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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 38.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.


1.

„Lisbeth, putze doch noch den Kronleuchter blank, die Bronze sieht so blind aus! Was machst Du eigentlich jetzt da drinnen?“

„Ich reibe das Parkett auf, Mama,“ klang es durch die halbgeöffnete Thür zurück, „bin aber gleich fertig.“

„Schön,“ sagte die Frau Geheimrätin, „wir müssen uns auch eilen. Es ist schon elf Uhr. Papa wird bald zum Frühstück heraufkommen.“

„Der Frühstückstisch ist gedeckt und das Beefsteak für ihn steht hergerichtet. Sobald er sichtbar wird, kommt es schnell in die Pfanne. Ist Elfriede noch nicht aufgestanden?“

„O ja – aufgestanden wohl,“ antwortete die Mutter, stieg von der Trittleiter hinunter, auf der sie bis dahin gestanden, um leichter die hohe breitästige Palme, welche die Mitte des Blumentisches einnahm, abstäuben zu können, und guckte hinter die Gardine, welche in schweren Falten den Erker einrahmte.

„Du Faulpelz!“ sagte sie mit einem mehr zärtlichen als verweisenden Ton zu dem jungen Mädchen, welches aus der langhaarigen weißen Felldecke eines kleinen Diwans heraus in völligster Gemütsruhe die eifrige Mama anschaute, ohne ihre Stellung zu verändern. „Du Faulpelz, eben erst dem Bette entschlüpft, pflegst Du Dich nun hier weiter und wir müssen uns plagen!“

„Warum plagt ihr euch?“ kam es zurück, „dazu sind doch Dienstboten auf der Welt,“ und das Fräulein dehnte sich noch ein wenig, legte den Arm, von dem der weite Aermel des Morgenkleides zurückfiel, über den Kopf und senkte die langen Wimpern über die Augen, als beabsichtigte sie wirklich den Morgenschlaf hier fortzusetzen.

Die Mutter bestrebte sich, ein mißbilligendes Gesicht zu machen, dabei war sie aber von dem Anblick des jungen Geschöpfes so entzückt, daß die begonnene Strafpredigt in Vergessenheit geriet. Wie ein zierliches Kätzchen lag die Kleine hingeschmiegt: das dunkle Köpfchen hob sich reizend von dem silbergrauen Angorafell ab, ein himmelblaues Flanellkleid mit gelblichen Spitzen umfloß den schlanken Körper des Mädchens, dessen achtlos anmutige Stellung jedem Künstler zur Augenweide hätte dienen können. Warum mußte sie, die beglückte Mutter, allein den Anblick von so viel holdem Liebreiz genießen! Sie hätte ihn am liebsten mit aller Welt geteilt.

„Dienstboten!“ nahm sie nun endlich das letzte Wort auf, „ich möchte wohl wissen, wie weit die alte Hanne allein mit der großen Wohnung käme, wenn ich und Lisbeth es machten wie Du, faules Mädel!“

„Nun, das weiß ich sicher, ich an Deiner Stelle, Mama, thät’s nicht.“

„Du bist ein kindisches Geschöpf,“ ereiferte sich jetzt die Mama, „wenn ich das nicht dächte, würde

Erster Versuch.
Nach dem Gemälde von J. F. Engel.

[630] ich Dir ein solches Gerede ernsthaft übelnehmen. Es ist wirklich hohe Zeit, daß man Dich zum Mitanfassen bringt. Wie soll ich es denn sonst machen? Unsere Position in der Gesellschaft verlangt einen gewissen Aufwand, Papas amtliche Stellung eine derselben entsprechende Repräsentation.“

„Provinzial-Steuer-Direktor – Geheimer Oberfinanzrat,“ unterbrach sie die junge Dame mit leicht maskiertem Gähnen.

„Nun ja,“ sagte die Mutter, „mithin als Vorstand einer hohen Behörde eine der ersten Spitzen des Beamtentums und der gesellschaftlichen Kreise dieser Stadt. Man sagt immer, ohne Vermögen sei solche Stellung nicht auszufüllen. Nun – wir geben den Gegenbeweis, dafür müssen wir uns freilich im Hause einrichten.“

Fräulein Elfriede hatte sich langsam erhoben und war der Mutter in das anstoßende Zimmer gefolgt. Dort ergriff sie lässig eine Vase mit künstlichen Blumen und begann, die in Unordnung geratenen großen Mohn- und Sonnenblumen wieder zur schönen Wirkung zu ordnen. Dabei sagte sie rückwärts gewendet:

„Lisbeth sagt immer, Du gehst zu weit mit Deiner Hausfrauentugend, Mama, Du gäbest zu viel aufs Aeußere, man könnte es sonst viel behaglicher haben.“

„Ach, Lisbeth,“ meinte die Mutter zurück, mit einer leicht hörbaren Geringschätzung im Ton, „die hat eben gar kein Standesbewußtsein. Bei ihr habe ich’s von Anfang an dadurch versehen, das; ich sie ihren Umgang nach eigenem Belieben wählen ließ. Bei Dir habe ich’s klüger angefangen und Du bist gewiß froh darüber, daß alles einen feinen und vornehmen Anstrich in unserem Hause hat. Nicht wahr, Du möchtest es nicht anders haben?“

„Nein, Mama, ich könnte mir meine Umgebung auch gar nicht anders denken. Aber das müßte sich doch auch vereinigen lassen mit einem bequemen und behaglichen Leben für die Hausfrau.“

„O gewiß,“ lächelte die-Mutter, „Du mußt nur dazu klüger wählen, als ich gewählt habe.“

„Was heißt das?“

„Sehr einfach – Du mußt einen reichen Mann heiraten.“

Ein Zug, der gar nicht zu diesem kindlichen Gesicht paßte, erschien plötzlich darauf. „Das versteht sich für mich von selbst.“

„Wie gut,“ meinte bedeutsam die Frau Geheimrätin, „daß es Dir vom Schicksal so leicht gemacht wird, den Traum zur Wirklichkeit werden zu lassen.“

Aus dem Saal, in dem sie bis jetzt gearbeitet hatte, trat nun Lisbeth, die Bohnerbürste und das Staubtuch noch in der Hand.

„Eben kommt Papa,“ sagte sie, „möchtest Du ihm nicht beim Frühstück Gesellschaft leisten, Mama? Was dann noch zu thun bleibt, besorge ich schon.“

„Gewiß, Lisbeth,“ antwortete die Mutter, streifte schnell die Handschuhe, die sie bei der Arbeit an den Händen getragen hatte, ab, zog die Wirtschaftsschürze aus und ging mit freundlichem Lächeln ihrem Gatten entgegen, der, ins Zimmer tretend, den Seinen liebevoll zunickte.

„Na, Kleine, wie lange haben wir denn heute wieder in den Federn gelegen?“ fragte er sein Töchterchen, das von der kleinen Arbeit schon längst wieder im Lehnstuhl ausruhte. Sie sprang auf, ihm entgegen; er zog sie einen Augenblick zu sich heran, drückte ihr Köpfchen an seine Brust und wandte sich dann zu Lisbeth:

„Ich habe Dir da eine Arbeit in Dein Zimmer gelegt, wir sprechen hernach noch darüber. – Und jetzt mein Frühstück, bitte! Er gab seiner Frau den Arm und trat mit ihr und Elfriede in das benachbarte Speisezimmer, wo ein zierlich gedeckter Tisch sie erwartete. Wie alltäglich sorgte die gute Hausmutter nun für die kleinen Bedürfnisse ihres Gatten beim Essen und saß dann, mit einer Arbeit in der Hand, behaglich an seiner Seite.

„Höre einmal, Frauchen,“ begann der Geheimrat, während er sein erstes Ei aufschlug, „ich möchte Dir heute Schmidt erst um ein Uhr herauf schicken. Es ist so viel zu thun, Stöße von Akten liegen ungeheftet, es geht kaum anders. Schließlich gehört der Bote doch zuerst ins Bureau.“

„Liebster Mann, das ist unmöglich – ich wollte Dich gerade bitten, daß Schmidt vor zwölf Uhr herauf kommt. Wenn es sich nur um das Heften von Akten handelt, kann er sie ja herauf bringen und im Dienerzimmer daran arbeiten, nachmittags hilft ihm dann Lisbeth. Wir haben heute die Visite des neuen Obersten vom Kürassierregiment zu erwarten – Du willst doch nicht, daß Hanne ihnen aufmacht?“

„Nein,“ sagte kurz der Herr Geheime Oberfinanzrat, „dann muß es sein. Aber woher weißt Du es so bestimmt, daß sie gerade heute kommen?“

„Ich sprach gestern im Theater die Frau Rittmeister Fromm. Sie erzählte, daß Giersbachs mit ihren Besuchen beim Militär fertig seien und heute mit denen beim Civil beginnen. Da ist es bald ausgerechnet, daß sie um halb ein Uhr etwa hier sind. Sie fahren natürlich zuerst zum Oberpräsidenten, die Excellenz nimmt nie an, dann zum Regierungspräsidenten, da sind die Damen noch verreist, dann also zu uns.“

„Ja, aber warum willst Du sie denn annehmen, wenn es so gegen die Gepflogenheit ist?“

„Ich habe es mir überlegt, Erich, es paßt nach vielen Seiten hin besser, und – ich denke, ich darf es mir erlauben, auch einmal den Ton anzugeben.“

Ihr Mann sah sie fragend an.

„Es gefällt mir gar nicht,“ fuhr sie fort, „daß man bei der ersten Visite nicht angenommen wird. Wenigstens wir Spitzen untereinander sollten endlich von dieser Sitte absehen. Es ist doch nötig, daß man gleich etwas Fühlung miteinander bekommt, und nehmen wir sie nicht an, so können sie es doch auch nicht gut – so gehen Wochen hin, ehe man den neuen Kommandeur des Regiments kennenlernt. Und dann noch eins: Frau von Giersbach müßte doch, wenn eine Einladung von uns an sie kommt, abermals einen Besuch hier machen – kann ich wissen, ob das für uns so paßt? Vielleicht ist Schmidt nicht da, oder die Zimmer sind nicht geheizt und erleuchtet – und dann macht sich unsere neue Saloneinrichtung am Tage so viel schöner. Oeffne nun die Flügelthüren, Lisbeth; nicht wahr, Erich, es ist wunderschön bei uns, und wer so aus der Mietwohnung kommt, dem imponiert das immer mächtig.“

„Na, dann will ich Dir also den Schmidt schicken, Käthchen.“

„Kinder,“ wandte sich die Mutter an die beiden Mädchen, „macht schnell Toilette! – Elfchen, Du ziehst das weiße Kleid an.“

„Wo ist denn Leo?“ fragte der Vater im Gehen, „ich habe den Jungen seit gestern mittag nicht zu Gesicht bekommen.“

„Doch wohl in seinem Zimmer,“ kam die Frau Geheimrätin der Antwort ihrer Töchter zuvor. „Als ich um sieben Uhr ihm den Kaffee hinein brachte, saß er schon bei den Büchern.“

„Du, Liesel,“ flüsterte Elfe der Schwester zu, „als ich vor einer Stunde hier im Vorsaal die Ehre einer Begegnung mit ihm hatte, kehrte er schon von einem Spaziergange heim.“

Lisbeth seufzte ein wenig, ging über den Flur nach ihres Bruders Zimmer, und als dann auf ihr Klopfen kein Ruf ertönte, öffnete sie die Thür und schaute hinein.

„Natürlich, wieder fort,“ sagte sie leise und sorgenvoll vor sich hin, „nun frühstückt er wieder auswärts, kommt mit unfreiem Kopf nach Hause und hat später das Mittagsschläfchen gerade beendet, wenn er es an der Zeit findet, zum Abendschoppen auszugehen. Wie soll das nur werden? Ob ich’s nicht doch Papa sage – es wäre doch nur zu seinem Besten.“

Sie stand noch in unruhigem Sinnen, als die Mutter sich ihr näherte.

„Du bist’s, Lisbeth? – Sage nur Papa nichts davon, daß Leo fortgegangen ist. Er hatte eine notwendige Besorgung und –“

„Mama, Du solltest Leos Faulheit wirklich nicht immer beschönigen. Es wäre recht gut, wenn Papa ihm einmal ordentlich den Kopf wüsche. In wenigen Wochen soll er nach Berlin zum Examen – wie kann das enden, wenn er diese Zeit so wenig benutzt!“

„Ich begreife Dich nicht! Arbeitet er noch nicht genug? Immer kann doch solch’ ein junger Mensch nicht bei den Büchern sitzen. Er ist außerdem so gescheit, so vorzüglich beanlagt und – Papas Sohn, der wird doch wohl das Examen machen, auch ohne daß er sich krank studiert. Mache mir ja zu Papa nicht solche Bemerkungen, er kann es weniger ermessen, wie ungerecht Dein Urteil ist, und macht sich dann unnütze Sorgen.“

Es räusperte sich jemand auf dem Küchenvorplatz, die Frau Geheimrätin wandte sich schnell nach vorn. Ein älterer Mann stand in ehrerbietiger Haltung vor ihr und sah sie fragend an: der Herr Geheimrat hätte gemeint, er solle heute auch diese Stunden im Bureau arbeiten – ob die gnädige Frau damit einverstanden sei.

[631] „Nein, Schmidt, durchaus nicht; Sie müssen hier bleiben. Ich habe es mit dem Herrn Geheimrat schon abgemacht. Ziehen Sie nur schnell die Livree an, wir haben bald Visiten zu erwarten.“

Sie eilte nun in ihr Ankleidezimmer, und als sie eine halbe Stunde später in einfacher aber elegant sitzender schwarzer Seidenrobe in den Salon trat, fand sie Lisbeth schon vor, die gleichfalls in modischer und gefälliger Toilette war.

„Hast Du nach der Küche gesehen, Lisbeth? Hanne ist mit den Hasen beschäftigt, da bleibt ihr wenig Zeit für das Mittagessen.“

„Die Hasen? Sollten die nicht erst zu morgen sein?“

„Ja, aber nun wir Gäste haben, essen wir sie heute abend.“

„Gäste? Wer kommt denn?“

„Groß und Walden haben sich angemeldet.“

„Walden schon wieder? Was heißt das nur?“

Die Frau Geheimrätin zuckte die Achseln und lächelte. „Wir müssen hier doch wohl einen Magnet haben, der ihn anzieht.“

Lisbeth sah sie verständnislos an; in dem Augenblick trat die jüngere Schwester ins Zimmer, in dem weißen Kleide in der That noch schöner, noch pikanter und reizender als vorher. Lisbeth blickte sie zärtlich an, sah unwillkürlich zur Mutter hin und las in ihren Augen die Fortsetzung ihrer letzten Worte. „Um Gottes willen!“ rief sie erschreckt, aber die Frau Geheimrätin legte sehr energisch den Finger auf den Mund – „stillgeschwiegen“ las sie gleichzeitig in ihren Blicken.

Da trat der Diener ein, auf einem silbernen Teller mehrere Visitenkarten überreichend.

„Ich lasse bitten,“ sagte die Frau des Hauses – und leiser fügte sie hinzu: „benachrichtigen Sie hernach schnell den Herrn Geheimrat und den jungen Herrn.“

Eine kleine erwartungsvolle Pause, dann begrüßte man die Neuangekommenen. Der Oberst war ein älterer aber noch sehr stattlicher Herr, der immer in einem gewissen poltrigen Ton redete, seine Gattin viel jünger und, wie es schien, etwas verängstigt durch seine Art, und dann das Töchterchen, so klein und zierlich, so rosig, zart und blond, wie ein Rokokofigürchen anzusehen.

Man ging durch den Salon in den Saal, und die Frau Geheimrätin hatte die Freude, daß ihre Gäste sofort die herrlichen Räume bewunderten und Frau von Giersbach bei der Frage nach der hier von ihnen bezogenen Wohnung über den Vergleich einen leisen Seufzer ausstieß. –

Nun kam auch der Geheimrat – eine neue Begrüßung erfolgte, man setzte sich wieder, und kaum hatte ein Gespräch über die Sitten und Gewohnheiten der hiesigen Gesellschaftskreise begonnen, als etwas sehr geräuschvoll aber mit den gewandtesten und elegantesten Allüren ein junger Mann in den Saal trat.

„Mein Sohn Leo,“ sagte der Geheimrat, „Referendar bei der hiesigen Regierung,“ und über sein Gesicht flog, schwer unterdrückt, der Ausdruck väterlichen Stolzes.

Auch auf dem Antlitze jedes der drei Gäste las man den gleichen Gedanken: welch’ ein schöner Mensch! – und auf dem der Frau von Giersbach noch klarer ausgeprägt den: welch’ eine schöne Familie! – Unwillkürlich flogen ihre Blicke von einem zum anderen: die Mutter mochte wohl in ihrer Jugend ebenso ausgesehen haben wie diese entzückende Elfe, und dieses blonde, große, schlanke Mädchen war ja ganz des Vaters Ebenbild, während der Sohn mit dem schönen, dunkeln, feingeschnittenen Kopf der Mutter und mit der schlanken, hochragenden Gestalt dem Vater nachgeartet war. Er hatte, nachdem er sich im Kreise umgesehen, mit einer geradezu überraschenden Wendung seinen Stuhl neben Fräulein von Giersbach geschoben und plauderte nun so lebhaft mit ihr, daß der Herr Oberst ein Mal über das andere Mal verwundert seine Blicke dorthin richtete, wo man jedoch von diesem Zeichen der Mißbilligung gar keine Notiz zu nehmen schien.

Die Damen auf dem Sofa waren auch viel eingehender in ihrer Unterhaltung geworden, als dieses sonst bei der ersten Visite zu sein pflegt. Die Frau Oberst fragte, die Frau Geheimrätin gab Auskunft und verstand es sehr gut, so anspruchslos sie that, ihre Stellung und ihre Bedeutung in der Gesellschaft ins rechte Licht zu setzen. Doch während sie sehr ernsthaft über allerhand Verhältnisse „in unseren Kreisen“ sprach, verfolgte sie die ganze Zeit über der eine Gedanke: die macht Visite im Schleppkleide – ist das in Berlin jetzt üblich? und wie arrangiere ich dann danach meine Toilette?

Endlich brach man auf. Der Oberst schlug vor jeder der Damen sporenklirrend die Hacken zusammen und verneigte sich tief und tiefer. Frau von Giersbach reichte jedem freundlich die Hand und flüsterte der Frau des Hauses allerlei Schmeichelhaftes zu, und das kleine Fräulein Annie errötete immer und immer wieder, denn jetzt besann sie sich erst, daß sie über der fesselnden Unterhaltung, die der Sohn ihr bot, mit den Damen kein Wort gewechselt hatte. Sie versuchte es noch im letzten Augenblick auszugleichen, aber er wich nicht von ihrer Seite.

[„]Gnädiges Fräulein, der erste Tanz beim ersten Ball im ,Klub’, ich bitte inständig um die Zusage!“

Sie sah ihn ängstlich an und unsicher auf ihre Umgebung. „Ich weiß wirklich nicht –“

Der Herr Referendar war gar nicht unsicher. „Verehrter Herr Oberst, gnädigste Frau Sie werden doch dem ,Klub’ die Ehre erzeigen, den ersten Ball dort zu besuchen?“

Fräulein Annie, feuerrot im Gesicht, schaute zweifelnd auf den Vater und unendlich bittend die Mutter an.

„Nun, mein werter Herr Referendar, da möchte ich mir die Entscheidung doch noch vorbehalten.“

Jetzt mischte sich das geheimrätliche Ehepaar ins Gespräch und versicherte, das ginge doch gar nicht anders, man würde es zu sehr beklagen, bei der ersten Winterveranstaltung einer Gesellschaft, zu der sie alle gehörten, den Kommandeur des Kavallerieregiments zu vermissen, und sogar seine Gattin gewann den Mut, ihm zuzureden: „Wir haben doch nun eine erwachsene Tochter, Männchen, und müssen deren Jugend wohl einige Konzessionen machen.“

Kurz, nachdem er Einiges undeutlich gebrummt hatte, entschied er: „Wir wollen sehen – wollen sehen!“

Der Herr Referendar strahlte über seinen Sieg und verbeugte sich tief vor der kleinen Dame.

„Ich nehme dies als Ihre Zusage, gnädigstes Fräulein.“

Sie errötete und erblaßte und errötete noch einmal.

„Ich freue mich so sehr darauf, wenn es doch ein Walzer wäre –“ und hinaus war sie und schneller die Treppe hinunter, als Schmidt ihr folgen konnte, der dann aber doch vom Wagen aus noch einen ganz warmen Blick von ihr erhielt.

„Ist das einmal eine angenehme Familie!“ sagte die Frau Oberst zu ihrem Gatten, als sie davon rollten, „ich freue mich recht dieser Bekanntschaft. Wie schön alles da ist: die Menschen und die Räume und die Einrichtung.“

„Ja,“ bestätigte der Oberst, „es war alles sehr schön. Das Gebäude ist prächtig, da ist es leicht, solche imposante Dienstwohnung zu schaffen. – Ja, für solche Bauten ist immer Geld da. Unsereiner muß sich in Mietwohnungen herumstoßen.“

„Es sind gewiß sehr reiche Leute, diese Geheimrat Brückners,“ meinte Frau von Giersbach wieder, „was für eine prachtvolle Saloneinrichtung! Ueberhaupt macht alles solchen gediegenen, soliden Eindruck. Schon der alte Diener in der geschmackvollen Livree – wenn ich dagegen an unsere ewig anzulernenden Bauernburschen denke! Ja, die Civilbeamten haben es doch gut.“

„Ich bin auch sehr für Civil,“ mischte sich jetzt Fräulein Annie in die Unterhaltung.

„Was hast Du für Civil zu sein, Du Kick-in-die-Welt!“ polterte der Alte sie an, daß sie, über die eigene Dreistigkeit erschreckt, zusammenfuhr, während er amüsiert ihre Verlegenheit beobachtete.

Droben in den eben verlassenen Räumen gab es inzwischen einen kleinen Sturm. Mama Brückner ärgerte sich zu sehr über ihren Sohn, und da er pfeifend auf und ab schritt und gar nicht zu ahnen schien, wie sehr und womit er ihren Zorn gereizt hatte, brach sie endlich damit hervor: „Du könntest auch etwas Besseres thun, als Dich sofort bei dem Baby als Courmacher aufzuspielen,“ sagte sie, vor ihm stehen bleibend, da er sich nun in die Sofaecke geworfen hatte.

„Ein süßer, kleiner Fratz, nicht wahr, Mama? Es machte mir riesigen Spaß, wie sie bei jedem Wort erglühte – hernach, wie sie erst so ordentlich im Zuge war, genügte schon ein Blick, und das Blut stieg ihr bis unter die blonden Stirnlöckchen.“

„Du bist ein ganz frivoler Mensch mit Deinem ewigen Süßholzraspeln!“ schalt sie weiter. „Sieh Dir doch wenigstens die an, denen Du das anbietest. Mit diesem alten brummigen Oberst ist nicht zu spaßen, wir kommen noch in des Teufels Küche durch Deine Keckheit. Was sollte das nur wieder mit dem Tanz? Wenn das erst Grimms hören, Du verscherzest Dir noch alle Aussichten durch Deinen Leichtsinn.“

Der Herr Referendar lachte laut auf, und der Geheimrat, der in der anderen Sofaecke lehnte und schweigend den Reden seiner Frau zugehört hatte, verlor seine Gleichgültigkeit.

[632] „Grimms? – was ist’s mit Grimms?“ fragte er.

Leo lachte noch immer.

„Das weißt Du noch nicht, Papa? Nun, Fräulein Dora Grimm ist die zukünftige Schwiegertochter unserer Mama!“

„Schwiegertochter? – Leo – Du –? – Und davon hörte ich bis jetzt nichts?“

„Ich weiß ja auch nichts weiter, Papa, und bin zunächst ganz unbeteiligt dabei. Besagte junge Dame ist mir eben von Mama zu diesem Ehrenamt ausersehen.“

„Ach, Du dummer Junge,“ lachte nun jene, „thu’ doch nicht so! Sein Hofmachen,“ fuhr sie zu ihrem Gatten gewendet fort, „wird da eben sehr freundlich aufgenommen, wie ich mit eigenen Augen sehe, und ich denke, er sollte nichts thun, sich das zu verscherzen.“

„O, über diese sorgsame Mutter! Höre einmal, Papa, sie hat es auch herausgebracht, daß Fräulein Olga Grimm, die älteste Schwester ihrer Schwiegertochter, eine halbe Million Mark zur Mitgift bekommen hat; das reizt sie so, daß sie sogar diesen ihren einzigen Sohn dafür losschlagen will.“

„Na, eine halbe Million ist ein Posten“, meinte der Geheimrat, in den Scherz einstimmend, „damit wärest Du am Ende über und über bezahlt. Aber bedenk’s Dir nur, Mamachen, der Heiratsthaler hatte schon in unserer Jugend nur fünf Silbergroschen, und danach hat die erheiratete Mark heutzutage sicher nur fünf Pfennige.“

Er lachte lustig und sein Sohn stimmte ein.

„Lacht nur!“ sagte die Mutter, wieder ganz ernst geworden, „es ist in der That Zeit, daß ich mich darum kümmere. Schließlich seid ihr verwöhnten Kinder doch alle darauf angewiesen. Kannst Du von Deinem Assessorengehalt eine Frau ernähren oder Dich auch nur selbst? Ich möchte Dir diese Erkenntnis und etwas Zielbewußtsein beibringen, dann kämen solche dummen Geschichten, wie die eben mit dem blonden Baby, nicht vor.“

„O weh – o weh – das Gewitter zieht noch einmal auf – ich rette mich!“ rief Leo mit munterem Ton aber mißvergnügtem Gesicht und lief eiligst zur Thür hinaus.

Während der Vater nun mit Lisbeth eine private Geschäftsangelegenheit besprach, folgte die Geheimrätin ihrem Sohn in sein Zimmer, setzte sich dort neben ihn auf das Sofa, und nachdem sie einige Fragen wegen seiner demnächst bevorstehenden Abreise an ihn gerichtet hatte, sagte sie plötzlich: „Du solltest wirklich verständig sein, Leo, und die Sache mit Dora Grimm perfekt werden lassen, ehe Du nach Berlin gehst.“

„Aber Mama, ich bitte Dich, wie kommst Du darauf?!“ meinte Leo unwillig, „ich habe nicht im entferntesten die Absicht, mich jetzt schon zu binden.“

„Und wenn Dir jemand zuvorkäme, Leo? Du solltest das wohl bedenken. Sie ist ohne Frage ein sehr reizendes Mädchen.“

Er pfiff plötzlich einen Gassenhauer vor sich hin.

„Eine kleine widerborstige Kröte ist sie,“ sagte er.

„Nun, die Widerspenstigkeit läßt sich bei einem Mädchen leicht zähmen, das so verliebt in den Mann ist wie sie in Dich“ - er lächelte geschmeichelt – „was hast Du denn sonst gegen sie?“

„O - weiter nichts, als daß sie nur ziemlich gleichgültig ist und ich ihr meine Freiheit noch nicht opfern möchte.“

Die Mutter zuckte die Achseln. „Solcher Unsinn! – Freiheit opfern – Du bist mir der Rechte!“

„Ich möchte erst einmal mein Leben genießen, wenn die dumme Examensgeschichte vorbei ist, und wie sich das mit der Bräutigamsstellung verträgt, das weiß man.“

„Leo, wie kannst Du so reden! Denken darf man so etwas allenfalls, aber aussprechen“ – sie machte eine geringschätzende Bewegung. „Gut, daß Papa Dich nicht hörte; ich weiß auch nicht recht, wie Du Dir das mit dem Lebensgenuß vorstellst, bei so beschränkten Mitteln. Hoffentlich überlegst Du es Dir mit Dora Grimm noch anders. Da ist wirklich solider Reichtum, und Du würdest Deine Zugehörigkeit zu solcher Familie wohl bald merken. Zumal jetzt in Berlin, meine ich, könnte Dir das recht lieb sein.“

„Was kann mir das nützen?“

„Was Dir das nützen würde? Aber, Kind! Meinst Du, die Kenntnis von Deiner Verlobung mit einem Mädchen aus so reichem, angesehenem Hause schaffte Dir keinen Kredit? Und mit dem, was Papa Dir geben kann, wirst Du dort wohl, wie ich Dich kenne, schlecht reichen.“

Er sah sie starr an.

„Potz Blitz, Mama,“ spöttelte er dann, „Du imponierst mir, was hast Du für einen anschlägigen Kopf! Da muß jeder gewiegte Geschäftsmann den Hut vor Dir abnehmen. Eine Braut zur Erweiterung des Kredits – das ist nicht ohne Schneid!“

„Drehe mir das nur nicht gleich wieder anders, als ich es gemeint habe,“ fiel die Mutter hastig ein. „Leichtfertige Schulden sollst Du keine machen, das versteht sich! Aber die Differenz zwischen einem ängstlichen Zurückhalten, wie es nun leider einmal unsere Verhältnisse gebieten, und einem standesgemäßen Auftreten – diese Differenz deckt ein reicher Schwiegerpapa mit Freuden, wenn er sein Töchterchen glücklich sieht.“

„Ob dieser Sachverhalt Fräulein Doras Glück gerade sehr steigern würde, das fragt sich noch,“ erwiderte er leichtfertig.

„Du würdest Dich wohl hüten, sie davon wissen zu lassen! Und wenn sie es nun später erfährt, was soll es schaden? Diese reichen Mädchen sind ja so ungeheuer eitel. Keine glaubt, daß man sie wegen des Geldes nimmt, jede hält sich allein für die Ausnahme. Von Kindheit auf werden sie mit Schmeicheleien aufgepäppelt, wo soll da die Selbsterkenntnis herkommen? Ich denke immer, es drückt geradezu auf den Verstand – wie könnten sie sonst stets gerade auf den Schlimmsten verfallen.“

Leo lachte laut auf und nahm scherzend seine Mutter in die Arme. „Na, liebe Alte, nun wirst Du aber anzüglich. Laß uns lieber abbrechen!“

„Und Deine Antwort?“

„Es ist bis nach Berlin Zeit damit,“ sagte er, führte die Mutter gravitätisch bis zur Thür und machte ihr dort eine tiefe Verbeugung – „bis dahin müssen die Muttergroschen ausreichen.“

(Fortsetzung folgt.)


Die neue Berliner „Urania“.

Von Franz Bendt.0 Mit Abbildungen von A. Kiekebusch.

In der Taubenstraße, welche in die große Verkehrsader der Reichshauptstadt, die Friedrichstraße, einmündet, erhebt sich ein mächtiges Gebäude, dessen Aeußeres auf eine eigenartige Verwendung deutet. Von doppelter Etagenhöhe schauen die Kolossalbüsten von Copernikus und Kepler, von Helmholtz und Werner Siemens herab. Sie verraten, daß man sich vor einem den Naturwissenschaften geweihten Hause befindet. Es ist das Gebäude der neuen „Urania“, die vor kurzem eröffnet wurde.

Schon am Schlusse der achtziger Jahre gründete zu Moabit bei Berlin die Privatgesellschaft „Urania“ auf Veranlassung des bekannten Astronomen Wilhelm Meyer ein der volkstümlichen Naturwissenschaft gewidmetes Institut. Wie es damals der Prospekt aussprach, beabsichtigte sie damit, die Freude an den Naturwissenschaften in weiteren Kreisen zu verbreiten und zu erhöhen.

Das neue Gebäude der „Urania“ soll durch ihre bequemere Lage dies Bestreben noch erleichtern.

Man hat unser Jahrhundert als das naturwissenschaftliche bezeichnet. Die Bezeichnung ist unzweifelhaft berechtigt, wenn man sich die erfolgreiche Thätigkeit unserer wissenschaftlichen Zeitgenossen auf diesem Gebiete vergegenwärtigt und des Interesses gedenkt, das alle Welt diesen Erfolgen zuwendet. Allein wirkliche naturwissenschaftliche Kenntnisse sind in weiteren Kreisen noch sehr wenig verbreitet. Kein Wunder, da sie aus Büchern und Zeitungen allein nicht geschöpft werden können, sondern vielfach erst durch unmittelbare Anschauung zu erwerben sind. Die letztere wird aber dem Laien

[633]

Der Tod des Brunelleschi.
Nach dem Gemälde von F. Leighton.

[634]

Blick auf die Bühne.

nur selten und ausnahmsweise geboten. Die überaus wichtige Aufgabe, die sich die Berliner „Urania“ gestellt hat, besteht nun in dem Bestreben, diesem Uebelstand abzuhelfen und die Ergebnisse der modernen naturwissenschaftlichen Forschung durch Experiment, Vortrag und scenische Darstellung lebhaft und sinnfällig dem Publikum vor die Augen zu führen. In diesem Sinne war es ein geradezu genialer Griff des Direktors der „Urania“, Wilhelm Meyer, die Bühne auch für die Ausbreitung naturwissenschaftlicher Bildung nutzbar zu machen. Wir verdanken ihm, wenn der Ausdruck erlaubt ist, die Erfindung des naturwissenschaftlichen Theaters.

Die neue Berliner „Urania“ enthält ein höchst geschmackvoll eingerichtetes Theater, das über 760 Plätze verfügt und mit allem Komfort ausgestattet ist, den der verwöhnte Bewohner der Reichshauptstadt verlangt; Foyer, Wandelgang – alles ist hier vorhanden. Auf der verhältnismäßig sehr geräumigen Bühne werden dem Zuschauer unter Verwendung der vollendetsten Mittel moderner Bühnentechnik die großen sich ewig wiederholenden Schauspiele vorgeführt, welche die Körper im Weltenraum und auf unserer Erde vollbringen. Was einst Jules Verne in Form des Romanes gab, giebt die „Urania“ in dramatischer Form. Die Phantasie wird also aufs lebhafteste durch die Dekoration, durch Wandelbilder und durch Beleuchtungseffekte unterstützt. Der Zuschauer folgt einer Reise durch den Sternenraum; man zeigt ihm die interessantesten Gegenden unseres vielzerklüfteten Nachbars, des Mondes; oder man läßt vor seinem Auge sich die wechselvollen Vorgänge abrollen, die sich während einer Sonnenfinsternis vollziehen. In dem neuesten naturwissenschaftlichen Schauspiel, mit dem das Institut eröffnet wurde, führte man eine große Reihe prächtiger Ansichten von den herrlichen Gegenden vor, durch welche die neue St. Gotthardbahn jetzt ihren Weg nimmt (vergl. die obige Abbildung).

Bei naturwissenschaftlichen Vorträgen war man bisher gewohnt, den Vortragenden in mehr oder minder lehrhaftem Ton seinen Stoff entwickeln zu hören. In der „Urania“ spricht ein Bühnenkünstler den vom Direktor, oder einem anderen in volkstümlicher Darstellungsweise erfahrenen Schriftsteller verfaßten Text, der sich fast immer in anmutigen, gewandten, ja zuweilen poetischen Formen bewegt. Die Vorgänge auf der Bühne geben dazu die Illustration.

Um die seltsame Beleuchtung während einer Sonnenfinsternis, um den drohenden Anblick einer vom Gewitter überzogenen Landschaft naturwahr hervorrufen zu können, bedarf man besonderer Einrichtungen. Noch der alte Werner Siemens hat bei der Begründung der alten „Urania“ durch Rat und That hier mitgewirkt. Durch 900 Glühlampen von blauer, roter und weißer Färbung, die durch ein höchst geistvoll erdachtes Schaltungssystem in alle möglichen Zusammenstellungen gebracht werden und auch in beliebigen Helligkeitsgraden wirken können, ist es möglich geworden, jede natürliche Farbenabstufung wiederzugeben.

Hinter den Coulissen.

Die naturwissenschaftlichen Schauspiele wechseln in der „Urania“ mit Experimentalvorträgen ab, die von den besten Demonstrationsapparaten unterstützt werden und zumeist in ganz volkstümlicher Weise die Zuhörer über die neuesten Fortschritte der Wissenschaft unterrichten. Die Vorträge über die Roentgen-Strahlen und über die Hertzschen und Teslaschen Versuche haben z. B. auf das Publikum der Reichshauptstadt wie die Premiere eines berühmten Dramatikers oder das erste Auftreten einer Diva gewirkt. Man fühlt aus diesem Interesse in der That den Herzschlag einer neuen Zeit heraus.

Das „Theater“ bildet aber nur eins der vielfachen Mittel, dem Publikum durch Anschauung naturwissenschaftlichen Unterricht zu erteilen. In sieben geräumigen Sälen sind interessante, zum Versuche fertige Apparate, Sammlungen, Modelle, Zeichnungen u. dergl. ausgestellt. Jede Versuchszusammenstellung ist aufs genaueste vorbereitet, und der Besucher vermag durch einen Druck auf einen Knopf das Naturschauspiel selbständig hervorzurufen. Eine kurze, klargefaßte Beschreibung klärt zudem über die Bedeutung des Vorganges auf.

Unser Künstler hat in seinen Bildern aus den verschiedenen Sälen eine Reihe solcher Selbstversuche festgehalten. Man erhält durch sie Augenblicksbilder, die direkt dem Leben abgelauscht sind. Man betrachte z. B. die Scene aus dem Saal für Astronomie und Geophysik auf S. 635. Es wölbt sich über den Raum die mehrere Meter im Durchmesser umfassende Halbkugel des nördlichen Sternhimmels. Genau der „Sterngröße“ entsprechend leuchten gold auf blau in naturgetreuer Form die bekannten [635] Sterngruppen. Planetarien, Stern- und Erdgloben, Eisenmeteore, Vulkanbomben etc. verraten die Bedeutung dieses Saales. Sehr interessant ist der Apparat, den der Knabe auf unserem Bilde in Bewegung versetzt. Man vermag mit ihm mathematisch genau die abweichende Bewegung des Foucaultschen Pendels – mit dem die Drehung der Erde erwiesen wird – für jeden Breitengrad zu zeigen. Er gehört zu der Gruppe der Instrumente, mit welchen sich die „Urania“ an die mehr unterrichteten Besucher wendet. Für jedermann soll das Institut Besonderes bieten.

Im gleichen Saale befindet sich auch der künstliche Geysir, den unsere Abbildung S. 636 darstellt. Der in Thätigkeit gesetzte Apparat giebt eine lebendige Vorstellung von den Vorgängen, die sich während eines Geysirausbruches vollziehen, und zugleich eine Erklärung der merkwürdigen Erscheinung. Geysire sind Quellen, die in bestimmten Zeitabschnitten Strahlen kochenden Wassers in die Luft senden. Island und der Nationalpark in den Vereinigten Staaten von Amerika sind reich an ihnen. Der künstliche Geysir in der „Urania“ läßt uns den Vorgang leicht überblicken. Das Bild zeigt eine bauchige Glasflasche, an die sich eine lange, spitz zulaufende Glasröhre anschließt, welche oben ein breites Becken zum Auffangen des Wassers trägt. Durch einen Gasbrenner wird das die Flasche zum Teil füllende Wasser zum Kochen gebracht. Die Wassergase, welche dem Gefäße nicht frei entfliehen können, nehmen in der Vorrichtung eine verhältnismäßig hohe Temperatur an und stehen unter starkem Druck. Es muß sich daher der Wasserdampf, der in die Röhre eindringt, verdichten und zu kleinen Wassersäulchen ansammeln, die vom hochgespannten Dampfe gehoben und gesenkt werden und einen eigentümlichen Tanz aufführen. Hat ein solches Wassersäulchen eine bestimmte Größe und Schwere erreicht, dann drückt es die Gase in der Weise zusammen, daß die dem hochgespannten Dampfe innewohnenden Kräfte sich entfesseln und die Wassersäule wie eine Kugel aus einem Geschütze hinausschleudern. Da der Vorgang in der Natur wie beim künstlichen Geysir sich immer in der gleichen Weise vollzieht, so erfolgen die Ausbrüche auch innerhalb der gleichen Zeit.

In der astronomischen Abteilung

Unmittelbar über dem der Astronomie gewidmeten Saale befinden sich die Apparate für Akustik und Optik. Die junge Dame, welche wir auf der Anfangsvignette erblicken, schaut dort durch einen Polarisationsapparat, dessen theoretisches Verständnis sich allerdings einer volkstümlichen Beschreibung entzieht. Wohl findet jedoch in der Praxis der Apparat vielfache Verwendung. So braucht ihn z. B. der Zuckersieder zur Prüfung der Güte seines Fabrikates; er führt dann den gelehrten Namen Saccharimeter.

Sehr leicht verständlich ist dagegen die Versuchsanordnung in dem Bilde S. 636. Sie soll die Reflexion des Schalles erläutern. Unter dem an der Decke befestigten metallenen Hohlspiegel ist eine Taschenuhr beweglich aufgehängt. Hält man sodann in der Weise wie der Herr auf unserem Bilde das Ohr in den unteren Spiegel hinein, dann hört man an einer bestimmten Stelle das laute Ticken der Uhr.

In der „Urania“ sind übrigens unmittelbar neben dem Schallspiegel auch Vorrichtungen aufgestellt, die die Reflexion des Lichtes, der Wärme und der elektrischen Strahlen nachweisen. Daß die Elektrizität ebenfalls eine Wellenbewegung ist und die gleichen Erscheinungen zeigt wie beispielsweise das Licht, wurde erst vor einigen Jahren von Heinrich Hertz nachgewiesen, dem es zuerst gelang, das Rätsel der Elektrizität zu enthüllen. Die vier Reflexionsversuche, welche die „Urania“ uns vorführt, geben einen direkten Beweis für die theoretische Ansicht der modernen Physik, daß alle Erscheinungen dieser Welt auf Wellenbewegungen zurückzuführen seien.

Neben dem Schallspiegel sehen wir auf unserem Bilde noch eine chemische Harmonika. Sie besteht aus vier sehr kleinen und empfindlichen Flämmchen, über welche je ein mehr oder minder langes Glasrohr gestülpt ist. Bei einer bestimmten Stellung der Röhren beginnen sich plötzlich die Flämmchen wie kleine Grenadiere zu recken und in vollen, aber eigentümlich schwellenden Accorden dem Hörer entgegen zu singen. Der Rotationsspiegel gestattet dann, die Bewegung der Flammen zu untersuchen.

Die Elektrizität als modernster Teil der Physik steht fraglos beim Publikum im Vordergrund des Interesses. Für die Elektrizitätslehre hat denn auch die „Urania“ einen besonderen Saal eingerichtet, in dem man über das theoretische und praktische Wissen der merkwürdigen Disciplin Aufklärung findet. Das neueste ist auch hier gleich in den Vordergrund gestellt. So werden z. B. in einem vortrefflichen Apparate die viel besprochenen Roentgen-Strahlen dem Auge sichtbar gemacht. Im übrigen sind sämtliche für die genauere Kenntnis der Elektrizität erforderlichen Instrumente in übersichtlicher Folge hier nebeneinander aufgebaut. Etwa innerhalb einer Stunde ist der Besucher des Saales imstande, sich die wichtigsten Kenntnisse mühelos zu erwerben, auf denen sich der erfolgreichste Teil der modernen Technik, die Elektrotechnik, stützt. Man überschaut ohne weiteres die innere Einrichtung einer Gleichstrom- oder Wechselstrommaschine und den verwickelten Aufbau, den der Drehstrom erfordert.

Auch die dem Nachrichtendienste gewidmeten Instrumente, also das Telephon und den Telegraphen, kann man in ihren einzelnen Entwicklungsstufen studieren. Der alte Morseapparat und der moderne Typendrucker, der die Depesche selbst druckt, sie sind beide nebst vielen Uebergangsstufen ausgestellt und dürfen von jedermann geprüft werden.

Von hervorragendem Interesse ist die hier gleichfalls aufgestellte, neueste Errungenschaft auf diesem Gebiete. Es gelang kürzlich dem Chef der englischen Telegraphen, Preece, und unabhängig von diesem dem Ingenieur Erich Rathenau in Berlin, mehrere Kilometer weit durch das Wasser hindurch ohne verbindenden Draht, also ohne Kabel zu telegraphieren. Die prächtigen Versuche Rathenaus, die im Wannsee bei Berlin ausgeführt wurden, werden im elektrischen Saal der „Urania“ ganz naturgetreu in einem verhältnismäßig kleinen Teiche demonstriert. Der Beobachter [636] gelangt zu der Einsicht, daß es in absehbarer Zeit möglich sein dürfte, in dieser Weise um die ganze Erde herumzusprechen.

Schallspiegel.

Die großen elektrischen Maschinen selbst, die in der Praxis gebraucht werden, haben aus guten Gründen ihre Aufstellung in einem besonderen Maschinensaale gefunden. Unser oberes Bild auf S. 637 zeigt z. B. die gegenwärtig so viel verwendete Wechselstrommaschine. Eine schon recht bedeutende Gleichstrommaschine befindet sich im Maschinensaale fast fortwährend in Thätigkeit; sie ladet eine umfangreiche Accumulatorenbatterie, die wiederum des Abends die elektrischen Glühlampen in den Ausstellungssälen speist. Natürlich ist auch eine Drehstrommaschine als Dritte im Bunde hier vorhanden.

Von allen Errungenschaften der neueren Technik erfreuen sich augenblicklich die elektrischen Bahnen zumeist der Gunst weiterer Kreise. Im Maschinensaale finden wir ein neues System in voller Thätigkeit vorgeführt. Der kleine Wagen, der seinen Betriebsstrom von der Gleichstrommaschine empfängt, erleuchtet sich bei der Einschaltung und umfährt mit ziemlicher Geschwindigkeit einen etwa 30 Meter langen Schienenweg. Man hat es hier mit einer sehr gelungenen Wiedergabe der Langenschen Schwebebahn zu thun, die sich vorzüglich zur Entlastung sehr verkehrsreicher Straßen eignet und die neuerdings auch für Kolonialzwecke in Vorschlag gebracht wurde. Wie das Bild zeigt, rollt der Wagen nicht mittels seiner Räder auf den Schienen, sondern er hängt an den Radachsen. Hierdurch können die Geleise und der gesamte Oberbau verhältnismäßig leicht gebaut werden, und den Straßen wird nur wenig Licht entzogen. Die Maschinenhalle verdient ihren Namen durchaus; denn es wirken in ihr fast alle Kräfte. Man kann Nähmaschinen beobachten, die durch das Druckwasser der Wasserleitung in Thätigkeit versetzt werden, und Benzin-, Petroleum- und Heißluftmaschinen wirbeln hier ihre gewaltigen Schwungräder mit großer Geschwindigkeit. Thätige Dampfmaschinen dem Ganzen einzufügen, war nicht gut möglich, man hat sich daher mit Modellen begnügt, die durch Druckluft oder durch eine Kurbel mit der Hand in Bewegung zu versetzen sind. Der Maschinensaal in der „Urania“ könnte in der That einem Polytechnikum mittleren Grades als Ausstattung dienen.

Auch der Chemie ist ein eigener Saal im Berliner Institute gewidmet. Wenn diese Wissenschaft dem Laien bisher trocken und schwer zugänglich erschien, so kann er sich in diesen Räumen leicht davon überzeugen, daß seine Meinung irrig war. Gleich beim Eintritt erblickt er beispielsweise eine große Zahl von Lampen; von der ältesten Oellampe bis zur modernsten Gasglühlampe mit Strumpf. Es verkörpert sich hier gleichsam ein Kapitel aus der Kulturgeschichte.

Künstlicher Geysir.

Zweifellos sind diejenigen chemischen Prozesse am interessantesten, bei denen der elektrische Strom in seiner eigentümlichen, geheimnisvollen Weise eine Rolle spielt. Diesen Vorgängen ist denn auch ein sehr weiter Raum zugebilligt. Das gleiche gilt für die spektralanalytischen Untersuchungen. Es kommt hier auch dem Nichtfachmanne zum Bewußtsein, wie einfach und bewundernswert diese Forschungsmethode ist, die es ermöglicht, den chemischen Aufbau der Sonne und der fernsten Fixsterne zu ermitteln.

An einem recht drastischen Beispiele mag noch klargelegt werden, mit welchem pädagogischen Geschick man in der „Urania“ Naturwissenschaft treibt. Ein Erwachsener atmet 500 Liter Kohlensäure in 24 Stunden aus. Das entspricht genau 280 Gramm reiner Kohle. Um die Thatsache recht deutlich zu machen, hat man hier ein Tellerchen mit 280 Gramm reiner Holzkohle aufgestellt und daneben ein Zettelchen gelegt, welches besagt, daß das die tägliche Kohlenproduktion eines Menschen sei!

Auch die organischen Naturwissenschaften haben in der neuen „Urania“ eine Stelle gefunden. So ist z. B. dafür gesorgt, und zwar zumeist durch bewegliche und geschickt beleuchtete Modelle, daß der Besucher eine Vorstellung von den Funktionen der Sinnesorgane empfängt. Das Nah- und Fernsehen durch die Veränderung der Linse im Auge, die Lage und Thätigkeit der Gehörknöchelchen in der Paukenhöhle des Ohres kann leicht verfolgt werden.

Das Glanzstück im „organischen“ Saal bildet ein künstlicher, auf S. 637 [637] abgebildeter Brutapparat. Daß er vortrefflich funktioniert, dafür kann allein schon die Thatsache sprechen, daß der Raum fast einem Hühnerhofe gleicht, auf dem nur die Alten fehlen, und daß die kleinen, sehr zutraulichen Kücken, die hier aus dem Ei kriechen, gut geraten und frisch und gesund erscheinen, Nach den dem Berichterstatter gemachten Angaben soll das Brutergebnis mehr als fünfzig Prozent betragen.

In der Maschinenhalle.

Die Eier liegen in langen zum Teil mit Glas verschlossenen Kästen, in denen fortdauernd eine Temperatur von 40 Graden der hundertteiligen Skala herrscht. Die Wärme wird durch ein Wasserbad erzielt und durch Reguliervorrichtungen in der genannten Gradhöhe erhalten. Nach einer Periode von 19 Tagen schlüpfen die Kleinen aus. Auch sonst enthält der „organische“ Saal noch viel Sehenswertes. Sehr übersichtlich und verständlich ist z. B. die Thätigkeit der Seidenraupe vorgeführt; man kann sie und ihr kostbares Produkt in allen Entwicklungsstadien beobachten und sich der schönen glänzenden und fast metallisch leuchtenden Fäden freuen. Nicht minder werden die prächtigen Schmetterlings- und Käfersammlungen, die allerorten die Wände bedecken, sowie die seltsam gestalteten Wesen aus der Gruppe der Tausendfüßer, der Fische und Krebse die Herzen aller Sammler höher schlagen lassen und zugleich auch das Interesse des Städters für die kleine Welt, die außerhalb der Thore sich tummelt, erwerben und vertiefen.

Klimmt der Besucher der „Urania“ zu den höchsten Räumen des umfangreichen Gebäudes empor, dann kann er noch Aquarien und Terrarien und eine große Anzahl von Mikroskopen in Augenschein nehmen. Daneben giebt eine ziemlich umfangreiche Sammlung heimischer Giftschlangen Gelegenheit, diese gefährlichen Feinde kennenzulernen und zugleich die unheimliche Art zu studieren, in der das Gift auf das verletzte Tier wirkt. Auch eine Telephonanlage befindet sich in diesem Saale, durch welche man den musikalischen Aufführungen im Opernhause zu folgen vermag.

Wir bemerkten im Eingange, daß augenblicklich auf dem Uraniatheater eine Reise durch den St. Gotthard vorgeführt wird. Im kleinen Oberlichtsaale des Institutes ist der mächtige Gebirgsstock plastisch zur Darstellung gebracht, und eine kleine, durch einen elektrischen Motor betriebene Eisenbahn beschreibt in lebendigster Anschaulichkeit die Kurven, in denen sich die Züge der Gotthardbahn bewegen.

Brutofen.

Schon seit geraumer Zeit ist kein Sterblicher mehr fähig, die Menge der Fortschritte, die auf naturwissenschaftlichem Gebiete täglich errungen werden, zu überblicken oder sie gar verständnisvoll in sich zu verarbeiten. Er muß sich, auch wenn er seine ganze Zeit der Wissenschaft widmen kann, mit einem nur sehr eng umgrenzten Gebiet begnügen. Dennoch ist es durchaus für den Forscher geboten, mit allen wichtigen Neuerungen und Erweiterungen vertraut zu bleiben, um nicht den befruchtenden Zusammenhang mit der Gesamtheit zu verlieren, dazu dienen die wissenschaftlichen Zeitschriften. Auch nach dieser Richtung hat die Direktion der „Urania“ dem Bildungstriebe des Publikums Rechnung getragen. Ein geräumiger heller Saal hinter dem Theater wurde von ihr mit einer gewählten Bibliothek ausgestattet, die zugleich die wichtigsten naturwissenschaftlichen Zeitschriften enthält.

Daß die Direktion es verstanden hat, aus der Ueberfülle des Gebotenen das für volkstümliche Zwecke Brauchbare auszuwählen, daran wird man nicht zweifeln, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die „Urania“ selbst die Herausgeberin der angesehenen naturwissenschaftlichen Zeitschrift „Himmel und Erde“ ist.

Mit solchen Mitteln ausgestattet, erweist sich die Berliner „Urania“ in der That als ein wichtiges Institut zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Bildung. Wir wünschen ihm weitere Blüte; hoffentlich aber wird sein Beispiel über kurz oder lang nicht vereinzelt dastehen, sondern auch andere deutsche Großstädte zur Gründung ähnlicher Bildungsanstalten veranlassen.


[638]

Fritz Reuters Briefe an seine Braut.

Nach den Originalen im Nachlaß der Witwe.
Erläutert von Johannes Proelß.

  (Schluß.)

Wenige Tage nach der mitgeteilten erschütternden Seelenbeichte griff Reuter schon wieder znr Feder.

  „Meine innig geliebte Luise,
Nicht wahr? Du hast verziehen, hast den letzten Schmerz überwunden? Mir ist wohl angst zu Sinne; aber doch hat die Hoffnung auf Deine Liebe den Sieg in meinem Herzen davon getragen, ich kann mir nicht denken, daß Du jetzt grade, mir strenger gegenüber treten solltest, wie sonst. Darum habe ich auch das Aufgebot nicht abbestellt und heute werden wir zum erstenmale aufgeboten, heute über 3 Wochen treffe ich in Roggenstorf ein, um dort erst Deine Verzeihung und dann Deine Liebe in Empfang zu nehmen. – Gott gebe, daß dies keine Täuschungen von meiner Seite sind; würde ich jetzt durch Dich bestraft, dann wär es für mich zu hart; aber ich glaube nicht daran, ich vertraue fest auf Dich, die Du so gut und liebend bist und die Du nur allein weißt, daß die innigste Liebe für mich von Deiner Seite mich trägt und hält. Wärst Du jetzt hier gewesen, es wäre nicht geschehen. Ich sitze nun wieder in dieser hoffnungsreichen Zeit auf mein Zimmer gebannt, gebe Stunden, so viel ich kann, um die paar versäumten nachzuholen und die zur Hochzeit zu versäumenden vorweg zu geben, wo es nur immer angeht; ich gebe also, ohne die Zeichenstunde, täglich von 6–10 Uhr Stunden, auch des Sonntags. Wie Du Dir denken kannst, sitze ich wieder trostlos allein und will auch nicht früher in die Welt, ohne daß Deine Liebe mir zur Seite stehe und mich schütze. Wie ich mich sehne nach der ruhigen Häuslichkeit! Nur darin wird mir ein Heil erblühen, darin nur mir Frieden werden und Du, Du, meine Luise, bist die gütige Fee, die Alles dies mir spenden soll. – Oh! ich denke wohl mit sehnsüchtigem Verlangen an den Tag, der mir das Recht giebt Dich zu besitzen, Dich ganz mein zu nennen; aber wahrlich mehr noch denke ich an den Tag, weil er mir das Recht giebt, Dir Dein Leben zu kränzen mit Vertrauen, Treue und Liebe und mit jenen tausend kleinen theuren Beziehungen, die wir Deutschen mit dem uns nur eigenthümlichen Worte Gemüthlichkeit benennen. – Sieh! nicht in den ersten Zeiten unserer Liebe ist mir das Herz so voll von Dir gewesen, wie jetzt; und wie mag es dann erst sein, wenn Du mit liebender Geschäftigkeit, Dich hier um mich drehst, wenn Du mir Gelegenheit giebst, Dir den glühendsten Dank dafür zu spenden, den mir eine zu allen Opfern bereite Liebe auferlegt. – Laß mich zu Dir kommen, geliebte Luise, tadle mich, lege mir harte, zweckmäßige Bedingungen auf, aber stoße mich nicht zurück! – Ich fühle es, in aller dieser Liebe, die meine Feder äußert, zeigt sich Selbstsucht, ich hätte zuerst an Dich denken sollen, Dich fragen und zittern sollen, wie Du die böse Nachricht aufgenommen habest; aber ich kann nicht glauben, oder besser ich will’s nicht, daß der Eindruck ein so heftiger gewesen ist, daß Du sehr gelitten; ich habe mich getröstet mit der Hoffnung, daß Du gesunder und wohler seiest, als sonst, daß Dein eigner Wunsch mit mir verbunden zu sein, wie er sich in Deinen letzten lieben Briefen ausspricht, ein Gegengewicht gegen Deinen übergroßen Schmerz bilden würde; habe ich mich getäuscht? Sei gut! sei wieder freundlich! und schreibe mir bald, denke nicht daran, daß ich träger im Schreiben gewesen bin, als Du, als ich sein sollte, denke daran, daß ich ja noch den Weg zu Deinem lieben, treuen Herzen weiß und daß ich ihn einschlage, indem ich so an Dich schreibe, daß ich ihn verfolgen werde, indem ich Dir lebe und daß ich das Ziel erreichen werde, durch die Aufopferung aller Eigensucht.

Nach Stettin zur Erlangung der Erlaubniß Deine Aussteuersachen (einzuführen), worunter das Fortepiano, habe ich geschrieben, habe aber noch keine Nachricht zurück. Die Frachtangelegenheit besorge ich am besten zu Pfingsten, wenn ich durch Stav. komme und warte blos auf die Verzeihung in Deinem nächsten Briefe, um mir einen schwarzen Anzug dort zu bestellen und ihn auf der Durchreise dort abzuholen. Dann gedenke ich zuerst nach Lisetten zu reisen, erstens um dieselbe zu bewegen, daß sie mich nach Rogg. begleite, zweitens, um die Angelegenheit der Entsagungsacte dort noch durch einen Notar beglaubigen zu lassen, was ich am besten selbst betreiben zu müssen glaube. Dasselbe will ich, der größern Sicherheit wegen hernach in Stav. bei Sophie besorgen. –

So sehr ich die Gründe einsehe, die Dich bestimmt haben, das Leinzeug auf Deinen Namen zeichnen zu lassen, so sehr bedaure ich dies doch im Ganzen, weil ich voraussehe, daß die Einführung jetzt am Ende noch mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird, als sonst; indessen Umstände werden wir doch genug haben und so mag’s denn auf ein Paar mehr oder weniger nicht ankommen. Hast Du das Verzeichniß der einzelnen Stücke dort? so hebe es auf und schicke es mir, wenn ich es verlange. Auch rathe ich, alle Sachen, die Du mitbringst in ein Verzeichniß zu stellen und mir dasselbe auf desfallsiges Verlangen zu zu schicken.

Der Garten, der mir mit Beschaffung der Bohnenstangen und der Pfähle, mit Grabelohn und anderm Tagelohn, Ankauf von Pflanzen doch mindestens 10 Thlr. kostet, ist jetzt ganz bestellt und das meiste ist aufgelaufen. Alles steht jedoch nur kümmerlich und kann es am Ende bei dieser kalten Witterung nicht gut anders. Er enthält 4 Beete mit Stangenbohnen, 4 mit dito kleinen, 2 Beete mit Zwiebeln, 2 mit Mohrrüben, 3 mit Erbsen, 1 mit Petersilie, 2 mit Sellerie, 1/2 mit Porro, 2 mit Gurke, 1/2 Schock Blumenkohl, 1/2 Schock Kohlrabi, 1/2 Schock Wirsing, 1/2 Schock Spitzkohl, 1/2 Schock Winterkohl, 1 Beet großer Bohnen, außerdem sind Rabatten mit Blumen, Georginen und Levcoyenbeete, eine Laube im Entstehen und viel Rosen darin. – Auf dem Felde sind 2 Scheffel frühe Kartoffeln gepflanzt. Unsern Herbstbedarf denke ich zu kaufen, falls nicht Ernst mir den Bedarf auf den Winter zum Hochzeitsgeschenk macht, da dieselben zollfrei sind. Holz 11/2 Faden, sind bestellt, sowie auch 20,000 Torf; womit wir aber wohl nicht auskommen werden.

Ich setze mich heute gegen Abend noch einmal wieder hin um noch einige Worte hinzu zu fügen, und es nicht so zu machen, wie mit dem vorigen Briefe, den ich ohne Unterschrift und Datum abgeschickt habe und es dabei belassen mußte, weil es zu spät mir einfiel, daß ich es vergessen. Du mußt nach meiner Berechnung diesen Brief jetzt haben und hast mir also schon verziehen. – Ich weiß es! mein süßes, liebes Kind! Oh wie sehne ich mich, Dich an mein dankbar Herz zu drücken, wie denke ich daran, Dich zu küssen für all Dein liebes Thun, wie gedenke ich, es Dir zu vergelten durch unausgesetzte Liebe und jede Tugend, die Dich heimischer machen kann in meinem Herzen und mich in dem Deinen. Wie sehne ich mich, Deinen süßen Leib zu umfangen, den irdischen Tempel Deiner innern Lieblichkeit, wie drängt es mich zu Dir, den schönsten Tag des Erdenlebens an dieser treuen Brust zu feiern, ihn mit dieser liebenden Seele in Gemeinschaft zu genießen … Wie thöricht kommt es mir vor, wenn ich an Rogg. und seine Stille, wenn ich an das Vaterhaus und seine Bewohner denke und an seine Idylle, wie thöricht kommt es mir vor, so ein Fest nach einem Balle zu feiern, ein Gejubel von Hunderten um sich nöthig zu haben, wo jede Regung der Seele, jede Fiber des Körpers in Jubelgesang aufgelöst ist, wo man jubelt und doch stumm ist, wo man in Entzücken schwelgt und doch weinen mögte, wo man größern Sorgen, ernsteren Pflichten entgegen tritt, und doch so glücklich ist!

Und dessen wolltest Du mich berauben durch die Versagung Deiner Verzeihung? Luise! warum denn hast Du so oft verziehen? Luise, meine Luise! bald für immer meine Luise!

Nun scheide ich für heute, laß mich nicht lange in der peinlichsten Erwartung meines Lebens und denke daran, was ich Dir sein werde, wenn Deine Liebe fort fährt, die Dämonen meines Herzens zu verscheuchen. Und denke daran, daß es Dir doch nichts hälfe, daß ich doch nicht aufhören würde zu sein und zu bleiben
Dein Fritz. 

Treptow d. 25sten May 1851.“


  „Liebe, theure Luise,
Ich sitze schon wieder an meinem Schreibtische und denke an Dich, ich weiß nichts anders und kann nichts anders. Eine Antwort von Dir kann ich heute füglich noch nicht haben und so muß [639] ich denn wieder in der schrecklichsten Ungewißheit es versuchen mit Dir zu verkehren. Wie hast Du entschieden? oder hast Du noch nicht entschieden? Oh, dann laß Dich noch einmal beschwören bei Allem, was uns beide angeht, bei bösen und guten Erinnerungen, laß die Entscheidung so ausfallen, daß wir nicht getrennt werden. – Du siehst, ich habe Wort gehalten und Dir sogleich mein eigen Verderben gemeldet, Dich zur Richterin gemacht, nun sei auch gnädig und laß Dich durch die Betrachtung der Umstände rühren. Bedenke, daß bei allem Eigensüchtigen, das in meiner Bitte unzweifelhaft liegt, doch gewiß die Angst um Dich und Deine Zukunft einen großen Theil an meinem Flehen hat. –

Ich fahre heute den 27sten Abends fort. Ich komme vom Turnplatz, auf welchem ich heute zum erstenmale begonnen habe. Ich bin nicht müde; aber mir ist so weh, so krank zu Sinn, als stände mir ein großes Unglück bevor; es scheint sich Alles zu vereinen, um mich herabzudrücken und dabei soll ich heitere Polterabendgedichte schaffen! Du lieber Gott! ich bin nicht im Stande mit einem gleichgültigen Menschen ein gleichgültiges Gespräch zu führen … Ich fühle es, hier stehe ich an einem Hauptwendepunct meines Geschicks und die Entscheidung steht bei Dir; ich sehe Alles schwarz, vielleicht täusche ich mich und der Morgen läßt es mir schon in anderem Lichte erscheinen; mir ist als wenn Du entscheiden solltest, ob ich ferner einsam, von Keinem geliebt, von Vielen verkannt, kalt und herzlos, ohne besondere Sorge durch die Welt wandern sollte, um zuletzt mit der ReUe um ein verlorenes Leben aus dem LebeN zu gehen, oder ob ich mein Leben in Sorge und Bedrängniß hinbringen soll, getröstet von der Liebe, gehalten durch Vertrauen zu den Menschen, getragen durch Vertrauen auf Gott, um endlich eine ersehnte Ruhe zu finden. Ich will erwarten, wie Du entscheidest, ich will annehmen, was Du bestimmst, und gewiß ohne Murren, ohne später in meinem Herzen Dir lügnerische, selbsttäuschende Vorwürfe zu machen …

Ich habe geschlafen, habe heute morgen schon 3 Stunden gegeben, mein Sinn ist nicht klarer, mein Herz ist nicht gefaßter geworden. Ich scheue mich, mich zu erkundigen, ob ich am Sonntage aufgeboten bin, ich weiß nicht, ob dies Aufgebot mit einem großen öffentlichen Schimpf endigt oder nicht; sollte dies erste der Fall sein, bleibe ich nicht hier, ich gehe, sobald als möglich, fort von hier. Aber wohin? Mecklenburg habe ich in Folge dieser Aussichten verlassen und Preußen zum Vaterlande gewählt und in demselben kenne ich fast keine Stadt als Treptow; es wird dann wohl nicht leicht sein fortzukommen. – Aber was sind alle diese kleinen Unbequemlichkeiten gegen das Gefühl, Dich unendlich leidend zu wissen, ohne helfen zu können, Dich leidend zu wissen und mich selbst als den Urheber Deines Leidens zu wissen. Wie soll ich jemals Ruhe finden, etwas zu beginnen, zu betreiben, wie soll ich, wieder in die Welt gestoßen, den Fehler besiegen, der Dich von mir gerissen? Ich weiß es nicht, wie dies werden soll …

Liebe, liebe Luise, Du kannst nicht glauben, was ich von Dir halte, Du kannst nicht glauben, wie mir’s um’s Herz ist, ach! und ich kann’s gar nicht glauben, daß Du mich aufgiebst, ich kann garnicht den Gedanken fassen, wie mir dann sein wird! Ich bitte und flehe, wenn es in Deine Macht gegeben, laß mich nicht, vertraue auf mich, daß Deine Gegenwart und die Häuslichkeit alles anders machen werden, daß es besser mit mir geworden ist und daß es ganz besser werden wird!

Nun kann ich nicht mehr bitten, der Vorrath von Worten ist erschöpft und nur meine Seele mag noch ferner in Angst und Zagen zu Gott beten, daß er Dir den Weg zeige, der für Dich der Beste ist.

Lebe wohl, lebe wohl, sei so gesund, als Du es kannst und verklage mich nicht zu sehr in Deinem Herzen.

Auf immer und ewig
Dein F. Reuter. 

Treptow d. 28sten May 1851.“


Wie Wolken und Sonnenschein, wenn sie mit gleicher Stärke um die Herrschaft kämpfen, lösen in diesen Briefen Verzweiflung und Hoffnung einander ab, ja oft treten diese Gegensätze so unvermittelt nebeneinander, wie wenn bei solchem Naturvorgang in noch sich ergießenden Regen die Sonne ihre Strahlen schickt. Und die Hoffnung siegt. Während die realen Pflichten und Sorgen den vielbeschäftigten Bräutigam, der die Einrichtung des neuen Heims selbst zu besorgen hat, ablenken von seinen dunklen Furchtgedanken, lichtet sich die Zukunft vor seinem Blick, wächst die Zuversicht, daß der langjährige Kampf um den Besitz der Geliebten nicht sieglos enden kann. Aber er hat auch einen treuen, beredten Anwalt im Herzen der Braut – das Bild seines innersten Wesens, das dort sich in dieser langen Zeit so tief eingeprägt hat, daß es nun durch nichts mehr getrübt werden kann, das Bild seines urgesunden, warmherzigen, tüchtigen, ehrlichen, rührigen, von hohen Idealen getragenen, von tröstlichem Herzenshumor durchleuchteten Wesens, wie sie es kennengelernt hatte in all den Prüfungen, die ihre Liebe seither gemeinsam bestanden! Und sie vergiebt ihm, läßt sich nicht zurückschrecken und wagt’s mit ihm, beseligt von dem Glauben, daß in der sicheren Hut der Ehe und ihrer Liebe der Geliebte nun zur vollen Entfaltung seiner Kräfte gelangen wird, daß der von ihr so wacker „gejätete Acker seines Herzens“ nun bereit ist, die reiche Saat, die in ihm ruht, zu „tausendfältiger Frucht“ zu bringen. Sie kennt seine poetischen Pläne und Entwürfe, welche weit über die Gelegenheitsgedichte hinauslagen, die ihm die Liebe zu ihr oder das Verlangen nach Julklappversen und Polterabendscherzen bei Freunden und Fremden seither eingegeben; sie glaubt an seinen Dichterberuf und hat das Zutrauen, ihm ein Heim schaffen zu können, in dessen Schutz und Schirm er zur Ausführung dieser ernstgemeinten poetischen Arbeiten gelangen werde.

Der letzte Brief, den Reuter an seine Luise als Braut richtete, ist unmittelbar vor seiner Abreise nach Roggensdorf und mitten im Trubel der letzten Besorgungen für den neuen Haushalt – auch ein Mädchen hatte er zu mieten – geschrieben. So klingt der Dank für Luisens liebreiches Vergeben – übrigens kleinlaut genug – zwischen den geschäftlichen Mitteilungen und dem Ausbruch der Vorfreude hindurch auf das Wiedersehen, die endliche Vereinigung für immer.


 „Liebe Luise.
Diesen Brief schreibe ich sehr rasch und durch die Nothwendigkeit dazu gezwungen. Heute Dienstag d. 3ten Juni über 8 Tage also am 10t d. M. denke ich von hier abzureisen, ich muß also die verlangten Verzeichnisse, so wie das Attest Deiner Ortsobrigkeit spätestens bis dahin haben, um es hier einreichen zu können, d. h. ich muß es am 2. Festtage haben; ich bitte Dich nun dies ja und ja nicht zu versäumen, sonst giebt es Verwirrung über Verwirrung. Heute erwartete ich mit Bestimmtheit einen Brief von Dir; er ist ja doch nicht gekommen und so mag derselbe denn wohl morgen eintreffen. Vergiß nichts von Deinen Sachen bis zum Schuhzeug herunter, sonst sind Unannehmlichkeiten die Folge. Der Küchenschrank, der Tisch und die Bank in der Küche sind bestellt; Madame Peters sagte auch von Böttchergeschirr. Ach, wenn doch diese Geschichten erst in Ordnung wären! ich weiß mich schlecht mit solchen Dingen zu behaben. Zu Pfingsten wird Kardorff und Ernst Peters mit Frau in Thalberg erwartet und mit dieser Gelegenheit denke ich nach Stav. zu reisen. – Morgen will ich mich in Th. nach Rieke Dühn erkundigen. Mein Dienstmädchen ist krank und ich kann nichts besorgt erhalten, dazu habe ich mehr Stunden, als sonst, weil ich die später ausfallenden zum Theil vorweg gebe und dann soll ich die verdammten Polterabendgedichte machen und mir fehlt die Ruhe und die Gedanken dazu. –

Wie geht es Dir, meine liebe, liebe Luise, bist Du noch sehr traurig, oder hast Du neuen Muth gefaßt? Laß es gut sein, es wird Dir nie leid werden, daß Du so lieb und gut gewesen bist, mir wird dies ewig vor Augen stehen, so wie es in mein Herz mit unauslöschlichen Zeichen gegraben ist. Ich bin nur bekümmert, daß ich noch keinen Brief habe, ich fürchte grade nichts Uebles; aber mir gehts wie den Uebelthätern, die durch jedes Ungewöhnliche in Furcht versetzt werden, sei sie auch nur eine unbestimmte. –

Mir fällt ein, daß die Antwort auf diesen Brief mich am Ende nicht mehr hier treffen könnte, solltest Du dies voraus sehen, so addressire dieselbe nach Stav., ich kann von dort noch manches besorgen. Den Proclamationsschein werde ich am letzten Festtage ausgestellt erhalten, wie Maskow mir sagt.

Heute über 14 Tage, meine süße Luise, heute über 14 Tage ist der Tag, an welchem wir endlich verbunden werden; wie unendlich ersehnt ist für mich dies Ziel, wie glücklich bin ich in dem Gedanken, daß Du mein wirst und daß ich Dir gehören soll. Glaube nicht, daß es bei mir die Freude allein ist, die darüber in meinem Herzen laut geworden ist, auch der Ernst und der feste Vorsatz, Dir alle Deine Liebe reichlich zu vergelten, haben darin ihre

[640]

Ein Ball im Manöver.
Nach einer Originalzeichnung von Paul Hey.

[641] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [642] Stimmen erhoben, und Du wirst gewahr werden, daß, wie groß auch meine Leidenschaft für Dich ist, meine Liebe doch noch größer ist. Laß uns den Tag in Voraus feiern und nimm mein Gelöbniß an, daß ich Dich ernstlich lieben will und Dich für Dein Leid durch alles Gute belohnen will. Meine süße, liebe, kleine Luise! Heute über 14 Tage! Schreibe mir jetzt nur bald, stärke meine Hoffnung durch fernere Güte und laß dieselbe auch in Dein Herz ohne Hemmniß einziehen. Du bist doch wohl? Nicht wahr, Du bist wohl! Nur jetzt werde mir nicht krank.

Wie ich mich sehne nach Deinen Zeilen, die Sehnsucht kann nur durch die nach Dir selbst übertroffen werden; wie ich sinne, Dir Deinen Aufenthalt hier lieb und angenehm zu machen! Du wirst jetzt mein liebes, süßes Weib und Alles will ich Dir zu Liebe thun, was in meinen Kräften steht; gewiß soll mich keine falsche Schaam abhalten, Dir zu folgen, denn ich weiß, Du wirst Deine Gewalt über mich nicht mißbrauchen.

Jetzt muß ich zum Turnen und morgen erst geht mein Brief ab, Du wirst ihn nach meiner Rechnung am Sonnabend haben, wenn Du dann am Sonntage schreibst, erhalte ich Deine Antwort hier nicht mehr, wohl aber in Stav., worauf ich mit Bestimmtheit rechne, sonst wird die Verwirrung arg; aber vielleicht hast Du schon geschrieben, wenn dieser Brief ankommt und hast alles besorgt, dann erhalte ich das Geforderte hier und dann ist’s so viel besser.

Lebe wohl, Du meine einzige Luise, lebe wohl bis wir uns wiedersehn, um uns nicht mehr zu trennen und küsse mich in Gedanken, wie ich es thue
  Auf immer Dein
(Fritz.) 

Treptow d. 3t Juni 1851.“


Am 16. Juni segnete wirklich der wackere Pastor Kunze in Roggensdorf den Bund seiner Luise und ihres Erwählten ein. Die junge Ehe, die diese dann in Treptow führten, brachte den Hoffnungen beider herrlichste Erfüllung. Er that ihr, wie er versprochen, alles zuliebe, und sie entsprach seinem Vertrauen und mißbrauchte die ihr eingeräumte Gewalt nie. Und es dauerte nicht lange, da regte sich die Lust zum litterarischen Schaffen mächtig in ihm. Wie bereits im ersten Jahre der Ehe sein erstes Buch, „Läuschen und Rimels“, zu entstehen begann, wissen wir von ihr selbst – sie hat es, als ihre von seltenem Glück gesegnete Ehe nach dreiundzwanzigjährigem Bestande durch Reuters Tod ein schmerzliches Ende nahm, der Nation selbst erzählt in jener Niederschrift für die „Gartenlaube“, die im Jahrgang 1874 zu lesen ist: „,Jch kann ja auch mal ein Buch schreiben’, hatte er bei seiner treuen Liebeswerbung gesagt, und wenngleich das zu jener Zeit etwas ungeheuerlich klang und mir dieser Wechsel auf Hoffnung gar nicht allzu sicher schien, dachte ich doch: ,J, im Stande wärst Du schon dazu.‘ Und er war’s, der liebe, beste Mann! Fast allabendlich, nach Beendigung von sechs bis sieben Privatstunden, wurden von acht bis zehn Uhr „Läuschen“ geschrieben, harmlose, teils selbsterlebte, teils allbekannte kleine Anekdoten, die er oft schon in heiteren Freundeskreisen ergötzlich erzählt hatte … Welch reines, ungetrübtes Glück umschloß diese stillen Arbeitsstunden! Ich glaube, man konnte nicht glücklicher sein als wir zwei Menschen.“

Einen Verleger fand Reuter freilich nicht für sein erstes Bnch, und nur mit geliehenem Gelde, das ihm einer seiner Treptower Freunde, der Justizrat Schröder, vorschoß, konnte er es auf eigene Kosten drucken lassen. Aber als es dann erschien, fand es bei seinen engeren Landsleuten in Mecklenburg und Pommern schnell warme Aufnahme und guten Absatz. Das lustige Volk, das der Dichter da vor ihnen aufmarschieren ließ, das war Fleisch von ihrem Fleisch und Blut von ihrem Blut. Wohl waren die komischen Pointen durch die Kunst des Poeten gesteigert und verfeinert, aber auf dem Wege durch Vers und Reimzeilen war der derbgemütlichen Eigenart des heimischen Lebens und der plattdeutschen Mundart nichts von ihrer Frische und Kraft verloren gegangen. Der Erfolg ermutigte Reuter, die Sammlung seiner plattdeutschen Polterabend- und Julklappdichtungen, welche er während seiner „Stromtid“ für Freunde und dann auch auf Bestellung gemacht hatte, durch einige weitere zu ergänzen und zum Inhalt eines zweiten Buches, das den Titel „Julklapp“ erhielt, zu machen, dem bald die erste größere erzählende Dichtung „Die Reis’ nach Belligen“ folgte. Ehe er dann in Hinstorff in Neubrandenburg einen Verleger fand, der sich in der Folge um die Verbreitung der Schöpfungen Reuters, weit über die Grenzen Norddeutschlands hinaus, hohe Verdienste erwarb, ließ sich dieser den Vertrieb seiner Erstlingswerke selber angelegen sein, und zwar mit gutem Erfolg. Aus der frohen Stimmung heraus, mit welcher ihn diese Anfänge seiner dann schnell zu Ruhm und Wohlstand führenden Dichterlaufbahn erfüllten, ist der folgende Brief geschrieben, der an die zu Besuch bei den Eltern weilende geliebte Frau gerichtet ist, um die er hatte so lange werben müssen.


  „Meine liebe, kleine Frau,
Es ist schon wieder halb zwölf Uhr; ich hole Deinen Brief herfür, lese Deine herzlichen Zeilen noch einmal in dankbarer Erinnerung allen Glücks, das ich Dir verdanke und beginne Dir zu schreiben, wie ich mich ganz grausam sehne, Dich wieder zu begrüßen und – zu küssen. . . . Wie gerne wäre ich eine halbe Stunde bei Dir, um Dir recht sehr, sehr viel Gutes und Freundliches zu sagen, und Dir für Deine innige Liebe zu danken; doch bald wird dies der Fall sein. Ich denke so gegen den 25st. d. M. mich auf die Reise zu begeben, die aber, da sie den Character einer Fußreise tragen wird, nicht besonders rasch von Statten gehen dürfte. Erste Station ist Stavenh.; darauf Varchentin, Wahren, Jabel, Parchim, Grabow, Dömitz (diese beiden dürften indessen ausfallen) Lübtheen, Jeßnitz (wo Müller und Reinhardt) dann Schwerin, dann wohl gleich Roggenstorf und die letzte Station? Wo sollte die wohl sein, meine kleine Luise? Ich vermuthe sie wird Dir nahe genug sein, um mich zu überzeugen, daß Du mein kleines liebes Weib bist. Gelder sind eingegangen; aber sehr mangelhaft. Lübeck und Stettin und Güstrow haben kaum die Hälfte gesandt. Kaibel in Wahren das Meiste. Barnewitz, Richter-Friedland und Herwig-Greifswald gar nichts; ich habe indessen doch 50 [rth] an Krüger in Malchin auszahlen können, habe jetzt noch circa 27 [rth] in Cassa; werde in Wahren 9 [rth] in Lübtheen 5 [rth] einnehmen und denke dann so viel zu haben, daß Du Deinen Lübecker Gelüsten nachkommen kannst. Mußt aber auch recht gut sein! und recht gesund! Heute habe ich einen Einladungsbrief von Lisette erhalten, die alte gute Seele will uns auf dem Pritzierer Bahnhof abholen. Diesmal muß sie mit einem reisenden Handwerksburschen in der liebenswürdigen Gestalt ihres Bruders vorlieb nehmen. –

Mit meiner Arbeit geht es frisch vorwärts, ich habe heute ausgerechnet, um Dir eine Freude zu machen; ich habe 840 Verse geschrieben, 1/7 des vorigen Buches, gut 21/2 Bogen, den Bogen zu 3 Louisd’or gerechnet (ich krieg aber mehr) macht 371/3 Thlr. Gold; ein ernsthaft, sentimentales, auf romantische Art angefertigtes Gedicht für eine Zigeunerin; ein burleskes, berlinisches Jargon enthaltendes Drehorgelgedicht mit Einleitung und ernsthafter Schlußbemerkung; ein plattdeutscher Liebeszwist zwischen Carl und Marieken mit Nutzanwendung über die Vorzüge der Dämlichkeit, und ein Lumpacivagabundengedicht vom Schneider Zwirn, Schuster Pech und Tischler Leim, welches noch seiner endlichen Vollendung harrt; letzteres ist mit Prügel und Rausschmeisen, wovon ich mich jroßen Effect verspreche.

Morgen muß ich nun leider wieder Diltzische Correcturen besorgen und störende Briefe schreiben. – Die Laube ist aber schön, prächtig, wie gemacht, schlechte Gedichte zu machen. Heute Nachmittag hat die Möllhausen, die Adam und Fräulein Hagen, die Ruskow und was weiß ich, darin Caffe geklatscht; ich konnte nicht, weil’s Mittwoch war. Lippold ist hier gewesen und hat die Damen der Umgegend wieder scharf gemacht. Flos und er haben heute Abend bei mir junge Kartoffeln und Hering gegessen. Oh! wir leben hier nicht schlecht! Darauf sind wir auf 10 Minuten (nicht mehr) zum Klosterberg gegangen, wo Peters et Frau, Superintendent et Frau, Schmidt et Frau und Blümke et Frau und Frau Hilgendorf ohne den Ritter, welcher leidend ist, sich antreffen ließen.

. . . Nun, mein kleines Weib, gute Nacht! ich wollte ich wäre jetzt bei Dir, Du solltest sehn, wie lieb ich Dich hätte, ich wollte, ich hätte Dich hier auf meinen Knien, wie wollt ich Dich küssen und Dir tausendmal sagen, daß ich doch bin
 Dein
alter bester Freund  
Fritz Reuter. 

Treptow, d. 12t Julii 1854.“


[643] Zehn Jahre später bewohnte der Dichter die nach seinem Geschmack eingerichtete gartenumhegte Villa am Fuße der Wartburg, die er sich vom Ertrag seiner Schriften hatte erbauen können. Die besten seiner poetischen Werke, die „Ollen Kamellen“ bis auf den letzten Band von „Ut mine Stromtid“, waren in diesem Jahrzehnt unter seiner fleißigen Hand hervorgegangen, und in ihnen hatten all die scheinbar „verlorenen“ Jahre seiner Festungs- und „Strom-“ und Schulmeisterszeit sich als unerschöpflicher Gewinn für seine Kunst erwiesen, das Volk seiner Heimat und sein eigenes Erleben dichterisch darzustellen im verklärenden Elemente seines herzerfreuenden und herzbewegenden Humors. Und seine Lust, auf die Schnurren und Schwänke zu lauschen, die sich das plattdeutsche Volk der Heimat des Abends im „Kruge“ erzählt, seine Neigung, über dem geselligen Verkehr mit Leuten jeden Standes seine Zeit zu „verlieren“, und der seinem vorherigen Geschick so verhängnisvolle Hang, in froher Männer Runde bei heiterem Gespräche hinterm Becher aufzusitzen – ein Meister lustiger Unterhaltung, sie traten nunmehr für alle Welt in eine andere Beleuchtung. Sie waren die naiven Aeußerungen desselben Triebes, der ihn jetzt zum weltberühmten Meister in der Kunst werden ließ, als Dichter wahrhaft volkstümlich und mit einem Humor zu erzählen, der, von der Liebe zum Volk erzeugt, des Wegs zum Herzen des Volkes sicher war und immerdar auch bleiben wird!


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (14. Fortsetzung.)

12.

Ein Morgen von schneidender Kälte. Die Raben waren aus den Wäldern bis in die Dorfgärten geflogen, und mit aufgeblähtem Gefieder saßen die Meisen und Sperlinge frierend in den verschneiten Hecken. Laut krachte der Schnee bei jedem Tritt, und die Berge, in deren gefrorener Schneedecke sich matt die Farbe des Himmels spiegelte, hatten eisblauen Schimmer.

Es war gegen neun Uhr morgens, als Mathes in den Vorgarten des Purtschellerhofes trat. Er trug die Soldatenhose, die blaue Mütze und seine Sonntagsjoppe mit grüner Seidenkrawatte. Sorgfältig klopfte er den Schnee fort, der ihm bis zu den Knieen herauf in Klumpen an den Beinkleidern hing, und kratzte ihn mit einem Reis von den Schuhen; denn in der warmen Stube wäre der Schnee geschmolzen und hätte die Dielen beschmutzt, und so etwas ist immer ein Kummer für eine junge Frau, welche auf Sauberkeit in ihrem Hause hält.

Mathes sah frischer und jugendlicher aus als sonst; der mühsame Niederstieg über den verschneiten Berghang hatte sein Gesicht gerötet. Als er die Hausthür öffnete, zitterte seine Hand. In der Küche sah er die Magd beim Herd beschäftigt.

„Is der Herr Purtscheller daheim?“ fragte er.

„Ja. Geh nur ’nauf! Er is schon droben!“

Während er langsam und auf den Fußspitzen die weißgescheuerte Treppe hinaufstieg, pochte sein Herz mit hörbaren Schlägen. Da vernahm er aus der Wohnstube das gedämpfte Kichern und Kreischen einer Mädchenstimme. Die Thür wurde aufgerissen und mit zerrauften Haaren kam Zäzil über die Schwelle gestolpert. Eine Münze fiel ihr aus der Hand und rollte klingend über den Treppenflur bis vor Mathes’ Füße – ein Goldstück! Er wollte sich bücken, um es aufzuheben. Aber Zäzil kam ihm zuvor und raffte kichernd die Münze vom Boden auf. Mit verwunderten Augen sah sie den Burschen an, als wollte sie sagen: „Was willst denn Du da?“ … und die zerzausten Haare glättend, huschte sie mit leisem Lachen über die Treppe hinunter. Mathes sah ihr nach, und alle Farbe schwand aus seinem Gesicht. Eine Weile stand er, als käme er nicht mit den Gedanken zurecht, die sich ihm aufdrängten; dann ging er zögernd zur Thür und pochte.

„Herein!“

Er trat in die Stube und atmete auf, als er den Hausherrn allein fand.

Purtscheller saß in Hemdärmeln hinter dem Tisch, mit der qualmenden Cigarre. Neben sich in der Fensternische hatte er eine Flasche Tiroler stehen und einen Teller mit aufgeschnittenem Schinken. Der Tisch war mit Banknoten und Goldstücken bedeckt, Welche zu kleinen Stößen geordnet waren.

„Mathes? Du? Ah, da schau her!“ Purtscheller lehnte sich behaglich zurück und lachte. „Hast Dir mein’ Antrag endlich überlegt? No freilich! Was der Purtscheller ei’m antragt, schiebt man net von der Hand! Also, grad’ ’raus g’sagt … willst einstehen bei mir?“

„Ja, Herr Purtscheller … wenn S’ mich brauchen können!“

„Brauchen! Was, brauchen!“ Purtscheller blies eine Rauchwolke vor sich hin. „Einer wie ich, der alle haben kann, steht am End’ auf ein’ einzigen net an! Aber ich weiß, was ich krieg’ an Dir, drum sag’ ich Dir Grüßgott im Haus und im Dienst … und die Sach’ is abg’macht!“ Freundlich winkte er mit der Hand über den Tisch. „G’legen kommst mir auch g’rad! Ich hab’ ein’ harten Winter vor mir und muß viel außer Haus sein … da is mir’s lieb, daß ich ein’ daheim weiß, auf den Verlaß is.“

„Wollen S’ die Arbeit im Holzschlag droben überwachen?“

„Was?“ Purtscheller lachte, als hätte ein Kind gesprochen. „Ah na! Den Schmarren da droben hab’ ich verkauft bei Butz und Stingel, wie er liegt. Und da weiß ich mir was Besseres, als in der Kälten da droben stehn! Aber Plag’ werd’ ich g’nug haben den Winter durch! Schau nur an: jetzt nimmt die Zimmerstutzen-Fexerei in der ganzen Gegend überhand, alle paar Tag’ is wo ein Schießen … und natürlich, wegbleiben kann man net, wenn man Purtscheller heißt! Und ein Winter wie der heurig’, der treibt’s Hochwild in ganze Rudel auf d’ Felder ’runter … da muß natürlich fleißig abg’schossen werden in der ganzen Gegend, wenn uns der Wildschaden net übern Kopf wachsen soll … und da geht die halbe Woch’ mit die Jagden drauf. Und gestern in der Stadt drin hab’ ich mir ein’ neuen Traber ’kauft … morgen kommt er, und den tauf’ ich auf den Namen ‚Lüftikus‘!“ Purtscheller lachte wieder. „Weißt, gleich gestern beim ersten Versuchsfahren wär’ er durchgangen, wenn net der Herr Purtscheller am Bockschlitten sitzt. Gegen mich kommt er net auf! Ein närrischer Kerl … aber ich g’wöhn’ ihm seine Mucken ab! Bei mir lernt er was! Mein ‚Herzbinkerl‘ selig is g’wiß ein feiner Traber g’wesen … aber aus’m ‚Lüftikus‘ trau ich mir noch was Bessers ’rausz’bringen! Freilich, den halben Winter wird’s kosten! Aber spitzen sollen s’, die g’wissen Herrn, beim Frühjahrsrennen … was mein ‚Lüftikus‘ für Arbeit macht …. Geh, so setz Dich doch ein bißl! Sonst trägst mir am End’ den Frieden aus’m Haus, wie ’s Sprichwort sagt!“

„Auf mich paßt’s net!“ erwiderte Mathes ernst. „Was an mir liegt, will ich beitragen dazu, daß der Frieden daheim is in Ihrem Haus.“ In einiger Entfernung vom Tische setzte er sich auf die Wandbank und nahm die Mütze zwischen die Kniee.

„No also, wann kannst denn einstehn?“

„Wenn’s Ihnen recht is, heut’ noch! Aber ein’ Fürhalt muß ich machen.“

„Oho?“

„Im Frühjahr, wenn der Berg wieder ’s Laufen anfangt, müssen S’ mich frei geben.“

„Für ganz?“ fragte Purtscheller enttäuscht.

„So lang’ mich der Vater halt braucht.“

„No ja, meinetwegen. Auf die paar Tag kommt’s mir net an! Lang’ dauert’s ja net im Frühjahr, wenn’s Wasser einmal stark wird – da wird bald alles drunten liegen im Bach.“ Purtscheller steckte eine frische Cigarre in Brand. „Sei g’scheit und red’ dem alten Trotzkopf zu, daß er ’runterzieht, eh’ der Winter ausgeht. Sonst passiert noch ein Unglück!“

Mathes schwieg.

„Also, und so wären wir in der Ordnung. Magst gleich ein’ Vorschuß haben? … Schau her, Geld liegt da wie Heu!“

„Z’erst will ich arbeiten. Mit’m Lohn hat’s Zeit, wenn ’s halbe Jahr aus ist.“

„Gut! Is mir auch recht! Die gleich ’s Geld allweil sehen wollen, die g’fallen mir eh’ net zum besten!“

Mathes erhob sich. „So weisen S’ mich halt gleich in d’ Arbeit ein!“

[644] „Geh, bleib’ sitzen, das pressiert net gar so arg. Z’erst muß i ich das Geld da überzählen!“ Ohne sich weiter um Mathes zu kümmern, begann Purtscheller die Banknoten abzublättern und die Geldstücke zu sortieren. Diese ihm sichtlich angenehme Beschäftigung unterbrach er mit der Frage: „Was meinst, wie viel daliegt am Tisch?“

„Aufs Geldschätzen versteh’ ich mich net!“ sagte Mathes trocken.

„Ganze zehntausend Mark! Ja, mein Lieber, so was kannst öfters bei mir sehen! Und mehr auch noch! Erst gestern hab’ ich in der Stadt drin dem Schloßbräu fufzigtausend, die an Neujahr erst fällig g’wesen wären, blank auf’n Tisch hin g’strichen! Der hat Augen g’macht! … Aber beim nächsten Rennen soll er noch ganz anders dreinschauen! Der!“ Purtscheller legte die Cigarre nieder, und während er ein Liedchen vor sich hinpfiff, zählte er: „dreihundert, vierhundert, fünfe, sechse, sieben, achte, neune … viertausend!“

Draußen im Treppenflur ließ sich ein leichter Schritt und das Geplauder einer milden Frauenstimme vernehmen. Dünne Röte glitt über Mathes’ Züge, und fester schlossen sich seine Hände um die Mütze.

Karlin’ trat ein. Noch auf der Schwelle nahm sie ihrem Bübchen, das sie an der Hand führte, die pelzbesetzte Mütze ab und löste das wollene Tuch, das dem Kinde um das Hälschen geschlungen war. „So, Schatzerl! Schau nur, wie schön warm daherin wieder is im Stüberl! Und jetzt geh’ hin und sag’ dem Vaterl schön Grüßgott!“ Als sie sich aufrichtete, sah sie das Geld auf dem Tisch, und ihre Lippen zitterten.

Mathes erhob sich.

Und jetzt erst gewahrte ihn Karlin’. „Mathes!“ Die Freude leuchtete aus ihren Augen – aber als hätte sie nicht den Mut, dieser Freude zu glauben, so blickte sie fragend von Mathes auf ihren Mann.

„Ja, der Mathes steht ein bei uns!“ sagte Purtscheller und zählte weiter: „Sechse, sieben, achte, neune … fünftausend!“

In wortloser Bewegung ging Karlin’ auf Mathes zu, und aufatmend, als wäre ihr eine drückende Sorge vom Herzen genommen, streckte sie ihm die beiden Hände hin.

Mathes nahm sie und sagte: „Grüß Gott, Frau Purtschellerin!“

Sie lächelte. „Aber Mathes! Frau Purtschellerin? Was fallt Dir denn ein! So geh und sag’ doch: Linerl! Ich bin’s ja seit meiner Kindheit gar net anders g’wöhnt von Dir!“

Mathes schüttelte den Kopf. „Das sind andere Zeiten g’wesen, Frau Purtschellerin!“

Sie sah ihn verwundert an. „Aber geh, was hast denn?“

„Recht hat er!“ fiel Purtscheller ein. „Der Knecht muß Respekt haben vor der Frau im Haus! Sieben, achte, neune … sechstausend!“

Karlin’ stand schweigend, strich die losen Härchen hinters Ohr und blickte in Gedanken auf ihren Knaben nieder. Tonerl schien seine Verpflichtung, den Vater zu grüßen, beim Anblick der himmelblauen Soldatenhose völlig vergessen zu haben. Mit flinken Schrittlein wackelte das kleine Kerlchen auf Mathes zu und griff nach dem roten Hosenstreif. Da bückte sich Mathes, hob den Knaben auf seinen Arm, betrachtete ihn lange, und während er ihn herzlich an sich drückte, sagte er leis: „Ganz die Ihrigen Augen hat er, Frau Purtschellerin!“

„Aber geh,“ schmollte Karlin’, „jetzt thust gar noch Sie sagen zu mir! … Gelt, Toni, das muß doch net sein?“

„Achte, neune, siebentausend!“ brummte Purtscheller. „Das kann er halten, wie er mag, der Mathes. Aber lieber is mir’s schon, er sagt Sie … wegen die andern Dienstboten.“

Mathes schien nicht zu hören, was Purtscheller sagte. Er hatte sich auf die Bank gesetzt und den Knaben auf den Schoß genommen. Mit scheuer Hand scheitelte er ihm die dünnen Härchen und fragte: „Geh, Büberl, weißt denn auch schon wie D’ heißen thust?“

„Tonele Putsella,“ antwortete das Bürschlein zutraulich und streckte die Hände nach der Soldatenmütze.

„So? ’s Kapperl willst haben? No schau …“ Mathes setzte dem Knaben die blaue Mütze auf, die ihm bis über die Ohren fiel, „jetzt bist ein kleins Soldaterl! Und so ein schöns! Du! Da hätt’ der Herr General sein’ Freud’ ’dran, wenn er Dich sehen möcht’!“

Das Bürschlein zog mit beiden Händen an der Mütze und jauchzte der Mutter zu: „Tonele Soldati, Mammi! Schöne Soldati!“

Die Freude des Kindes verscheuchte die drückende Stimmung, von welcher Karlin’ befallen schien. Lächelnd setzte sie sich neben Mathes auf die Bank und sagte: „Schau nur … sonst is er allweil so viel scheu gegen fremde Leut’ … und mit Dir is er gleich so schön zutraulich, als ob er Dich lang’ schon kennen thät’!“

„No ja, ich bin halt g’wöhnt mit Kinderln umz’gehen. Droben hab’ ich unsere zwei Hascherln … und wo ich die fünf Jahr’ her im Dienst g’wesen bin, da waren drei Kinder da, die den ganzen Tag allweil um mich ’rum g’wesen sind … eins grad’ so im Alter wie’s Tonerl!“

„Neuntausend neunhundert achtzig!“ Mit dieser Ziffer schloß Purtscheller seine Zählarbeit und erhob sich, um das Geld in einen Wandschrank einzuschließen. „So, Mathes, jetzt komm! Jetzt will ich Dich ’rumführen im Hof und will Dich mit unsere Ehhalten bekannt machen!“ Er zog den Sammetflaus an und setzte den Hut auf.

Mathes küßte dem Knaben die Wange und hob ihn auf den Schoß der Mutter.

„Aber gelt,“ sagte Karlin’, „wenn Dich jetzt eing’wöhnt hast bei uns, mußt mir einmal ganz g’nau erzählen, wie’s Dir denn eigentlich in der Fremd’ allweil ’gangen is die ganzen langen fünf Jahr her!“

„Ja, gern … wenn ich Zeit hab’, einmal,“ erwiderte Mathes, den Blick der jungen Frau vermeidend, und ging zur Thüre. „B’hüt Gott für jetzt!“

Sie sah ihn mit großen Augen an und nickte.

Purtscheller kam hinter dem Ofen hervor und knöpfte den Sammetflaus zu. „B’hüt Gott, Linerl! Und sei so gut und richt’ mir mein Jagdzeug her, ich möcht’ heut’ noch ein bißl ’naufschauen auf ein’ Gamsbock … die Brunft is im besten Gang … und der Schnee hat die Gams g’hörig ’runterdruckt, da brauch’ ich net hoch steigen. Gelt, sei so gut und richt’ mir alles her!“ Er wollte sie gnädig in die Wange kneifen.

Aber sie bog den Kopf zurück und wehrte mit dem Arm.

„No no no no? Was hast denn schon wieder?“ fuhr er geärgert auf und trat zurück. „Meiner Seel’, jetzt möcht’ ich schon bald wissen, was seit ein paar Wochen denn eigentlich los is mit Dir? Du mußt Dich ja rein verkühlt haben selbigsmal beim Feuer! Froschblut hast eh’ schon allweil g’habt … und jetzt, scheint mir, hast Dich ganz in ein’ Eiszapfen verwandelt! Paß auf, Du, solche G’schichten vertrag’ ich net!“

Brennende Röte schlug über Karlin’s Züge, und mit erschrockenem Blick suchte sie die Thüre. Aber Mathes hatte die Stube schon verlassen. Aufatmend erhob sie sich, und ohne ein Wort zu sagen, trug sie ihren Knaben in die Kammer hinaus.

Verblüfft sah ihr Purtscheller nach. „Ah, da hört sich aber doch alles auf!“ Mit zornigem Gelächter verließ er die Stube und warf hinter sich die Thüre zu, daß es durch das ganze Haus dröhnte.

„Da nimm Dir ein Beispiel d’ran!“ schalt er, als er im Flur mit Mathes zusammentraf. „Und schlag’ Dir nur ’s Heiraten aus’m Kopf! Nix wie G’frett und Aerger hat man mit die Frauenzimmer. Und die meinig’ is die reine Sulz … so kalt und langweilig … und wo man s’ anrührt, zittert s’!“

„Ich muß bitten, Herr Purtscheller,“ sagte Mathes mit heiserer Stimme, „reden S’ zu mir von solche Sachen net! Was Sie mit Ihrer Frau haben, geht kein’ andern was an! Und ’s Ehglück is was Heilig’s, mein’ ich. Da sollt’ man doch in anderer Weis’ d’rüber reden!“

Purtscheller schien nicht recht zu wissen, wie er diese von bebendem Ernst erfüllten Worte aufnehmen sollte. „Geh, Du Narr, Du!“ brummte er und stieg die Treppe hinunter.

Als sie nach einem raschen Gang durch die ebenerdigen Räume des Hauses den Wirtschaftshof betraten, hatte Purtscheller seine behagliche Laune schon wieder gefunden. Die Cigarre im Mund und die eine Hand in der Flaustasche, deutete er mit der anderen auf die verschneite Brandruine. „Den Stadel bauen wir im Frühjahr wieder auf. Aber nimmer aus Holz! Da dank ich schon, für so was! Sondern aus feste Mauern!“ Dann ließ er die Knechte und Mägde zusammenrufen und sagte: „Da schauts her! Das is der Simmerauer-Mathes! Der steht jetzt als Maier bei mir in der Wirtschaft ein! Und wenn ich net daheim bin, gilt

[645]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Der Stolz des Hauses.
Nach einem Gemälde von P. Torrini.

[646] sein Wort wie’s meinig’! Und wer net pariert, kann abfahren! Jetzt muß einmal ein anderer Zug in d’ Arbeit kommen!“

Die Leute sahen den Mathes mit scheuen Augen an; nur Zäzil lachte.

Mathes, der den üblen Eindruck, den Purtschellers grobe Worte gemacht hatten, wieder verwischen wollte, redete freundlich zu den Leuten und reichte jedem die Hand; nur Zäzil übersah er. Und dann sagte er noch zu allen: „Gelt, Leut’, wir kommen schon gut miteinander aus! Ich verlang’ von jedem nur, was recht is … und ’s Gröbste mach ich schon allweil selber! So helfen wir halt ordentlich z’samm’, daß der Purtschellerhof dasteht, wie er’s verdient! Gelt ja, Leut’?“

„Ja ja!“ sagte der Altknecht, und die anderen nickten. „Wenn wir den richtigen Wegweiser haben, laufen wir schon mit. Auf mich kannst Dich verlassen, Mathes!“

Purtscheller schmunzelte zufrieden; die Art, wie Mathes die Leute für sich gewonnen hatte, gefiel ihm. Und als sie weiterschritten, klopfte er ihn gnädig auf die Schulter. „Brav, Mathes! Ich merk’ schon, Du packst die Sach’ beim richtigen Zipfel an! Auf Dich kann ich mich verlassen.“ Er zeigte dem neuen „Maier“ noch den jetzt leer stehenden „Sportstall“, in welchem jedoch das Messingschildchen mit dem Namen „Herzbinkerl“ schon vertauscht war gegen ein neues, das in schöner Gravierung den Namen „Lüftikus“ trug. Dann war Purtscheller der Arbeit dieses Umherwanderns müde. „Jetzt muß ich schauen, daß ich zu meine Gamsböck’ ’naufkomm,“ sagte er. „Nimm Dir halt den Altknecht und laß Dir alles zeigen, was D’ sehen willst.“

Mathes versuchte noch eine Einwendung, da es doch manches zu besprechen geben würde; aber Purtscheller war nicht mehr zu halten. „Na, na, ich hab’ kein Zeit nimmer … und ich laß Dir freie Hand in allem, was D’ machen willst! B’hüt’ Dich Gott jetzt!“

Den Kopf schüttelnd blieb Mathes allein unter der Stallthür stehen und sah dem Purtscheller-Toni, der es so eilig hatte, mit bekümmerten Blicken nach. Dann rief er den Altknecht und ließ sich von ihm durch alle Ställe und Scheunen führen.

Von Schritt zu Schritt erkannte er mit wachsender Sorge die erschreckende Verwahrlosung, in der sich die ganze Wirtschaft befand. Er sah es gleich: hier kostete es entweder schweres Geld, oder zum mindesten ein Jahr rastloser und gedoppelter Arbeit, um den bös verfahrenen Karren wieder in gutes Geleis zu bringen und an der ins Stocken geratenen Maschine dieser weitläufigen Wirtschaft alle fehlenden Räder und Schrauben wieder einzusetzen. Und das wußte er auch: daß er trotz der zehntausend Mark, die er droben auf dem Tische hatte liegen sehen, einen schweren Stand haben würde, wenn er zu Purtscheller käme, um Geld für die Wirtschaft zu verlangen. Also blieb ihm zur Hilfe nur eines: seine Arbeit!

Der Altknecht, der sich vor Mathes’ sachkundigem Urteil der verlotterten Wirtschaft zu schämen schien, wollte mit scheltenden Vorwürfen alle Schuld auf den „Herrn“ schieben. Aber das wies Mathes mit ruhigen Worten zurück. „Wenn der Herr viel abg’halten is, müssen sich d’ Ehhalten doppelt fest zur Arbeit stellen,“ sagte er. „Und so wollen wir’s halten, gelt? Und ordentlich z’samm’helfen!“

Als sie aus der Wagenremise in den Hof traten, hörten sie vom ersten Stock herunter trotz der geschlossenen Fenster die in Jähzorn schreiende Stimme Purtschellers.

„Da! Jetzt schimpft er wieder mit der Frau!“ brummte der Altknecht. „Ich sag’ Dir’s, Mathes, die arme Frau hat ein unguts Leben! Und sie wär’ doch eine, wie man’s so bald net wieder find’t! Wenn die was z’reden hätt’, möcht’s anders ausschauen auf’m Hof! Aber gar kein Recht net laßt er ihr! Gar keins!“

Schweigend blickte Mathes zu den Fenstern hinauf, und seine Lippen zitterten. Dann sagte er: „Jetzt geh’ ich heim und hol’ mein’ Kufer. Essen thu ich droben … heut’ hab’ ich ja herunt’ noch nix g’arbeit’t. Aber bis um zwei, wenn Futterzeit im Stall is, bin ich schon wieder da.“

Durch das Hofthor trat er auf die Straße – dabei sah er die Stelle an, auf welcher Karlin’ am Morgen nach der Brandnacht gestanden und zu ihm gesagt hatte: „Vergeltsgott, Mathes!“

Er brauchte anderthalb Stunden, um durch den tiefen Schnee in die Simmerau hinaufzuwaten. Zu Hause kam er gerade recht, um sich zum gedeckten Tisch setzen zu können. Der Vater und die Mutter bestürmten ihn mit Fragen, wie er die Wirtschaft im Purtschellerhof gefunden hätte. Aber er sagte nur: „No ja, es schaut net gar so schlecht aus, und ich mein’ doch, es laßt sich bald alles wieder in gute Ordnung bringen.“

Nach dem Essen halfen ihm die Mutter und Vroni den Koffer packen. Als dann Mutter Katherl für einen Augenblick die Stube verließ, fragte Vroni hastig und leise: „Hast d’ Linerl ’troffen?“

„Ja.“

„Was hast denn g’red’t mit ihr?“

„Net viel. Ein paar Wört’ln halt! … Aber ’s Kindl hat mir so viel g’fallen!“

„Geh?“

„Ja! Und ganz ihre guten, stillen Augen hat’s.“

Mutter Katherl trat wieder ein, und die beiden schwiegen. – Um die gleiche Stunde saßen drunten im Purtschellerhof die Dienstboten in der Gesindestube um den Mittagstisch. Sie schwatzten vom „neuen Maier“, und ohne sich durch die für Mathes freundliche Stimme der anderen beirren zu lassen, führte Zäzil mit spöttischen Reden das große Wort. Plötzlich verstummte sie – die Purtschellerin, mit dem Tonerl auf den Armen, war in die Stube getreten.

Verwundert musterte Karlin’ den Tisch. „Wo is denn der Mathes?“

Als sie hörte, daß Mathes heimgegangen wäre, um seinen Koffer zu holen, setzte sie sich neben den Altknecht und fragte: „Hat er alles ang’schaut? Und was sagt er denn?“

„G’sagt hat er net viel … aber was er g’sagt hat, hat Hand und Fuß g’habt! Ja, Frau! Mit dem hat der Herr ein’ guten Griff g’macht! Reden thut er net viel … aber zwei Arm’ hat er! Sakradi! Da passen S’ auf: wenn der einmal ’s Schaffen anfangt! Der bringt was vom Fleck!“

Karlin’ lächelte, drückte ihr Kind an sich und streichelte ihm das Köpfchen, als hätte sie zu ihm sagen mögen: „Schatzerl, der schafft für Dich!“

Als die Dienstboten nach beendeter Mahlzeit das Gebet sprachen, betete sie mit heller Stimme mit. Dann ging sie, um das kleine Bürschlein, dem schon die Lider zufielen, für das gewohnte Mittagsschläfchen zur Ruhe zu bringen. Vom Hausflur rief sie der Magd in der Küche zu: „Morgen untertags, mein’ ich, wird der Herr wieder heimkommen. Gelt, schau, daß ein gut’s Stückl Wildbret für ihn bei der Hand is, damit er sein’ Sach’ gleich kriegt!“ Und leichteren Schrittes als sonst stieg sie über die Treppe hinauf.

Wenige Minuten vor zwei Uhr brachte Mathes atemlos seinen Koffer auf einem kleinen Schlitten in den Hof gezogen. Er war schon im Arbeitsgewand und hatte sich abgehetzt, um die Futterzeit nicht zu versäumen. Den Koffer, für dessen Bergung am Abend noch Zeit war, ließ er auf dem Schlitten stehen und eilte gleich in den Stall.

Als Karlin’ im Lauf des Nachmittags – sie hatte in der Waschküche etwas nachzusehen – herunterkam und über den Hof ging, vernahm sie seine Stimme. Da trat sie unter die Stallthür und hörte, wie er die Leute mahnte, beim Auslegen des Futters nicht so viel zu verstreuen. Und die Kühe, meinte er, müßten am Barren näher aneinandergerückt werden, damit sie durch Wühlen und Schleudern nicht so viel Futter verderben könnten. Diese Umstellung begann er auch gleich ins Werk zu setzen. Karlin’ sah dieses emsige Schaffen eine Weile mit an, und als seine Augen einmal für einen flüchtigen Blick den ihren begegneten, nickte sie ihm lächelnd zu. Dann kehrte sie ins Haus zurück. Vor der Thüre blieb sie sinnend stehen, atmete auf und strich die losen Härchen hinters Ohr.

Droben in der Stube setzte sie sich zur Arbeit; vor zwei Tagen war große Wäsche gewesen, und da waren nun all diese hundert Linnenstücke durchzusehen und die schadhaft gewordenen auszubessern. Karlin’ arbeitete bis zum Abend und dann bei der Lampe noch bis in die späte Nacht hinein. Sie hatte noch immer das Ihre gethan und in dem beschränkten Wirkungskreis, den Purtscheller ihr als Hausfrau zugestand, nie das geringste versäumt – aber so flink und eifrig wie heute war ihr die Arbeit noch selten von der Hand gegangen.

Alle anderen im Hause lagen um neun Uhr abends schon in den Federn. Nur Mathes saß in seiner dunklen Kammer noch auf, rauchte sein Pfeiflein, und während er die Arbeit des kommenden Tages überlegte, blickte er auf den Schnee hinaus, über den aus einem Fenster des oberen Stockes die rötliche Helle der Lampe fiel. –

(Fortsetzung folgt.)


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Blätter und Blüten.


Der Ausbruch des Lammbaches bei Kienholz. (Zu den Bildern S. 647 und 648.) Am oberen Ende des reizenden von hohen Bergen überragten Brienzer Sees im Berner Oberland liegen die freundlichen Ortschaften Brienz, Tracht und Kienholz. Sie stehen auf einer alten Kulturstätte, deren Kirche bereits im Jahre 1219 urkundlich genannt wird. In ihrer Nähe lag auch ein Schloß, in welchem die Berner im Jahre 1353 den Bund mit den Urkantonen geschlossen hatten. Es war aber ein unruhiger Boden, auf dem die Menschen sich hier angesiedelt hatten. Die Berge über Kienholz, aus welchen der Lammbach und der Schwandenbach kommen, waren seit uralten Zeiten von Wind und Wetter zernagt und häufig ereigneten sich in ihnen größere und kleinere Bergstürze. Kamen anhaltende Regen, so setzten sich die durchweichten Trümmermassen in Bewegung und dann stürzte mit unwiderstehlicher Gewalt ein Strom von Schlamm und Felsblöcken zu Thal und vernichtete alle Werke menschlichen Fleißes, die in seinem Wege lagen. Ein solcher gewaltiger „Murbruch“ ereignete sich vor beinahe 400 Jahren (1499) und vernichtete das Dorf Kienholz und das durch den Bundesschluß der Berner denkwürdige Schloß. Auf den wüsten Bergtrümmern siedelten sich jedoch von neuem Menschen an, aber die Murbrüche gaben ihnen keine Ruhe. Der Lamm- und der Schwandenbach brachen von Zeit zu Zeit aus und fügten Feldern und Hütten Schaden zu. In den jüngsten Tagen ereignete sich endlich eine gewaltige Katastrophe, die dem Unglück von l499 gleichzukommen scheint. Infolge starker Regen setzte sich Ende Mai ein Murgang im Bette des Lammbaches in Bewegung und erreichte nach einem Lauf von 1200 m Länge den Brienzer See. Damit waren aber die aufgerührten Bergmassen nicht zur Ruhe gekommen. Die Untersuchungen von Fachleuten führten zu der Erkenntnis, daß über kurz oder lang eine weitere Katastrophe zu befürchten sei und daß nunmehr die Orte Kienholz und Schwanden hart von ihr bedroht werden könnten.

Die Katastrophe bei Kienholz: Uebersicht über das Unfallgebiet.

Schon Ende August gingen diese Befürchtungen in Erfüllung. Am 21. August setzte sich der 300 m breite mit Steingeröll gefüllte Lammbach in Bewegung. Oben in den Bergen, wo das Gefälle steiler war, schossen die Geröllmassen mit rasender Geschwindigkeit vorwärts und rissen die steilen turmhohen Ufer des Murganges ein. In der Nähe des Dorfes Kienholz verlangsamte sich der Lauf der furchtbaren Geröllmasse und diesem Umstande verdanken die Einwohner die Rettung ihres Lebens. Die Bevölkerung zu Brienz wurde alarmiert und es gelang, die bewegliche Habe aus den Häusern und einen Teil der Ernte auf den Feldern zu retten. Nun aber ergossen sich die Massen gegen die Häuser. Von ihrer Wucht möge ein Beispiel zeugen. Ein Nebengebäude des Gasthauses „Wilhelm Tell“ wurde von dem Murbruch mit dem Fundament bis zum Seeufer fortbewegt, wo es schiefgeneigt stehen blieb. Der Bach zerstörte ferner den Damm der Brünigbahn und ergoß sich schließlich in den See. Gegen 200 Menschen sind bei dieser Katastrophe obdachlos geworden und haben ihre gesamte Habe verloren. Von unseren Abbildungen zeigt die eine die landschaftliche Lage von Kienholz, in der Mitte der Berge sieht man (bei L) die Schlucht, aus welcher der Lammbach hervorbricht, auf dem anderen Bilde die Geröllmassen des Murgangs und einen Teil der von ihm angerichteten Verwüstungen. Die Bilder sind nach Photographien hergestellt, die im Auftrage eines zur Linderung der Not in Brienz gebildeten Hilfskomitees aufgenommen wurden und zu Gunsten der so hart betroffenen Einwohner von Kienholz verkauft werden.

Nur durch kostspielige und lange Zeit in Anspruch nehmende Arbeiten dürfte es vielleicht möglich sein, ähnliche Katastrophen für die Zukunft zu verhüten. Bis dahin werden wohl die Einwohner der bedrohten Ortschaften ihre Wohnstätten räumen müssen. In die Lage der Unglücklichen können sich die Leser der „Gartenlaube“ wohl versetzen; ist doch der Kampf gegen das furchtbare Naturereignis des „Laufenden Berges“ dem trefflichen Hochlandsroman Ganghofers zu Grunde gelegt. *      

Der Tod des Brunelleschi. (Zu dem Bilde S. 633.) Der kürzlich verstorbene englische Maler F. Leighton, dem die Bewunderung seiner Königin den Lordstitel verlieh, führt in dem Bilde, das unsere heutige Nummer schmückt, ein geschichtliches Ereignis von ergreifender Wirkung vor. Es ist das Verscheiden des großen Baumeisters Filippo Brunelleschi, der am Tag vor Ostern, inmitten der Festvorbereitungen seine verlöschenden Blicke noch auf dem Werk seines Lebens, der florentinischen Domkuppel, ruhen läßt. Ghiberti, der Schöpfer der berühmten Erzthüren, umgeben von trauernden Freunden, hält seine Hand – der Tod beendet die lange Nebenbuhlerschaft der beiden, von welchen doch Brunelleschi der weitaus gewaltigere und größere war. Denn ihm gelang, das zu finden, um was seine ganze Zeit sich vergebens mühte: die Gesetze der Kuppelwölbung, und hiermit ein völlig Neues in die Baukunst zu stellen, das allen Späteren, selbst Michelangelo, als Grundlage diente.

Der Dombau zu Florenz, begonnen 1310 von Arnolfo di Cambio, fortgesetzt von Giotto 1334, stand lange unvollendet. Erst 1426 wurde eine Konkurrenz für den Kuppelabschluß ausgeschrieben, an welcher sich alle ersten Namen der an Künstlern so reichen Stadt beteiligten. Man hatte schlechte Erfahrungen mit Einstürzen der unrichtig gestützten Gewölbe gemacht, und in der allgemeinen Ratlosigkeit waren die sonderbarsten Projekte aufgetaucht, z. B. die Kuppel über einen Berg von Erde emporzuwölben und diese Erde, in welche Gold vergraben werden sollte, später freiwillig durch das Volk herausholen zu lassen! Da kam Brunelleschi, welcher früher in Rom, wo er Goldschmiedsarbeit zum Lebensunterhalt verrichten mußte, die antiken Bauten, besonders das Pantheon, den einzig erhaltenen Kuppelbau der Alten, studiert hatte, und siegte durch die Genialität seines Entwurfes über Ghiberti und alle anderen. Zur Ueberspannung eines Oktogons waren ganz neue, am Rundbau des Pantheons nicht angewandte Prinzipien zu finden, es war also ein Sieg der übermächtigen Geisteskraft, welcher jetzt Brunelleschi als ersten Baumeister die Vollendung des Domes in die Hand gab. Er führte sie, der stolze, ernste, in sich verschlossene Mann, lange Jahre durch einen Dornenweg von Hindernissen und Intriguen und sah die Wölbung der Kuppel in tadelloser Reinheit emporsteigen und sich runden. Die völlige Fertigstellung sollte er nicht mehr erleben: die „Laterne“ wurde erst nach seinem 1446 erfolgten Tode nach den von ihm gezeichneten Plänen ausgeführt. – Um seinen Ruhm zu sichern, brauchte es nicht des Standbildes, welches ihm die Florentiner errichteten und das ihn nahe dem Dom, zu seiner Kuppel aufschauend, darstellt. Diese selbst ist das schönste, am gewaltigsten redende Monument für ihren großen Erbauer.

Das Original des Bildes, das Leighton 1852 als Schüler Steinles in Frankfurt a. M. malte, wurde von ihm seinem Lehrer als Tribut der Dankbarkeit gestiftet und ist erst neuerdings aus Steinles Nachlaß an die Oeffentlichkeit gelangt. Der Güte des jetzigen Besitzers, Herrn Dr. v. Steinle, und Leightons Erben verdanken wir unsere Abbildung. A.     

Die Münchner Frauenarbeitsschule. Unter den vielen Bildungsanstalten der bayerischen Hauptstadt nimmt diese 1873 von dem „Verein für Volksbildung“ gegründete und seither stets erweiterte Schule einen hohen Rang ein; denn hier wird schon lange in That umgesetzt, was sich neuerdings durch die Frauenbewegung immer mehr als Bedürfnis herausstellt: die Erziehung zum ganz gründlichen Können, zur vollkommenen Bewältigung eines ganzen Arbeitsgebietes. Was früher der unablässige Hausfleiß sich allmählich erwarb, das muß heute eine systematische Schulung ersetzen, damit auf dem natürlichsten und größten weiblichen Arbeitsfelde wieder die sichere Praxis und Gewandtheit erworben werde, ohne welche keine gute berufsmäßige Leistung möglich ist. Da nun weitaus die meisten arbeitsuchenden Mädchen sich doch immer der wirtschaftlichen Thätigkeit widmen müssen, so erhellt ohne weiteres, wie wünschenswert es wäre, in jeder größeren Stadt eine Schule nach Art der Münchner Anstalt zu besitzen.

Im Erdgeschoß des großräumigen schönen Gebäudes am Anger befindet sich eine große saubere Wäscheküche mit prachtvollen Kesseln und Bütten. Hier wird die gesamte Feinwäsche gelehrt; nebenan ist der [648] Bügelraum mit den großen Rahmen und Kissen zum Spannen und Nadeln, die Glanzplätten etc., alles in schönster Ordnung und Vollkommenheit. In den obern Stockwerken folgen die Nähsäle, in denen zuerst alle Art von Handnähen der Leibwäsche, Flicken und Stopfen erlernt werden muß, ehe das Maschinennähen an die Reihe kommt. Gründlichste Unterweisung im Maßnehmen und Musterzeichnen begleitet diesen Unterricht; die Lehrerinnen kommen sämtlich aus der Praxis und bleiben in Verbindung mit dem Geschäftsleben. Was hier an schöner und zweckmäßiger Ausführung der schwierigsten Arbeiten geleistet wird, das erregt jeweils bei den Schulausstellungen die einstimmige Bewunderung der Münchner Frauenwelt: man sieht bei solchen Gelegenheiten, welcher erstaunlichen Vielseitigkeit unsere einfache Hausfreundin, die Nähmaschine, fähig ist! Eine eigene große Abteilung bilden dann die Schneidersäle. Auch hier führt der Unterricht, wie beim Weißnähen, von Stufe zu Stufe, vom einfachen Schnür- und Knopfloch bis zum kunstgerechten Volant und Plissé, dann folgt ein langer praktischer Kurs im Schnittzeichnen, Maßnehmen und Kleidermachen, bis zur vollen Freiheit und eigenen Erwerbsfähigkeit. Den halbtägigen Putzmacherinkurs leitet eine praktische Modistin, welche stets nebenbei für Kunden arbeitet und, wie die Schneiderlehrerin, sich alljährlich ihre Modelle aus Paris oder Berlin holt. Hierdurch ist die Schule vor dem Veralten geschützt. In anderen Sälen giebt es Strick- und Häkelarbeit, sowie wundervolle Kunststickereien, in eigenen Nachmittagskursen Freihand- und Ornamentzeichnen, beides nach den Prinzipien der Kunstgewerbeschule und im Anschluß an dieselbe gelehrt. Das Verdienst der vortrefflichen Organisation der Arbeitsschule gebührt dem derzeitigen Direktor Kriegbaum, der sie in langjähriger Thätigkeit zu so hoher Stufe emporgebracht hat. Er gründete auch die Schulsparkasse, wo die kleinen Pfennigeinlagen im Lauf einiger Jahre sich zum Kapital für den Ankauf einer Nähmaschine sammeln, welche dann die Schülerin beim Austritt als Basis ihres Erwerbes mitbekommt. So ist diese Frauenarbeitsschule zur Musteranstalt geworden und kann mit ihren Einrichtungen und Leistungen überall dort, wo man Aehnliches anstrebt, als Vorbild dienen. Br.     

Die Katastrophe bei Kienholz: Einzelbild aus der Zerstörung.

Ein Ball im Manöver. (Zu dem Bilde S. 640 und 641.) „Morgen rückt das Militär ein!“ geht es als neueste Kunde durch das Städtchen. Es hat keine Garnison, nur ein Bezirkskommando, bekommt aber fast alljährlich während der Manöver auf längere oder kürzere Zeit Einquartierung. Diesmal erwartet man dasselbe Bataillon, das auch im vorigen Jahre schon hier war, nebst dem Regimentsstabe. Es wird morgen nach beendeter Uebung einrücken und auch den folgenden Ruhetag in dem dadurch in förmliche Aufregung versetzten Städtchen bleiben. – Zwei junge Damen begegnen einander auf dem Marktplatz: „Weißt Du es schon, Anna?“ ruft die eine der Freundin ganz erregt entgegen. – „Ja, natürlich weiß ich’s, und sogar noch mehr,“ lautet die Antwort. „Soeben war Vorstandssitzuug in der ‚Harmonie‘. Sie haben beschlossen, daß morgen abend im Harmoniegarten italienische Nacht nebst Ball im Freien sein soll.“ – „Jst’s wahr? O, das ist ja herrlich!“ – Und es wurde in der That so herrlich, wie nur das ahnungsvolle Gemüt eines tanzlustigen Mägdeleins es sich im voraus ausmalen konnte. Der große Garten der „Harmonie“ – so heißt die Gesellschaft der Honoratioren – strahlt in dem magischen Glanze der Lampions und zu Guirlanden aneinandergereihten Papierlaternen, und von dem erhöhten Podium läßt die Regimentskapelle ihre verlockenden Weisen erschallen. Der Ball im Freien ist im vollen Gange. Zuerst natürlich Polonaise durch den Garten, eröffnet von dem Herrn Oberst und der Frau Bürgermeisterin. Dann drehen sich die Paare im frohen Reigen, oder man lustwandelt in den Pausen unter den Bäumen in der köstlich milden Abendluft, wobei die schneidigen Offiziere ihre ganze Liebenswürdigkeit zu entfalten bestrebt sind und als geborene Taktiker den „Angriff unter normalen Verhältnissen“ gegenüber jungen Damenherzen praktisch zu erproben suchen. Alte Bekanntschaften werden wieder angeknüpft, neue geschlossen, überall herrscht ungezwungene Heiterkeit und frohe Laune. Nicht minder lustig geht es an den Tischen zu, wo man sich niederläßt, um zu plaudern oder sich an dem zu erlaben, was Küche und Keller der „Harmonie“ zu bieten vermögen. Das große Ereignis des Tages hat natürlich auch zahlreiche Neugierige aus dem Städtchen herbeigelockt, die nicht den Vorzug genießen, zu den Honoratioren zu gehören. Sie suchen wenigstens über den Zaun zu blicken; manche haben sogar unter irgend einem Vorwande in den Garten zu dringen gewußt und schauen nun, in respektvoller Entfernung stehend, bewundernd dem lebhaften farbenreichen Bilde zu. Der heutige Abend wird noch auf geraume Zeit hinaus den Stoff für die Unterhaltung der Einwohner liefern, zumal die nächste Nummer des im Städtchen erscheinenden Blattes unter den Familiennachrichten zwei interessante, aber nicht unerwartet kommende Neuigkeiten brachte: das Töchterlein des Bürgermeisters und der Regimentsadjutant, sowie eine Tochter des in der Nähe begüterten früheren Obersten des Regiments und dessen jüngster Lieutenant empfahlen sich darin als Verlobte. Ja, es ist doch etwas Schönes um so einen Ball im Manöver! F. R.     

Der Stolz des Hauses. (Zu dem Bilde S. 645.) Das Haus, dessen Stolz der kleine Stammhalter ist, den wir hier auf dem Schoß seiner Mutter sehen, ist zwar nur ein Gärtnerhäuschen auf dem Lande. Aber stolzer als diese auf ihn kann auch nicht die feine Signora in der herrschaftlichen Villa, zu der es gehört, auf ihren Bambino sein, den sie in diesem Sommer zum erstenmal mit aufs Land hinaus gebracht hat. Wie Mutterliebe und Freude an Kindern die Herzen nähern und Standesunterschiede freundlich auszugleichen verstehen, zeigt das Bild des Italieners Torrini in gar liebenswürdiger Weise. Die Freude am eigenen Kind hat in der Dame das Interesse für die Ankunft des kleinen Burschen im Gärtnerhause geweckt, und sie hat ihren Mann und die bei ihr weilenden Eltern veranlaßt, mit ihr dort einen Besuch abzustatten. Dem verräucherten Wohnraum der armen Leute ist solche Ehre bisher noch nicht widerfahren, und mit gesteigertem Stolz blicken die Eltern und die alte Großmutter auf den kleinen Prachtkerl, der, kaum ein paar Wochen alt, schon solche Wunder bewirkt. l.     



Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff. S. 629. – Erster Versuch. Bild. S. 629. – Die neue Berliner „Urania“. Von Franz Bendt. S. 632. Mit Abbildungen S. 632, 634, 635, 636 und 637. – Der Tod des Brunelleschi. Bild. S. 633. – Fritz Reuters Briefe an seine Braut, nach den Originalen im Nachlaß der Witwe. Erläutert von Johannes Proelß (Schluß). S. 638. – Ein Ball im Manöver. Bild. S. 640 und 641. – Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (14. Fortsetzung). S. 643. – Der Stolz des Hauses. Bild. S. 645. – Blätter und Blüten: Der Ansbruch des Lammbaches bei Kienholz. S. 647. Mit Abbildungen S. 647 und 648. – Der Tod des Brunelleschi. S. 647. (Zu dem Bilde S. 633.) – Die Münchner Frauenarbeitsschule. S. 647. – Ein Ball im Manöver. S. 648. (Zu dem Bilde S. 640 und 641.) – Der Stolz des Hauses. S. 648. (Zu dem Bilde S. 645.)


Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 75 Pf bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 50 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 38. 1896.


Das Bombardement von Sansibar. Ein Kranz arabischer Kolonien umsäumt seit uralten Zeiten die Ostküste von Afrika. Zu Anfang dieses Jahrhunderts errang unter ihnen das Sultanat Sansibar die führende Stellung. Seine Bedeutung war beachtenswert; war doch Sansibar der Stapelplatz des ostafrikanischen Handels, das Thor, durch das man nach Ostafrika gelangte. Die Autorität des Sultans von Sansibar reichte, soweit die Araber von der Küste in das Innere des dunkeln Weltteils vordrangen – bis zu den großen Seen und gar bis zum oberen Kongo. Sansibar war auch der Ausgangspunkt berühmter Forscherkarawanen. Ein Teil des Erwerbs der Araber im Handel oder vielmehr im Raub von Elfenbein und Sklaven kam als Tribut oder Zoll dem Sultan zu gute, so daß er auf der schönen Insel Sansibar ein herrliches Leben führen und sich auch einen Palast bauen konnte, der, in der Nähe des Strandes, von Veranden umgeben, einen für dortige Verhältnisse bedeutenden Anblick bot.

Sultan Hamed bin Thwain.

Fürst Lobanow.

Als die europäische Kolonialbewegung auch auf die Ostküste von Afrika sich erstreckte, schmolz die Macht der Araber bald dahin. Die Besitzungen auf dem Festlande erwarb Deutschland, und der Rest des Sultanats wurde unter englisches Protektorat gestellt. In Wirklichkeit waren fortan die Sultane von Sansibar nur Scheinherrscher, die aber über nicht geringe Einnahmen verfügten. Darum konnte noch immer der Thron von Sansibar ehrgeizigen Araberprinzen verlockend erscheinen. Seit dem Jahre 1893 saß auf ihm ein ruhiger Mann, Hamed bin Thwain, dem schon beim Regierungsantritt dessen Onkel Said Kalid die Würde ohne Erfolg streitig machte. Am 25. August starb Sultan Hamed bin Thwain so plötzlich, daß die Behauptung entstand, man habe ihn vergiftet. Noch in derselben Nacht bemächtigte sich der ehrgeizige Said Kalid des Palastes, ließ den Toten begraben und rief sich zum Sultan aus. Mit 700 Soldaten und einigen Geschützen verschanzte er sich in dem leichtgebauten Palaste. Er hatte aber die Rechnung ohne den Wirt, den Schutzherrn von Sansibar, gemacht. Die Engländer zogen ihre an der Ostküste kreuzenden Kriegsschiffe zusammen, Admiral Rawson stellte ein Ultimatum, und als Said Kalid in verblendeter Weise, anstatt sich zu ergeben, seine Flagge auf dem Palast weiter flattern ließ, begann bereits den 27. August um 9 Uhr vormittags das Bombardement. Der Palast und das daneben befindliche Zollgebäude wurden in 50 Minuten in Trümmer geschossen[.] Auch der schwache Dampfer des Sultans, der die Schüsse der Engländer erwiderte, sank bald unter den Kugeln des Feindes auf den Grund. Die Herrschaft Said Kalids war zu Ende, und der Besiegte floh in das deutsche Konsulat, wo er nun den Schutz eines politischen Flüchtlings genießen durfte. Auf dem Thron Sansibars sitzt nun wieder ein den Engländern gefügiger Herrscher. Hoffentlich bringt das rasche Unterdrücken des jüngsten Putsches den Arabern die Ueberzeugung bei, daß die Tage ihrer Herrschaft in Ostafrika dahingegangen sind, daß sie sich fortan den Anordnungen europäischer Mächte zu fügen haben. Unser Bild stellt den Palast und dessen nähere Umgebung dar. Im Vordergrunde erblicken wir den Leuchtturm; hinter ihm ist ein Teil des „alten Palastes“ versteckt, während rechts der „neue“ Palast mit seinen zahlreichen Veranden sich erhebt. Links neben dem alten Palaste erstreckt sich das lange Gebäude des Harems. Im Vordergrunde schwimmt der inzwischen von den Engländern in Grund geschossene Dampfer des Sultans.

Fürst Lobanow. Die letzten Kaisertage in Wien haben auch eine politische Bedeutung gehabt. Man behauptet, daß während derselben Oesterreich-Ungarn und Rußland zu einem Einverständnis über ihre Stellung zu den bedrohlichen Wirren im Orient gelangt sind. Freunde des Friedens können ein solches Einverständnis nur willkommen heißen. Mit um so größerem Bedauern wurde darum in Europa die Nachricht aufgenommen, daß einer der hervorragendsten Teilnehmer an jenen Verhandlungen, der russische Minister des Aeußern, Fürst Lobanow, auf der Rückreise von Petersburg nach Kiew am 30. August im Hofzuge des Zaren plötzlich gestorben sei.

Fürst Alexej Borissowitsch Lobanow-Rostowskij wurde am 30. Dezember 1824 zu Petersburg geboren. Er entstammte einem alten russischen Fürstengeschlechte, als dessen Urahn Fürst Iwan gilt, den man Loban, das heißt „starke Stirn“, nannte. Fürst Lobanow trat bereits im Jahre 1844 ins Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten ein. In Paris begann er seine diplomatische Laufbahn und war später, 1850, Gesandtschaftssekretär in Berlin. Lange Zeit, von 1856 bis 1863, wirkte er in Konstantinopel, zuletzt als Gesandter, bis er infolge von Meinungsverschiedenheiten mit dem russischen Reichskanzler, Fürsten Gortschakow, aus dem diplomatischen Dienst schied und in den inneren Verwaltungsämtern Rußlands beschäftigt wurde. 1878 wurde er jedoch wieder zum Botschafter in Konstantinopel ernannt, nahm am Berliner Kongreß teil und ging 1879 als Botschafter nach London. Im Jahre 1882 kam er in gleicher Eigenschaft nach Wien, wo er dreizehn Jahre wirkte. Hierauf bestimmte ihn Kaiser Nikolaus II. für den Botschafterposten in Berlin. Da starb der russische Minister des Aeußern, Giers, und nun wurde Lobanow diese wichtige Stellung übertragen. Fürst Lobanow beschäftigte sich eifrig mit geschichtlichen Studien und war nicht nur Diplomat, sondern auch ein Gelehrter. Man betrauert in ihm einen friedliebenden Staatsmann, der namentlich die Beziehungen Rußlands zu Oesterreich-Ungarn freundlich zu gestalten gewußt hat.


Der Palast des Sultans in Sansibar vor dem Bombardement.

[648 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]