatskosten ausgerüstet waren, während die dazwischen hineinfallenden kleineren Erfolge dem Zufall zu danken waren, der die Walfischfänger und Robbenschläger entweder an die Gestade einer antarktischen Insel oder eines größeren Landes führte oder ihnen gestattete, in einem ausnahmsweise eisfreien Polarmeere einen Vorstoß bis zum 74. Grade südlich zu machen.

Diese erfolgreiche Epoche eröffnete 1819 die russische Expedition unter Bellingshausen, der zwar noch näher als Cook den Südpol umkreiste, aber doch den 70. Grad südlicher Breite nicht erreichte.

Indessen fand er am 22. Januar 1821 südlich vom Feuerlande das erste antarktische Land innerhalb des Polarkreises, die Insel Peters des Großen unter 68° 57' südlich und am 29. Januar etwas nördlicher das Alexandersland, das wohl mit dem später entdeckten Grahamslande zusammenhängt, ein vollständig in Eis und Schnee gehülltes Land, das keine Spur organischen Lebens mehr zeigte.

Zwei Jahre später gelang es dem englischen Walfischer Weddell, mit zwei kleinen Fahrzeugen weiter östlich vom Alexanderslande in einem vollständig freien Meere unter dem Meridian von 33° 20' westlich von Greenwich über den 74. Grad südlich gegen den Pol vorzudringen, also noch drei Grade weiter als Cook.

Ihm folgte Biscoe, der 1830 von England aus auch mit zwei kleinen Schiffen auf den Robbenschlag ausgeschickt war. Er entdeckte 1821 am Polarkreise, unter 50° östlich von Greenwich das Enderbysland und 1832 das Grahamsland und die davor liegenden Inseln nordöstlich vom Alexanderslande, die nach ihm benannt worden sind. Neben Enderbysland wurde im nächsten Jahre von Kemp das Kempsland gefunden. Und als 1839 Balleny, ebenfalls in der Nähe des Polarkreises, das Sabrinaland südlich von Westaustralien und die Ballenysinseln südlich von der Ostküste Australiens aufgefunden hatte, waren an so weit voneinander entlegenen Punkten, Inseln und Küstenstriche eines antarktischen Landes gesehen worden, daß eine lebhafte Phantasie sie mühelos zu einem Ganzen zusammenschließen und einen antarktischen Kontinent daraus von neuem schaffen konnte. Und in der That ist auch dieser hypothetische Titel jahrzehntelang auf den Karten zu lesen gewesen.

Den Abschluß dieser für die südpolare Forschung so günstigen Epoche bildeten drei große Expeditionen, die von Frankreich, den Vereinigten Staaten und England ausgerüstet waren. Zwar sollten die Schiffe der beiden ersten Staaten die antarktischen Gebiete zu enthüllen nicht als ihre Hauptaufgabe betrachten, somit also nur einige Sommermonate der südlichen Hemisphäre darauf verwenden; aber dessenungeachtet sind die Ergebnisse hervorragend. Das erste dieser beiden Geschwader wurde geführt von dem französischen Konteradmiral Dumont d’Urville, der im Februar 1838 das Nordende des Grahamslandes entdeckte, dem er den Namen Louis Philippsland gab, und der zwei Jahre später das Adelieland östlich von Ballenys Sabrinaland auffand. Das zweite Geschwader stand unter dem Kommando des nordamerikanischen Lieutenants Wilkes. Zwei seiner Schiffe, „Peacock“ und „Flying-Fish“, drangen 1839 in der Nähe jener Stelle, wo Cook über den 71. Grad südlicher Breite hinausgesegelt war, bis zum 70. Grade vor. Die beiden anderen Schiffe, „Vincennes“ und „Porpoise“, erreichten im folgenden Jahre Adelieland und fuhren nun, wie sie meinten, angesichts eines hohen mit einem Eisgürtel umschlossenen Gebirgslandes 1500 Meilen bis zum Terminationlande (95° östlich von Greenwich) hin, so daß sie die Ueberzeugung gewannen, einen Kontinent vor sich zu haben, und daß Wilkes für dieses „Wilkesland“ auch die Bezeichnung „Antarktischer Kontinent“ gebrauchte. Allein das südliche Eismeer bereitet durch seine Nebel und feststehenden Wolkenbänke oder durch seine Eisberge dem Schiffer so leicht Täuschungen, vor denen schon Cook gewarnt hat, daß man nicht eher von der Existenz einer Insel oder eines festen Landes überzeugt sein darf, als bis Gesteinsproben die Entdeckung erhärten. Und dieser Beweis fehlt der Wilkes’schen Entdeckung, die um so mehr in Frage gestellt ist, als der äußerste westliche Vorsprung seines Südlandes, das Terminationland, einige dreißig Jahre später von der englischen „Challenger“-Expedition in den Grund gesegelt ist, insofern man trotz des klarsten Wetters an der angegebenen Stelle kein Land erblicken und auch aus der Tiefe des Meeresbodens nicht auf die Nähe eines Landes schließen konnte. Endlich ist auch der Nachweis nicht erbracht, daß die von Balleny und Dumont d’Urville hier gesehenen Küsten ein zusammenhängendes Land bilden, das den Namen eines Kontinents verdiente. Ueber diese Frage entspann sich dann nach Abschluß jener Expeditionen ein längerer wissenschaftlicher Streit, der bis heute nicht gelöst werden konnte, weil jene Regionen in ihrer ganzen Ausdehnung nicht wieder besucht worden sind.

Nur die dritte, die englische Expedition unter Kapitän James Clarke Roß, der bereits 1831 den nördlichen Magnetpol entdeckt hatte, war ausschließlich zur Erforschung des antarktischen Gebietes ausgesandt. Ihr Leiter war mit der Schiffahrt im Eismeer völlig vertraut, widmete sich der ihm gestellten Aufgabe, sich soweit als möglich zum Zweck magnetischer Beobachtungen dem südlichen Magnetpol zu nähern, mit vollem Eifer und errang daher weit bedeutendere Erfolge als die französische und nordamerikanische Expedition. Ihn begleitete als Naturforscher der noch lebende Sir Joseph Hooker. Sein Geschwader bestand aus den beiden für Eismeerfahrten besonders geeigneten Schiffen „Erebus“ und „Terror“, denselben Fahrzeugen, auf denen wenige Jahre später die Franklinsche Nordpolarexpedition bis auf den letzten Mann zu Grunde gehen sollte. Kühn drang Roß im Januar 1841 südlich von Neuseeland durch den Packeisgürtel, vor dem seine Vorgänger zurückgewichen waren, hindurch und erreichte unter 69° südlich wieder ein freies Meer. Unter 71° südlich stieß er zuerst auf Land, verfolgte dasselbe bis 78° südlich und sah hinter einer 50 bis 60 m aufragenden Eismauer mächtige Vulkane sich bis zu einer Höhe von nahezu 4000 m erheben, von denen der höchste, der sich durch eine gewaltige Eruption als noch thätig erwies, den Namen Erebus, der andere den Namen Terror erhielt. Hier konnte keine Täuschung vorliegen: man hatte ein großes südliches Land gefunden und benannte es nach der jungen Königin Viktorialand. Hier wurde auch 1842 die höchste bis jetzt noch nicht wieder gewonnene Breite von 78° 91/2' erreicht. Im folgenden Jahre vervollständigte Roß die Entdeckung Dumont d’Urvilles, indem er nachwies, daß das Louis Philippsland eine Halbinsel des Grahamslandes sei. Die Lücken in den magnetischen Beobachtungen Roß’ suchte 1845 Lieutenant Moore auszufüllen, aber er kam wegen sehr ungünstiger Eisverhältnisse kaum über den südlichen Polarkreis hinaus.

In den späteren Zeiten sind nur einige zufällige Entdeckungen am Grahamslande gemacht, an die uns die Namen Dallmann und Larsen erinnern; aber eine wissenschaftliche Expedition ist seit den Tagen von James Roß nicht wieder nach dem Süden entsendet. In dieser Beziehung haben wir einen fünfzigjährigen Stillstand zu beklagen. So gering unsere Kenntnis auch noch von dem südlichen Polargebiete der Erde ist, so lassen sich doch schon einige allgemeine Vergleichungspunkte der arktischen und antarktischen Regionen aufstellen. Nach ungefährer Schätzung galt das unbekannte Gebiet am Südpol bisher für viermal so groß als das am Nordpol. Dies Verhältnis ist natürlich durch Nansens glückliche Nordfahrt wesentlich zu ungunsten der antarktischen Seite verschoben.

Um den Nordpol herrscht das Wasser vor, um den Südpol, wie es scheint, altes Festland. Innerhalb des nördlichen Polarkreises ist die vulkanische Thätigkeit erloschen, im Süden ist sie [412] mächtig zu Tage getreten. Der Norden ist bedeutend wärmer als der Süden; daher sind die organischen Wesen viel weiter gegen den Nordpol als gegen den Südpol verbreitet. Innerhalb des südlichen Polarkreises giebt es keine Menschen mehr, wohl aber innerhalb des nördlichen. Im Norden hat man schon 1831 die Lage des nördlichen Magnetpols bestimmt, den südlichen Magnetpol hat man noch nicht erreicht. Und was die Geschichte der Erforschung jener beiden Polargebiete betrifft, so möchte ich hier noch einmal betonen: in der arktischen Zone ist man seit 1818 ununterbrochen thätig gewesen und ist immer weiter gegen den Pol vorgedrungen, ohne eine unüberwindliche Schranke zu finden; im Süden ist seit 50 Jahren nichts Wesentliches mehr geschehen.

Um die Unternehmungen gegen den antarktischen Pol wieder in Fluß zu bringen, ist ein deutscher Gelehrter von hohem wissenschaftlichen Ruf, der Leiter der Deutschen Seewarte, der Wirkl. Geh. Admiralitätsrat Neumayer vor allen anderen seit mehr als 40 Jahren unermüdlich mit Wort und Schrift thätig gewesen und hat namentlich auf den deutschen Geographentagen und nicht zuletzt im Jahre 1895 auf dem Internationalen Geographenkongreß zu London seine Stimme erhoben.[7] Dabei hat er von den Fachmännern allseitige Zustimmung erfahren.

Fassen wir nun seine Gedanken über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Südpolarexpedition kurz zusammen: Eine Entwicklung der erdphysikalischen Wissenschaften kann ohne erneuerte Forschungen und Stationsbeobachtungen im antarktischen Gebiete gar nicht gedacht werden. Es kommen dabei zunächst der Erdmagnetismus, die Meteorologie und die damit in Beziehung stehenden Zweige der Geophysik in Frage.

Als den Kernpunkt aller Argumente, die sich auf die Notwendigkeit der Südpolarforschung beziehen, betrachtet Neumayer die Beobachtungen über den Erdmagnetismus. „Alle Bestrebungen zu gunsten der Entwicklung unserer Anschauungen über die Natur der erdmagnetischen Kraft werden fruchtlos sein, so lange wir nicht eine gründliche Kenntnis von der Verteilung und Aeußerung dieser Kraft innerhalb der Südpolarzone gewonnen haben werden.“

Daneben soll durch Pendelbeobachtungen die Verteilung der Schwerkraft und danach die Figur der Erde ermittelt werden. Eine Gradmessung zur Ermittlung der Gestalt der Erde soll als schwierig und zeitraubend nicht ausgeführt werden, da sie durch Pendelbeobachtungen einen Ersatz findet.

Von großer Wichtigkeit sind auch meteorologische Beobachtungen. Der südliche Ringocean, südlich von den Südspitzen der Erdteile, beeinflußt die Wärmeverteilung und deren Aeußerung auf den Zustand der Erdoberfläche in hohem Grade. Die Temperaturerscheinungen der nördlichen und südlichen Hemisphäre sind sehr verschieden. Zwischen dem 60. und 65. Breitengrade zeigt in den Sommermonaten Juli auf der nördlichen und im Februar auf der südlichen Erdseite die mittlere Temperatur der Luft einen Unterschied von mehr als 10° C., dementsprechend ist auch die Temperatur des Wassers in der südlichen Hemisphäre bedeutend niedriger als im Norden. Eine natürliche Folge davon ist die weit größere Ausdehnung von Schnee und Eis auf der südlichen Erdhälfte. Schon auf der Wellingtonsinsel (49° 25’ südlich und 74° 40’ westlich von Greenwich) reichen die Gletscher bis ans Meer herab. Das Studium des Polareises läßt nach den Forschungen Drygalskis, der zu dem Zwecke eine zweimalige Reise nach Grönland unternommen hat, einen Schluß auf die Natur des Gebietes zu, woher das Eis stammt, denn Meereis, Binnenseeeis und Gletschereis sind wohl zu unterscheiden. Das im Meer gebildete Eis zeigt Krystalle, deren Hauptachsen sich parallel zur gefrorenen Oberfläche stellen. Beim Binneneise stehen die Achsen senkrecht, beim Gletschereis ist die Richtung verschieden. Die Natur des Eises läßt also einen Schluß auf die Bodengestalt und Beschaffenheit des hohen Südens zu. Die Höhe der südlichen Eisberge ist noch nicht gemessen, und doch läßt sich daraus auf die Mächtigkeit des Inlandeises und auf die Meerestiefen schließen. Ist eine Station auf dem antarktischen Lande errichtet, so kann man aus den dort an einer einzelnen Stelle gemachten Beobachtungen Schlüsse über das Klima des ganzen Eisrandes thun.

Ueber die erdgeschichtliche Bedeutung der Südpolarforschung hat sich Professor Penck schon vor zehn Jahren auf dem Deutschen Geographentage in Hamburg ausgesprochen. Nach seiner Ansicht ist die Entwicklung der Organismen, der Pflanzen und Tiere von den Polen ausgegangen. Ueber die nördlichen Polarländer liegen schon genaue geologische und paläontologische Forschungen vor, über das antarktische Gebiet wissen wir sehr wenig. Aus den fossilen Resten der arktischen Gebiete, die namentlich von Osw. Heer bearbeitet worden sind, scheint hervorzugehen, daß die jüngeren Floren und Faunen vom Nordpol wie von einem Entwicklungscentrum neuer Organismen ausstrahlten und sich von da in die um den Pol gelagerten Landmassen der Alten und Neuen Welt immer weiter nach Süden verbreiteten. Es hängt dies damit zusammen, daß mit der zunehmenden Erkaltung der Erdrinde das ursprünglich gleichartige Klima auf der ganzen Erde zuerst an den Polen eine Aenderung erfuhr. Das geschah noch in der Tertiärzeit. Mit dem veränderten Klima in der Polarregion mußten aber andere Pflanzen und Tiere entstehen, und diese Formen wanderten mit immer stärker werdender Ausprägung des Klimas einzelner Zonen von den Polen, wo sie entstanden, immer weiter gegen den Aequator. „Sind die Pole,“ so schließt Penck, „die Centren, von denen aus eine stete Weiterentwicklung der organischen Welt eingeleitet wird, so muß sich dies im Norden wie im Süden, auf beiden Hemisphären nachweisen lassen. Nun ist nicht zu verkennen, daß durch geographische Umstände die vom Nordpol ausgehende Entwicklung in ganz anderem Maße begünstigt wurde als die vom Südpol ausstrahlende, weil um den Nordpol ein Landring liegt, auf dem sich die Organismen weiter verbreiteten; um den Südpol aber zieht sich ein Ringocean, der die antarktischen Länder von den bekannten fünf Erdteilen trennt.“ Auf der arktischen Seite sprechen viele Beobachtungen für diese Theorie, auf der antarktischen Seite fehlen uns noch alle Unterlagen.

Indes darf nicht verschwiegen werden, daß Professor Mohn in Christiania, indem er die wichtigsten Ergebnisse von Nansens glücklich vollendeter Nordfahrt zusammenstellt, gegen die Theorie der Ausstrahlung des organischen Lebens von den Polen aus in der jüngsten Zeit Bedenken erhoben hat. Er schreibt: „In den höchsten Breiten wurden in großen Meerestiefen keine Organismen mehr gefunden. Damit fällt die Theorie des polaren Ursprungs der tierischen Organismen.“ Dagegen schreibt Nansen selbst im Schlußworte zur 2. Auflage seines berühmten Werkes „In Nacht und Eis“, Bd.II, S. 516 (Leipzig 1898): „Selbst in den höchsten Breiten fand sich im Meere tierisches Leben, meistens Krustentiere (Copepoden und Amphipoden). Es wird auch am Pol noch so sein, wenn auch die Menge des Lebens im Wasser mit der größeren nördlichen Breite abnimmt und im Vergleich mit der in südlicheren Meeren enthaltenen nur gering ist.“

Mir scheinen daher die von Penck vorgetragenen Theorien immer noch der Beachtung wert, solange nicht eine vollbefriedigende Widerlegung erfolgt ist. Jedenfalls bleibt die Untersuchung, oder richtiger noch zunächst das Suchen nach antarktischen Fossilien eine der wichtigsten Aufgaben einer südpolaren Expedition.

Daß für die Entwicklung aller auf die Erde bezüglichen Wissenschaften Forschungsreisen nach dem hohen Süden dringend erwünscht sind, liegt nach diesen Darlegungen auf der Hand.

Es handelte sich nun um die Möglichkeit der Ausführung.

Nachdem auch der elfte, zu Ostern 1895 in Bremen abgehaltene Geographentag sich entschieden zu gunsten einer südpolaren Unternehmung ausgesprochen und infolgedessen bereits eine Kommission ernannt hatte, welche die Organisation vorbereiten sollte, brachte der Urheber des Planes, der natürlich an die Spitze der deutschen Polarkommission berufen wurde, seinen Entwurf auch noch vor das Forum des im Sommer 1895 zu London versammelten VI. internationalen Geographenkongresses, um das Urteil auch von nichtdeutschen Autoritäten aufzurufen. Auch in London sprach man sich sehr günstig über Neumayers Plan aus und der Kongreß erklärte „die Erforschung der antarktischen Regionen für das bedeutendste der noch zu lösenden geographischen Probleme“.

Auf solche von allen Seiten erfolgte Zustimmung entwarf nun Neumayer einen Plan zur Ausführung, der dann auch der deutschen Polarkommission vorgelegt wurde und dahin ging, zwei Schiffe auszusenden, von denen eine Beobachtungsstation innerhalb des südlichen Polarkreises für wenigstens zwölf Monate Dauer

[413]

Gladstones Grabstätte. 

In der „Staatsmännerecke“ der Westtminsterabtei zu London.
Nach einer Photographie von S. B. Bolas & Co. in London.

[414] eingerichtet werden sollte. Es sollten zu dem Zwecke zwei Holzschiffe, Dampfer mit Segelvorrichtungen, von etwa 400 Tonnen Gehalt ausgesandt werden, eins dieser Schiffe in der Nähe der geplanten Station bleiben und das andere auf geographische Entdeckungen ausgehen. Die Dauer der Reise wurde auf drei Jahre angenommen.

Aber die Kosten dieser groß angelegten, rein wissenschaftlichen Unternehmung waren auf nahezu eine Million Mark veranschlagt, und es wurden daher bald von verschiedenen Seiten Bedenken laut, ob eine so bedeutende Summe durch Sammlungen, durch private Beiträge aufgebracht werden könnte.

Wenn nun auch gleich im Anfange einige namhafte Beiträge zugesagt waren, so stellte sich doch bald heraus, daß die Aussichten auf Verwirklichung des Planes weniger Fortschritte machten, als man gehofft hatte. So ist man denn, nachdem auch der zwölfte 1897 zu Jena abgehaltene Geographentag sich mit dieser wichtigen Angelegenheit beschäftigt hat und ein belgisches Schiff im vorigen Sommer eine Forschungsreise nach dem hohen Süden angetreten hat, in den deutschen maßgebenden Kreisen zu der Ueberzeugung gekommen, daß man den Plan einschränken, sich mit der Ausrüstung eines Schiffes begnügen müsse, um das Unternehmen überhaupt ins Leben rufen zu können. Die veranschlagten Kosten sind um mehr als die Hälfte verringert und lassen nun um so eher der Hoffnung Raum, sie durch private Sammlungen aufzubringen. In Leipzig und München ist die Agitation bereits kräftiger ins Leben getreten; hoffen wir, daß nun auch unsere großen Seestädte nicht zurückbleiben. Als Leiter der Expedition ist Dr. v. Drygalski gewonnen, dem wir die glänzenden Forschungen über die grönländische Eiswelt verdanken.

Aber trotz des sich vielfach stärker regenden Interesses für das Zustandekommen einer deutschen Südpolarexpedition möchten wir doch anheimgeben, ob es sich, neben den eifrig zu fördernden privaten Sammlungen, nicht empfehle, zu versuchen, auch das Reich und die Vertreter desselben im Reichstage für den Plan zu gewinnen, ähnlich wie vor 25 Jahren die afrikanische Forschung wesentlich durch Reichsmittel gefördert worden ist.

Wenn das weit geringer bevölkerte Norwegen zu Nansens Polarfahrt aus Staatsmitteln 200000 Kronen beisteuern konnte, sollte es da dem Deutschen Reiche nicht auch möglich sein, die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen?

Es würde ein solches Unternehmen gewiß die großartigsten wissenschaftlichen Erfolge erzielen und der deutschen Wissenschaft wie dem Deutschen Reiche zu unvergänglichem Ruhme gereichen.


Berühmte Ausgerottete.

Von Dr. W. Haacke.0 Mit Abbildungen von A. Specht.

Im Laufe der Zeiten hat der Mensch einen tiefgehenden Einfluß auf die Tierwelt ausgeübt; einige Tierarten hat er zu dauernden Genossen seines Haushaltes gemacht, andere aus der Nähe seiner Wohnsitze verdrängt, andere wieder oft in erstaunlich kurzer Frist völlig von der Erde vertilgt.

Etliche der ausgerotteten Arten sind zu großer Berühmtheit gelangt. Gleichwohl ist die Geschichte ihres Unterganges nicht so bekannt geworden, wie sie es verdiente. Es war deshalb ein dankenswertes Unternehmen, als der amerikanische Naturforscher Lucas vor einiger Zeit das zusammenstellte, was darüber in Erfahrung zu bringen war. Namentlich über die drei berühmtesten der ausgerotteten Tierarten hat er eingehende Mitteilungen gemacht, die nicht verfehlen werden, das Interesse des Lesers in Anspruch zu nehmen.

Der bekannteste unter den durch Menschenhand ausgerotteten Vögeln dürfte, wenigstens dem Namen nach, der Dodo oder Dronte der Insel Mauritius sein. Einen Balg dieses Vogels besitzt leider kein Museum, aber einige Abbildungen von ihm sind erhalten geblieben. Sie zeigen uns, daß der Dodo dem Taubengeschlechte angehörte und ein grotesker Riese war, vergleichbar dem Truthahn, dem Brahma- oder dem Kochinhuhn unter den Hühnervögeln. Der erste Bericht über den Dodo stammt von de Bry her, dem Beschreiber der Reise, die der holländische Admiral Jakob Cornelius van N0eck im Jahre 1598 nach Mauritius unternommen hat. In dem Reisebericht heißt der Dronte „Walckvogel“, und zwar seines zähen Fleisches wegen, das selbst in seinen besten Teilen nicht mit dem zarten Fleisch kleinerer Tauben von Mauritius zu vergleichen war. Walckvogel bedeutet nämlich so viel wie unschmackhafter oder widerlicher Vogel. Nur auf Mauritius wurde der Dodo gefunden; ein naher Verwandter von ihm, der Solitär, bewohnte indessen die benachbarte Insel Rodriguez, und es ist wahrscheinlich, daß eine dritte Art der Familie auf Bourbon heimisch war. Doch ist von dieser letzteren nicht einmal ein Knochen auf uns gekommen, so daß wir in Bezug auf sie nur auf die Mitteilungen von Reisenden angewiesen sind; denn gleich dem Dronte und dem Solitär ist auch sie völlig ausgerottet.

Der schon genannte Beschreiber der van Neckschen Reise, de Bry, erzählt, daß die Dodos stärker als unsere Schwäne gewesen wären und große, zum Teil kahle Köpfe, aber keine Flügel, sondern an deren Stelle je drei oder vier schwärzliche Federn gehabt hätten; ihr Schwanz habe aus ein paar gekrümmten Daunen bestanden. Eine bessere Vorstellung von dem Aeußeren des Dronte geben zwei Gemälde, von denen wir das eine dem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebenden holländischen Maler Roland Savary, das andere dessen Neffen Johann verdanken. Diese beiden Bilder, die nach lebend in Holland gehaltenen Stücken gemalt worden sind, zeigen uns, daß der Dronte ein Vogel von plumpem, schwerem Körperbau, mit kurzen stämmigen Beinen und unverhältnismäßig großem Kopfe gewesen ist. Er hatte einen gewaltigen gekrümmten Schnabel. Ein loses Federkleid bedeckte den Leib; daran waren nur die Flügelkiele steif; der Schwanz glich einem kleinen Staubbesen. Ueber die Farbe des Dodo geben uns die Bilder leider keine genaue Auskunft. Nach de Bry war sie hauptsächlich grau oder schwärzlich, scheint aber an der Brust braun und an Flügeln und Schwanz gelblich oder schmutzigweiß gewesen zu sein. In sein aus Kräutern, wie es heißt, zusammengehäuftes Nest legte der Dronte ein einziges Ei, das ungefähr so groß wie das des weißen Pelikans gewesen sein soll.

Die Insel Mauritius war bei ihrer Entdeckung unbewohnt. Deshalb hatten die dortigen Vögel den Menschen nicht kennengelernt, und ganz besonders zahm war der Dodo; er war nicht bloß arglos, sondern auch dumm, was seine Ausrottung nicht eben erschwerte. Dazumal war man aber mit dem Abschlachten leicht zu erbeutender Tiere schnell bei der Hand. Obgleich die Entdecker des Vogels, wie es nach den uns gewordenen Mitteilungen scheint, nicht besonders viel von dessen Fleisch hielten, so richtete doch schon das nächste nach Mauritius kommende Schiff große Verwüstungen unter den Dodos an. Es gehörte Wilhelm van West Zannen, der sich 1601 bei Mauritius aufhielt. Seine Besatzung scheint arg unter dem Getier der Insel gehaust zu haben. Zannen schreibt, daß alles Bewegliche auf Mauritius in Aufregung gewesen wäre. Die Fische, die all die vielen Jahre in Frieden gelebt hätten, wären bis in die tiefsten Wasserlöcher verfolgt worden, und auch die Dodos hätten herhalten müssen.

An einem Tage fingen Zannens Leute 24, an einem anderen 20, alle so groß und schwer, daß zwei zu viel für das Mittagsessen der Schiffsbesatzung waren. Der reiche Fang namentlich des ersten dieser beiden Tage begeisterte Zannen so, daß er ein Gedicht darüber machte, worin vor allem vom „rund-gesteißten Dodo“ die Rede war. Nachdem Zannen eine gute Partie Dodos eingesalzen hatte, segelte er von dannen. Andere holländische Schiffe machten es nicht besser.

Der letzte Bericht über lebende Dodos steht in einer Abschrift des Tagebuches von Benjamin Harry, der erster Steuermann auf dem Schiffe „Berkley Castle“ war und Mauritius im Jahre 1681 besuchte. Noch nicht ganz ein Jahrhundert nach seiner Entdeckung, nämlich im Jahre 1693, scheint der Dronte bereits ausgestorben gewesen zu sein: denn in einem Bericht aus [415] jener Zeit thut Leguat, der sorgfältige Beschreiber des Solitär, keine Erwähnung des Dodos, der später – wohl namentlich infolge des wiederholten Besitzwechsels der Insel Mauritius, die 1715 französisch und 1810 englisch wurde – so in Vergessenheit geriet, daß seine frühere Existenz seitens etlicher Naturforscher bezweifelt wurde. Indessen hat man in den letzten 30 Jahren eine große Anzahl von Dodoknochen in einem Moore auf Mauritius, dem Mare aux Songes, gefunden.

Ueber die Lebensweise des Dodo ist wenig bekannt geworden, ausgenommen, daß er gleich manchen anderen Inselvögeln flugunfähig war. Letzteres gilt auch vom Solitär, über den uns etwas mehr berichtet wird als über seinen mauritianischen Verwandten.

Manches davon will uns freilich nicht recht glaubhaft erscheinen. So soll der Vogel Thränen vergossen haben, wenn er gefangen wurde. Es wird auch mitgeteilt, daß das Männchen eines Paares niemals ein fremdes Weibchen von seinem Neste vertrieben, sondern nur sein eigenes Weibchen durch ein mit den Flügeln hervorgebrachtes Geräusch gerufen habe, damit es das fremde verjage. Umgekehrt soll das Männchen fremde Geschlechtsgenossen verjagt haben, nachdem es vorher von dem Weibchen gerufen worden sei. Leguat sagt, er hätte das öfter beobachtet, und erklärt es ausdrücklich für wahr. Aber er hat noch wunderbarere Sachen gesehen. Einige Tage, nachdem der junge Solitär das Nest verlassen habe, werde ihm durch eine Gesellschaft von 30 oder 40 alten Vögeln ein anderes Junges zugeführt, worauf sich dieses mit Vater und Mutter der Bande anschließe und auf einen Platz in der Nähe gehe, von dem die alten Vögel dann allein oder in Paaren fortzögen, um die Jungen dort bei einander zu lassen. Leguat nennt das eine Hochzeit. „Diese Eigentümlichkeit,“ sagt er, „hat etwas an sich, das ein wenig fabelhaft aussieht; nichtsdestoweniger ist das, was ich sage und was ich mehr als einmal mit Aufmerksamkeit und Vergnügen beobachtet habe, aufrichtige Wahrheit.“

Der Dodo.

Das größte unter den berühmten ausgerotteten Tieren ist das Borkentier oder Stellers Seekuh, ein sogenannter Fischsäuger, der zusammen mit den Manaten des Atlantischen und dem Dugong des Indopacifischen Oceans die Familie der Sirenen oder Seekühe bildet, die man früher zu den Walfischen zählte, jetzt aber als an das Wasser angepaßte Pflanzenfresser aus der großen Abteilung der Huftiere betrachtet.

Als der berühmte Seefahrer Bering im Jahre 1741 von einer Entdeckungsfahrt, die der Küste von Alaska gegolten hatte, zurückkehrte, erlitt er Schiffbruch an der Insel, die jetzt seinen Namen trägt und ungefähr 25 geographische Meilen von der Küste von Kamtschatka entfernt ist. Die überlebenden Mitglieder der Expedition, die zehn Monate lang auf jener Insel verweilen mußten, sollen Fleisch von Borkentieren verzehrt haben, die sie dort als Bewohner der Küstengewässer entdeckten. Indessen wurde die erste Seekuh thatsächlich erst am 12. Juli des folgenden Jahres getötet. Einen Bericht über das Aussehen, die Lebensweise und die bevorzugten Aufenthaltsorte der großen Sirene verdanken wir Berings Arzt G. W. Steller, dessen Namen das Borkentier erhielt. Steller war ein eifriger Naturforscher, der trotz der Entbehrungen, die der Aufenthalt auf der unwirtlichen Insel den Schiffbrüchigen auferlegte, seinen Untersuchungen oblag. Das Borkentier war ungefähr 7 bis 9 m lang und hatte einen Bauchumfang von etwa 6 m. Nach Stellers Schätzung wog es bis zu 8000 Pfund. Sein Kopf war im Verhältnis zum Körper sehr klein, dessen Kiefer trugen an Stelle von Zähnen eine dicke Hornplatte. Von ihrer Haut, die einer übermäßig ausgebildeten Elefantenhaut ähnelte, erhielt Stellers Seekuh den Namen Borkentier. Die Oberhaut war stellenweise gut 2 cm dick und so hart, daß sie nur mit einem Beile zerschnitten werden konnte.

Das Borkentier bewohnte herdenweise die Mündungen von Flüssen, wo es sich von Tang nährte. Es war dumm, langsam und ziemlich unbeholfen, konnte sich auch nicht durch Untertauchen schützen und wurde gelegentlich durch die Brandung ans Ufer geworfen. Wegen seiner Unfähigkeit zum Tauchen war es gezwungen, seiner Nahrung im seichten Wasser nachzugehen, und da dieses im Winter vor Eis und Sturm oft unzugänglich war, so war das Tier im Frühling sehr abgemagert.

Bald nachdem die Schiffbrüchigen nach Kamtschatka zurückgekehrt waren, wurden Expeditionen nach der Beringsinsel und ihrer Nachbarschaft geschickt, um dort zu überwintern und Pelztiere zu jagen. Den Mitgliedern dieser Jagdgesellschaften lieferte die Seekuh frisches Fleisch, das in einer Zeit höchst willkommen sein mußte, wo der Skorbut – eine Folge des Genusses von Salzfleisch – sehr gefürchtet war. Den ersten Expeditionen folgten andere, und das Borkentier mußte immer in vorderster Reihe herhalten, um Proviant zu liefern.

Außerdem pflegten Schiffe, die nach der Nordwestküste von Nordamerika fuhren, bei der Beringsinsel anzulegen, um dort einen Vorrat gesalzenen Seekuhfleisches einzunehmen. Damals gab es nämlich auf Kamtschatka keine Rinder, so daß man in der Seekuh eine höchst willkommene Fleischnahrung erblickte.

In den zwanzig Jahren zwischen 1743 und 1763 haben 19 Gesellschaften, jede 30 bis 50 Mann stark, auf der Beringsinsel überwintert, während andere auf der benachbarten Kupferinsel blieben und noch andere wenigstens Vorrat einnahmen. Während ihres Aufenthaltes auf der Insel lebten die Leute von frischem Seekuhfleisch; einen großen Teil ihrer Zeit verwandten sie darauf, Seekühe zu töten und einzusalzen.

Gewöhnlich harpunierte man das Tier von einem achtruderigen Boote aus und zog es nach kurzem Kampfe an das Ufer. Oder die Fuchsjäger schlichen sich vorsichtig an die im seichten Wasser liegende Seekuh heran, um sie durch einen Lanzenwurf tödlich zu verwunden. Dabei wurden verhältnismäßig wenig Borkentiere ohne weiteres getötet; die Mehrzahl von ihnen entwischte in tiefes Wasser, um dort zu sterben und später ans Ufer getrieben zu werden. Manche Seekuh ging dabei gänzlich verloren; andere wurden von den Jägern erst so spät gefunden, daß sie unbrauchbar waren, was um so öfter geschah, als ihr Fleisch schon innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Tode in Fäulnis überging.

Im Jahre 1754, nur 9 Jahre nach der Entdeckung der Kupferinsel, war Stellers Seekuh auf dieser vertilgt, und 1763 war sie wahrscheinlich auch auf der Beringsinsel nahezu

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Stellers Seekuh.

ausgerottet. Das letzte Borkentier wurde 1767 oder 1768 getötet. Zwar berichtet Nordenskjöld, daß noch eins im Jahre 1854 gesehen worden sein soll. Das betreffende Tier scheint aber nach allem, was man darüber weiß, ein Narwal gewesen zu sein.

Daß die Seekuh so schnell verschwinden konnte, erscheint uns nicht weiter wunderbar, wenn wir hören, daß nicht mehr als 1500 oder 2000 Seekühe bei der Beringsinsel zur Zeit von deren Entdeckung gewesen sein sollen, und daß die Tiere nicht mehr als 15 zugängliche Futterplätze an den Küsten dieser Insel fanden.

Die dritte der ausgerotteten Tierarten, von der wir dem Leser erzählen wollen, war der Riesenalk, das größte Mitglied seiner Familie, und nicht bloß durch seine Größe, sondern auch, gleich dem Dronte, durch seine Flugunfähigkeit ausgezeichnet, durch diese um so mehr, als er auf der nördlichen Erdhalbkugel der einzige Vogel war, dessen Flügel nicht zum Fliegen gebraucht werden konnten.

Kopf, Hals und Rücken des Riesenalks waren schwarz, die Unterseite weiß; an jeder Seite der Stirn trug er einen großen weißen Fleck. Der Vogel ruderte mit Hilfe seiner Flügel sehr behende, im Wasser tauchend, umher und führte größere Wanderungen aus als mancher fliegende Vogel. Er lebte im Norden des Atlantischen Oceans. Sein Wohngebiet erstreckte sich an der europäischen Seite von Island bis zum Meerbusen von Biscaya, an der amerikanischen von Grönland bis nach Virginien. Indessen bezeichnen die genannten Oertlichkeiten nur die Endpunkte seiner Wanderungen. Grönland und Norwegen dienten dem Riesenalk nur in geringer Ausdehnung als Wohngebiete. Seine bekannten Brutplätze waren klein an Zahl. Am häufigsten brütete er in der Nähe von Island und Neufundland auf gewissen kleinen Inseln, die als isolierte und schwer zugängliche Felsen aus dem Wasser hervorragten.

Verhängnisvoll für den Vogel wurde seine Anhänglichkeit an die altgewohnten Brutplätze und seine gesellige Lebensweise, die den Fang sehr erleichterten. Der wichtigste europäische Brutplatz des Riesenalks, eine ungefähr 6 geographische Meilen von Island entfernte Insel, wurde im Jahre 1830 von einem Erdbeben heimgesucht, infolgedessen der Brutplatz in der See versank, so daß die Vögel genötigt waren, neue Nistgelegenheit zu suchen. Die meisten scheinen nach der kleinen Insel Eldey gezogen zu sein, und da diese dicht an der Küste lag und leicht zugänglich war, so wurden die wenigen damals noch lebenden Riesenalke im Laufe der folgenden 14 Jahre getötet. Das letzte Paar erbeutete man 1844.

In Amerika begann die Vertilgung der Riesenalke 1534. Am 21. Mai genannten Jahres landeten zwei Bootbesatzungen auf Funk Island und töteten in weniger als einer halben Stunde so viele, daß sie ihre zwei Boote damit füllen konnten. Was nicht frisch zu verspeisen war, nahmen sie eingesalzen in 5 oder 6 Tonnen mit. So ging es weiter.

Französische Fischer lebten in sehr ausgedehntem Maße von diesen Vögeln, und vorbeifahrende Schiffe hielten bei Funk Island an, um Proviant einzunehmen. Die Kolonisten salzten Riesenalke für den Winter ein, und der große Ueberfluß daran spielte eine Rolle bei der Aufmunterung zur Auswanderung nach Neufundland.

Der Riesenalk.

Obwohl der Riesenalk nur ein einziges Ei legte und sich deshalb nur langsam vermehren konnte, war er bei Neufundland anfänglich in so großen Scharen vorhanden, daß es mehr als zwei Jahrhunderte dauerte, ehe er dort ausgerottet war. Aber schließlich kam man auf die Idee, die Vögel auch der Federn willen zu verfolgen, womit ihr Schicksal besiegelt war. Millionenfach wurden sie erbeutet. Ihre Körper ließ man auf den Plätzen, wo man die Alke tötete und abbalgte, verfaulen. Ungefähr zu derselben Zeit wie in Europa war der Riesenalk auch in Amerika vertilgt, wenn man auch das Jahr nicht genau angeben kann.

Im Gegensatz zu dem Dronte und dem Borkentier, von denen man nur Bilder und Knochen besitzt, ist der Riesenalk in den Museen Europas und Amerikas durch eine Anzahl von Bälgen und Eiern vertreten. Aber solche Schätze sind kostbar. Der Balg eines Riesenalks kostet, falls er ja einmal auf den Markt gebracht wird, ungefähr 2400 bis 3000 Mark, während ein Ei mit dem doppelten Betrage bezahlt werden muß.


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Blätter und Blüten.



William Ewart Gladstone †. (Mit den Abbildungen auf dieser Seite und auf S. 413.) England betrauert den Verlust eines seiner größten Staatsmänner. William Ewart Gladstone wurde am 19. Mai durch den Tod von seinem schweren Leiden erlöst; „der große alte Mann“, wie ihn seine Landsleute nannten, hatte sich bereits seit einigen Jahren von der Politik zurückgezogen, nachdem er als Parlamentarier und Mitglied der Regierung über sechzig Jahre lang seinem Vaterlande gedient hatte. Am 29. Dezember 1809 kam er in Liverpool zur Welt als vierter Sohn eines reichen Kaufherrn. Er zeigte in seiner Jugend, als er in Eton und Oxford studierte, ausgesprochene Neigung zur Wissenschaft; eifrig widmete er sich der Theologie, sowie klassischen Studien; sein Vater bestimmte ihn aber, sich dem Berufe des Staatsmannes zu widmen.

William Ewart Gladstone †.
Nach einer Aufnahme der Stereoscopic Company in London.

Unter den Konservativen fand William Gladstone zunächst seine Freunde, und von ihnen wurde er noch als ein junger Mann im Jahre 1832 zum erstenmal in das Unterhaus entsendet. Seine große Begabung, sein Rednertalent und seine umfangreichen Kenntnisse in den Staats- und Handelswissenschaften gewannen ihm bald die Anerkennung der leitenden Kreise. Aber in den ersten Jahren seiner politischen Thätigkeit waren seine Anschauungen noch nicht geklärt. Es vollzog sich in Gladstone eine tiefe Wandlung: aus dem Konservativen wurde er ein Liberaler, und nach zwanzig Jahren, 1852, war er bereits ein entschiedener Gegner des damaligen konservativen Ministeriums Derby. Bald wurde er einer der Hauptleiter der liberalen Partei, und 1868 trat er als solcher zum erstenmal an die Spitze der Regierung. In den harten Kämpfen, die er gegen die Konservativen führte, schwankte die Schale des Siegs. So mußte Gladstone im Jahre 1874 vor seinem Gegner Disraeli weichen. Eine Zeit lang zog er sich vom politischen Leben zurück und widmete sich der Wissenschaft; bald aber erschien er wieder auf dem Plane, um 1880 die Leitung der Regierung aufs neue zu übernehmen. Im Jahre 1885 erlitt er bei den Wahlen eine Niederlage und zog sich von seinem Amte zurück. Er war damals bereits 77 Jahre alt, aber seinem Geiste vermochte das Alter die Schärfe nicht zu nehmen. Er führte den Kampf fort und im ersten Halbjahr 1886 war er zum drittenmal leitender Minister. Aus dieser Stellung wurde Gladstone freilich schon im Sommer desselben Jahres durch den unglücklichen Ausgang der Wahlen gedrängt, aber mit erstaunlicher Energie und Rüstigkeit wirkte er weiter fort. Seine Reden zündeten, noch einmal unterlagen ihm seine Gegner und zum viertenmal wurde der nunmehr 83jährige Greis 1892 zur Leitung der Staatsgeschäfte berufen, aber nun war seine Kraft gebrochen; ein schweres Augenleiden, das eine Operation nötig machte, stellte sich ein und am 3. März 1894 nahm Gladstone seine Entlassung und trat dauernd von der politischen Bühne zurück.

England verdankt dem Verstorbenen eine Reihe wichtiger innerer Reformen; er förderte dessen Finanzen und Welthandel, sorgte für freiheitliche Entwicklung des Staates und suchte die Irländer zu versöhnen. Weniger glücklich war er auf dem Gebiete der äußeren Politik. Er beging hier schwere Fehler, die wiederholt seinen Sturz herbeiführten. Deutschland hat er keine Freundschaft entgegengebracht. In dem Kriege 1870/71 zeigte er trotz äußerer Neutralität Sympathien für Frankreich.

Gladstones Leichenbegängnis.
Nach einer Photographie von J. Russell’ Sons in London.

In der Geschichte wird Gladstone eine der eigenartigsten Erscheinungen [418] bilden. Er besaß eine Vielseitigkeit, eine Fülle des Wissens und geistiger Interessen, die geradezu erstaunlich sind. Dieser gewandte Staatsmann, glänzende Redner und eifrige Volkstribun war zugleich ein hervorragender Schriftsteller und Gelehrter; auf allen möglichen Gebieten des Wissens war er bewandert; er zeichnete sich aus als Altertumsforscher und Theologe, als Sprachforscher und Naturforscher, und mit größter Gewandtheit und Schärfe verstand er als Journalist die Feder zu führen. Sein erstes Werk, das schon im Jahre 1838 erschien, war „Der Staat in seinen Beziehungen zur Kirche“. Dann schrieb er über die Handelsgesetzgebung und 1858 gab er ein großes dreibändiges Werk über Homer heraus. Bis zuletzt war er in der Stille seines Landhauses in Hawarden litterarisch thätig, und in den letzten Monaten seines Lebens hatte er noch das Material zu einem Werke über die Apostolischen Väter gesammelt.

Seit 1839 war Gladstone mit Catherine Glynne glücklich verheiratet. Drei Söhne entsprossen dieser Ehe, und das greise Ehepaar hätte übers Jahr die diamantene Hochzeit feiern können. Wiederholt wurde dem verdienten Staatsmann die Pairswürde angeboten; er hat sie aber nicht angenommen, denn auf Titel legte er keinen Wert.

Die Beisetzung des Verblichenen in der Westminsterabtei zu London am Sonnabend vor Pfingsten gestaltete sich zu einer großartigen Trauerfeier. Schon am Donnerstag vorher war der große Tote von Hawarden nach London übergeführt und in Westminsterhall, dem mit dem Parlamentsgebäude verbundenen Staatspalast, aufgebahrt worden. Hier war der gesamten Bevölkerung Gelegenheit geboten, noch einmal die Züge des greisen allverehrten Mannes zu schauen. Das Leichenbegängnis vereinigte die Prinzen des königlichen Hauses, die Mitglieder des Ministeriums, die höchsten Würdenträger der Kirche, der Universitäten, des Heeres, der Flotte mit den Mitgliedern des Parlaments und der Gesandtschaften des Auslandes um den Sarg. Dem Willen des Toten entsprechend, verlief die Feier ohne jede Entfaltung äußerlichen Prunkes. Um zehn Uhr bildete sich der Zug, der den Sarg von Westminsterhall in die Westminsterabtei überführte. An der Spitze schritten die Mitglieder des Unterhauses, geführt von dem „Sprecher“ in seiner mittelalterlichen Tracht. Es folgten der Lordkanzler mit den Lords. Neben dem Sarg, über den eine weiße Atlasdecke gebreitet war, schritten der Prinz von Wales, der Herzog von York, Salisbury und andere Minister, sowie die ältesten Freunde des Verstorbenen. Die männlichen Mitglieder der Familie Gladstones, seine Beamten, Landleute aus Hawarden bildeten den Schluß. Drinnen ertönten die feierlichen Klänge von Beethovens „Aequali“, welchem der Trauermarsch Schuberts folgte. Die Kirche war dicht gefüllt. Mitten im Chor war eine Bahre aufgestellt, auf welcher der Sarg während der Einsegnung ruhte. Für die Mitglieder des Parlaments waren schwarzdrapierte Tribünen errichtet. Das Grab in der Halle war mit schwarzem Tuch ausgelegt. In den liturgischen Gottesdienst teilten sich der Dechant der Abtei und der Erzbischof von Canterbury. Nach der Bestattung, welcher die Witwe dicht neben der Gruft beiwohnte, beendete der Totenmarsch aus Handels „Saul“ die erhebende Feier.

Die Westminsterabtei am Parliamentssquare ist unter den vielen Kirchen der Themsestadt die berühmteste; sie ist das britische Pantheon. Ihre jetzige Gestalt erhielt sie im 13. Jahrhundert unter Heinrich III und Eduard I, nur die Westfassade und die beiden Türme stammen aus späterer Zeit. Namentlich von dem westlichen Haupteingange aus gesehen, gewährt die in Gestalt eines lateinischen Kreuzes erbaute Kirche den erhabenen Anblick eines Meisterwerks frühgotischer Baukunst, vor allem aber ist die herrliche Halle berühmt als das Nationalmausoleum und die Ruhmeshalle Englands. In ihr sind alle englischen Könige und Königinnen von Eduard dem Bekenner bis zur Königin Viktoria gekrönt worden; in ihren Mauern ruhen die sterblichen Ueberreste der meisten Herrscher und ihrer Familien von jenem Eduard ab bis auf Georg III. Hier haben ferner nach ihrem Hinscheiden die berühmtesten Kriegshelden Englands, seine großen Staatsmänner, Gelehrten, Dichter und Künstler ihre letzte Ruhestätte gefunden oder sind durch Denkmäler verherrlicht worden. Im sogenannten „Dichterwinkel“ des südlichen Querschiffs hat man den größten Dichtern des Landes Standbilder errichtet und in der „Staatsmännerecke“ im nördlichen Querschiff die berühmtesten Staatsmänner in gleicher Weise verherrlicht. Ein Grab in diesem Nationalheiligtum gilt nicht mit Unrecht als die letzte und höchste Ehre, welche die Nation dem Verdienste ihrer Söhne zuerkennt, und in der „Staatsmännerecke“ hat am 28. Mai auch William Ewart Gladstone einen Platz gefunden. Wir erblicken dort auf der rechten Seite u. a. die Denkmäler von William Pitt, Lord Chatham, Lord Palmerston und William Lord Mansfield; auf der linken Seite die der beiden Canning, des Viscount Stratford de Redcliffe, der Lords Beaconsfield und Castlereagh und Sir Robert Peels. Die Gruft Gladstones befindet sich vor der linken Reihe. Auf unserm, vor der Bestattung aufgenommenen Bild (S. 413) ist die Stelle durch den geöffneten Fußboden und umherliegenden Schutt kenntlich; rechts erhebt sich die Statue Peels († 1850), dann folgt das Denkmal des Admirals Sir Peter Warren († 1752), neben diesem steht die Statue von Gladstones langjährigem Rivalen aus dem konservativen Lager: Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield († 1881). Auch Gladstone wird in der „Staatsmännerecke“ der Westminsterabtei ein Denkmal erhalten.

Rudolf Koller.
Nach einer photographischen Aufnahme von R. Ganz in Zürich.

Rudolf Koller. (Mit Bildnis.) Am 24. Mai dieses Jahres beging der auch in Deutschland wohlbekannte und geschätzte schweizerische Tiermaler Rudolf Koller in hoher Rüstigkeit und ungebrochener Arbeitskraft seinen siebzigsten Geburtstag. Als Sohn eines zürcherischen Metzgermeisters fand Koller in seiner Jugend schon Gelegenheit, das Leben der Tiere eingehend zu beobachten. Seine Malstudien machte er in Düsseldorf, Paris und München, dann wandte er sich wieder nach Zürich, wo er seit bald 40 Jabren in der Idylle des Zürichhorns am prächtigen See sein Heim und sein Atelier aufgeschlagen hat, das er seitdem nur zum Zwecke größerer Kunstreisen verläßt. Nach einem Werdegang, der viele Widerstände zu besiegen hatte, begründete er in den sechziger Jahren seinen Ruf als ausgezeichneter Tierschilderer, und im folgenden Jahrzehnt erwarb er sich durch seine Bilder auf den Kunstausstellungen zu Wien, München und Paris einen internationalen Ruf. Gemälde seiner Hand schmücken die Galerien von Wien, Dresden, Madrid und anderen Kunststädten, besonders viele sind in schweizerischen Sammlungen ausgestellt, andere, die in Privatbesitz übergegangen sind, haben sich über alle Länder Europas verteilt. Von seinen Bildern ist wohl keines durch Reproduktion so bekannt geworden wie das meisterhafte Gemälde „Die Gotthardpost“, das, nachdem die Gotthardbahn die Post ersetzt hat, auch zu einem kulturgeschichtlichen Dokument geworden ist. Alle seine Bilder gewinnen den Beschauer durch die Kraft der realistischen Darstellung, durch die Kunst, mit der alle Geheimnisse der Tierseele sich darin spiegeln, durch überredende Wahrheit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks. Bleiben die Tiere, seine Pferde und Rinder, immer das Meisterstück seiner Gemälde, so versteht es Koller doch in hohem Maß, sie in einen der Stimmung des Ganzen angemessenen Naturrahmen zu stellen, so daß er, wenn er nicht der geniale Tiermaler wäre, immerhin als ein bedeutender Landschafter gelten müßte; auch die Darstellung der engen Verbindung, des freundschaftlichen Verkehrs zwischen Mensch und Haustier, wie sie besonders das Landleben mit sich bringt, gerät ihm trefflich, nicht wenige seiner Gemälde sind nicht nur Tier-, sondern stimmungsreiche Genrebilder aus dem Leben des Bauers. In arbeitsreichen Jahrzehnten hat Koller wohl 600 Bilder, die sich den Markt erobert haben, gemalt; die meisten davon waren während des Monats Mai und der ersten Hälfte des Juni zu Zürich in einer Ausstellung vereinigt, die, zu Ehren des siebzigjährigen Meisters angeordnet, ein packendes Bild seiner rastlosen Künstlerthätigkeit gewährte und viel besucht und gewürdigt wurde.

Das alte Rathaus zu Dortmund.
Nach einer photographischen Aufnahme von Barschel u. Jordan in Dortmund.

Das alte Rathaus zu Dortmund. (Mit obenstehender Abbildung.) Zu den interessantesten Bauten Dortmunds zählt das alte Rathaus, das in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erbaut wurde und das älteste in Deutschland ist. Ursprünglich befand sich in dem Erdgeschoß des [419] Bauwerks eine Verkaufshalle für die Gilde der Tuchhändler und in dem ersten Stocke die „große Ratsstube“. Nach der Marktseite zu öffnet sich eine zweiteilige Vorhalle, die nach der Meinung Sachverständiger eine Nachahmung der offenen Gerichtshallen der alten Richthäuser darstellt. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts wurde an die rechte Seite des Rathauses ein neuer kleiner Teil, das sogenannte „Brothaus“, angebaut. In dem Erdgeschoß befanden sich der Verkaufsstand der Bäcker und die große Ratswage; das obere Stockwerk diente als „kleine Ratsstube“ und war mit der „großen Ratsstube“ in dem Hauptbau verbunden. Der Rathausgiebel, der mit dem Standbilde Karls des Großen geschmückt war, wurde schon im Jahre 1608 abgenommen. Zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde das Rathaus gänzlich umgebaut, dabei seiner Zieraten beraubt und durch häßliche Zuthaten gänzlich entstellt. Inzwischen ist aber wie in anderen Städten so auch in Dortmund der Wunsch nach Erhaltung berühmter Baudenkmäler der Vergangenheit rege geworden. Erst vor kurzem (vgl. Jahrgang 1897, S. 356[WS 1], der „Gartenlaube“) haben die Dortmunder das Gildenhaus renoviert, und gegenwärtig ist man damit beschäftigt, auch das alte Rathaus wiederherzustellen. Zu diesem Zwecke haben freigebige Kunstfreunde der Stadt 150 000 Mark aufgebracht; die Provinz Westfalen hat ferner 20 000 Mark und die Stadt 50 000 Mark beigesteuert. Mit dem Umbau, der nach einem Plane des Stadtbauinspectors Kullrich ausgeführt wird, hat man bereits begonnen, und voraussichtlich wird dieses Wahrzeichen der „Tremonia“ bis zum Frühjahr n. J. in „alter Pracht und Herrlichkeit“ dastehen. Nach seiner Renovierung wird das Rathaus in seinen Räumen die Schätze des Dortmunder Museums bergen und zu Repräsentationszwecken verwandt werden. *      

Das Wartburgfest im Jahre 1848.
Nach einer gleichzeitigen Abbildung gezeichnet von Fritz Bergen.

Das Wartburgfest von 1848. (Mit obenstehendem Bilde.) Der stolze Aufschwung des Nationalbewußtseins, welcher im Frühjahr 1848 das deutsche Parlament ins Leben rief, hat bald nach dessen Zusammentritt auch in einer großen öffentlichen Kundgebung der deutschen Studentenwelt seinen Ausdruck gefunden. Von Jena aus, dessen Studentenschaft 1817 das erste große Wartburgfest veranlaßt hatte, war an die Studierenden aller deutschen Universitäten eine Einladung ergangen, die für die kommenden Pfingsttage eine allgemeine Versammlung in Eisenach und auf der Wartburg anberaumte. Die Reform der deutschen Universitäten im Geiste der neugewonnenen Freiheit und Einheit war der Zweck der Versammlung. Von dem Wartburgfest des Jahres 1817 hatte die nationale Freiheitsbewegung, die jetzt gesiegt hatte, ihren Ausgang genommen; damals hatte man hier oben den Erinnerungstag an die Völkerschlacht bei Leipzig unter lebhaften Protesten begangen wider die Metternichsche Reaktionspolitik, welche das deutsche Volk um die Früchte des heldenmütigen Kampfes gegen Napoleon betrog. Jenes erste Wartburgfest hatte dann dem österreichischen Staatskanzler den Vorwand geboten für die grausame „Demagogenverfolgung“, deren Hauptopfer die auf der Wartburg gegründete Deutsche Burschenschaft war. Unter der Herrschaft der Bundesbeschlüsse, welche die Demagogenverfolgung gesetzlich regelten, waren dann die Universitäten der nämlichen polizeilichen Ueberwachung verfallen wie Litteratur und Presse. Die Vorträge der Professoren unterstanden einer peinlichen Censur; die Reisen der Studenten, ihre Uebersiedelung an andere Universitäten bedurften der behördlichen Genehmigung; den österreichischen Studenten war es nahezu unmöglich gemacht, auf anderen deutschen Hochschulen jenseit des „Mautcordons“ zu studieren. Gerade dieser unerhörte Druck hatte viel dazu beigetragen, daß die besten Männer unter den Professoren, die edelsten Jünglinge unter den Studenten Führer und Anhänger der politischen Opposition wurden. Jetzt war der Druck beseitigt, die mit allen Mitteln niedergehaltene Opposition der Patrioten hatte gesiegt – nun galt es, dem Gewinn des Sieges Gesetzeskraft für alle Zeiten zu sichern.

Dieser Aufgabe entsprachen die Beschlüsse, welche die Versammlung, zu der mehr als 1200 Studenten in Eisenach eintrafen, am 11. und 12. Juni nach lebhaften Beratungen faßte. Eine Adresse an die Frankfurter Nationalversammlung gelangte zur Annahme, und die darin enthaltenen Hauptforderungen lauteten: die Universitäten sollen Nationalanstalten werden; die Oberleitung übernimmt das Unterrichtsministerium; im einzelnen wird das Prinzip der Selbstverwaltung anerkannt; unbedingte Lehr- und Hörfreiheit wird gewährt; jede akademische Ausnahmegerichtsbarkeit wird aufgehoben. Diese Forderungen fanden dann in der Paulskirche bei Beratung der „Grundrechte“ auch Berücksichtigung. Des weiteren setzte die Versammlung, an welcher Korpsstudenten ebenso teilnahmen wie Burschenschafter, einen Ausschuß ein für die Neuordnung des Verhältnisses der Studenten untereinander. Dieser Ausschuß stellte die folgenden Grundsätze auf: „Die Studenten vereinigen sich zu einer großen organisierten Studentenschaft, deren Mitglieder völlig gleichberechtigt sind; jeder Student einer deutschen Universität ist auch akademischer Bürger der anderen.“ Bei den Verhandlungen, denen Lang aus München, ein Württemberger, mit sicherer Kraft präsidierte, platzten die Geister lebhaft aufeinander; doch die vermittelnden Anträge kamen zu friedlicher Annahme.

Von den festlichen Veranstaltungen, welche nach den Beratungen die Studenten in froher Lust vereinigt sahen, bildete das Fest auf der Wartburg am Abend des dritten Pfingstfeiertags die Krone. Nachmittags um 5 Uhr versammelten sich die Teilnehmer auf dem Eisenacher Marktplatz. Mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen ging’s dann [420] den Berg hinauf zu der alten ehrwürdigen Feste. Voran schritt, wie einer der Teilnehmer, Robert Keil, erzählt, der Wiener Stephani mit dem schwarzrotgoldnen Banner, das die Wiener Studenten mitgebracht hatten. Dieselben waren in der schmucken Tracht der „akademischen Legion“ erschienen. Im Hof der Wartburg, die damals noch nicht in alter Pracht wiederhergestellt war, waren Tische aufgeschlagen für den Kommers, der bald nach Eintreffen des Zugs all die begeisterungsvollen Vertreter der deutschen studierenden Jugend aus Nord und Süd, aus Ost und West in echter „Gaudeamus“-Stimmung vereinigt sah. Die Hauptrede hielt hier der Jenenser Burschenschafter Wehrenpfennig; sein Hoch auf die patriotische und freundschaftlich gesellige Einigung der deutschen Studentenschaft fand in den Herzen aller Anwesenden begeisterten Wiederhall. Heraufziehendes Unwetter löste später den Kreis und störte einigermaßen die Durchführung des Programms. In plaudernden, jubelnden, singenden, trinkenden Gruppen verteilte man sich in den Gemächern der Burg, welche der Erbgroßherzog von Sachsen-Weimar den Teilnehmern gastlich zur Verfügung gestellt hatte.

Unter den fröhlichen Scholaren befand sich auch ein Burschenschafter aus Heidelberg, der wenig als Redner hervortrat, aber in engerem Kreise durch seinen Humor sich viele Freunde gewann. Er wußte viel aus Frankfurt zu erzählen, denn dank seinen Heidelberger Beziehungen war es dem jungen Doktoranden soeben gelungen, dort Welckers Sekretär in der badischen Bundesgesandtschaft zu werden. Das war Joseph Viktor Scheffel, der damals ganz vom Geiste der nationalen Bewegung ergriffen war und schwerlich ahnte, daß er mit seinem „feuchtfröhlichen“ Humor in der folgenden trüben Zeit erneuter Zerrissenheit der Nation der Lieblingsdichter der deutschen Studentenwelt werden würde, auch als poetischer Verherrlicher der Wartburg. J. P.     

Zuflucht im Walde. (Zu dem Bilde S. 393.) Mitten im Walde, auf dessen dichtumgrünten Pfaden sich das junge Paar traulich plaudernd erging, ist es vom Unwetter überrascht worden. Der entfesselte Sturm warf ihnen den stärker und stärker fallenden Regen ins Gesicht und der junge Tannenbestand am Wege bot ihnen keinen Schutz. Tiefer flüchteten sie in den Wald; eine mächtige Eiche wurde ihr Ziel, die mit ihrer gewaltigen Krone hoch über die Fichten und Tannen in ihrer Nähe emporragte. Durch dichtes Unterholz und wildwachsendes Rankenwerk mußten sie sich den Weg bahnen; aber dann fanden sie auch unter dem Baum die erhoffte Zuflucht. Sein dichtes Laubdach hielt den Regen ab, und wohlgeborgen lauschten sie nun aus ihrem sicheren Versteck den gewaltigen Stimmen der durch den Wald tobenden Elemente. Schon aber läßt das Wetter nach, schon blitzen Strahlenstreifen vom sich aufhellenden Himmel über die Blumenwildnis zu ihren Füßen hin und ein Buchfink, der sich mit ihnen hierher geflüchtet, reckt auf seinem dürren Ast das Hälschen und begrüßt mit frohem Pfeifen das Sonnenlicht. Prüfend schaut der Gatte ins Weite, ob diesen Zeichen auch zu trauen sei; aber von den Zügen seiner jungen Frau ist längst alles Bangen gewichen; an den geliebten Mann gelehnt, der sie so sicher hierher geführt hat, fühlt sie sich auf dem Plätzchen unter der Eiche so wohl, daß sie an den Aufbruch noch gar nicht denken mag.

Herzblättchen.
Nach einem Gemälde von Hans Knoechl.

Kohlenvorrat der Erde. Die Kohlenvorräte der einzelnen, Kohlen produzierenden Länder hat man schon mehrfach zu schätzen versucht; unter anderem sind in neuester Zeit namentlich die auf ganz eingehenden Berechnungen fußenden Schätzungen der Kohlen Deutschlands und Englands durch den Geheimen Oberbergrat Nasse hervorzuheben. Auf originelle Art hat aber im vergangenen Jahre Lord Kelvin den Kohlenvorrat, den die gesamte Erde birgt, berechnet.

Er geht davon aus, daß sämtliche Kohle, was man ja als ganz sicher annehmen darf, pflanzlichen Ursprungs ist. Als die Erde sich nun noch in einer der frühesten Stufen ihrer Entwicklung befand, bestand die dieselbe umhüllende Atmosphäre fast ganz aus Kohlensäure, und erst infolge des Auftretens der Vegetation bildete sich Sauerstoff, der durch die Zersetzung der Kohlensäure und des Wassers durch die Pflanzen mit Hilfe des Sonnenlichtes entstand. Es kann daher nicht mehr Kohle in der Erde vorhanden sein, als dem in der Atmosphäre enthaltenen Sauerstoff und der Verbindung der Kohle mit diesem zu Kohlensäure entspricht. Nun kommen auf 1 qm Erdoberfläche, da der Luftdruck 1 kg für den Quadratcentimeter beträgt, 10 000 kg (1 qm hat 100x100 = 10 000 qcm), das sind 10 Tonnen Luft, die also zufolge dem Verhältnis ihrer Zusammensetzung 2 t Sauerstoff enthalten. Wollte man nun diese 2 t zur Herstellung von Kohlensäure verwenden, so würden dazu ⅔ t Kohlenstoff erforderlich sein, folglich sind auf jedem Quadratmeter Erdoberfläche etwa ⅔ t Kohlen vorhanden.

Die ganze Erdoberfläche ist nun 510 Billionen = 510 Millionen mal Millionen Quadratmeter groß, folglich befinden sich in der Erde 2/3 X 510 = 340 Billionen Tonnen Kohle. Davon würden auf England und Schottland, ohne Irland, mit zusammen 229 661 Millionen Quadratmeter Oberfläche etwa 153 108 Millionen Tonnen kommen, auf Deutschland mit 540 596 Millionen Quadratmeter Oberfläche etwa 420 398 Millionen Tonnen. Nach dem jetzigen Stand der Kohlenförderung in beiden Staaten (England etwa 200 Millionen, Deutschland 150 Millionen Tonnen im Jahr) berechnet, würden also die Kohlenvorräte reichen für England etwa 700 Jahre, für Deutschland etwa 2800 Jahre, und da der Kohlenverbrauch der ganzen Welt zur Zeit, ganz hoch berechnet, gegen 800 Millionen Tonnen beträgt, so würde, selbst einen Verbrauch von 1000 Millionen Tonnen fürs Jahr angenommen, der gesamte Kohlenvorrat der Erde etwa 340 000 Jahre vorhalten. Zur Beunruhigung darüber, daß die Kohlenlager in absehbarer Zeit erschöpft werden könnten, liegt hiernach keine Veranlassung vor, selbst wenn man zugiebt, daß nicht alle in der Erde aufgespeicherte Kohle für Industriezwecke verwendbar ist. Dr. –dt.     

Die erste Einladung. (Zu dem Bilde S. 408 und 409.) In der Jugendzeit unserer Großeltern war Werben und Freien mehr als heute an feierlichen Brauch und strenge Sitte gebunden. Verlöbnis und Ehe vollzogen sich in Formen, welche die Wahl der Herzen ganz unter die elterliche Obrigkeit stellten. Wie reines Herzensglück und warmer Anteil des Gemüts jedoch auch unter diesem Formenzwang gar wohl gediehen, läßt unser Bild in anmutendster Weise erkennen. Der junge Herr Gerichtsaktuar, der vor kurzem mit glücklichem Erfolg um die Hand der erwachsenen Tochter seines gestrengen Herrn Chefs bei diesem angehalten hat, ist zum erstenmal zur Sonntagstafel bei den künftigen Schwiegereltern geladen. Die Geliebte bekam er erst zu sehen, als es zu Tische ging. Hier aber ist es ihm vergönnt, sie sogleich im Amte der Wirtin walten zu sehen, und liebliche Bilder schwellen seine Brust von der kommenden Zeit, da sie als seine liebe Hausfrau am eigenen Tisch ihre häuslichen Talente entfalten wird. Ihr mit Worten zu sagen, was ihn bewegt, verbietet ihm die gute Sitte, der Respekt vor den Eltern der Angebeteten. Aber seine Blicke künden es ihr, während er ihr in gewählten Worten höflicher Galanterie seine Bewunderung ausdrückt. Der Herr Rat und die selbst noch jugendliche Frau Rätin sind sichtlich zufrieden mit der Wahl ihrer Aeltesten. Und auch dem hübschen Schwesterlein der Braut gefällt der zukünftige Herr Schwager.

Herzblättchen. (Mit obenstehendem Bilde.) Wo giebt es wohl ein Bild seligerer Zufriedenheit und wunschloseren Glückes als eine Mutter mit dem Kindlein im Arme! Ob sie in den Prachträumen eines Palastes sitzt oder auf der schlichten Holzbank im Garten, wie hier die junge Frau in Altholländer Tracht, überall ist’s der gleiche Blick höchster Mutterwonne, mit dem sie das zärtlich ans Herz gedrückte Köpfchen betrachtet. Und so eng umschlossen auch dies stille Glück scheint – das Herz empfindet es als so unermeßlich, daß alle Schätze der Welt zu gering wären, es einer Mutter abzukaufen!


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.


Büchergestell mit Brandmalerei oder Flachschnitt.

Büchergestell mit Brandmalerei oder Flachschnitt. Das Ornament läßt sich sowohl für Brandtechnik als auch für Flachschnitt verwenden, und da erstere allen Liebhaberkünstlern bekannt sein dürfte, so sind wohl nur über letzteren ein paar Worte zu sagen.

Verzierung für das Büchergestell.

Auf die einzelnen, vom Tischler sauber zugerichteten Brettchen (am besten aus Lindenholz für den Anfänger) baust man sorgfältig das Muster, dessen Umrisse dann mit dem gut geschliffenen Zierbohrer nachgezogen werden, welcher auch die Bogen elastisch nimmt. Jedoch beachte man, daß der Zierbohrer nur auf der Oberfläche des Holzes gleiten darf, nicht hineinbohrend.

Man kann, um beide Hände frei zu haben, das Brett an den Tisch anschrauben, wozu das Sägebrett von der Laubsäge praktisch ist. Drückt man zu stark auf mit dem Zierbohrer, so läuft man Gefahr, leicht über das Ziel hinaus, ja sogar in die Hand zu gleiten. Sind sämtliche Formen der Zeichnung umrissen, so wird der Grund mit der gewöhnlichen Korn- oder Rauhpunze gepunzt, jedoch: je enger desto schöner. Das Beizen der nun fertigen Brettchen besorgt am besten der das Ganze zusammenfügende Tischler. L. v. Sp.     

Hängerkleidchen

Hängerkleidchen mit Stickerei. Das nebenstehend abgebildete Kleidchen wird aus Kongreßstoff oder aus dem zum Besticken vorzüglich geeigneten Gitterkrepp hergestellt. Der Schluß befindet sich auf dem Rücken, so daß das Kleidchen vorn glatt herunterhängt und die Falten schön zur Geltung bringt. Aus den Aermellöchern reicht je eine breite Quetschfalte bis zur Achsel und wird dortselbst mit Schleifen verziert. Die einfache Stickerei wird ein- oder zweifarbig ausgeführt und dem Ganzen ein selbständiges leichtes Futter gegeben.


Die Gummiringe der Konservengläser halten bei verständiger Behandlung mehr als ein Jahr, müssen aber zum Anfang der Einmachezeit auf ihre Fähigkeit des luftdichten Verschlusses neu geprüft werden. Wer einen solchen Verschluß beim Herausnehmen des Kompotts nicht einfach mit dem Messer oder der Nadel anstach, sondern vorsichtig zwischen Ring und Deckel hinein die Messerspitze schob und letzteren langsam lüpfte, der hat Aussicht, seine Gummiringe unverletzt zu finden. Um darüber Gewißheit zu erhalten und sich vor künftigem Schaden zu schützen, ist es genügend, ein Stück brennendes Papier in das Einmacheglas zu werfen und schnell den Deckel über dem Ring zu schließen. Nach einigen Sekunden versuche man, den Deckel zu heben. Leistet er Widerstand, so ist der luftdichte Verschluß noch gut, läßt er sich heben, so muß ein neuer Gummiring eingelegt werden, weil sonst das Eingemachte sicher schimmeln würde.

Krawattenschleife.

Krawattenschleifen für Damen. Sehr beliebt sind zur Zeit die Halsschleifen aus Seidenband, mit Spitzen, die sich von den bisher üblichen dadurch unterscheiden, daß das Band nicht zur Schleife doppelt zusammengelegt, sondern der Breite nach genommen, am einen Ende fein in Fältchen gefaßt wird, nach außen frei aufspringt; zwei oder drei solcher fächerartiger Teile liegen übereinander, je reicher desto besser. Den äußeren Rand besetzt man mit einem besonders eingekrausten Spitzchen oder einer ganz feinen Rüsche von Gaze, der Knoten in der Mitte muß sehr fest und klein sein. Auch aus Tüll oder Spitze allein läßt sich diese Schmetterlingsform gut herstellen.

Barometerblumen bilden eine nicht uninteressante chemische Spielerei, die jedoch auch sehr nützlich werden kann, wenn man sie zur Kontrolle der im Zimmer vorhandenen Luft benutzt, die bekanntlich ebensowenig ganz trocken wie sehr feucht sein darf. Man löst 10 Teile Kobaltchlorid (aus der Apotheke) in so viel destilliertem Wasser, als zur völligen Lösung erforderlich ist, setzt 2 Teile Glycerin hinzu, ferner 1 Teil Kochsalz und schließlich 5 Teile zuvor in kaltem Wasser gequollene und hiernach in warmem Wasser aufgelöste Gelatine. Sodann wird alles heiß gemacht (nicht gekocht!) und nach dem Abkühlen durch feine Gaze filtriert. In die Flüssigkeit taucht man nun aus ungefärbtem Stoff angefertigte Blumen, die mit künstlichen Blättern etc. zu einem Strauß gebunden werden können. Sind die Blumen tiefrot, so ist große Feuchtigkeit vorhanden, Rosenrot bedeutet feucht, Blaurot mehr trocken als feucht, Lavendelblau sehr trocken.

Deckchen auf Waschtüll.

Deckchen auf Waschtüll, Blattform. Bekannt sind die kleinen Leinwanddeckchen mit garn- oder seidefestonnierten Rändern in Form eines gezackten Blattes, wie man sie gern in Brotkörbchen oder metallene Kuchenschalen legt. Noch zierlicher machen sich diese auf einer Unterlage von starkem Waschtüll, der ringsum einen breiten Rand bildet und die Form des Blattes in größerem Format genau wiederholt. Das aus Leinwand geschnittene Blatt wird auf den Tüll geheftet und die äußere Form ringsum in genügendem Abstand vorgezeichnet; die Ränder des Leinwandblattes verbindet man im Ausfestonnieren mit dem Tüll, für den äußeren Rand zieht man mit losem Stopfgarn eine dicke Kontur im Tüll vor, über die man dann die seidenen Festonstiche legt. Den übrigen Stoff schneidet man vorsichtig weg; die Adern des Blattes stickt man feiner und lichter als den Rand.


Hauswirtschaftliches.

Verschiedene Verwertung alter Leinwand. Keine sparsame und praktische Hausfrau wird alte Leinwand, sei es nun Tischzeug, Handtücher, Laken oder Leibwäsche, fortwerfen, sondern sie wird sie sorgfältig aufheben und zu allerhand praktischen Sachen verwenden, zu denen ihr die folgenden Winke allerhand Anregungen geben mögen.

Vom Tischzeug schneidet man vorerst die besten Stellen heraus und fertigt aus ihnen einesteils Kinderservietten, die mit kleiner Kreuzstichborde oder nur einem farbigen Monogramm in Strickstich verziert werden, oder man benutzt sie zur Herstellung von Obstmundtüchern, franst sie dazu ringsum aus und verziert sie mit Hohlnaht und in einer Ecke mit einer kleinen Stickerei in Stiel- und Zierstich. –

Auch Pudding- und Kuchentücher lassen sich aus mürbegewordenem Tischzeug sehr gut herstellen, sie werden in gewünschter Größe geschnitten und nur einfach gesäumt. Da diese Tücher weder sehr angegriffen noch beschmutzt werden, also auch keinerlei starke Wäsche erfordern, so lohnt sich ihre Herstellung wohl, sie halten immerhin mehrere Jahre. Kleinere Tischzeugreste geben nette Beutel für alle möglichen Sachen, sie werden nur einfach zusammengenäht, mit Zugsaum versehen, durch den ein Leinenband geleitet wird, und erhalten in einfachem Stielstich die Inhaltsangabe mit rotem Waschgarn aufgestickt. Die letzten Reste geben, je nach ihrer Größe, entweder Spültücher oder auch nur Anfasser. Da natürlich nur noch die dünnsten, auch die zerrissenen Stellen übrig geblieben sind, muß man immer fünf bis sechs solcher Stücke – die schlechtesten nach innen – übereinanderlegen und diese kreuz und quer durch- und zusammensteppen. Man braucht diese Tücher einfach. bis sie entzwei gehen, und wirst sie dann fort, Anfasser werden ebenso, nur kleiner hergestellt.

Bettzeug wird man wohl meist erst verwenden, wenn die Betttücher nicht mehr zu wenden und zu flicken sind, man wird deshalb meist nur an den Rändern noch gute Stücke finden, aus denen sich recht gut Bügelbrettüberzüge machen lassen. Feines alles Bettzeug giebt außerdem die besten Erstlingswindeln und liefert die trefflichsten Verbandbinden, die in einem ordentlichen Haushalt nicht fehlen dürfen.

Diese Binden müssen 6 bis 10 cm breit sein, ihre Länge wählt man ganz verschieden. Sie werden an beiden Seiten bestochen, an einem Ende in eine Spitze geschlagen und mit einem Band zum Zubinden versehen. Man rollt sie fest auf und legt sie in die Hausapotheke, in der man auch andere beliebig groß und kleine Stücke alter Leinwand aufbewahrt. Bleibt noch alte Leinwand übrig, so kann man Putz- und Fenstertücher davon nähen. – Abgenutzte leinene Leibwäsche, die zudem immer mehr außer Mode kommt, bietet kaum große Stücke, sie ist meist nur zum Flicken zu verwenden. Bei den Handtüchern ist meist die Mitte abgenutzt, während der Rand noch gut ist. Man thut daher gut, die zerrissene Mitte herauszuschneiden und die beiden Längsstreifen zusammenzunähen und mit doppelter Naht zu versehen, sie können dann als Messer- oder Abreibetücher noch trefflich verwandt werden.

Um die so hergestellten Restertücher von den guten Wäschesachen zu unterscheiden, bindet man sie mit einem andersfarbigen Band zusammen und legt diese Haufen für sich auf ein besonderes Brett des Wäscheschrankes. H.     

Blüten zum schnellen Aufblühen zu bringen. Wie oft, wenn man selbstgezogene Blumen für den Schmuck einer Festtafel oder als Geschenk benutzen möchte, steckt die Sonne, die treibende Kraft, hinter dichten Wolken in den voraufgehenden Tagen und die Blüten entfalten sich nicht zur rechten Zeit. Liegt einem nun sehr viel daran, die Blumen zu einem bestimmten Zeitpunkt erschlossen zu sehen, so thut man gut, sie 3 bis 4 Tage vorher mit recht langen Stielen abzuschneiden. Man stellt sie in ein recht hohes Gefäß mit Wasser, in welchem man ein bohnengroßes Stück Salpeter auflöste, an einen möglichst warmen Ort. Das Wasser erneuert man täglich, bis die Blumen aufgeblüht sind. Dann gilt es, sie bis zur bestimmten Zeit recht frisch zu erhalten. Dies erreicht man, wenn man neues, mit etwas Kochsalz vermischtes Wasser in das Gefäß thut, die Blumen hineinstellt und diesen Topf in ein noch größeres, mit Wasser gefülltes Gefäß stellt. Ueber das Ganze stülpt man eine Glasglocke, die auf dem Rand des äußeren Blumengefäßes ruht und die Blumen oben einige Centimeter überragt. Durch das verdunstende Wasser, welches sich unter der Glocke sammelt, bleibt die Luft über den Pflanzen feucht und erhält sie frisch. H.     

Zungengericht. Bei unerwartet eintreffendem Besuch kann ich als ausgezeichnetes Einschiebegericht die folgende Zungenspeise, die in meinem Hause oft erprobt und bewährt befunden ist, allen Hausfrauen sehr empfehlen. Die Bereitung der ansehnlichen Schüssel erfordert nur knapp eine halbe Stunde Zeit, falls man die praktischen Fray-Bentos-Zungen in Büchsen vorrätig hat und einige frische Gurken rasch beschaffen kann. Die Zunge erwärmt man in der geöffneten Büchse im Wasserbade im eigenen Saft, wobei man die Zunge mehreremal wenden muß, damit sie durch und durch heiß wird. Die Gurken schält man, schneidet sie in Scheiben, dünstet sie in Butter durch, überstäubt sie mit Mehl, giebt etwas von der Zungenbrühe und eine Messerspitze Liebigs Fleischextrakt daran und schmort sie weich. Zuletzt giebt man etwas Pfeffer und einen Löffel Citronensaft zu den Gurken, die nun zu sämiger Sauce zerkocht sein müssen. Die Zunge wird aus der Brühe genommen, in Scheiben geschnitten und mit der Sauce überfüllt. Geröstete Brotscheiben ißt man dazu. L. H.     

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Allerlei Kurzweil.


Bilderrätsel „Künstlerwappen“.
Von Al. Weixelbaum.

Damespielaufgabe.
Von A. Stabenow in Berlin.
SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht und gewinnt.


Silbenrätsel.

be col gei go go ha he jor ka le li na no pen ster tin vern win.

Es sind neun Silben zu suchen, die (doppelt benutzt) mit obigen achtzehn Silben neun Paare zweisilbiger Wörter ergeben. Die gesuchten Silben, deren Anfangsbuchstaben eine Königin des Altertums nennen, bilden immer die Endsilbe des ersten und die Anfangssilbe des zweiten Wortes. Beispiel: Jordan, Dante. Die Wörter bezeichnen: 1. eine Stadt in Rußland und ein Nahrungsmittel, 2. einen Raubvogel und einen männlichen Vornamen, 3. eine Stadt in Südamerika und einen militärischen Rang, 4. einen biblischen Ort und einen Titelhelden aus Freytags „Ahnen“, 5. eine griechische Göttin und einen Vogel, 6. einen Namen aus den ersten Kapiteln der Bibel und ein Handwerkszeug mit scharfer Spitze, 7. eine Stadt im Elsaß und einen männlichen Vornamen, 8. einen biblischen Namen und einen Fluß in Ostpreußen, 9. ein Wild und einen Fluß in England. A. St.     


Logogriph.

Mit e da streckte kampfesfroh
Es viele einstmals in den Sand;
Die Königstochter war’s mit o,
Ihm ward der Preis aus ihrer Hand.
Und als er beugt vor ihr das Knie,
Hat Amor rasch auf sie gelenkt
Den Pfeil, so daß dem Ritter sie
Im Herzen es mit u geschenkt.
 Oscar Leede.


Entzifferungsaufgabe.

Fakuko kisifa Surarifusiga, fakuko kisifa Kerifusiga,
Fekusi resifokikufofigoko kiso’go, rigigu, goka karuko!
Rasifogasi Kofosefisigo gusikukosifo koforifusiga,
Sogaki kisikuga Furasegisu sukafafako sogaresifogukaruruko.
 Si. Fusikufisira.


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 12. 0 Pacht.


Auflösung des Versteckrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 12.

1) Arden nennen,
2) normales,
3) Armada unterlag,
4) Werre ist,
5) Die Steinkohle,
6) rechter Winkel,

1)Ardennen, 2) Norma, 3) Daun, 4) Reis, 5) Este, 6) Erwin.

 Andree – Nansen.


Auflösung der Umstellungsaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 12. 1) Drakon, 2) Ilse, 3) Epos, 4) Wilna, 5) Eros, 6) Idol, 7) Selma, 8) Siena, 9) Edwin, 10) Darius, 11) Augen, 12) Mehl, 13) Essen.

 Die weisse Dame


Auslösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 12.

 Flügel (Lüge).


Auflösung der Dominoaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 12.

Im Talon lagen:

B behielt:

C behielt:

Der Gang der Partie war: I. A 5/4, B 4/3, C 3/6, D 6/0; II. A 0/5, B –, C –, D –; III. A 5/1, B 1/4, C 4/6, D –; IV. A 6/1, B 1/3, C 3/3, D 3/2; V. A 2/5 (= 86).



[ Auf der unteren Hälfte der Seite: Verlags- und sonstige Reklame. ]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Wir erinnern unsere Leser, daß Isolde Kurz bereits im Jahrgang 1895 (S. 847) der „Gartenlaube“ einen Artikel über Lorenzo Magnifico veröffentlicht hat. Der heutige Artikel berichtet über die späteren Schicksale des Hauses Medici. Beide zusammen bieten in großen Zügen die Geschichte der Mediceer und damit die der Stadt Florenz im 15. und 16. Jahrhundert. D. Red. 
  2. Engel = angelo – eine beliebte Anspielung auf den Namen des Meisters.
  3. Die Übersetzung kann nur den Sinn wiedergeben; der gewaltige einfache Guß der Verse läßt sich im Deutschen nicht nachahmen.
  4. In Florenz besonders verehrt als Schutzpatron der Stadt.
  5. „Johannes von den schwarzen Scharen“ – so genannt von der Tracht, die seine Söldner nach dem frühen Tod dieses berühmten Feldherrn zum Zeichen ewiger Trauer anlegten. Bei Lebzeiten führte er den Beinamen L’invitto, der Unbesiegte.
  6. Die heutige Fortezza di San Giovanni.
  7. Ueber Südpolarforschung. Separatabdruck aus dem Berichte des sechsten Internationalen Geographenkongresses, London 1895. 59 S.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Seitenangabe für die HH-Ausgabe.