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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[613]

Nr. 37.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (13. Fortsetzung.)

Immer dichter wirbelten die Schneeflocken hernieder, und die Kälte drang unaufhaltsam durch das eingedrückte Thor in die Daxen-Schmiede. Schorschl mußte die Lücken vernageln. Aber auch das wärmende Feuer in der Esse hatte er löschen müssen, weil der flackernde Schein in der Fieberphantasie der Kranken schreckende Bilder erzeugte. Sie hatte irre geredet. Doch jetzt war sie wieder bei Bewußtsein – und als Schorschl die Eiskompresse auf ihrer Stirn wechselte und sich zu ihr ans Lager setzte, tastete sie nach seiner Hand und lispelte: „Schorscherl! … So viel Plag’ muß ich Dir aufhalsen!“

„Macht nix, Mahmerl, macht nix!“ tröstete er. „Thu Dich nur net aufregen! Thu Dich nur gar net sorgen! Schön langsam wird alles gehn! Und geht’s net auf zwei Füß’, so mach’ ich ihm noch zwei dazu, damit ’s viere hat! Da geht’s nachher g’schwinder!“

Die Bäckenmahm’ mußte lachen, und das brachte den Daxen-Schorschl noch lustiger ins Plaudern.

„Was D’ heut’ in der Nacht verloren hast, schau, Mahmerl, das kann ich Dir aus der Aschen nimmer aussikratzen!“ Das Wort machte ihn nachdenklich. „Ui jegerl! Da fallt mir schon wieder ’s Kratzen ein!“ Er seufzte; dann aber lachte er wieder, um nicht auch noch die Bäckenmahm’ melancholisch zu stimmen. „Thu Dich halt trösten, Mahmerl! Viel hast freilich verloren! Meintwegen alles! Aber viel is ja net dran an der irdischen Nichtigkeit … so predigt der Pfarrer an jedem Sonntag! Und hin is hin, sagt der Teufel, wenn die arme Seel’ in’ Himmel fahrt! Und schau, Mahmerl, schlecht sollst es deswegen bei mir net haben! Gott bewahr’! Die feinsten Bröckerln sollst kriegen! Und wenn ich Zeit hab’, fang’ ich Dir die schönsten Forellen! Gar z’ oft werd’ ich freilich net Zeit haben! Denn weißt, jetzt muß ich arbeiten! Fest! Ja! Aber macht nix! Arbeit is g’sund, sagen die faulen Leut’! Gott soll’s geben, daß ’s wahr is! Und paß nur auf, Mahmerl: jetzt will ich’s bei der Arbeit grad’ so halten, wie’s im Lumpenliedl heißt …“ Mit den Fingern schnalzend, begann er lachend zu singen:

„Und ein richtiger Loder,
Kreuz Teufel juheh!
Der dreht im Tag ’s Unterste
Zwanz’gmal in d’ Höh’!“

„Hör’ auf, Schorscherl … hör’ auf!“ stöhnte die Bäckenmahm’ zwischen Lachen und Thränen, „’s Lachen thut mir so viel weh!“

„Was, ’s Lachen thut Dir weh! O Du mein arm’s Mahmerl! Da wird’s Dir aber schlecht gehn bei mir! Da wirst lachen müssen den ganzen Tag! Und paß nur auf, wie schnackerlfidel das zum anschauen sein wird, wenn ich mich an’ Amboß anbind’ und dem Lüftigkeitsteufel in mir schön langsam die Stockzähn’ ausreiß’, ein’ nach ’m andern! Und geben mir d’ Leut’ im Dorf net Arbeit g’nug … meintwegen, so sollen s’ mich buckelkraxen tragen! In


Bärbele.
Nach einem Gemälde von E. v. Müller.

[614] der Stadt drin weiß ich ein’ Fabrikherrn … der giebt mir Arbeit, g’nug, wenn ich’s gut und billig mach’! Und bis ich den ersten Brocken verdient hab’, bleiben wir halt schön schuldig miteinander! Gelt, Mahmerl? Heut’ noch, ja, heut’ noch fahr’ ich in d’ Stadt ’nein und bring’ auf ’n Abend ein’ ganzen Wagen voll Arbeit mit! Und für Dich ein’ Bettstattl, wo schön drin Platz hast … ein zwieschläfrigs, weißt! Und da bett’ ich Dir nachher auf … aber nobel! So is kein Christkindl noch net g’legen!“

Schorschl erhob sich vom Lager der unter Schmerzen lachenden Bäckenmahm’, um die Eiskompresse zu wechseln. Sinnend betrachtete er das Handtuch und murmelte vor sich hin: „Sauber hat sie ’s gewaschen! Ja! Die versteht sich auf so was! … Mit der wär’ ich aufg’richt’ jetzt!“ Er that einen brunnentiefen Seufzer. „O Du mein Gott! Da is’ aus und gar! … Der Bäckenmahm’ z’lieb hat sie sich halt bemüht! … Der Bäckenmahm’ z’lieb!“

„Schorscherl?“ lispelte die Kranke, die den schweren Senfzer gehört hatte. „Was hast denn?“

„Nix hab’ ich … als ein’ Kratzer auf der Hand, der beißt mich!“

„Hast net ein bißl Pechsalben? Die is gut für so was!“

„Na, Mahmerl! Da könnt’ ich ein’ gehörigen Tiegel voll verschmieren … es that nix helfen!“

Mit dieser seufzenden Weisheit legte er der Kranken die Kompresse auf die Stirn und begann sein lustiges Geplauder wieder. –

Zwei Stunden später – einen Schuh tief lag schon der Schnee auf der Straße – fuhr der Daxen-Schorschl mit dem Wagen, den er sich vom Wirt geborgt hatte, in die Stadt. Am Abend kehrte er zurück, mit hundert Mark Vorschuß in der Tasche und reichlicher Arbeit für ein Vierteljahr. Und quer über den Eisenstangen, die auf dem Wagen rasselten, schwankte die „Zwieschläfrige“, die er für die Bäckenmahm’ mitgebracht hatte.

Es war auch an der Zeit, daß die Kranke in ruhigen Aufenthalt kam, denn die Befürchtung des Doktors, daß die Bäckenmahm’ den Schreck der Brandnacht mit einem schweren Nervenfieber bezahlen müßte, hatte sich bewahrheitet.

Ein Glück, daß auch der Maurer und die Zimmerleute tagsüber ihre Schuldigkeit gethan hatten! Die neuen Thüren waren fertig und hatten eine so geräumige Breite, daß Schorschl bei ihrem Anblick meinte: „Sakra! Da kann ich einmal mit meiner ganzen Familli am Arm durchmarschieren!“ Aber dieses Wort machte ihn nachdenklich, und er seufzte: „O mein Gott! Mit der Familli, scheint mir, hapert’s noch ein bißl! … Schier glaub’ ich, daß ich mit der Bäckenmahm’ z’frieden sein muß!“

Die Thüren bekamen noch Doppelwände aus dickem Strohgeflecht, damit der Hammerlärm der Schmiede die Kranke nicht belästigen möchte. Und so konnte Schorschl, während die Magd die Krankenpflege übernahm, mit dem Morgengrau des folgenden Tages die Arbeit beginnen.

Vom ersten Licht bis zur sinkenden Dämmerung stand er Tag um Tag mit unverdrossenem Eifer am Amboß. Er hatte es garnicht nötig, dem „Lüftigkeitsteufel“ einen Stockzahn auszureißen, denn dieser „Teufel“ erwies sich als so gutmütig und willig wie ein dressierter Pudel – die zwingende Not und die Ueberfülle der Arbeit legten ihn an eine dauerhafte Leine. Auch die Leute im Dorf, denen bei dem tiefen und noch immer wachsenden Schnee der Weg in die Schmiede des Nachbardorfes zu weit wurde, brachten Arbeit in die Daxenschmiede. So hatte Schorschl „wie ein Roß“ zu schaffen und mußte schon daran denken, sich nach einem Gesellen umzuschauen. Bei alledem waren seine Finanzsorgen nicht leichter geworden. Die Leute im Dorf, welche mit Arbeit zu ihm kamen, sagten: „Sei so gut und schreib’s auf d’ Rechnung!“ – und die hundert Mark Vorschuß, die er aus der Stadt mitgebracht hatte, waren für die Forderung des Schneiders und für Anschaffungen, welche die Pflege der Kranken erforderte, bis auf wenige Mark aufgegangen. So mußte Schorschl bekümmert und ratlos an die kommenden Tage denken, und bei jedem Hammerschlag, welcher hell und lustig durch das Dorf hinaustönte, redete eine stumme drückende Sorge mit.

Eines Abends, als Schorschl gerade in recht verdrießlicher Stimmung seinen ruhelosen Kummer in das glühende Eisen hineinhämmerte, kam die Magd in die Schmiede und sagte: „B’such is drüben bei der Bäckenmahm’!“

Schorschl hämmerte weiter. „So? Wer denn?“

„D’ Simmerauer-Vroni!“

Da schwiegen die Hammerschlüge und dunkle Röte flog üler das rußfleckige Gesicht des Schmiedes.

„Hat Dich ’s Madl ’rüberg’schickt, daß D’ mir’s sagen sollst?“ fragte er stammelnd.

„Ah na! Das grad’ net! Sie is ja bloß zur Bäckin ’kommen. Aber ich hab’ halt g’meint …“

„So so? Bloß zur Bäckin!“ unterbrach Schorschl die Magd mit grober Stimme. „Natürlich! Ich hab’ mir’s eh’ gleich ’denkt! Und da brauch ja ich net dabei sein!“ Wütend drosch er mit dem Hammer auf das Eisen los und hörte nicht, was die Magd noch weiter sagte. Und als sie zur Thüre hinausging, rief er ihr nach: „Ich laß gute Unterhaltung wünschen!“

Er hämmerte, daß die Fensterscheiben summten und die glühenden Funken bis in die äußersten Winkel der Werkstätte flogen.

Nach einer Weile zog es ihn aber doch hinüber – er hatte ja seit Mittag nicht mehr nachgesehen, wie es der armen Mahm’ ginge. Doch als er in die Krankenstube trat, sah er nur die Magd am Bette sitzen. „Wo is denn die ander’?“ fragte er enttäuscht und brummend.

„Ich weiß net, was ’s Madl g’habt hat! Jetzt grad’, wie drüben die Hammerschläg’ ausg’setzt haben, springt s’ auf, sagt g’schwind ein B’hüt Gott und rennt davon wie narrisch!“

„Ah sooooo?“ Schorschl nickte mit bitterem Lächeln vor sich hin, und als hätte er plötzlich vergessen, daß er doch nur gekommen war, um nach der Mahm’ zu sehen, machte er auf der Schwelle kehrt und stapfte wieder in die Werkstätte zurück.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Schon eine halbe Stunde vor Beginn des Hochamtes stand Schorschl, mit seinem besten Feiertagsstaat angethan, im verschneiten Kirchhof und musterte aufmerksami alle Leute, die zur Messe kamen. Die Purtschellerin, welche allein den Kirchhof betrat, mit Gebetbuch und Rosenkranz in den bleichen, schmalen Händen, redete ein paar freundliche Worte mit dem Daxen-Schorschl. Dafür aber schien der Purtscheller-Toni, der eine Weile später in lustigem Geplauder mit Zäzil kam, den Schorschl für Luft anzusehen.

Schorschl zuckte die Achseln und lachte. Dann plötzlich wurde er unruhig.

Der alte Simmerauer mit seinen Kindern und Enkeln hatte den Kirchhof betreten.

„Grüß Gott!“ sagte Schorschl, wobei seine Stimme ein wenig heiser klang, so daß er sich räuspern mußte. „Jetzt heißt’s halt Schnee stapfen von der Simmerau ’runter? Gelt?“

„Ja! Der Schnee macht ein’ harten Weg!“ antwortete der Alte; dabei aber lächelte er. „Ich schimpf net! Na! Aus ganzem Herzen sag’ ich mein Vergeltsgott für den baldigen Winter! Jetzt haben wir doch ein bißl Ruh’ da droben.“

Michel und Mathes blieben stehen, reichten dem Daxen-Schorschl die Hand und fragten, wie es der Bäckin ginge. Aber Vroni, welche die beiden Kinder führte, hatte das Gesicht zur Seite gewandt und war schweigend vorüber geschritten.

Auch jetzt lachte Schorschl wieder – aber das klang ganz anders als jenes Lachen, das er für den trutzenden Purtscheller gehabt hatte.

Als die Simmerauer-Leute schon in die Kirche getreten waren, stand er noch immer wie angewurzelt und starrte das Portal an.

„No also! Jetzt hab’ ich die Quittung drauf!“

Da hatte er nun auch völlig die Lust verloren, seiner Christenpflicht zu genügen. Hastigen Schrittes wanderte er nach Hause, und weil er die Sonntagsruhe durch Hammerschlag nicht stören durfte, stellte er sich mit der Feile an den Schraubstock.

Während der nächsten Tage war der Daxen-Schorschl bei der Arbeit in gar übler Laune. Die Bäckenmahm’ lag bewußtlos im Fieber – aber wäre sie auch bei wachen Sinnen gewesen, sie hätte an ihrem „Schorscherl“ recht wenig zu lachen gefunden. – – –

Nun ging es seit der Brandnacht in die dritte Woche. Und dem Daxen-Schorschl wuchsen trotz seiner rastlosen Arbeit die Sorgen über den Kopf. Um alles herbeizuschaffen, was die Kranke zu ihrer Pflege brauchte, mußte er schon wieder beim Metzger, beim Krämer und in der Apotheke die Kreide in Anspruch nehmen. Sein ganzer Barbestand waren Vronis dreißig Pfennig, die er sorgsam eingewickelt in einem Winkelchen seines Kleiderschrankes versteckt hielt.

Da trat eines Morgens der alte Rufel mit seinem Zwerchsack in die Schmiede.

[615] „Mar’ und Josef!“ stotterte Schorschl, der bei der Esse stand. „Jetzt kommt der auch noch!“ Er that, als ob er den Juden nicht sähe.

Rufel legte neben der Thüre seinen Binkel nieder, zog die Schlappmütze und machte eine devote Verbeugung.

„Erlauben Se gefälligst, Herr Dax, daß ich Ihnen unterthänigst wünsch’ einen recht guten Morgen!“

„Grüß Gott!“ Schorschl trat den Blasbalg und schielte über die Schulter. „Was wollen S’ denn?“

„Weil ich grad’ vorübergeh’, hab’ ich bei Gelegenheit nachfragen wollen, ob der Herr Dax nix brauchen. Sagen wir: e bißl Eisen oder en feinen Stahl, oder e Werkzeug … oder sagen wir meintwegen auch: e Geld!“

Schorschl riß Mund und Augen auf, als hätte er nicht recht gehört.

Schmunzelnd nahm Rufel die langen Flügel seines Rockes auseinander und setzte sich auf den Amboßblock. „Nu? So reden Se doch, Herr Dax! … Wollen Se haben e Geld?“

„Haben möcht’ ich’s freilich!“ stotterte Schorschl, ließ den Blasbalg ruhen und kraute sich hinter den Ohren. „Aber geben S’ mir denn eins?“

„Hätt’ ich sonst gefragt? Sagen Se mir, wieviel Se brauchen, und der Rufel wird Ihnen schaffen das Geld bis morgen. Ich weiß doch, Sie brauchen Geld ins Geschäft und brauchen Geld für die kranke Frau, was Se haben im Haus. Gott soll Ihnen lohnen, was Se haben gethan an der armen Frau Bäckin! Aber nu reden Se doch emal! Wieviel brauchen Se? Durch vierzehn Täg’ hab’ ich gesehen, wie Se stehen bei der Arbeit von früh bis nacht … und ich kann Ihnen sagen, Herr Dax: alle Achtung! Ich hab’ wieder Vertrauen zu Ihnen, Se können haben vom Rufel, was Se wollen!“

„Rufel!“ stammelte Schorschl, während ihm das Wasser in die Augen stieg. Und mit beiden Fäusten packte er Rufels dürre Hand. „Geh her, alter Jud’! Dich hat mir unser Herrgott g’schickt!“

Rufel krümmte sich vor Schmerz bei diesem Händedruck. „Waih geschrieen! Lassen Se aus, Herr Dax!“ Vorsichtig rieb er die gequetschte Hand. „Und machen Se mir nix solche Sprüch’ mit dem Herrgott! Mich hat nix geschickt der Ihrig, mich hat nix geschickt der meinig’ … ich bin von selber gekommen, weil ich weiß, beim Herrn Dax is e Geschäft zu machen! Aber nu sagen Se doch endlich emal, wieviel Se brauchen!“

„Viel, Rufel … ein bißl viel is, was ich brauch’.“

„Viel? Was heißt viel? Für en Menschen, der nix bezahlt, is e Mark viel Geld … für en Mann, wie der Herr Dax, wo ich weiß, ich krieg’ mein Geld mit Zinsen wieder, sennen tausend Mark e Kleinigkeit! … Wollen Se haben tausend? Ich geb’s Ihnen!“

„Meiner Seel’, so viel wird’s bald ausmachen!“

„Glauben Se, der Rufel kann nix rechnen?“

„Vierhundert brauch’ ich auf meine Schulden … an die Hundert hab’ ich Gott sei Dank schon abzahlt …“

„Dreiundzwanzig haben Se abgezahlt bei der Kramerin,“ unterbrach ihn Rufel, „sechsunddreißig beim Schneider, macht neunundfünfzig … das sennen noch lang keine Hundert. Nix übertreiben, Herr Dax! Ich bin schon zufrieden, daß Se haben abgezahlt neunundfünfzig.“

Schorschl lachte zu dieser genauen Rechnung. „No ja, und zweihundert brauch’ ich auf d’ Hand, daß ich d’ Mahm’ und mich ohne Sorgen über’n Winter ’nüberbring’ und einkaufen kann, was ich ins Haus und in d’ Werkstatt brauch’! Dazu die vierhundert, die an Neujahr bei Ihnen fällig sind …“

„Die können Se lassen stehen. Und die anderen sechshundert sollen Se haben bis morgen. Sie zahlen mir sieben Perzent … fünfe muß ich selber geben, und verdienen möcht’ der Rufel doch auch e bißl was! Und Zeit will ich Ihnen lassen zwei volle Jahr’! Geben Se mir die Hand, Herr Dax, und das Geschäft is gemacht.“

„Ich dank’ Ihnen, Rufel!“ sagte Schorschl und drückte dem Alten die Hand, aber diesmal etwas gelinder. „Da haben S’ mir wirklich mit christlicher Nächstenlieb aus’m Wasser g’holfen.“

„Nächstenlieb’!“ Rufel schnitt eine Grimasse. „Lassen Se mich in Ruh’ mit so en großen Wort. Nächstenlieb’ is e schöne Sach’, aber haben muß man was davon! Ich geb’ Ihnen das Geld, weil ich bei Ihnen verdien’ mit Sicherheit! Und daß wir das auch noch bereden … ich will nix herumgehen im Dorf, Ihre Schulden bezahlen, sondern geb’ Ihnen das Geld auf die Hand, denn ich weiß jetzt, Sie werden machen glatte Ordnung. Und die Leut’ sollen nix herumtratschen, daß der Herr Dax is aufgekauft worden vom Juden!“

„Fragen werden s’ aber doch, wo ’s Geld her is?“

„Sagen Se, daß Se gemacht haben en Treffer … da kriegen de Leut’ Respekt und bringen Ihnen doppelte Arbeit. Und nu lassen Se den Mut nix sinken, sondern machen Sie e so fort, wie Se haben angefangen. Und in zwei Jahr’ können Se sagen: der Rufel hat’s gesagt … Ihr Haus wird sein wie e schöner grüner Berg, was steigt in die Höh und nix lauft herunter … so, wie herunterlauft en anderes großes, schönes Haus im Dorf … aber ich will nix gesagt haben!“ Rufel ging zur Thüre und hob seinen Zwerchsack auf die Schulter.

„Den Purtscheller meinen S’?“

„Ich will nix gesagt haben! Aber stecken möcht’ ich nix in der Haut, in was steckt der vornehme und feine Herr Purtscheller!“ Den Kopf zwischen den Schultern wiegend, kam Rufel zum Amboß zurück und dämpfte die Stimme. „Unter uns gesagt … denn mit Ihnen kann man reden, Herr Dax, Sie sennen e Mann! … aber unter uns gesagt: helfen hab’ ich ihm wollen! Helfen! Seiner braven, guten Frau zu lieb’! Aber was sag’ ich Ihnen! Mit dem Schießgewehr is er auf mich zugegangen! Als wär’ der alte Rufel e Gamsbock! Nu? Und was hat er jetzt? Jetzt hat er sich eingelassen mit einem … ich will nix gesagt haben! … aber vor dem soll ihn Gott bewahren bis zu hundert Jahr! Und da legen se jetzt e Hypothek von achtzigtausend Mark auf den Hof! Achtzigtausend Mark! E schweres Geld, Herr Dax! Hat e Gewicht, daß es wird eindrücken an dem schönen Haus das Dach und alle Mauern!“

„Um Gotts’willen,“ stammelte Schorschl, „ja hat denn der Purtscheller sein’ ganzen Verstand verloren?“

„Mein lieber Herr Dax! Man kann nix verlieren, was man sein ganz Leben lang nix gehabt hat! Und so en’ Menschen is nix mehr zu helfen! Ich dank’s ihm noch, daß er mich hat hinaus getrieben mit ’n Schießgewehr … denn ich hätt’ bei ihm verloren mein Geld! Der ander’, was ihm jetzt hat geholfen, wird bei Zeiten zusehen, daß er sein Geld wiederkriegt … und noch e bißl was dazu … e schöns bißl was! Noch e Jahr, und dem feinen Herrn Purtscheller wird nix mehr viel übrig bleiben! Mich erbarmt nur de arme gute Frau!“ Rufel seufzte und rückte den Zwerchsack höher auf die Schulter. „Und nun bitt’ ich, erlauben Se gefälligst, Herr Dax, daß ich auf Ihrem Herd mir koch’ mein bißl Essen!“

„Ja, recht gern!“

„Ich werd’ Ihren Herd schön sauber wieder fegen, damit Se nix haben e Grausen!“

„Aber Rufel!“

„Nu!“ Ein schmerzliches Lächeln zuckte um die welken Lippen des Alten. „Bin ich doch gewöhnt, zu rechnen mit solche christlichen Sachen!“ Da er sah, daß der junge Schmied ihn begleiten wollte, wehrte er mit der Hand. „Bleiben Se, bitt’ ich, Herr Dax! Ich will Se nix abhalten von der Arbeit. Das Holz trag’ ich mir selber, e Topf und e Fleisch und e Brot, alles hab’ ich bei mir … nix brauch’ ich als wie e Zündholz! Und das hab’ ich selber im Sack! Bleiben Se, Herr Dax, arbeiten Se schön fleißig und erlauben Se gefälligst, daß ich Ihnen wünsch’ en recht en schönen, guten Tag!“ Mit einem tiefen Bückling drückte sich Rufel zur Thüre hinaus, welche von der Werkstätte in den Hausflur führte.

Schorschl stand vor dem Amboß, mit glänzenden Augen, das rußfleckige Gesicht von heißer Röte übergossen. Tief aufatmend streckte er die nackten, sehnigen Arme und spreizte die Finger. Lachend, mit jähem Ruck, ergriff er den schweren Hammer, der das große Loch in die Mauer des brennenden Bäckenhauses gebrochen hatte, und mit übermütig spielender Kraft versetzte er dem Amboß einen Streich, daß es hell wie ein Glockenton durch alle Mauern des Hauses klang und weit hinaus ins Dorf!

Dann ging er zur Esse und nahm mit treibendem Fleiß die Arbeit wieder auf.

Am folgenden Morgen, noch in der ersten Dämmerung, brachte Rufel das Geld. Und nun konnte Schorschl die Runde bei all seinen Gläubigern machen. Da gab es überall ein heiliges Staunen und ein wortreiches Glückwünschen. Schorschl konnte [616] auf die Frage, woher er plötzlich das viele Geld hätte, schmunzelnd schweigen und die Schultern zucken – Rufel hatte am vergangenen Abend noch dafür gesorgt, daß die Nachricht vom Glück des Daxen-Schorschl, der „gemacht hat e so en schönen Treffer“, unter die Leute kam und von Haus zu Haus wanderte.

Das Gerücht fand seinen Weg auch in die Simmerau – der alte Michel brachte die Geschichte von dem Treffer, die er bei der Kramerin gehört batte, nach Hause und gab sie beim Mittagessen zum besten. Während Mutter Katherl dieses unverhoffte Glück auf Rechnung des „lieben Herrgott“ setzte, der den Daxen-Schorschl für die „Gutthat an der Bäckin“ belohnen wollte, wurde Vroni rot bis unter die Haare und stotterte: „Mar’ und Josef! Wenn er das viele Geld nur net wieder verjucken thut!“

„Na na,“ versicherte Michel, „er hat gleich all seine Schulden ’zahlt!“

Da lachte Vroni gereizt und zuckte die Schultern, „Geh? ’zahlt hat er? Da muß er ein’ Rausch g’habt haben! Der! Und g’wiß reut’s ihn heut’ schon wieder!“

„Aber Vronerl,“ warf Mutter Katherl mit sanftem Vorwurf ein, „wie magst denn gar so ungut denken über ein’ Menschen? Es kann sich doch einer auch zum Bessern ändern!“

„Der net!“

„Aber schau nur, wie er sich gegen die arme Bäckin so gutmütig anstellt! Und die ganzen Tag’ hat er doch allweil g’arbeit’ wie ein Roß! Da muß man doch ein bißl besser denken von ihm! Und schau, es steht doch in der heiligen Schrift, daß der Himmel viel mehr Freud’ über ein’ Sünder hat, der sich bessert, als über hundert Gerechte!“

„No ja! Meintwegen! Soll sich halt der Himmel freuen! Was geht’s denn mich an!“ Aergerlich legte Vroni den Löffel nieder und erhob sich.

„Aber, Madl, was hast denn? Geh, so iß doch!“

„Dank’ schön! Ich hab’ schon g’nug!“

Der Ton dieser Antwort schien dem Simmerauer nicht zu gefallen. „He! Du! Was is denn jetzt das auf einmal für ein’ Art und Weis’!“ begann er zu schelten. Aber da legte ihm Mathes die Hand auf den Arm und sagte mit seinem stillen müden Lächeln: „Geh, Vater, laß ’s Madl in Ruh’!“

Vroni hatte die Stube verlassen und war vor die Hausthür getreten. Hof und Garten waren hoch verschneit, und schmal ausgeschaufelte Wege führten zum Brunnen, zum Stall und zur Scheune. Der Schnee funkelte in der Sonne, als wäre er mit Millionen winziger Glassplitter überstreut, und lautlose Winterstille lag über dem weiten weißen Berggehäng. In diesem frostigen Schweigen tönte durch die klare, regungslose Luft ein leiser, kaum noch vernehmbarer Hall aus dem Thal herauf: kling, kling, kling, kling …

Das setzte immer aus und tönte nach einer Weile wieder: kling, kling, kling, kling …

Mit finsterem Gesicht wandte sich Vroni in den Flur zurück und brummte: „Ob der net narrisch is! So ein’ Spektakel machen, daß man’s bis da ’rauf hören muß!“ Unmutig ging sie an ihre Arbeit und war bis zum Abend in übler Laune.

Still und einförmig vergingen in der Simmerau die nächsten Tage. Neuer Schnee fiel auf den alten und machte den Weg ins Dorf hinunter bald zu einer schweren Mühsal. Drunten im Thal konnte man über den frühen Winter gar manches Wort der Klage hören; aber in dem kleinen Häuschen der Simmerau hatten sie den Winter wie einen Erlöser begrüßt, der ihnen nach all der wochenlangen, aufreibenden Arbeit und Sorge eine Zeit der Rast und des Aufatmens brachte. Der strenge Frost hatte den rinnenden Boden in starre Fesseln gelegt, das nagende Wasser in ruhendes Eis verwandelt, und glatt und weiß deckte der tiefe Schnee alle Klüfte und Risse des laufenden Berges. Wohl war wie die Ruhe in dem friedlichen Winterbild des Berges – auch die Ruhe, die der alte Simmerauer mit den Seinen gefunden hatte, nur äußerlich; denn die Furcht vor dem Frühjahr ging neben allen hoffenden Gedanken einher wie ein graues Gespenst, begleitete sie auf Schritt und Tritt, legte sich am Abend mit ihnen schlafen und war mit ihnen am Morgen wieder auf den Beinen.

Vorerst aber war doch Zeit gewonnen, und es that den beiden Alten wohl, daß sie nach all diesem Übermaß von Arbeit die mürb’ gewordenen Glieder ein wenig schonen konnten. Stundenlang saßen sie mit ihrem Enkelpärchen in der warmen Stube beisammen und ließen sich geduldig und lächelnd von den Kindern quälen, die bald den „Ahnlvater“ als Rößlein an die Leine nahmen, bald wieder die „Ahnlmutter“ als „Jungfer Köchin“ zum Einkaufen hinter den Ofen schickten.

Vroni erledigte mit einer unruhigen Beschäftigungswut alle Arbeit im Haus, so daß für Mathes kaum mehr etwas zu schaffen übrig blieb. Diese Ruhe schien ihm übel anzuschlagen; seine Wangen wurden noch schmäler, sein ganzes Wesen noch verschlossener und ernster, und immer schwermütiger blickten seine stillen Augen. Eines Abends, als er in der dämmerigen Stube mit dem Vater auf der Ofenbank saß, während Mutter Katherl nebenan in der Kammer die munter schwatzenden Kinder zu Bett brachte, sagte er:

„Schau, Vater, d’ Arbeit bei uns hat ein End’ für ein halbs Jahr, und ich kann Dir doch net den ganzen Winter so faul auf der Schüssel liegen! Meinst net, ich sollt’ mich um ein bißl was umschauen?“

„Auf der Schüssel liegen! Aber Mathes!“ Michel nahm die Pfeife aus den Zähnen und legte seinem Buben die Hand aufs Knie. „Weißt ja doch, daß ich Dich gern daheim hab’! Und wo fünfe essen, ißt der sechste auch noch mit! Freilich, ein’ Lohn kann ich Dir net zahlen, und da därf ich Dir’s auch net wehren, daß Dir ein bißl was verdienst den Winter über.“

Eine Weile schwiegen sie; dann sagte Michel: „Schau, jetzt hat der Purtscheller ’s Fallholz in sei’m Wald drüben an ein’ Händler verkauft, und da fangt man bald’s Arbeiten an. Was meinst? Wenn ein’ Holzknecht’ machen thätst? Da kriegst ein nobels Geld … d’Liegerstatt und’s Essen könntst bei mir haben … da hättst ein leichts Sparen dabei! Was meinst?“

„Ja ja!“ sagte Mathes zögernd. „Wenn D’ meinst!“

„Oder hättst ’leicht was anders in Aussicht?“

„Wenn Dir’s recht wär’, Vater, ja!“

„Was denn?“

„Denkst nimmer an’s selbig Anbot, das mir der Purtscheller g’macht hat?“

„Sooo? … Ah ja, freilich denk’ ich noch dran!“

„No schau … weißt doch selber, was d’ Leut’ allweil reden jetzt … ich mein’, der Purtscheller könnt’ mich brauchen!“ Das sagte Mathes ruhig, doch seine Stimme hatte gepreßten Klang.

„Brauchen? So?“ Auch dem Alten wollte die Stimme nicht recht gehorchen, als wäre ihm eine Sorge in die Kehle gestiegen. „Ja freilich! Wie der Hungrige ’s Brot, so könnt’ er Dich brauchen, mein’ ich schon selber bald! Du thätst ein guts Werk und könnst ein’ ordentlichen Brocken Geld verdienen! Aber …“

„Was, Vater?“

„Schau … wenn er ein’ hat, wie Du einer bist, den wird er halt im Frühjahr nimmer auslassen mögen?“

„Na, na, Vater! Das mach’ ich mir schon gleich zur Bedingnis, daß er mich im Frühjahr freigeben muß, so lang mich Du daheim brauchst! Das hab’ ich mir gar net anders ’denkt!“

Michels Sorge schien plötzlich beschwichtigt, und da war er nun völlig einverstanden mit dem Plan seines Buben. „Ja, Mathes, ja! Pack’s nur gleich an! Wann willst denn schon ’nunter zu ihm?“

„Gleich morgen in aller Fruh!“

Eine Weile redeten sie noch weiter, dann erhob sich Mathes und verließ die Stube. Schwer aufatmend trat er ins Freie, wanderte um das Haus und stieg durch den tiefen Schnee zum Rand der Böschung hinauf. Ihm zu Häupten funkelten die tausend hellen Sterne der klaren Winternacht, und drunten im Thal blitzten kleine, zerstreute Lichter, als läge ein See dort unten, in dessen Wasser sich die Sterne des Himmels spiegelten.

Mit den Händen auf dem Rücken, stand Mathes im Schnee; er schien die Kälte nicht zu fühlen und blickte zum Dorf hinunter, so versunken in Gedanken, daß er den Schritt der Schwester nicht hörte. Erst als sie die Hand auf seinen Arm legte, blickte er auf.

„Mathes?“ Die Stimme des Mädchens bebte vor Erregung.

„Was willst?“

„Mathes! Um Gott’swillen! Is denn wahr, was mir der Vater g’sagt hat?“

Er nickte.

Und da schien ihre Angst noch zu wachsen. „Mathes! Hast Dir’s auch überlegt?“

„Ja!“

Gut, Mathes?“

[617]

Lustige Wasserfahrt.
Nach einer Originalzeichnung von J. v. Wodzinski.

[618] „Ja! Seit Wochen schon, Tag und Nacht! Weißt ja doch selber, was d’ Leut’ übern Purtschellerhof reden. Und da denk’ ich mir halt, es könnt’ ihr d’ Sorg’ ein bißl leichter machen, wenn s’ ein’ hat, der bei der Arbeit einholt, was der Toni versäumt.“

„Mathes! Mathes!“

„Geh, red’ mir net ab! Ich muß ’nunter! ’s Bleiben thät’ mir’s Herz abdrucken!“

Das schien sie zu verstehen, denn sie nickte. Und nach einer Weile fragte sie ganz leise: „Mathes? … Thust Dich denn der G’fahr net fürchten?“

„G’fahr?“ Er schüttelte den Kopf. „’s Linerl hat den Toni gern! … Und was liegt denn an mir! … Ich bin z’frieden, wenn ich ihr ein bißl was helfen kann … Was mir zusteht, will ich schon tragen!“

Mit jäher Bewegung legte Vroni den Arm um seinen Hals, als möchte sie den Bruder vor den Schmerzen schützen, denen er entgegen ging.

Er schien den Sinn dieser Zärtlichkeit zu verstehen und zog die Schwester an sich. Und da er im Schweigen der Nacht den leis verschwommenen Hall der Hammerschläge vernahm, die dort unten im Dorf so rastlos klangen, sagte er lächelnd: „Hörst ihn? Wie fleißig als er noch allweil hämmert beim Licht … bis in d’ Nacht ’nein!“

„Aber geh’!“ murrte Vroni. „Thu mich Du auch noch plagen!“ Dann plötzlich drückte sie das Gesicht an den Hals des Bruders und umklammerte ihn, daß ihm der Atem fast verging.

Er streichelte ihre Haare und flüsterte ihr ins Ohr: „Sorg’ Dich net, Schatzerl! Wenn er jetzt bei der Arbeit festhalt’, laßt er auch bei der Lieb’ net aus! Sei nur Du g’scheit! Und thu Dir nix vergeben, eh’ Dir net sagen kannst: er is Dich wert!“ Mit beiden Händen nahm er ihren Kopf, hob ihn empor, sah ihr beim Sternschein lächelnd in die naß glänzenden Augen und küßte sie auf den Mund. „Komm! Und jetzt gehn wir ’nein! Es muß Dich ja frieren da heraußen … d’ Nacht is kalt!“

Wortlos stiegen sie über den Schnee hinunter, und als sie den Flur betreten hatten, stieß Mathes an der geschlossenen Hausthür den Riegel vor.

(Fortsetzung folgt.)


Fritz Reuters Briefe an seine Braut.

Nach den Originalen im Nachlaß der Witwe.
Erläutert von Johannes Proelß.

  (2. Fortsetzung.)


Das Jahr 1848 brachte dem Verlobten die Erfüllung zweier Herzenswünsche: Luise folgte der Einladung des Petersschen Ehepaares, bei ihnen auf Thalberg sich für die Aufgaben und Pflichten einer Pächtersfrau vorzubereiten, und die große freiheitliche Bewegung, die jetzt in ganz Deutschland zum Sieg gelangte, rief auch in Mecklenburg einen hoffnungsreichen Aufschwung des politischen Lebens hervor.

Aber leider verkümmerte die beglückende Wirkung dessen, was Reuter nun als Patriot und Politiker erlebte, den Segen, den er für sein Liebesglück von jener anderen Errungenschaft erwartet hatte. Das innige Zusammenleben mit der Braut, über dessen Bedeutung für die gemeinsame Zukunft er im Jahre vorher so hohe Meinung geäußert, ward vereitelt durch seine Teilnahme an der Volkserhebung, die jetzt auch im konservativsten aller deutschen Staaten eine liberale Verfassungsreform und ein volkstümliches Wahlgesetz für die Volksvertretung des Landes durchsetzte.

Mit Begeisterung ergriff ihn das erhebende Schauspiel, wie der Verlauf der Geschicke des Vaterlandes schon jetzt die patriotischen Ideale zu verwirklichen schien, für deren Vertretung er die schönsten Jahre seiner Mannesjugend im Kerker hatte vertrauern müssen. Mit freudiger Genugthuung erlebte er, wie jetzt die besten Männer seines mecklenburgischen Heimatlandes für dieselben politischen Gedanken eintraten, die für sein burschenschaftliches Jugendschwärmen die maßgebenden gewesen waren und um derentwillen er verfolgt, geknechtet, gequält, zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglicher Haft begnadigt worden war, bis man ihn dank einer Amnestie in die Heimat entlassen hatte, entfremdet dem gewählten Beruf, anrüchig für alle, welche den herkömmlichen Anschauungen huldigten. Und da hätte er jetzt teilnahmlos beiseite stehen sollen – diesen Aufschwung miterleben, ohne, nun alles zur That rief, thatkräftig einzugreifen?

Er konnte nicht anders – er folgte dem Rufe der inneren Stimme und dem Zuspruch gesinnnngsverwandter Freunde in seiner Vaterstadt Stavenhagen; er ward dort ein Führer der auch hier frisch in Fluß geratenden Bewegung. Er wurde ein Sprecher im „Reformverein“, hielt Wahlreden, setzte Programme und Petitionen auf, war gewiß auch journalistisch thätig – und die braven „Stavenhäger“ bereiteten dem lange Verkannten die Genugthuung und wählten ihn zu ihrem Deputierten zum Güstrower Städtetag und dann zu ihrem Abgeordneten in den Landtag. „Dei kann reden,“ sagten sie, „un dei ward för uns reden!“ Und als er im bekränzten Wagen mit anderen Volksvertretern nach Schwerin, der Landeshauptstadt, abfuhr, da mag ein frohes Gefühl berechtigten Stolzes seine Brust geschwellt haben, und der Wahlspruch, den er bei seiner Verlobung der Losung „Alles für das Volk – alles durch das Volk“ nachgebildet hatte: „Alles für – alles durch meine Luise“, mag dabei eine neue Form angenommen haben: Alles durch das Volk – für meine Luise! Gar manchen, der wie er ein Märtyrer für Deutschlands Einheit und Freiheit gewesen war, brachten ja jetzt die Ereignisse in eine Laufbahn, auf welcher die politische Wirksamkeit zu Amt und Einkommen führte. Auch Wilbrandt bemerkt in seiner Biographie: neben den Hoffnungen für Land und Volk mochte er auch Hoffnungen für sich selber hegen.

Thatsächlich aber verlief die Bewegung, welche im ersten Ansturm zur Annahme der in der Paulskirche zu Frankfurt a. M. beschlossenen deutschen Grundrechte führte, im nächsten Jahre zur allgemeinen Enttäuschung der Patrioten. Wie Reuters Humor sich später mit der ernüchternden Wirkung dieses Verlaufs abfand, wissen wir alle aus den Kapiteln der „Stromtid“, die sich so ergötzlich mit den Vorgängen im „Rahnstädter Reformverein“ beschäftigen. Der Braut aber, die mit Sehnsucht dem Glück entgegensah, das sie sich von der Ehe mit Reuter erhoffte, können wir es nicht verdenken, daß sie dieser neuen Verzögerung gegenüber keinen Humor zur Verfügung hatte. Wohl empfand sie mit warmer Sympathie die Beweggründe, welche den Dichter veranlaßten, sich in den Strudel des politischen Lebens zu stürzen, aber ein tiefer Gram bemächtigte sich ihrer über die scheinbare Plan- und Ziellosigkeit des von ihr so innig geliebten, so reichbegabten Mannes, der es doch selbst ihr zur Pflicht gemacht hatte, den Dämonen seines warmblütigen Naturells gegenüber als guter, wenn auch strenger Engel zu walten. War die von ihr gewiß nicht leicht durchgeführte Uebersiedlung auf das Peters’sche Gut, zu welcher er sie überredet, in ihren Augen doch nur durch den Zweck gerechtfertigt, daß sie sich hier unter freundschaftlicher Anleitung vorbereiten wollte, dem Landwirt Reuter eine sachverständige Lebensgenossin zu werden! Und mußte sie nicht fürchten, daß das aufregende Leben, dem der Geliebte sich jetzt ergab, mit seinen vielen Verlockungen zu langem Aufsitzen in erregter Männerrunde, mit seinen unvermeidlichen Veranlassungen zu Festkommersen und freundschaftlichen Trinkgelagen, das gesellige Naturell ihres Verlobten wieder in Zwiespalt bringen müsse mit der ernsten Bekämpfung jenes Leidens, für die er ihren Beistand gleich beim Beginn ihres Herzensbundes angerufen hatte?

So ist denn der einzige Brief Reuters, der uns als Zeugnis ihres Verkehrs aus jener Zeit übrig geblieben ist, von dem innigen Wunsche des in Schwerin am Landtag Weilenden diktiert, der Geliebten Trost und Mut einzusprechen. Er fühlt, daß sie Grund hat, mit ihm unzufrieden zu sein, aber er fühlt zugleich auch, daß er nicht anders handeln kann und trotz aller Bedenken Luisens sich des rechten Weges bewußt ist.

 „Meine gute, theure Luise,
Ich habe eben in einem guten Buche folgende Stelle gelesen, die ich Dir mittheile, die mich sehr getröstet hat und ihren Einfluß auch auf Dich nicht verfehlen wird: „Nachdem sie aber lange zusammen gegrübelt und überlegt hatten, kamen sie überein, daß man [619] sich das Unglück zwar oft selbst zuziehe; oft aber auch das allervorsichtigste, schuldloseste Betragen nicht vor ihm sichere, und wenn es einmal, es sei verschuldet oder unverschuldet, da sei, Gottvertrauen es versüße und fruchtbringend mache für ein besseres Leben.“ – Bist Du krank; ach, ich fürchte es und Gott hat meine Gebete nicht erhört, wenn ich unter Schmerzen in schlaflosen Nächten ihn anflehete, mir Deine Lasten noch aufzubürden und sie Dir zu nehmen. Zürnst Du mir? oh, dann will ich nichts weiter sagen, als „Vergieb mir“ und will dies Wort wiederholen, bis es eine freundliche Antwort der innersten Stimme Deines Herzens entlockt. – Uebermorgen am Dienstag Mittag um 3 Uhr reise ich hier ab und bis dahin kann ich Antwort von Dir erhalten; es wird mir dies ein Zeichen sein, ob Du wirklich krank bist, erhalte ich keine auch noch so kurze Zeile, von Deiner Hand, so nehme ich an, daß Du nicht im Stande bist zu schreiben. Ach, ich fürchte, dies ist nicht gut von mir, ich fürchte, dies ist rauh und hart gegen Dich; thue, was Du kannst und willst; ich werde Dich doch ewig lieben. Ach, wenn ich Dich nicht hätte und meine Schwester, dann wäre ich wohl verloren und mein Herz würde untergehen an der Kälte der Welt; ich klammere mich mit aller Kraft an Euch beide, und doch ist mein Gefühl für Euch beide so verschieden. Von Stav. aus werde ich Dir mehr schreiben, schicke mir nur ein paar Zeilen oder schicke sie an meine Schwester, so daß ich sie dort vorfinde. – Gott erhalte Dich und tröste Dich! Nimm diese wenigen Zeilen freundlich auf und denke mit Vertrauen an eine bessere Zeit.

Ich bin für Dich immer derselbe; ach, denke nicht hart über mich. Lebe Wohl
Dein F. Reuter. 
 Schwerin d. 28ten May 1848.“

Daß schließlich Reuter „den Schaulmeister sinen Rock“ anzog, um zu regelmäßigen Einkünften zu gelangen, auf die hin er heiraten könnte, war nicht in dem Grade ein Verzweiflungsschritt, wie meistens angenommen wird. Als die hoffnungsreiche politische Erhebung in Mecklenburg von der Reaktion, wie anderwärts auch, erstickt wurde, als er mit Trauer erkannte, daß das Volk den hohen Anfordernngen der Zeit nicht gewachsen gewesen war, wurden die Lehren eines Arndt, eines Jahn, die er als Burschenschafter mit Begeisterung in sich aufgenommen hatte, wieder in ihm lebendig. Der Kampf für die Freiheit, die Wiedergeburt des Vaterlandes heische ein anderes tüchtigeres Geschlecht, Sache der Volksbildung sei es, ein solches heranzuziehen – unter diesem Gesichtspunkt hatten die Patrioten einer früheren Zeit das deutsche Turnwesen ins Leben gerufen. Und Reuter, der schon als Gymnasiast in Friedland auf dem dort bereits bestehenden Turnplatz sich hervorgethan, der als Burschenschafter in Jena fleißig geturnt und neuerdings zur Stählung seiner Gesundheit zu den bewährten Uebungen zurückgegriffen hatte, ließ es sich jetzt angelegen sein, die Gemeindevorstände seiner Vaterstadt wie der Thalberg benachbarten pommerschen Landstadt Treptow an der Tollense für die Herstellung eines Turnplatzes und die Anstellung eines städtischen Turnlehrers zu gewinnen. Ersteres gelang ihm in beiden Städten und in Treptow ward er im Frühjahr 1850 auch als Turnlehrer angestellt – das war der Anfang seiner „Schaulmeistertid“.

In den eingangs genannten Büchern von Gaedertz und Römer ist der Aufruf mitgeteilt worden, den er im Treptower Wochenblatt vom 27. April 1850 erscheinen ließ, um die Bürgerschaft für seinen Plan zu gewinnen. Er nennt darin das Turnen „ein fröhliches Spiel, ein rüstiges Ringen, die gebundenen Kräfte frei zu machen von den Fesseln einer erdrückenden und entnervenden Civilisation, eine Vorübung von Gefahren und Entbehrungen“, mitten unter Sätzen, die rein pädagogischer Natur sind. Er führt weiter aus: „Wo der Leib siech ist, verliert der Geist seine Spannkraft, wo der Leib verweichlicht ist, wird der Geist matt, und wo dem Leibe die Rüstigkeit und Frische fehlt, strebt der Geist vergebens vorwärts und aufwärts, er klebt an körperlichen Kümmernissen und Beschwerden wie der Schmetterling an der Nadel.“ Deutlicher aber und völlig unverblümt gelangte der Zusammenhang dieser neuen Lebenswendung mit seinen politischen Idealen in dem Prolog zum Ausdruck, den er einige Jahre später, als die Frauen und Jungfrauen Treptows dem Männerturnverein eine Fahne gestiftet hatten, für die Weihe derselben dichtete und der in folgenden Versen ausklang:

„Doch wenn Ihr glaubt, daß nur zur Lust
Die Fahne Euch von uns gespendet,
Dann irrt Ihr sehr: in unsrer Brust
Fing Scherz sie an, doch Ernst hat sie vollendet.
Ihr sollt sie tragen, auch wenn Stürme dräuen,
Wenn Wetterwolken auf zum Himmel ragen,
Das beste sollt Ihr für sie wagen
Und selbst den Tod sollt Ihr nicht scheuen!
Die Freiheit ist ein wundersames Bild:
Wer einst gekniet zu seinen Füßen,
Der trotzt den Schwertern und den Spießen,
Ist er nicht Sieger, legt ihn auf den Schild. –
Und faßt darob Euch banges Grauen,
Dann gebt uns nur zurück das Zeichen,
Wir wollen’s dann als gute Frauen
Dereinstens Euren Kindern reichen,
Die machen dann, wie spät ’s auch sei,
Die deutschen Lande siegreich, einig, frei.“

Und wie den Turnunterricht, den er erst in Stavenhagen, dann in Treptow erteilte, so faßte er auch seine sich daran knüpfende übrige Lehrthätigkeit unter dem höheren Gesichtspunkte der Ideale einer fortschrittlichen Volkserziehung auf. In Stavenhagen hatte es ihm nicht glücken wollen, auch für den Unterricht in humanistischen Fächern Schüler zu finden. In Treptow, wo er durch die gegenseitigen Beziehungen zu Peters bei den angesehensten Persönlichkeiten aufs beste eingeführt war, gelang es ihm wider Erwarten. Einer seiner ersten Schüler hat Gaedertz ein lebensvolles Bild seines Einzugs in Treptow gegeben. Herr Reuter, erzählt dieser Zeuge, ein breitschulteriger Mann, der wirklich sehr studiert aussah, mit goldener Brille auf der Nase, einen starken Stock in der Hand, kam von Thalberg und mietete beim Rendant Flos. Nach dreitägiger Abwesenheit kehrte er, abermals von Thalberg, zurück und ging sofort zum Justizrat Schröder; bald wußte man, daß er dessen Sohn Richard unterrichten werde. Schritt man an dem kleinen zweistöckigen Flos’schen Hause vorbei und sah dort oben an den Fenstern Blumentöpfe mit Geschmack aufgestellt und hinter ihnen ein echt germanisches Gesicht mit hellblondem Vollbart, breiter freier Stirn und blauen Augen mildlächelnd hervorgucken, so erkannte man, daß es einem Naturfreunde gehören müsse. Reuter war schnell eingeführt, eine Art Zuneigung und Ehrfurcht wurde ihm entgegengebracht .... Binnen kurzem hatte er etwa ein Dutzend „Honoratiorenkinder“ zu unterrichten. Als Schullokal benutzte er seine Wohnung: in der einen Stube saßen die Knaben, in der anderen die Mädchen. Er hielt auf Ordnung und Anstand, beobachtete dabei jedoch nicht die gewöhnliche Schulpedanterie; im Gegenteil, selbst immer heiter und froher Laune, munterte er diejenigen, welche trübseliger Natur oder langsamen Geistes waren, auf und schien es jedenfalls lieber zu sehen, wenn einer etwas toll sich ausließ, als wenn er zu wenig Leben zeigte … Er lehrte Französisch, Lateinisch, Naturwissenschaften, Rechnen, sowie Zeichnen … Auch über sein Auftreten als Turn- und als Schwimmlehrer – er setzte in Treptow auch die Anlage einer städtischen Schwimmanstalt durch – fehlt es uns nicht mehr an anschaulichen Berichten. Bei den Uebungen, so berichtet auf Grund eines solchen A. Römer, erschien er in grauleinener Jacke mit Gurt und schwarzem Schlapphut. Trotz seiner Muskelkraft turnte er in der Regel nicht selbst vor, höchstens öfter am Barren. Mit Vorliebe trieb er Turnspiele, Boxlauf und Wettrennen. Großer Jubel herrschte in der jungen Schar – er hatte gleich im ersten Jahr vierzig Schüler – wenn Reuter mit ihr nach Jahnschem Vorbild seine Turnfahrten unternahm. Frühmorgens zog man aus in Reih’ und Glied, und mit hellem Gesang ging es meilenweit durch Dorf und Stadt. Die Unterhaltung auf dem Marsch war köstlich; da gab es Scherzspiele, Rätsel und fesselnde Anekdoten in Hülle und Fülle. Wohin die Turnerschar kam, ward sie mit offenen Armen empfangen – „Fritzing ist da!“ rief man ihm freudig entgegen. Auch er war, wie’s im alten Burschenwanderlied heißt, „überall zu Hause, überall bekannt.“ Die „Stemhäger,“ Jvenacker und andere Freunde nahmen die Zöglinge auf und bewirteten sie reichlich. Reuter war ein wackerer Fußgänger und erzog seine Schüler zu rüstiger Ausdauer, aber auch zu herzhaftem Mut. Zuweilen unternahm er mit ihnen nächtliche Ausflüge, bei denen die Knaben als Patrouillen entsandt wurden … Gaedertz erzählt nach der Schilderung eines Teilnehmers gar anschaulich von einer solchen Nachtfahrt ins Stadtholz, bei welcher mitten im Wald beim Rauschen und Knistern der Bäume übernachtet wnrde. Auf einer [620] Lichtung war mit Erlaubnis des Stadtförsters, der sich auch einfand, Reisig für Wachtfeuer und Stroh zum Nachtlager aufgeschichtet. Während die Feuer brannten und die darum gelagerten Jungen daran in Blechkannen Kaffee kochten, Reuter auch einzelne aussandte, um die Gegend zu rekognoscieren, sorgten er und der Förster für die Unterhaltung durch Geschichtenerzählen. Dann ward das Stroh ausgebreitet – o, wie gut schlief sick’s in der warmen Augustnacht im Freien! – und früh am Morgen unter den Strahlen der aufgehenden Sonne und dem Scheidegruß der erwachenden Vögel ging’s aus dem Wald wieder heim.

Wenn aber Reuter mit seinen fröhlichen Turnknaben zwischen den nur eine halbe Stunde vor Treptow gelegenen Nachbargütern Thalberg und Kleintetzleben vorüberzog, so ward der helle Wandergesang der Jugend zum Ständchen – bald für die liebsten Freunde, bald für die – Liebste. Wohl hatte seine Luise auf Thalberg mit Trauern die Hoffnung sich zerschlagen sehen, von hier aus etwa „als Herrin von 6 Last kulturfähigen Ackers und dreischüriger Wiesen“ an der Seite ihres Fritz ein eigen Heim zu beziehen, aber die resolute Art, wie dieser jetzt drauf und dran war, in Treptow als Lehrer dem gemeinsamen Glück ein „Hüsung“ zu gewinnen, war ihr, der Lehrerin, durchaus sympathisch. Mit Klavier- und Singunterricht konnte sie ihm dann helfen, das Nötige für den Haushalt zu verdienen. Und wenn sie es auch nicht über sich vermocht hatte, die Gastfreundschaft der Freunde ihres Manns, die nun die ihren auch geworden waren, über Jahresfrist hinaus in Anspruch zu nehmen, so hatte es sich doch gefügt, daß sie auf dem benachbarten Kleintetzleben beim Rittergutsbesitzer Hilgendorf, einem Schulfreunde Reuters, als Erzieherin Stellung fand. In dieser verblieb sie, bis sie einige Zeit vor der auf den 16. Juni 1851 anberaumten Hochzeit noch einmal ins Vaterhaus, wo auch diese stattfinden sollte, zurückkehrte. Die Nähe der Geliebten trug nicht wenig dazu bei, Reuter zu vollster Energie beim Einleben in den neuen Beruf anzuspornen. Wenn er des Sonntags als Gast auf Thalberg erschien, so war dafür gesorgt, daß er auch ein vertrauliches Plauderstündchen mit der geliebten Braut fand. Das innige Zusammenleben, das für ein späteres Eheglück für Verlobte so wichtige Sichverstehenlernen erfolgte nnn doch, und die große Beliebtheit, deren sich „Onkel Reuting“ bei alt und jung in der ganzen Gegend erfreute, ward ihr zu einem auch seine Schwächen verklärenden Spiegelbild seines Wesens. In ihrer Liebe für die Welt der Kleinen, ihrer Fähigkeit, den Humor der Kinderstube zu entfesseln und zu genießen, begegneten sich Beider Gemüter. „Kinderlieb“ waren sie beide in hohem Grade. Obgleich Reuter mit seiner „Stromzeit“ nun definitiv abgeschlossen hatte, übernahm er doch auch in diesem Jahr noch einmal die Verwaltung des Peters’schen Guts als Stellvertreter seines Herzensfreunds, als dieser zum Heer einberufen wurde.

Aus dieser Zeit stammen die folgenden Zeilen, die, so kurz sie sind, uns einen unmittelbaren Einblick in den Verkehr der Verlobten gewähren. Eine epidemische Kinderkrankheit ist in Thalberg eingezogen, während die Eltern fort sind; der gute „Unkel Eute“ übernimmt selbst die Pflege bei den vier Kleinen, die an ihm wie einem leiblichen Onkel hängen. Luise aus Tetzleben, die er mündlich vom Ausbruch der Krankheit unterrichtet hat, harrt bange der Nachrichten über den Verlauf, und mitten aus dem Krankentrubel heraus schreibt er ihr mit fliegender Feder:

 „Liebe Louise,
Ich schreibe also meinem Versprechen gemäß sogleich an Dich und zwar kann ich zu meiner Freude Dir beruhigende Nachricht geben. Diese letzte Nacht ist zwar unruhiger, wie die vorige gewesen, indessen sind alle Symptome der Art, daß beide Aerzte sich erklärt haben, wie dieselben zu dem nothwendigen regelrechten Verlauf der Krankheit gehörten. Fritz hat viel über Brennen geklagt und deßwegen wenig geschlafen; der arme Junge weinte bitterlich vor Schmerz; Hans ist recht schön ruhig gewesen und augenscheinlich in Besserung; Elise hat wirklich auch die Frieseln, es hat mit ihr jedoch einen ziemlich gefahrlosen Verlauf; Anna entschieden damit durch. Die Nachrichten sind also nicht trüber. – 0000000000000000000000– Soweit war ich, als ich gestört wurde. Diese Nacht habe ich theilweise gewacht und heute Morgen zu meiner Freude gehört, daß Alles weit besser steht. Alles ist auf dem Wege der Besserung.

Indem ich Dir dies in aller Eile melde, bitte ich Dich inständigst, Dich zu schonen und bei der geringsten Erkrankung mich davon in Kenntniß zu setzen.

Ich bin sehr wohl. Mit der herzlichsten Liebe
Dein Fritz.“ 

Erst als die so lang hinausgedehnte Brautschaft zu Ende ging und Luise ein letztes Mal vor der Hochzeit zu Hause weilte, um mit der Mutter die Aussteuer zu ordnen und die einfache Hochzeit vorzubereiten, sah sich das Paar wieder darauf angewiesen, die Herzen gegeneinander schriftlich auszusprechen. Und leider wurden gerade die Briefe, welche der Dichter so nahe dem Ziel an die Entfernte schrieb, zu Zeugnissen eines schweren inneren Konflikts, der die Wolkenschatten, die schon die Verlobung bedroht, über die Liebenden in einer Stärke heraufbeschwor, welche noch einmal ihre Vereinigung für immer in Frage stellte. Die unheimliche Krankheit, gegen deren Tücke er mit bewundernswerter sittlicher Kraft die Jahre daher angekämpft hatte, die denn auch unter dem Segen seiner vernünftigen Lebensweise, unter dem Einfluß von Kaltwasserkuren, deren er sich in Stuer unterzog, an Macht eingebüßt hatte, überfiel ihn gerade jetzt wieder einmal mit ihrer demütigenden Wirkung. Und er hielt es für seine Pflicht, der Braut davon Mitteilung zu machen. Schon Wilbrandt hat in seiner Biographie und bei Herausgabe der Nachlaßschriften des Dichters Bezug auf diese Wendung genommen, schon er hat hervorgehoben, wie sich gerade in diesem Vertrauen zu der Einen, die er zu seinem Weibe erkoren, die Idealität seiner Seele offenbart hat: seine Wahrheitsliebe duldete nicht, Luise im Unklaren über das Fortbestehen des Leidens zu lassen, vor dem sie ein Grauen empfand, und von dem sie mit ihm vermeinte, daß es durch sittliche Willenskraft sich unterdrücken ließe, während es doch nach dem Ausspruch des ihn behandelnden Arztes ein körperliches Siechtum war.

 „Meine liebe, einziggeliebte Luise
Ich weiß, Du hast die Gewohnheit, meine Briefe für Dich in Einsamkeit zu lesen. – So thue es denn auch dieses mal. –

Mein Schreiben ist traurigen Inhalts und nur Deine Liebe und die Gewißheit, ohne Dich nicht leben zu können, giebt mir den Muth zu der Nachricht, daß ich wieder gefallen bin. Ach das ist schlimm, so lange habe ich mich gut gehalten, so lange bin ich muthig geblieben und nun so kurz vor dem Ziele, so kurz vor dem Jahre lang ersehnten Ziele! – Es ist wahr, der Anfall war kurz und ist leicht überstanden, nur 2 Tage setzte ich meine Stunden aus; aber ich fühle es, in der Sache selbst ist dadurch nichts geändert.

Luise, meine engelgleiche Luise, laß noch einmal Deine Liebe zur verzeihenden werden, glaube mir, so kann es nicht wieder werden bei Deinem Hiersein, bei einer noch so engen beschränkten Häuslichkeit. Ich habe ja seit meinem 14ten Jahre nicht gewußt, was Häuslichkeit ist; bedenke, daß ich unmöglich so plötzlich mit einem Schlage einen Fehler ablegen kann, der sich so allmählig eingeschlichen, bedenke, daß keine große That ausgeführt ist, wo nicht besondere Umstände helfen, – und ist nicht die Entwöhnung von einem so alle Sinne in Anspruch nehmenden und alle freien Entschlüsse lähmenden Laster ein Großes und wo sind bisher die besonderen Umstände? – Was hilft mir dazu? Die Idee Deiner Liebe? – Ach Ideen kämpfen vergebens gegen die kleinen oder großen Schwächen des täglichen Lebens. Bedenke, daß alle meine Unterhaltung bisher in einem Wirthshausleben bestanden hat, daß mich sogar das tägliche Bedürfniß dorthin gerufen hat. – Aber laß Deine holde Gegenwart erst zur Wirklichkeit werden und Deine Liebe zur versöhnenden That, dann wird es anders. Gestern Abend saß ich so einsam hier im Zwielicht und dachte daran, ob Du es mir vergeben könntest, ob Du mir die alte theure Liebe bewahren könntest, und da wurde mir so vertrauend zu Sinn, ich dachte wenn Du hier wärst, dann würde Alles gut sein, dann müßtest Du mir vergeben … Gott wird in meiner Brust durch Deine Liebe jede gute Stimme wecken, damit ihm dieselben Lieder singen, Du wirst mein liebes, liebes Wiesing sein und bleiben.

So könnte ich fort und fort fahren, denn das Herz ist mir sehr voll. – Wenn das wahr ist, daß dieser Zustand ein körperlicher ist, so ist es gewiß schlimm, daß er noch einmal wiedergekehrt ist; aber nicht so schlimm, als wenn er früher wiedergekehrt wäre und lange nicht schlimm, als hätte er noch länger auf sich warten lassen. Vielleicht würde er grade durch die Ehe, als Ehe geheilt, gewiß ist es aber, daß er im Abnehmen ist und daß er aufhören wird.

[621]

Privatvorstellung.
Nach dem Gemälde von M. Lehmann.

[622] Meine liebe, theure Luise, denke an mich freundlich, zeige mir diesen Brief, wenn Du einst fürchtest, daß ich auf Abwege gerathen könnte, und denke Dir mich so, als wenn Du nur mein Haar streicheltest und sagtest, Du siehst heute so gut aus. Unter meinem Fenster ist Hornmusik, sie zaubert mir die Hoffnung auf manchen Liederabend in’s Herz. Wenn mir dies Leben wirklich so ans Herz gewachsen wäre und nicht Deine Liebe, so könnte ich ja nur die Schande wählen, statt der Tugend, bedenke dies Alles, bedenke auch, daß ich schon vorige Woche das Aufgebot bestellt habe, daß Einrichtungen und Bestimmungen getroffen sind, die jedenfalls schwierig zu redressiren sind. –

Aber alle Deine Bestimmungen sind mir unmöglich gewesen zu erfüllen, doch hat es mit einigen auch Zeit, z. B. mit der Fracht, die kann ich noch immer bestellen. Deinen oder besser Vaters Wunsch um Uebersendung des Naturalisations-Attestes erfülle ich heute; da ich wirklich diesen Gegenstand übersehen habe, weil er am Rand des Couverts stand. Ach, mein süßes Kind, ich möchte noch allerlei schreiben; aber wenn Du Dich nun besännest oder es Dir gar so zu Herzen nähmest, daß Du mir wieder krank würdest. Fasse Dich jetzt nur, gehe in den Garten, weine Dich aus, denke, daß ich Dir viel Trübsal gemacht habe, daß ich Dir doch auch wieder viel Freude machen kann und werde; oh Du liebes, liebes Mädchen; denke doch daran, wie süß Du es mir einst vergabst, wie wir beide so seelig gerührt waren, wie die Versöhnung so schön und die Verzeihung die Liebe so reich macht!

Was die Weste betrifft, so bitte ich Dich recht dringend, arbeite keine für mich, laß es bis zur Zeit, wo Du selbst mir Maaß nehmen kannst, ich habe schöne Westen genug und sollst Du nicht sitzen, wenigstens jetzt nicht. Einen Brief von Schmiedekampf lege ich Dir hier bei, damit Du seinen Vorschlag daraus ersiehst; ich rathe jedoch nicht dazu, wenn es nicht möglich ist, daß sich das durch Ratenzahlung kaufen läßt, wird es uns zu drückend sein. – Wir kaufen es bei Roloff, schicken das meiste Leinzeug und die neuen Betten mit Fracht nach N. Brandenburg und lassen dies als Aussteuergut von dort einfahren; meinen Klapperkram führen wir über den andern Zoll und bitten Ernst, daß er es uns fährt, dann kostets uns nicht viel.

Victualien aller Art, so wie ungemachtes Leinenzeug sind durchaus nicht frei, müssen also versteuert werden, was denn zuweilen recht hoch ist.

Und nun will ich mich denn noch einmal hinsetzen, um mit Dir zu plaudern, als wäre nichts vorgefallen, oder besser, als hättest Du schon Alles vergeben; aber ich glaube es wird nicht gehn, ich glaube ich bin zu traurig, um des frohen Tages so zu gedenken, wie Du ihn Dir gedacht hast, als Du den letzten Brief schriebst. Wie seelig sind damals Deine Gefühle gewesen, wie freudig in ihrer Hoffnung, wie innig mit mir beschäftigt! Oh laß es so, laß den Ring fest, fest sitzen, denke, daß er mit Dir verwachsen ist, wie meine Seele mit der Deinen … Willst Du den traurigen Inhalt des Briefes mittheilen, so sage ihn Mutter allein und mache mir nicht die Beschämung bei den übrigen Geschwistern; Vater vergiebt ihn mir, glaube ich, auch zu Mutter habe ich eben so ein Vertrauen.

Mein Wiesing, mein liebes, holdes Kind, Du sollst es gewiß gut bei mir haben, wir wollen Ein Herze sein, wir wollen die kleinen Unannehmlichkeiten mit Freuden ertragen und wollen Gott bitten um zufriedne, liebende Herzen; unsre kleine Häuslichkeit ist wirklich geschaffen für uns und läßt sich durch Liebe und gegenseitige Güte und Dankbarkeit für das, was wir haben, zu einem Paradies umschaffen.“
(Unterschrift fehlt.) 
(Schluß folgt.)

Jocko.

Humoristische Erzählung von Joachim v. Dürow.
     (Schluß.)

Dienstag reiste „det Generalke“ und den Tag vorher (es war ein unvergeßlicher Montag) kam das Geld.

Mein Mann brachte den umfangreichen Brief persönlich in das Zimmer der Tante, und trotz der äußerlich gewahrten Ruhe funkelten ihre Augen in ungewohntem Glanze, während sie die bedeutende Summe prüfend in der Hand wog.

„Ich möchte in Deiner Gegenwart die Papiere nachzählen, lieber Neveu; möglicherweise stimmt die Summe nicht, und ich bedarf Deiner als Zeuge!“

„Ich fürchte, die Sonne wird Dich blenden – soll ich vielleicht das Rouleau herablassen?“

Schmeichle mir nicht,“ schrie die Tante, deren auf Schmeichelei und Schleicherei stets gespitztes Ohr angesichts der ausgebreiteten Scheine in diesem Augenblicke dem ungerechtesten Argwohn verfallen war.

Mein Ernst hatte gute, treue, zuweilen ein wenig erstaunte Augen – und ich kann mir denken, mit welch verwundertem Ausdruck diese Augen dem mißtrauendem Blick der Tante begegneten. Durch diese Beschäftigung seiner Blicke aber entging es ihm wie der Tante, daß durch das offenstehende Fenster Meister Jocko seinen Einzug hielt.

Er war längs des Weinspaliers in die Höhe geklettert, der genesende Affe – er sah den ungewohnten Anblick der ausgebreiteten Scheine in Reih’ und Glied – und er war mit einem einzigen kühnen Sprunge mitten unter diesen Scheinen.

„Huh!“ schrie die Tante – raffte und schlug – und da sie raffte, raffte der Affe auch; zunächst einen Tausendmarkschein, den er zur Kugel ballte, und diese, mit dem Daumen nachhelfend, direkt in die dehnbare Backentasche hineinschob.

Möglicherweise hätte man bei einiger Fassung den Schein noch dem Affen entringen können; – man ging aber ohne jede Fassung in hellem Zorn dem Diebe zu Leibe; man ergriff einen Sonnenschirm, kraft dessen man in blindem Eifer den Sünder zur Höhe der Gardinenstange emportrieb; von welchem gesicherten Standpunkt besagter Sünder in stiller Beschaulichkeit dem wüsten Treiben dort unten zusah.

„Ruhe, Tantchen, Ruhe,“ bat mein Mann; „möglicherweise läßt sich die Nummer noch entziffern; die Kanaille holt den Schein aus der Backe; – komm, Jockochen – gutes Jockochen – Jockochen, komm zu Papachen!“

Jockochen zeigte sich der unvermuteten Vaterschaft geneigt; er faltete den durchaus nicht hoffnungslosen Schein auseinander, beleckte ihn bedächtig von oben bis unten und schien zur Rückgabe gewillt. Dann aber mochte ihn ein Etwas in dem aufwärts gerichteteu Antlitz der Tante reizen, denn er schnatterte kräftig von oben herab – zerriß den Schein in ganz kleine Fetzen und warf diese immer nasser und immer rascher der uuteu harrenden Dame direckt ins Gesicht.

Worauf der Affe, gesonnen, sich abermals einen Tausendmarkschein zu holen, in Seelenruhe seinen Abstieg nahm.

Hastig bemühte sich mein Ernst, den von neuem bedrohten Mammon zu bergen. Er wandte sich erst der Scene wieder zu, als ein seltsam unartikulierter Laut unheimlich sein Ohr berührte, und dann –

Er sah den Affen von der Hand der Tante hoch emporgehoben – und ehe er der That wehren konnte, flog das in der Kraft des Zornes geschleuderte Tier zum Fenster hinaus – schlug hart auf dem festen Kiesboden unten auf und dann war es still.

Einige Minuten darauf standen wir um das arme Tier – Ernst, ich, und die Tante auch.

„Wird er leben bleiben?“

„Nein, das Kreuz ist gebrochen.“


„Ich habe ,Gut‘ unter mein Diktat bekommen“, tönte es von der andern Seite des Gartens her, und in fröhlichen Sprüngen kam mein Fritzel angelaufen. Mein Mann ging ihm entgegen und faßte den Jungen bei der Hand: „Nimm Dich zusammen, kleiner Kerl. Sieh einmal, der Affe ist vom Spalier herabgestürzt –“

„Nein, nein,“ rief ich in zorniger Wallung aus, „er soll die Wahrheit –“

Die Hand meines Mannes umklammerte fest meinen Arm. „Der Affe ist vom Spalier herabgestürzt, liebe Alte, und [623] unser Fritz wird zeigen, daß er ein ganzer Mann sein kann – gelt, Fritzel?“

Ich habe, sowohl im Leben als auf den Brettern, die das Leben bedeuten, manche ergreifende Scene gesehen, aber keine, die dem Augenblick gleichkam, da der Affe, ob bewußt oder nicht, noch einmal mit den schwermütigen, bereits umschatteten Augen zu Fritz herüberschaute – wie dann das Kind, ohne daß ein Laut über seine tief erblaßten zitternden Lippen kam, den Affen in seine Arme nahm und mit ihm davonging – dem Walde zu!

Wir riefen – wir baten – umsonst; hin und wieder unter der immer schwerer werdenden Last schwankend, aber stetig vorwärts, schritt Fritzens schmächtige Gestalt; er wollte allein sein mit dem gestorbenen Gespielen seiner Tage, mit dem großen Schmerz in seinem kleinen Herzen – und wir ehrten diesen Schmerz.

Andern Tages fuhr die Tante ab, ohne daß mein Mann, den ein Termin in die Stadt rief, ihr zum Bahnhof das Geleite gab. Er hatte seltsamerweise immer Termin, sobald ihm etwas nicht paßte – der gute Mann!

Die Zeit ging ihren Lauf, und auf arbeitsgesegnete Tage folgten bange Nächte, während deren langen Stunden der Flügelschlag der Sorge um unsere Häupter rauschte. Dazwischen führten meine erregten Nerven mir mit wunderbarer Konsequenz das Bild des sterbenden Affen vor Augen, und immer lauschte das Ohr noch auf ein Lebenszeichen jener kleinen Schildkröte, deren Dasein des Tages mannigfache Abziehungen in Vergessenheit brachte – umsonst. – Der Affe war tot, die Kröte blieb verschwunden, und täglich mehr erstarb die Hoffnung in unseren beiden belasteten Herzen.

Müde und niedergeschlagen kam mein Mann an einem heißen Tage vom Felde. „Ich habe dem Briefträger einen Brief von der Tante abgenommen; weiß nicht, ob an mich oder an Dich adressiert; jedenfalls ist mir der Inhalt gleichgültig; lies Du nur, liebe Alte!“ Er schickte sich an, wieder fortzugehen, wurde aber, nachdem ich den Brief überflogen, energisch daran verhindert.

„Alte, Kind – was ist Dir?“

Ich bedurfte einer kleinen Weile, ehe ich mich fassen, ehe ich meine Augen von den emporquellenden Thränen klären, ehe ich überhaupt fähig war, wieder zu lesen. Ich überging den Dank für die genossene Gastfreundschaft – und fing mit dem Kern des Schreibens an: „Und nun, mein lieber Neveu, zu dem Hauptpunkte, der mir die ganze Zeit über auf dem Herzen liegt und mich nicht zur Ruhe kommen läßt, bis ich klipp und klar darüber gesprochen habe. Es wurmt mich die Geschichte mit dem miserablen Vieh, das mich freilich sattsam geärgert hat. Aber das Gefühl der Mörderschaft, und sei es auch nur einem Affen gegenüber, stört einem, der sich bis dahin ganz tadelfrei glaubte, das Selbstbewußtsein und bringt ihn auf allerhand Gedanken, die er sich selbst machen muß, weil einer alten reichen Erbtante niemand mehr die Meinung sagen mag. Und da war es mir auf einmal, als höre ich meines Vaters Stimme: ,Sollst Dir schämen, Kunigunde (er hielt es immer mit dem Dativ, mein seliger Vater), sollst Dir aus tiefster Seele schämen; zuerst der Geldgier, die die Heftigkeit gebar, und dann wegen der Heftigkeit, die zu einer That kleinlicher Rache geworden, wie solche eines noblen Frauenzimmers nie und nimmer würdig ist.‘

So tönte es vor meinem inneren Ohr, und der Klang von Geisterstimmen ist kapabel, den Menschen zu seinem eigenen Heile einmal umzukrempeln wie einen alten Filzhut; ich sah auf einmal ganz klar, daß ich in dieser Sache unrecht hatte. Es ist eine Inkonsequenz gegen mein bisheriges Wesen, daß ich’s euch zugestehe, deshalb kommt es mir auch jetzt nicht mehr darauf an, eine zweite hinzuzufügen, in betreff der euch gekündeten Hypothek nämlich. Ich hatte durch Zufall von eurer Verlegenheit gehört, und als Deine Einladung kam, liebe Nichte, war ich über die Motive zu derselben mich nicht einen Augenblick im unklaren.

,Wirst trotzdem die Einladung annehmen,‘ dachte ich bei mir selber; ,wirst dir einmal das gepriesene Familienleben dort in der Nähe betrachten; wirst dich anständig für die Gastfreundschaft revanchieren, durch einen silbernen Tischaufsatz oder was noch sonst in dem Haushalte fehlt – aber das Geld wirst du dem Herrn Neffen nicht geben; auch nicht einen Deut!‘

Ich wußte also, daß ihr bei eurer Einladung nur an die Hypothek gedacht; ich roch die Hypothek aus der Rose, die man mir auf meinen Teller gelegt; ich schmeckte die Hypothek aus dem Lieblingsgericht, das mir Deine Frau bereiten ließ; und wenn ihr euch eingehend mit meinen Interessen zu beschäftigen schient, so wußte ich, daß der Hintergedanke die Hypothek war! – In jenem Augenblick aber, wo angesichts des von meiner Hand getöteten Tieres Deine Frau in gerechtem Zorn aufbrausen wollte, und wo der Druck Deiner Hand das Wort auf ihren Lippen festbannte, damit das Kind nicht erfahren sollte, was ihm die alte Tante für ein Herzeleid gethan, habt ihr beide nicht an die Hypothek gedacht.

Du dachtest auch nicht daran, da Du mich ohne Deinen geleitenden Arm von Deiner Schwelle gehen ließest, trotzdem jesuitische Klugheit geboten hätte, das Eisen zu schmieden, solange Reue und Zerknirschung es in Glühhitze halten, und gerade darum habe ich euch die Motive zu eurer Einladung vergeben. Wer der Armut im Leben gegenübergestanden, weiß außerdem, daß der Teufel in der Not Fliegen frißt, und daß der Landmann in Not sich, die Zähne zusammenbeißend, alte Tanten als Sommervögel invitieren thut.

Mithin kannst Du Dir das Geld von der Bank abholen; morgen, übermorgen, wann es Dir paßt; sollst es aber nicht auf den Namen „Kunigunde von Böhmer“ eintragen lassen, sondern einfach auf den Namen Deines Jungen, dieweil die alte Tante den Blick nicht vergessen kann, den Blick, den der Affe und das Kind zum letztenmal auf dieser Erde gewechselt. – Es ist aber von altersher ein Brauch, daß der Mensch, wenn er eine Schuld mit sich herumträgt, dem innern Drange nach einer Sühne nachgeht – wollt ihr der alten Kunigunde diese Sühne verwehren?

Sollt aber die Zinsen des Kapitals nicht etwa in einer Menagerie anlegen, oder in Dingen, die in Bezug auf die Nützlichkeit auf gleicher Höhe mit dem sündhaften Gardinen-Ueberfluß stehen; sollt die Zinsen zum Kapital schlagen, damit mein Fritz – Kinder, gönnt mir die Freude, ihn hin und wieder so zu nennen – dereinst bei der Kavallerie eintreten kann; denn: ,Es ist doch ein ander Ding um den Mann auf sechs Beinen,‘ hat mein seliger Vater immer gesagt!

Nun habt ihr aber noch eine Liese, über welche Liese, trotzdem ich ihr keinerlei Getier umgebracht, auch noch ein Wörtchen gesprochen werden soll. Sollte dieses Kind dereinst auf den thörichten Zopf anbeißen, zu heiraten, so wendet euch wegen der Aussteuer an die alte Base, die Parkstraße 103 zu finden ist. Und sollte sie bis dahin schon eine Staffel höher gezogen sein, einberufen als Rekrut der großen Armee, die unser Herr Jesus Christus kommandiert, und bei der mein seliger Vater nun schon über fünfzig Jahre steht, so ist im Testament dafür gesorgt. Kannst ruhig die Sofas und das Gestühle bestellen, liebe Nichte, damit die Liese mit dem Lieutenant ihres Herzens dereinst bequem und gut zu sitzen kommt.

Aber nun noch eins! So Gott will und ich gesund bleibe, möchte ich im künftigen Jahr noch einmal als alter Sommervogel bei euch Einkehr halten, und ich meine, daß ihr mich dann um meiner selbst willen freundlich willkommen heißen werdet!“


Nachdem wir diesen Brief gelesen, war es eine Weile sehr still im Zimmer – – – ich hatte die Arme um den Hals meines Mannes geschlungen – und wir haben leise, vor uns hingeweint; er nach Männerart, nur der Thränlein eines oder zwei – ich deren so viele, daß er mit dem Taschentuch energisch über meine Augen fuhr.

„Aber Alte, fasse Dich doch; aller Sorgen ledig, unser Fritz sichergestellt – gesegnetes altes Tantenherz – August soll hereinkommen – hörst Du nicht, August?“

August kam.

„Kannst Dir heute eins antrinken, August, obschon es erst Donnerstag ist – knüppeldick – kannst die ganze Welt für einen Tanzsaal ansehen“ –

Unzweifelhaft hätte August einen Luftsprung gemacht, wäre der Respekt nicht ein Hemmnis gewesen; außerdem richtete sich die Aufmerksamkeit des Alten fest auf den Bücherschrank, dessen leichtangelehnte Thüre durch eine sanfte Gewalt von innen sich sachte öffnete – worauf hellen Blickes ein zierlicher Schildkrötenkopf lauschend durch die Spalte äugte.

Jetzt kam der Luftsprung doch zur Ausführung – klatschend fiel die Hand aufs Knie und, „Vogel, lebst Du auch noch?“ klang Augusts Stimme in den Dank und Jubel unserer Herzen fröhlich hinein!


[624]

Ein Opfer der modernen Flugtechnik.

Otto Lilienthal. † am 10. August 1896.
Von W. Berdrow. Mit Abbildungen nach Augenblicksaufnahmen von Ottmar Anschütz in Lissa.


Das alte Märchen von Ikarus, dessen selbstgefertigte Flügel versagten und ihn in der Tiefe zerschmettern ließen, als er sich seinem Ziel am nächsten glaubte, ist jetzt zur traurigen Wahrheit geworden. In den Rhinower Bergen, im Westhavelland, die er so oft schon zum Schauplatz seiner bekannten Uebungen im Schwebeflug gemacht hat, ist der Ingenieur Otto Lilienthal kürzlich mit seinem neuesten Flugapparat aus der Höhe gestürzt und bald darauf seinen schweren Verletzungen erlegen.

Deutschland verliert in ihm den bedeutendsten Vorkämpfer der seit 10 bis 15 Jahren so lebhaft verfolgten Bestrebungen, die Atmosphäre, welche dem lenkbaren Luftballon anscheinend keine Möglichkeit des Erfolges öffnet, mittels der Flugmaschine zu meistern. Da wir diese Bemühungen und ihre bisherigen, wiewohl schwachen Erfolge schon früher, u. a. im Jahrgang 1894 ausführlich geschildert haben, so sei an dieser Stelle nur kurz des Anteils gedacht, den Lilienthal selbst an der Lösung der Flugfrage gehabt hat.

Schwebeflug bei ungleichen Windstößen.

Nachdem er lange Zeit theoretisch und durch Experimente im kleinen, sowie durch andauernde Beobachtung des Vogel- und insbesondere des Storchfluges die Frage nach allen Seiten untersucht und als Frucht seiner Arbeiten das Buch: „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ veröffentlicht hatte, hielt er es vor nahezu 6 Jahren endlich an der Zeit, praktische Versuche über das Flugvermögen des Menschen anzustellen. Seine Beobachtungen und Experimente hatten ihn dahin geführt, als das eigentlich tragende Element, dem sich auch der Mensch, wenn er die Atmosphäre bezwingen will, anvertrauen muß, den leicht gewölbten Flügel des Vogels, als die geeignete Flugform aber den sogenannten Segelflug anzusehen, der die Vögel häufig lange Zeit ohne einen Flügelschlag im Winde dahingleiten läßt.

So begann denn auch er seine Versuche mit dem Schweben auf gewölbten Flügeln, und so schwer er es anfangs fand, die großen Flächen, die zum Tragen eines Menschen nötig sind, in leichtem Winde zu regieren, so stellten sich doch bald Erfolge ein. Von einem meterhohen Sprungbrett ließ er sich zuerst gegen einen mäßigen Wind sinken und erhöhte dann, als es gelungen war, einige Meter weit über den Garten hinzuschweben, allmählich den Ort des Absprunges, bis endlich Garten und Sprungbrett den weiter und weiter sich hinziehenden Segelflügen nicht mehr genügten. Der leidige Feind des Experimentators war bei allen diesen Versuchen der Wind, dessen unregelmäßige Stöße ihn oft zur Verzweiflung brachten und nicht selten die gewagtesten Balancierkünste nötig machten, um das Ueberschlagen und den Absturz zu vermeiden. Die obige meisterhafte Aufnahme eines Schwebefluges bei windiger Luft zeigt deutlich die Anstrengungen des Fliegenden, durch Verlegung des körperlichen Gleichgewichts den unregelmäßigen Windstößen gerecht zu werden.

„Mit mir selbst,“ schrieb er in einer seiner letzten Abhandlungen noch, „hat der Wind oft genug Fangball gespielt, wenn ich bei meinen Segelübungen, mitten in der Flugbahn von Windstößen überrascht, zuweilen um Haushöhe aufgehoben und so hin- und hergeschleudert wurde, daß mir, ehe ich mich daran gewöhnte, der Atem stockte.“

Lilienthal im Augenblick des Abfluges.

Und trotz dieser Gefahren, die er übrigens für den erfahrenen Segler als sehr geringfügig hinstellte, brauchte der Experimentator den Wind, weil seine Apparate von vornherein des eigenen Antriebes entbehrten und ohne die belebende Luftströmung nur ein Fallschirm oder ein totes Holz waren. Lilienthal selber gelang es ja, jahrelang die Gefahren zu besiegen und die Geschicklichkeit zu erhöhen. Von dem anfänglichen Sprungbrett ging er zu Flügen von einer Anhöhe in Steglitz über; als ihm auch diese nicht mehr genügte, suchte er die schrägen Abdachungen der Berge von Rhinow aus und ließ sich endlich, um die zeitraubende Fahrt dorthin zu vermeiden, mit großen Kosten einen 15 m hohen steilen Hügel bei Groß-Lichterfelde auftürmen, auf welchem unsere zweite Abbildung ihn im Augenblick des Abfluges darstellt, und wo die Hunderte von Metern weiten Segelflüge, welche er dort an schönen Tagen auszuführen pflegte, manchen dankbaren Bewunderer und manchen getreuen Photographen, aber merkwürdigerweise fast keinen Nachahmer gefunden haben.

Und doch wurde Lilienthal nicht müde, die Reize seiner Segelflüge zu schildern und zu ihrer Wiederholung aufzufordern, von der er sich für die Zukunft der Fliegekunst mehr versprach als von den scharfsinnigsten neuen Erfindungen. Giebt es erst einen Fliegesport, zunächst für den Segelflug in bewegter Luft, wie es einen Ruder- und Radfahrsport giebt, so ist es bis zum Fliegen selbst nicht mehr weit, pflegte er, zu sanguinisch vielleicht, zu sagen und zu schreiben.

Ueber den Eindruck der Uebungen auf den Schwebenden selbst schrieb er u. a.: „Es wird schwer sein, demjenigen, welcher derartige Gleitflüge nie versucht hat, eine richtige Vorstellung von den Reizen dieser schwungvollen Bewegung zu verschaffen. Die Tiefe, über welche man dahinschwebt, verliert ihre Schrecken, wenn man aus Erfahrung weiß, wie sicher man auf die Tragfähigkeit der Luft sich verlassen kann. Die Beklemmung des Kletterns auf schlüpfrigen Gletscherstufen hat nichts gemein mit den Empfindungen des auf die Luft allein sich stützenden Fliegers. Wenn man, auf den breiten Fittichen ruhend, von nichts als von der Luft berührt, durch nichts als durch den Wind gehoben, mit einem gut erprobten Apparat dahingleitet, so läßt das Gefühl der Sicherheit die Gefahr bald vergessen.“

Uebrigens ließ der Experimentator über diesen Reizen nie den Zweck seines Thuns aus den Augen. Jedes Jahr brachte für seinen Apparat

[625]

In den Wetterlochhöhlen auf dem Gipfel des Schafbergs.
Nach einer Originalzeichnung von Rob. Aßmus.

[626] neue Verbesserungen. Aus dem anfänglichen starren Schirm ward eine elastische Maschine, die mit einem Druck sich zusammenfalten ließ, um sie zu transportieren oder in engen Räumen unterzubringen, die Schwere wurde fort und fort verringert, die Festigkeit erhöht und der Erfolg vergrößert.

Von den geradlinigen, langsam sich senkenden Luftsprüngen ging der Experimentator über zu Kurven, er durfte sich heben lassen, wenn die Laune des Windes es so wollte, und schwebte oft in grandiosen Wellenlinien über den Köpfen seiner Zuschauer dahin. Oder er kam auf der Höhe der Flugbahn durch den Anprall des Windes zum Stillstand und konnte mit dem untenstehenden Photographen über die geeignete Stellung zur Aufnahme unterhandeln. Zwei Wandlungen sind es besonders, welche der Lilienthalsche Segelapparat noch in der jüngsten Zeit durchgemacht hat, und welche dem Namen ihres Erfinders dauernde Bedeutung verleihen, da sie ganz besonders geeignet scheinen, um auf ihnen weiter zu bauen für eine künftige Entwicklung der Flugmaschine.

Lilienthals Flugapparat mit Schwungfederantrieb.

Der erste Fortschritt besteht in der Zerlegung der Segelfläche in zwei übereinander gestellte Etagen. Die Schwierigkeit, mit ausgedehnten Flächen von 14 bis 16 qm im Winde zu operieren, und die Notwendigkeit, dennoch so große Flügel anzuwenden, um die erforderliche Tragkraft zu erlangen, brachten den Konstrukteur auf die Idee, zwei kleinere Segelflächen übereinander zu stellen.

Der Versuch gelang überraschend: die Tragfähigkeit eines Apparates von 5½ m Spannweite war, bei weit leichterer Handhabung, ebenso groß wie die des älteren Schirmes von 7 bis 8 m Spannweite, während gleichzeitig die Stabilität der Maschine, d. h. ihre Widerstandskraft gegen Windstöße, bedeutend wuchs.

Endlich hat sich Lilienthal, wohl einsehend, daß er mit dem bloßen Segelflug doch nicht alle Aufgaben lösen würde, im letzten Jahre auch an die Verbindung eines Propellers mit seiner Maschine herangewagt. Nach langem Versuchen gelang die Konstruktion eines sehr leichten Kohlensäuremotors, durch welchen an den neuesten Apparaten ein System von Schwungfedern, wie es unsere nebenstehende Abbildung in vollkommener Deutlichkeit zeigt, in auf- und niedergehende Bewegung gesetzt wurde.

Ob die Verbindung dieser beweglichen Teile mit den eigentlichen Tragflügeln, wie sie Lilienthal ausgeführt hat, ein glücklicher Gedanke war, ist fraglich. Es könnte scheinen, als ob die Sicherheit des tragenden Teiles unter dieser Verquickung gelitten habe. Der Erfinder selbst sagte darüber: „Die ersten vorsichtigen Versuche bewiesen mir, daß, wenn ich ohne weiteres mit Flügelschlägen in die Luft mich hineingestürzt hätte, der Apparat wahrscheinlich nicht unzerstört unten angekommen wäre.“

Es mußte also von neuem mit dem Lernen begonnen werden, und zwar zeigte sich erst jetzt der schwierigste Teil der ganzen Aufgabe, gegen den vermutlich das bloße Schweben noch Kinderspiel war. Lilienthal hat diesen letzten Teil des Weges nicht mehr zurücklegen sollen, doch besteht kein Zweifel, daß andere, opferwillige Naturen einspringen werden, wo die seine an einem unglücklichen Zufall ihre Schranke fand.

Die Eroberung des Luftreichs ist und bleibt einmal eins der großen Ziele unserer Zeit, und einzelne Opfer werden heute so wenig wie je vermögen, den Weg zu ihm zu versperren.


Die betäubende Prise.

Von M. Hagenau.


In Kriminalgeschichten aus älterer Zeit spielt die Tabaksdose eine unheimliche Rolle. In einem Postwagen reisen zwei Personen zusammen und die eine bietet der anderen eine Prise an. Arglos wird dieselbe angenommen; aber nach kurzer Zeit bringt der Schnupftabak ungewöhnliche Wirkung hervor. Der Schnupfer verliert das Bewußtsein und verfällt in einen tiefen Schlaf. Ist er aus der Betäubung erwacht, so sieht er sich allein im Wagen; sein Reisegenosse ist verschwunden und die nähere Untersuchung des Gepäcks oder der Taschen des Betäubten zeigt, daß er beraubt wurde! Der Uebelthäter hatte zweifellos dem Schnupftabak betäubende Gifte beigemengt und durch die Prise sein Opfer eingeschläfert, um sein Verbrechen leichter auszuführen!

Erzählungen dieser Art gingen einst von Mund zu Mund und wurden anstandslos geglaubt. In der Neuzeit ist man gegen solche Mitteilungen mehr mißtrauisch geworden. Es sind zwar wiederholt Leute vor Kriminalbehörden erschienen und haben die Beschwerde vorgebracht, ein Unbekannter habe sie im Eisenbahncoupé arglistig betäubt, aber fast immer konnte nachgewiesen werden, daß solche Beschuldigungen auf Selbsttäuschung oder Betrug beruhten.

So behauptete z. B. eine Dame in Wien, sie sei durch eine Zeitung betäubt worden, die mit einer narkotischen Substanz, einem einschläfernden Mittel imprägniert war. Der Gerichtsarzt mußte erklären, daß eine Betäubung auf diese Weise durchaus nicht hervorgebracht werden konnte; denn es giebt kein Mittel, das, in so geringen Mengen vor Nase und Mund gebracht, betäubend wirkt. Viel Aufsehen erregte vor einigen Jahren die Erzählung eines Postmeisters, daß er von einem unbekannten Manne im Eisenbahnabteil durch Schnupftabak betäubt und dann in einer ihm unbekannten Gegend ausgesetzt worden sei. Es stellte sich später heraus, daß der Mann flunkerte und seine Stellung wegen begangener Unredlichkeiten verlassen hatte. Die Fabel von der betäubenden Prise wurde jedoch geglaubt und hatte, wie E. Hofmann in seinem „Lehrbuch der gerichtlichen Medizin“ berichtet, eine Beunruhigung des Publikums zur Folge. Eine Woche darauf fuhr auf derselben Strecke, auf welcher dem Postmeister jene Unbill zugefügt sein sollte, eine junge Dame allein mit einem Herrn in einem Wagenabteil erster Klasse. Der Herr bot ihr eine Cigarette an und die Aermste geriet infolge dieser Galanterie in eine so große Aufregung, daß sie aus dem Fenster springen wollte; sie glaubte, der Fremde wollte sie betäuben.

Wer die Wirkung der einschläfernden Gifte kennt, muß wohl zu der Ansicht gelangen, daß es einem noch so raffinierten Verbrecher schwerlich gelingen könnte, sein Opfer durch eine Schnupftabakprise, der Gift beigemengt ist, arglistig zu betäuben. Das möge zur Beruhigung der Reisenden dienen; im übrigen kann sich jedermann selbst schützen, indem er von einem Fremden keine Prise annimmt. Dabei darf aber nicht geleugnet werden, daß Menschen durch Schnupfen sich vergiften oder betäuben können; nur ist zu einer solchen Wirkung mehr als eine gelegentliche Prise nötig. Betäubende Schnupfmittel wurden früher in Europa und werden noch heute von einigen Naturvölkern angewandt.

Sehr interessant sind die Schilderungen einer solchen Unsitte bei einigen Indianerstämmcn Südamerikas.

Schon Alexander v. Humboldt beschrieb die Bereitung und Verwendung des sogenannten Niopopulvers bei den Maypura-Indianern, die sich damit in einen eigentümlichen Zustand von Trunkenheit, ja man könnte sagen von Wahnsinn versetzen. Sie pflücken die langen Hülsen eines Baumes aus der Familie der Mimosen, zerhacken dieselben und lassen sie angefeuchtet gären. Die Indianer warten nun, bis die erweichten Hülsen schwarz werden, kneten dieselben dann zu einem Teig, vermengen ihn mit Maniokmehl und Muschelkalk und setzen die Masse über ein lebhaftes Feuer auf einem Rost aus sehr hartem Holz. Der gedörrte Teig nimmt die Gestalt kleiner Kuchen an. Will man dieselben gebrauchen, so werden sie zu feinstem Pulver zerrieben und auf einen kleinen Teller gestreut. Das Schnupfen geschieht dann mit [627] Hilfe hohler Vogelknochen. Der Indianer hält den mit einer Handhabe versehenen Teller in der rechten Hand, während er das Niopopulver durch die Vogelknochen, die er in die Nasenlöcher eingesetzt hat, einzieht. In ähnlicher Weise berauschen sich durch Schnupfen narkotischer Kräuter die Makusi, Omaguas, Muras, Maukas und Tecunas in den Gebieten des Orinoco und Amazonenstromes. Sie verfallen dabei in einen erregten, an Raserei grenzenden Zustand, der mehrere Stunden anhält und mit Ermattung oder voller Betäubung endigt.

In Europa wird gegenwärtig fast ausschließlich Tabak geschnupft. Es wird zwar behauptet, daß die Spanier diese Sitte von den Indianern Südamerikas gelernt hätten, aber diese Behauptung stützt sich keineswegs auf überzeugende Beweise; mit mehr Recht darf man annehmen, daß die Gewohnheit des Tabakschnupfens in Europa selbständig ausgebildet wurde. In der alten Welt schnupfte man seit uralten Zeiten, allerdings nicht des Genusses halber, sondern zu Heilzwecken. Den Aerzten des Altertums galt das Niesen als ein Zeichen der Gesundheit und sie verordneten darum den Kranken verschiedene Niespulver, die aus allerlei scharfen einheimischen Kräutern bereitet wurden. Die Nieswurz verdankt ja geradezu dieser Verwendung ihren Namen. Die Tabakpflanze wurde zunächst als ein heilsames Kraut, als eine neue Medizin, nach Europa gebracht. Mit dem neuen Mittel, das vielfach auch indisches Bilsenkraut genannt wurde, kurierte man flott alle möglichen Leiden und verfiel auch bald auf den Gedanken, es als Schnupfpulver zu verwenden. Zu einer besonderen Berühmtheit gelangte es um die Mitte des 16. Jahrhunderts durch folgenden Vorfall. König Franz II. von Frankreich litt oft an sehr heftigen Kopfschmerzen, gegen die alle angewandten Mittel nichts gefruchtet hatten. Auf den Vorschlag seiner Mutter, Katharina von Medici, wurden die Leibärzte bewogen, einen Versuch mit gepulverten Tabakblättern zu machen. Der König schnupfte, die Hofleute ahmten es nach und so kam das Tabakschnupfen am französischen Hofe in Gebrauch. Schließlich verdrängte der Tabak fast gänzlich alle einheimischen Schnupfmittel. Nur in der Volksmedizin haben sich hier und dort die Nies- und Schnupfpulver erhalten. Eine gewisse Berühmtheit besitzt z. B. der Schneeberger Schnupftabak, der aus aromatischen Kräutern in Schneeberg im Sächsischen Erzgebirge bereitet wird.

Die alten Aerzte begnügten sich jedoch keineswegs mit Kräutern, die Niesreiz erzeugen. Sie verordneten auch, um schmerzhafte Leiden zu lindern, Pulver aus einheimischen Giftkräutern, die narkotische oder betäubende Stoffe enthielten. Sie verfuhren dabei ähnlich wie die heutigen Aerzte, die z. B. Cocaïnpulver in die Nase einblasen oder schnupfen lassen. Mit jenen Pulvern aus Giftkräutern wurde nun in früheren Zeiten ein sträflicher Unfug getrieben. Manche von ihnen erzeugten ähnlich wie das südamerikanische Niopopulver Aufregung, Raserei, die mit Hallucinationen verbunden war, und zuletzt auch Bewußtlosigkeit oder schwere Vergiftung. Solche Pulver verwendete man auch gern zu Zaubereien. Namentlich in Frankreich waren sie unter den Namen poudres sorcières, Hexenpulver, bekannt. Zur Zeit der Hexenepidemien wurden sie gleich den Hexensalben, welche dieselben Giftstoffe enthielten, von den nervös erkrankten Hexen (vgl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1895, S. 312) benutzt, die sich damit leichter in den Zustand der Verzückung versetzten. Mit diesen Pulvern soll auch, wenn die Mitteilungen alter Schriftsteller nicht auf Irrtum beruhen, ein verbrecherischer Mißbrauch zum Betäuben von Personen getrieben worden sein. Man beschuldigte namentlich die Zigeuner, daß sie solche Pulver herstellten und verwendeten. Dem Verbrecher kam hier der Umstand zu Nutzen, daß sein Opfer in der Meinung, ein Heil- oder Stärkungsmittel zu benutzen, größere Mengen des Pulvers verschnupfte.

Dank der fortschreitenden Aufklärung sind heutzutage derartige Vergiftungen und Betäubungen geradezu unmöglich geworden, von dem Arzt würden sie als solche auch sofort erkannt werden. Daß der Schnupftabak, wie andere beißende Pulver, von Verbrechern ihrem Opfer in die Augen gestreut wird, um dasselbe zu blenden und vorübergehend widerstandsunfähig zu machen, ist ein bekannter „Kunstgriff“, den wir nebenbei erwähnen. Wir möchten uns aber zum Schluß noch gegen das Schnupfen verschiedener scharfer Kräuter, wie es hier und dort gegen Augenleiden im Volke üblich ist, aussprechen. Es nützt in den seltensten Fällen, führt aber häufig Erkrankungen der Nase herbei.



Blätter und Blüten


Friedrich Helbig †. Den Lesern der früheren Jahrgänge der „Gartenlaube“ ist der Name Friedrich Helbig wohlbekannt. Mit ihm war ja eine Reihe fesselnder Kultur- und zeitgeschichtlicher Artikel gezeichnet. Vor allem war aber Friedrich Helbig durch eine Anzahl von Aufsätzen bekannt geworden, in welchen die traurigen Schicksale der Opfer der irrenden Justiz geschildert wurden und die warm für eine Entschädigung unschuldig Verurteilter eintraten. In den letzten Jahren war Helbigs Name in den Spalten unseres Blattes nicht mehr vertreten, denn ein langwieriges Herz- und Nierenleiden hat leider den einst so regen und arbeitsfreudigen Geist frühzeitig gelähmt. Die Hoffnungen auf allmähliche Genesung haben sich trügerisch erwiesen und am 8. August wurde Friedrich Helbig in Jena vom Tode ereilt. In derselben Stadt erblickte er am 1. Dezember 1832 das Licht der Welt. Er wählte die Rechtswissenschaft zu seinem Beruf, widmete sich aber daneben eifrig kulturgeschichtlichen Studien und war auch dichterisch thätig. Er verfaßte eine Anzahl von Dramen, deren Stoffe er vornehmlich der thüringischen Geschichte entlehnte, und schrieb auch einige Festspiele für Thüringer Jubiläen. Bis zum Jahre 1893 war er als Rat am Landgericht in Gera thätig und siedelte dann nach seiner Vaterstadt Jena über. Seine volkstümliche schriftstellerische Thätigkeit war vom besten Erfolg begleitet und den schönsten Lohn brachte ihm das mannhafte Eintreten für das Los unschuldig Angeklagter und Verurteilter. Helbigs Artikel in der „Gartenlaube“ haben wesentlich zu einer ersprießlichen Lösung jener wichtigen Frage des Gemeinwohls beigetragen. Dieses Verdienst wird auch gegenwärtig von der Tagespresse anerkannt, welche dem Verblichenen den ehrenden Beinamen eines „Anwalts der Unschuldigen“ gegeben hat. Möge er als solcher im dankbaren Andenken der Nachwelt fortleben! *     

Die Makua – ostafrikanische Elefantenjäger. Das Elfenbein ist noch immer der einzige Handelsartikel, den uns das Innere Afrikas zu liefern vermag, und die Elefantenjagd erscheint darum als ein für unsere ostafrikanische Kolonie, deren weite Gebiete der Meeresküste so fern liegen, sehr beachtenswerter Erwerbszweig. Ursprünglich wurde der Dickhäuter mit den kostbaren Zähnen ausschließlich von den Eingeborenen gejagt, und Händler, die von der Küste kamen, handelten[WS 1] das Elfenbein ein oder nahmen es noch öfter den Eingeborenen mit Gewalt weg. Seit Jahren hat sich aber in Ostafrika ein besonderer Stand ausgebildet, der berufsmäßig die Elefantenjagd betreibt. Seyid Saïd, Sultan von Sansibar, sandte schon vor fünfzig Jahren Leute des Negerstammes Makua ins Innere, damit sie der Elefantenjagd oblagen. Später wurden zu diesem Zwecke auch Leute anderer Stämme gewählt, aber man nannte sie wie ihre Vorgänger „Makua“, so daß nunmehr diese Bezeichnung ebensoviel wie Elefantenjäger bedeutet.

Man begegnet den Makua häufig im Innern; sie dringen überall vor, wo Elefanten aufzuspüren sind, sie kennen Weg und Steg, die noch keines Europäers oder Arabers Fuß betreten hat, und sind zu Hause in einer Wildnis, die selbst von den Eingeborenen gemieden wird. Viele von ihnen kommen jahrzehntelang nicht nach der Küste, manche sind sogar im Innern aufgewachsen, alle werden durch das Leben in der Wildnis zu rauhen trotzigen Gesellen.

Dr. Oscar Baumann hat auf seiner im Auftrage des Deutschen Antisklaverei-Komitees ausgeführten Forschungsreise durch den Norden von Deutsch-Ostafrika wiederholt die Makua getroffen, zog auch eine Zeit lang in deren Begleitung dahin. In seinem Reisewerke „Durch Massailand zur Nilquelle“ (Berlin, Dietrich Reimer) entwirft er eine anziehende Schilderung dieser verwegenen Gesellen. In der weltentlegenen Landschaft Meatu an der Grenze von Usukuma hatte ein Halbaraber Munyi Hemedi eine Niederlassung gegründet und sandte seine Jäger hinaus in die weite Steppe zur Verfolgung des edlen Dickhäuters, dessen Zähne ihn in diese Einsamkeit gelockt hatten. Munyi Hemedi hatte schon vom Herannahen der Karawane Baumanns gehört und kam ihr entgegen. In seiner Gesellschaft befand sich eine Schar baumlanger, herkulischer Gestalten in zerfetzter Küstentracht, viele mit weißem Haar, aber kühn blitzenden Augen, das lange Feuerrohr geschultert – die Makua.

Die Ankunft Baumanns erweckte in den Makua den Wandertrieb; sie zwangen Munyi Hemedi, die Niederlassung aufzugeben und anderswo das Glück zu versuchen. Vierzig Mann zogen also mit dem Halb-Araber nach Uduhe ab, zwanzig aber, die von Munyi Hemedi unabhängig waren, gingen für einige Zeit mit Baumann.

„Ich schloß,“ berichtet Baumann, „mit den Makua, welche der Expedition beitraten, einen Vertrag, worin sie sich zu unbedingtem Gehorsam und zu allen Arbeiten bereit erklärten, wofür ich ihnen versprach, für sie eine Niederlassung im elefantenreichen Umbugwe zu gründen. Ich forderte sie dann auf, mir ihr Oberhaupt zu zeigen, worauf die baumlangen Kerle, unter denen sich auch einige grauhaarige befanden, zu meinem Erstaunen einen kleinen hübschen Jungen von etwa 12 Jahren brachten. Es stellte sich heraus, daß sie wirklich alle Sklaven dieses Jungen waren. Obwohl [628] ich also seine Oberherrlichkeit anerkennen mußte, bestimmte ich doch als seinen Stellvertreter den ältesten Jäger Fundi Mazapwa.

Mehr als sechzig Frauen der Makua und deren Kinder folgten gleichfalls der Karawane. Man sollte glauben, daß solcher Troß den Marsch verzögere; das ist jedoch kaum der Fall. Bepackt mit hohen Schachteln, in welchen Mehl und andere Lebensmittel verstaut sind, mit Kochgeschirr und allerlei Hausrat, womöglich noch einen Sprößling auf dem Rücken, marschierten die Weiber tapfer mit. Selbst Kinder liefen im scharfen Tempo der Karawane und wurden, wenn sie müde waren, von ihren kraftvollen Vätern auf die Schulter gehoben. Im Lager war das Walten der Weiber ein höchst wohlthätiges; die ermüdeten Leute konnten ihre Ruhe völlig genießen; denn das Sammeln von Brennholz und Wasserholen, das Mehlmahlen und Kochen, dies alles besorgten die Weiber, während die muntern Kinder durch Spiele und heiteres Wesen Leben in das Bild brachten.“

Wie lange werden noch die Büchsen der Makua durch die weite Steppe knallen und in der tiefen Stille des afrikanischen Urwaldes den donnernden Wiederhall wecken? Die Makua stehen und fallen mit dem Hochwild, zu dessen Ausrottung sie eifrig beitragen. *     

Die Wetterlochhöhlen auf dem Gipfel des Schafbergs. (Zu dem Bilde S. 625.) Hoch über dem blaugrünen Spiegel des St. Wolfgang-Sees, einer der herrlichsten Perlen des Salzkammerguts, erhebt sich der 1780 Meter hohe, imposante, weithin sichtbare Gebirgsstock des Schafbergs mit seiner jäh abfallenden Felswand. Den „österreichischen Rigi“ nennen ihn die Touristen, wegen der umfassenden Rundschau, welche sich oben darbietet. Rastloser Menschengeist baute eine kühne Zahnradbahn dort hinauf, bis in den Wolkensitz des Gipfels. Aber auch dem Innern des altehrwürdigen Berges wurden die Fortschritte der Technik zu teil. Der Unternehmungsgeist begabter Ingenieure erschloß die im Gipfel am südlichen Bergabhange befindlichen „Wetterlochhöhlen“, welche den Bewohnern der Umgegend schon seit vielen Jahren bekannt waren.

Es geht die Sage, daß vor alten Zeiten Leute bis aus Italien herüberkamen, um in diesen Höhlen Gold zu suchen. Im Jahr 1865 wurden dieselben von dem früheren Besitzer des Schafberghotels W. Grömmer und dem Hotelier Paul Peter in St. Wolfgang erforscht, die sich beide angeseilt in den dreißig Meter tiefen Schacht hinabließen. Das gleiche thaten die Ingenieure Stern und Hafferl in Begleitung des Oberingenieurs Himly aus Wien im Jahre 1894, um festzustellen, ob es möglich sei, die höchst interessanten Höhlen dem allgemeinen Besuch zugänglich zu machen. Es war eine schwierige Aufgabe, die aber schließlich von den Genannten mit großen Geldopfern durch einen seitlich in die Höhlen eingesprengten Stollen vorzüglich gelöst wurde.

Am Abhang des Schafberggipfels, kurz vor dessen Eisenbahntunnel, zieht sich der neuangelegte, mit kräftigem Geländer versehene, gefahrlose Weg, welcher eine Fülle landschaftlicher Schönheiten bietet, in rauher alpiner Wildnis und von einer großartigen Gebirgswelt umgeben, zwanzig Minuten entlang. Ein kleines Blockhaus empfängt uns, und der Höhlenwächter „Hansl“, ein hübscher, hochgewachsener Bauernbursche in der malerischen Landestracht, übernimmt die Führung.

Wir steigen den mäßig steilen, mit sehr guten Holzstufen und Geländer versehenen Stollen hinab in die Tiefe und sind in hohem Grade überrascht: elektrisches Licht beleuchtet die nackten Felswände! Je tiefer wir steigen, um so kälter wird die Temperatur, so daß ich mir die erklammten Finger warm reiben mußte, um beim Zeichnen den Bleistift halten zu können.

Endlich sind wir am Fuße des Schachtes. In blauen Tönen, welche an die blaue Grotte in Capri erinnern, schimmert der ernste, felsige Raum, der durch einen schmalen Streifen Tageslicht aus riesiger Höhe magisch beleuchtet wird. Nun überschreiten wir eine hölzerne Ueberbrückung, während der Schacht sich in eine weitere Tiefe von zwanzig Metern verliert, welche aber vollständig mit ewigem Schnee, der sich durch einfallende Lawinen ergänzt, bis zur Brücke gefüllt ist.

Weiter führen Treppen abwärts, die Felswände sind rechts und links von teils noch nicht erforschten, teils noch nicht gangbar gemachten Gängen und Stollen unterbrochen, bis man auf ebenem Wege wieder zu einer Brücke gelangt. Man überschreitet dieselbe, und wie im Sonnenglanze erstrahlt hier die trichterförmig sich ins Ungemessene erhebende sogenannte „Kugelgrotte“, welche unsere Abbildung darstellt und deren Felswände aus hervorragenden, teils überhängenden, phantastisch geformten Felsblöcken bestehen, die stellenweise mit rosenförmigem, weißem Kalksinter bedeckt sind. Eine große Bogenlampe beleuchtet diese wild romantische Grotte. Links über der Treppe wirft in eine portalartige Felsöffnung eine andere Bogenlampe ihr Licht hinein. Feierliche Stille umgiebt uns in dem imposanten unterirdischen Raume! Nur leise mit gleichmäßigen Pausen tropft unterirdisches Sickerwasser von oben herab, gleichmäßig tickend wie der Pendel einer großen Uhr.

Wir gehen weiter und kommen in die kleinere „Beingrotte,“ von den ersten Erforschern so genannt, weil hier eine Menge vorweltlicher Tierknochen vorgefunden wurde. Nun geht es aufwärts. Die Felswände bilden förmliche Spitzbogen, und wir betreten die große „Steingrotte“ mit mächtigem, domartigem Aufbau, zackigen, zerklüfteten Wänden, die sich in nicht mehr sichtbarer Höhe, in immer mehr sich verengendem Schlunde verliert. Ueberwältigend ist auch hier die Wirkung des elektrischen Lichtes zweier Bogenlampen. Seitwärts von der Grotte fällt der „Panznerschacht,“ auch „Teufelshöhle“ genannt, jäh ab. In ungemessener Entfernung blickt man beim grellen Lichte einer unten hängenden Bogenlampe in den schauerlich tiefen, endlosen Felsschlund hinab.

Neue Höhlen und Grotten mit Tropfsteinbildungen sind bereits inzwischen entdeckt. Die jetzt zugänglichen Höhlen, deren Richtung von Süd nach Nord läuft, sollen in nächster Zeit nach der vom Schafberg in senkrechter Richtung abfallenden 200 Meter hohen Nordwand weitergeführt werden. Die Wand wird dann durchbrochen und hier eine Balustrade errichtet, so daß die Besucher über sich die riesige, senkrecht emporragende Felswand haben werden und vor sich eine entzückende, lachende Aussicht über die üppigen, grünen Wiesen der Eismauer-Alpe, den Grünsee und tief unten den Mondsee und den Attersee.

Und fahren die Züge der Zahnradbahn jetzt schon alljährlich an die 50 000 lebensfrohe Menschenkinder hinauf zu der herrlichen Aussicht des Schafberggipfels und zu den schauerlichen Tiefen der Wetterlochhöhlen, so wird dann die Schar sich verdoppeln und Ruhm und Preis jener Wunderwelt hinaustragen in alle Lande! Robert Aßmus.     

Vom Hitzschlag der Fische. Auch Fische, die in der kühlen Flut wohnen, können vom Hitzschlag bedroht werden. Dies geschieht in der heißen Sommerzeit, wenn unsere Gewässer, namentlich aber die Teiche, übermäßig erwärmt werden. Dann stellt sich zuweilen ein großes Fischsterben ein. Wiederholt hat man untersucht, welche Wärmegrade unsere Fische aushalten können. Es hat sich dabei ergeben, daß die Empfindlichkeit einzelner Arten verschieden ist. Von unseren deutschen Fischen sind nach Untersuchungen von Dr. Karl Knauthe die Forellen am empfindlichsten. Junge Forellen gehen schon zu Grunde, wenn das Wasser eine Temperatur von 26° C hat, ältere sind etwas widerstandsfähiger, sterben aber in einem 27° C warmen Wasser bald ab. Andere Fischarten können Wassertemperaturen von 30° C bis 37° C während mehrerer Stunden ertragen, gehen aber zu Grunde, wenn sie keine Gelegenheit zur Abkühlung finden. In der Nähe warmer Quellen scheinen Fische sich an höhere Temperaturen gewöhnt zu haben. In der Regel aber haben dieselben auch in solchen Gewässern Gelegenheit, kühlere Stellen aufzusuchen. *     

Privatvorstellung. (Zu dem Bilde S. 621.) Auch Cirkuskinder haben ihre Freundschaften, schnell geschlossene, baldigst wieder gelöste Bündnisse, aber reizvoll für beide Teile durch das Bestaunen unerhörter Kunststücke und die dafür eingeheimste Bewunderung. Unser kleiner „Artist“ hier hat sich vor Beginn der Vorstellung fortgestohlen, um in einem sichern Winkel den Spielgenossen von der Straße einen Begriff seiner Wunderleistungen beizubringen, und er darf mit der Wirkung auf sein Publikum zufrieden sein: selbst in der Seele des auf der Kiste reitenden Honoratiorensohnes keimt in diesem Augenblick der von sämtlichen Straßenbuben geteilte Gedanke: daß es doch ein Herrliches sein müsse, Pfauenfedern auf der Nase frei zu balancieren und sich im übrigen der goldensten Ungebundenheit zu erfreuen, ohne Schule und Hausaufgaben! Sie ahnen nicht, die glücklicheren Jungen, welchen rauhen Weg der „Artist“ von Jugend an zu gehen hat. Bn.     


Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge und Illustrationen dieser Nr. – z. Zt. nicht dargestellt.]



[ Verlagswerbung für den Gartenlaube-Kalender 1897. ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. 0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 37. 1896.



Zur Verlobung in Cetinje. In der Hauptstadt Montenegros, in dem etwa 2500 Einwohner zählenden Cetinje, hat sich am 18. August der Schlußakt eines Romans abgespielt, der die gesamte Welt interessiert. Ist doch der Held derselben ein Prinz und die Heldin eine Prinzessin, und beide sind berufen, dereinst in Rom die Königs- und Königinkrone zu tragen. Dem Fürsten Nikola I. von Montenegro hat seine Gemahlin Milena im Laufe der Jahre zehn Kinder, drei Söhne und sieben Töchter, geschenkt. Eine dieser Prinzessinnen, Zorka, die inzwischen gestorben ist, heiratete im Jahre 1885 Peter Karadjordjewitsch aus dem serbischen Fürstengeschlechte, zwei andere vermählten sich mit russischen Großfürsten und zwar Prinzessin Militza mit dem russischen Großfürsten Peter Nikolajewitsch und Prinzessin Stana mit dem Herzog Georg von Leuchtenberg. Ein noch höheres Los sollte indessen der viertältesten Tochter, der Prinzessin Helene, beschieden sein, die am 8. Januar 1873 in Cetinje das Licht der Welt erblickt hat. Diese Prinzessin gilt als eine hervorragende Schönheit, man rühmt ihren herrlichen Wuchs, ihre tiefschwarzen Augen und ihr prachtvolles schwarzes Haar, aber noch mehr preist man ihre Herzensgüte, die sie bei allen möglichen Bitt- und Gnadengesuchen zur Vermittlerin zwischen dem Volk und ihrem fürstlichen Vater gemacht hat. Nicht minder hervorragend ist ihre Bildung, zu der eine deutschschweizerische Lehrerin den Grund gelegt hat und die in dem adeligen Damenstift zu Petersburg vervollständigt wurde. Als Montenegrinerin versteht die Prinzessin trefflich zu reiten und zu schießen, aber sie hat auch künstlerische Neigungen, sie spielt nicht nur Klavier und Violine, sondern ist auch geschickt in der Malerei! Die Kunst blüht ja am Hofe von Montenegro, ist doch Fürst Nikola selbst ein Dichter, der unter anderem auch ein Drama, die „Kaiserin vom Balkan“, geschrieben hat.

Kronprinz Viktor Emanuel von Italien und seine Braut,
Prinzessin Helene von Montenegro.

Es war im vorigen Jahre, daß Prinzessin Helene, da sie mit ihrer Mutter die Kunstausstellung in Venedig besuchte, in persönliche Beziehungen zu dem italienischen Königshause trat. Sie erregte damals Aufsehen und wurde vom König Humbert ausgezeichnet. Während der Krönungsfeste in Moskau traf sie mit dem italienischen Thronfolger, Viktor Emanuel, Prinz von Neapel, zusammen. Dort bei den rauschenden Festen lernten sich die beiden näher kennen und schlossen den Herzensbund. Viktor Emanuel wnrde am 11. November 1869 zu Neapel geboren, ist also etwa drei Jahre älter als die Prinzessin. Das glückliche Liebespaar hatte keine Schwierigkeiten zu überwinden; dem allgemeinen Fürstenbrauche folgend, erklärte sich Prinzessin Helene bereit, vom griechisch-orthodoxen Glauben zu dem ihres künftigen Gemahls, zum katholischen, überzutreten. Am 17. August erschien der Prinz von Neapel in Cetinje und wurde jubelnd von den Tschernagorzen in ihrer bunten Nationaltracht empfangen. Tags darauf erfolgte in Cetinje und Rom die öffentliche Bekanntmachung der Verlobung.

Ein neuer Dampfer auf Rädern. In dem Artikel „Eildampfer der Zukunft“ (vergl. Gartenlaube, Jahrgang 1895, S. 660) haben wir bereits auf ein Projekt des französischen Ingenieurs Ernst Bazin hingewiesen. Derselbe trat mit der Ansicht hervor, daß Schiffe, die sich auf Rädern bewegen, eine größere Geschwindigkeit erreichen müssen als unsere bisher üblichen Schiffe mit Rumpf und Kiel. Bazin verstand, für seine Ideen einige Kapitalisten zu begeistern, und ist neuerdings in die Lage gekommen, ein derartiges Rollschiff zu bauen, das am 19. August in St. Denis auf der Seine vom Stapel gelassen wurde. Wie unsere Abbildung zeigt, bildet das neue Schiff eine Art Wasserwagens. Eine 38,5 m lange und 12 in breite Plattform ruht auf sechs Rädern. Jedes der letzteren hat einen Durchmesser von 10 m, ist linsenförmig gewölbt und erreicht an den breitesten Stellen eine Dicke von 3,6 m. Auf der Plattform werden Maschinen sowie Räume für Passagiere und Waren untergebracht. Die Räder tauchen nur 3,3 m ins Wasser, so daß die Plattform nirgends die Wasserfläche berührt. Die drei Räderpaare werden durch Dampfmaschinen von je 50 Pferdestärken in Umdrehung versetzt, außerdem ist zum Vorwärtstreiben des Fahrzeugs an dessen hinterem Ende eine Schraube angebracht, die von einer Maschine von 550 Pferdestärken bewegt wird. Bazin behauptet, daß sein Schiff im Vergleich zu den alten Schiffen weniger Reibung auf dem Wasser erzeugt, und darum rascher vorwärts kommen wird. Die Schnelligkeit soll von der Größe der Räder abhängen. Der von uns abgebildete Dampfer wird voraussichtlich in der Stunde 18 bis 20 Seemeilen zurücklegen; mit Rädern von 22 m Durchmesser soll aber die Geschwindigkeit auf 32 Seemeilen gesteigert werden können, wobei der Kohlenverbrauch verhältnismäßig gering sein würde.

Ein neuer Dampfer auf Rädern.

Das Bazinsche Probeschiff wird in Rouen seine Maschinen erhalten und dann im Kanal mehrere Probefahrten machen. Es wird sich also schon in den nächsten Monaten zeigen, ob die Berechnungen des Erfinders zutreffen und sein Modell berufen ist, alle bisherigen Eildampfer zu verdrängen.

[628 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: handelteten