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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 36.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (12. Fortsetzung.)

Mathes hatte im ersten Augenblick den Umfang der Gefahr auf dem Purtschellerhofe richtig erkannt: die in Brand geratene Scheune mußte man verloren geben, sie war vom Boden bis unter das Dach mit Getreidegarben angefüllt, und die brannten weg wie mürber Zunder; gegen dieses hastig fressende Feuer war nicht mehr anzukämpfen und es kostete schwere Arbeit genug, um wenigstens die umliegenden Wirtschaftsgebäude und die Ställe gegen den Anflug der Flammen zu schützen. Als dieses Rettungswerk in eifrigem und wirksam fortschreitendem Gange war, machte sich Mathes daran, das Vieh, das sich unter ohrbetäubendem Gebrüll in den Ketten würgte, aus seiner Qual und Angst zu erlösen. Er suchte sich die kräftigsten Bursche und Knechte aus, damit sie ihm bei diesem harten Stück Arbeit behilflich wären. Jedes einzelne Stück Vieh mußte gewaltsam aus dem Stall geführt und in einem entlegenen Teil des Gartens angepflöckt werden, denn die vom Lärm und Feuer scheu gemachten Tiere würden sich in sinnloser Flucht so weit verlaufen haben, daß man sie wohl in Wochen nicht mehr zusammengefunden hätte. Als das letzte Stück Vieh und alle Pferde in Sicherheit gebracht waren, kehrte Mathes in den Hof zurück und stellte sich an die Pumpe. All’ die anderen, die an seiner Seite arbeiteten und den Spritzenschwengel zogen, ließen sich von Zeit zu Zeit ablösen – nur Mathes nicht.

Als es gegen die fünfte Morgenstunde ging und der Tag schon matt zu grauen begann, war alle Gefahr überwunden und die Scheune in Asche und glimmende Kohlen zerfallen, deren letzte Glut der zischende Wasserstrahl der Pumpe leicht erstickte. Nun konnte die Spritze hinüberfahren zum Bäckenhaus, um auch dort die versinkenden Flammen vollends zu löschen.

Mit durchnäßten Kleidern, an denen kaum ein Faden mehr trocken war, und zitternd vor Erschöpfung und Kälte, stand Karlin’, als die Leute sich entfernten, unter dem Hofthor; und jedem, der hinausging, reichte sie die Hand. „Vergeltsgott, Nachbar! … Vergeltsgott, Bub! … Vergeltsgott, Mad’l! Hast Dich auch noch plagen müssen!“ Und jedes, dem sie ihr „Vergeltsgott“ sagte, hatte ein freundlich tröstendes Wort für sie. So deutlich, wie in dieser Stunde, hatte es Karlin’ noch nie gemerkt, wie gut ihr alle Leute waren. Diese Erkenntnis that ihr wohl und hauchte ein bißchen Wärme auf ihre bleichen, erschöpften Wangen.

Der Hofraum leerte sich. Nur Purtschellers Dienstleute waren noch bei der Arbeit, um die Pferde und das Vieh in die Ställe zurückzuführen, und der alte Simmerauer mit seinen Kindern half ihnen dabei. Dann konnten auch diese letzten gehen. Karlin’ wartete beim Hofthor, bis sie kamen, und reichte dem Alten die Hand. „Vergeltsgott, Michel! Tausendmal Vergeltsgott. Hast selber die härteste Sorg’ daheim und bist dengerst ’kommen!“

„Wär’ net übel, Frau Purtschellerin, wenn der Mensch kein’ Zeit net übrig hätt’ für sein’ bedrängten Nachbar!“ Der Alte streichelte Karlin’s Hand. „In der Not muß man z’samm’helfen, ja! Der gute Herr Purtscheller hat mir ja auch sein’ Hilf’ an’boten! … Wo is er denn? Daß ich ihm d’ Hand drucken kann?“

Elefant in Vorderindien mit religiösem Stirnstempel.
Nach einer Originalphotographie von Dr. K. Boeck in Berchtesgaden.

[598] „Ich weiß net!“ Es zuckte um Karlin’s Lippen. „Bei der Arbeit wird er sein … denk’ ich mir …“ Sie konnte nicht weiter sprechen und wandte sich zu Vroni.

Schweigend legte das Mädchen den Arm um Karlin’s Hals und schmiegte die Wange an das Gesicht der jungen Frau.

„Da kommt der Mathes auch!“ sagte Karlin’ mit schwankender Stimme. Sie machte sich von den Armen des Mädchens los, und während Vroni den Vater zum Hofthor hinauszog, ging Karlin’ auf Mathes zu und reichte ihm die beiden Hände.

„Vergeltsgott! ……… Vergeltsgott!“

Mathes erschrak, als er sie ansah. „Aber Linerl! Um Gottswillen, wie stehst denn da! Hast ja kein’ trocknen Faden mehr am Leib! Mußt Dir ja was holen bei so einer Kälten! Ich bitt’ Dich um Christi willen, geh doch ’nauf und thu Dich umg’wanden!“

„Ja, Mathes, ja, gleich geh’ ich ’nauf; bloß auf Dich hab’ ich noch gewart’, daß ich Dir Dein Vergeltsgott sagen kann … schau, ’s erste Wörtl nach so viel’ Jahr’!“ Sie drückte seine Hände und sah ihm in die Augen.

„Aber geh, Linerl! Ein Vergeltsgott? Mir? Das braucht’s ja doch net! … Schau nur an, wie der Wind herblast! Du mußt Dir ja was holen! Ich bitt’ Dich, geh ’nauf! … Und schau, es pressiert mir ja selber, daß ich heimkomm’! … B’hüt Dich Gott wieder, Linerl!“

„B’hüt Dich Gott!“ Lächelnd und mit nassen Augen nickte sie zu ihm auf, strich die losen Härchen hinters Ohr und ging der Hausthür zu. Auf halbem Wege kehrte sie um und rief: „Mathes! …. Die heutige Nacht vergiß ich Dir mein Leben nimmer! Vergeltsgott, Mathes!“

Er stand schon unter dem Thor. „Aber geh!“ sagte er, zog verlegen die Schultern auf und schob die Hände in die Joppentaschen, als ob er irgend etwas zu suchen hätte. Dann lächelte er und trat auf die Straße hinaus.

„Komm, Bub!“ sagte der Simmerauer, der auf ihn gewartet hatte. „Schauen wir, daß wir heimkommen! … Mein Gott, wie wird’s droben ausschauen!“

„Gut, Vater! Schau her …“ Mathes stampfte mit dem Fuß, daß die harte Erde klang, „der Boden is fest g’froren … und den thaut sobald kein’ Sonn’ nimmer auf! Heut noch, mein’ ich, fallt der Schnee! Und da haben wir gute Zeit, Vater!“

„Ja, kannst recht haben! … Aber die Angst, die d’Mutter heut’ in der Nacht ausg’standen haben muß, so allein in dem Häusl da droben! … Komm, Bub! Machen wir uns auf d’Füß’!“

„Ja! Aber wo is denn d’ Vroni?“

„Sie kommt gleich nach! Ein Sprüngl hat s’ ins Ort ’nein g’macht, nachschauen, wie’s der armen Bäckin geht.“

„Der Bäckin? … So so?“ Mathes nickte und spähte gegen die Daxen-Schmiede hinüber.

Während sie mit raschen Schritten dem Gehäng des laufenden Berges zustrebten, jammerte der Simmerauer: „Das arme Weiberleut! Die hat’s aber hart ’troffen in der heutigen Nacht! Alles verlieren müssen! Und ’s Häusl dazu! So ein schön’s Häusl! Völlig erbarmen thut s’ mich, ja! Und was soll s’ denn machen auf ihre alten Tag’? Sie hat ja kein’ Menschen net, als den Luftikus, den Daxen-Schorschl, der sich selber net erhalten kann! Mein Gott, mein Gott, die arme Frau!“

Als sie in der kalten Morgendämmerung über den ersten Wiesenhügel emporstiegen, blieb Mathes stehen und blickte nach dem Purtschellerhof zurück. Dünner Rauch, der zuweilen aussetzte, kräuselte sich noch über das Hausdach empor; doch nur ein scharfes Auge konnte ihn unterscheiden, denn er verschmolz beinahe mit der grauen, dunstigen Morgenluft zu einem einzigen Ton.

Der Hofraum, von welchem Mathes einen Teil überblicken konnte, war leer – Karlin’ hatte das Haus schon längst betreten.

Im oberen Stock des Purtschellerhofes, in der Wohnstube, hatten die Fenster noch roten Lichtschein. Jetzt verschwand er – Karlin’ hatte die Hängelampe ausgelöscht, welche sie brennend vorgefunden.

Erschöpft und zitternd stand die junge Frau am Tisch, starrte kopfschüttelnd die drei geleerten Weinflaschen an und sah in dem von Cigarrenrauch und Lampenqualm erfüllten Raum umher, mit so verlorenem Blick, als wäre sie in einer fremden Stube und wüßte nicht, durch welchen Irrtum sie hierhergekommen.

Ein Schauer befiel sie. Mit langsamen Händen strich sie an den nassen Kleidern hinunter, die ihr halb gefroren am Körper klebten, nickte vor sich hin und murmelte: „Ja, der Mathes hat recht, ich muß mich umg’wanden!“

Sie trat in die Schlafkammer, und da sah sie ihren Mann in der Feuerwehruniform und mit den Stiefeln auf dem Bett liegen. Als die Thüre ging, erwachte er halb aus seinem Dusel, seufzte schwer und drehte sich auf die Seite. Karlin’ wollte zu ihm gehen, aber ihr Schritt stockte, als wären ihr die Füße auf den Dielen angewachsen. Doch gewaltsam überwand sie dieses Widerstreben, ging auf das Lager zu und faßte die Hand ihres Mannes.

„Toni!“

„Geh, laß mich schlafen!“ brummte er und zog die Hand zurück. „Wie Blei liegt’s mir in alle Glieder!“ Dann richtete er halb den Kopf in die Höhe, blickte sie mit verschwommenen Augen an, und während er sprach, spürte Karlin’ den Geruch des Weines. „Wie schaut’s denn aus drunten?“

„’s Feuer is g’löscht, und die Leut’ sind fort.“

„Hast Dich bedankt bei die Leut’?“

„Ja!“

„Hast ein’ Wein oder Bier aufstellen lassen und Cigarren hergeben?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Du denkst aber auch an gar nix! Alles liegt auf mir! Alles!“ Wieder seufzte er und drückte den schweren Kopf in die Kissen. „Mit Dir is einer aufg’richt’, ja, das muß ich sagen!“

Wortlos wandte sich Karlin’ ab, ging zum Kasten und nahm heraus, was sie an Wäsche und Kleidern brauchte.

Als sie zur Thüre wollte, fragte Purtscheller unwillig: „Wohin denn schon wieder?“

„Zu meinem Kind!“

Karlin’s Stimme klang verändert. Und dieser fremde Klang schien auch ihrem Manne aufzufallen, trotz seines Dusels; er stierte sie an, als stünde nicht seine Frau, sondern eine andere vor ihm, die er noch nie gesehen hatte.

„Ich bitt’ Dich, mach’ mir jetzt keine so närrischen G’schichten!“ murrte er. „Was hast denn?“

Ohne zu antworten, verließ Karlin’ die Kammer. In der Stube kleidete sie sich um. Dann stieg sie die Treppe hinunter und verließ das Haus, wie eine Träumende, immer an der Mauer sich forttastend. Im Garten blieb sie stehen und atmete auf. Nun ging sie raschen Schrittes über die Straße und trat ins Nachbarhaus.

In einer niederen, behaglich durchwärmten Stube, durch deren kleine Fenster schüchtern das erste weiße Licht des Tages schimmerte, fand Karlin’ die alte Bäuerin in einem Lehnstuhl neben dem Ledersofa, auf welchem dem kleinen Tonerl mit geblumten Kissen ein wohliges lindes Bettchen hergerichtet war. Das Kind hatte rote Wangen, und ruhig gingen seine Atemzüge.

„Schauen S’ nur, wie gut er schlaft!“ flüsterte die Bäuerin. „Und guter Schlaf is Kinderglück! Da übertaucht so ein Hascherl alles und kann noch lachen dazu!“ Sie erhob sich, um ihren Platz der Mutter einzuräumen.

„Vergeltsgott, Nachbarin!“ sagte Karlin’ und drückte die Hände der alten Frau. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, während sie sich über die Kissen beugte und mit sachter Hand die dünnen Löckchen ihres Kindes streichelte. Die Bäuerin wollte von dem Unglück der Nacht zu reden beginnen, aber Karlin’ blickte flehend zu ihr auf und lispelte: „Ich bitt’ schön, Nachbarin, reden wir lieber net … ’s Kindl könnt’ aufwachen!“ Sie ließ sich müde in den Lehnstuhl sinken. „Und gelt, ich darf schon noch ein bißl bleiben … daherin is so schön still und warm … und das thut mir so wohl! Gelt, ich kann ein bißl bleiben?“

„Aber ja, Purtschellerin! So lang’, wie S’ mögen! … Natürlich, so die ganze Nacht bei’m eiskalten Wasser! So was geht ins Blut! Ja! Und da sollten S’ halt jetzt ein bißl was zum Auffrischen kriegen? Oder net? Was meinen S’ denn, wenn ich ein’ recht ein’ guten Kaffee machen thät’? Ja?“

„Ich bitt’ schön, Nachbarin … aber sein muß ’s net!“

„Aber ja! Aber freilich! Auf der Stell’!“ Und geschäftig humpelte die alte Frau zur Thüre hinaus.

Karlin’ wollte das kleine Händchen ihres Knaben fassen, das aus den Kissen hervorlugte – und da hauchte sie zuerst ihre Finger an, damit sie nicht so kalt wären. Nun saß sie regungslos, in tiefen Zügen atmend, den Kopf zurückgesunken in den Lehnenwinkel des Sessels. Vom nahen Ofen, in dem das Feuer knisterte, strömte die Wärme an ihren Körper und in ihr Gesicht. Das [599] frösteln ihrer Glieder löste sich, ihre Wangen begannen sich zu röten, und nach aller Angst und Erschöpfung dieser Nacht fiel ihr der Schlummer über die Augen. Doch auch im Schlaf noch schienen ihre Gedanken und Vorstellungen sich in Unruh’ zu bewegen, das verriet sich in dem zuckenden Spiel ihrer Mienen. Nur einmal lächelte sie im Traum und dabei flüsterten ihre Lippen: „Mathes? … Vergeltsgott, Mathes!“

Der kleine Vogel der Wanduhr rief die sechste Morgenstunde:

„Kuckuck!“

In der winterlichen Stube ein Frühlingsruf!

Doch weder das schlummernde Kind noch seine müde Mutter erwachte. Die Bäuerin, als sie den dampfenden Kaffee brachte, mußte die beiden wecken.

11.

Auf der Straße begann im kalten Grau schon das Leben des Morgens. Die Ochsengespanne zogen mit schwerem Schritt, die Leiterwagen rasselten und die Leute gingen ihrer Arbeit nach. Der erst halb zerflossene Rauch der beiden Brandstätten lag wie ein Schleier über dem ganzen Thal, und der widerliche Geruch des verbrannten Mehls erfüllte die Luft. Das war kein Morgen, um die Menschen fröhlich zu stimmen – und dennoch gingen die Leute auf der Straße mit vergnügten Gesichtern und lachendem Gruß aneinander vorüber. Jeder freute sich, daß das Unglück dieser Nacht an seinem Haus mit einem Umweg vorbeigeschritten war! Freilich äußerte keiner diese Freude und wenn sie auf der Straße beisammenstanden und von dem Brande schwatzten, wenn sie über den Zaun des Purtschellerhofes guckten oder den rauchenden Schutthaufen des Bäckerhauses betrachteten, wiegten sie ernst die Köpfe und sprachen breit von dem Mitgefühl, welches sie für die vom Unglück Betroffenen empfanden. Von Purtscheller war dabei wenig die Rede – nur von Karlin’ und von der armen Bäckin. Der Purtscheller-Toni würde den Stadel im Frühjahr wieder aufbauen, und wenn er auch ein paar tausend Mark an Getreide und Winterfutter verloren hätte, so könnte er den Schaden doch verschmerzen. Aber die Bäckin, die zur Bettlerin geworden war! Was sollte die verarmte Frau beginnen? Und dazu wäre sie von der überstandenen Angst so schwach und elend, daß man für ihre „dicke“ Gesundheit, vielleicht sogar für ihr Leben fürchten müßte. Wenigstens hätte der Doktor, welchen Schorschl noch in der Nacht gerufen, ein gar bedenkliches Gesicht gemacht.

Noch vor Anbruch des Tages hatte sich diese Nachricht im Dorf verbreitet, und in der Morgendämmerung wurde der Hof der Daxen-Schmiede nicht leer von Leuten, die aus Neugier oder Mitgefühl nach dem Befinden der Bäckin fragen wollten. Mit leisem Schwatzen standen sie vor der Werkstätte um das Thor gedrängt, welches Schorschl in der Nacht halb eingedrückt hatte, und lugten durch die Spalten der Bretter, oder sie belagerten die kleinen Fenster, um einen Blick in das Innere der Werkstätte zu erhaschen.

Vor dem Fenster, das gegen den Obstgarten der Schmiede ging, hatte sich Vroni ein Plätzchen erobert, und da stand sie mit pochendem Herzen und dunkelrotem Gesicht, spähte bald mit atemloser Vorsicht durch die halb erblindete Scheibe, bald wieder fuhr sie erschrocken mit dem Kopf zurück, als hätte sich drinnen in der Werkstätte irgend ein schreckhaftes Ungeheuer dem Fenster genähert.

Der Morgen wurde heller und heller. „Jesses, na! Ich muß ja doch heim!“ murmelte Vroni ein um das andere Mal vor sich hin und blickte in Unruh und Sorge über das sich grau entschleiernde Gehänge des laufenden Berges hinauf. Aber das „Mitleid mit der Bäckin“ war so stark in ihr, daß sie das kleine Fenster nicht verlassen konnte. All die anderen Neugierigen verzogen sich und gingen nach Hause – nur Vroni zögerte noch immer, ohne recht zu wissen, auf was sie denn eigentlich wartete.

Hinter ihr im Garten klangen die Beilschläge der beiden Zimmerleute, welche im ersten Morgengrauen begonnen halten, die Pfosten für die neuen Thüren zu zimmern, welche man in die Stubenwände der Daxen-Schmiede einsetzen mußte, um die Bäckenmahm’ aus der Werkstätte in einen wohnlicheren Aufenthalt verbringen zu können. Vorne im Haus waren auch schon die Maurer bei der Arbeit, um mit möglichst wenig Geräusch die alten Thürstöcke auszubrechen und die Lichtung in der Mauer zu erweitern.

Als Schorschl noch vor Anbruch des Tages die Handwerksleute vom Brandplatz weg geholt hatte, waren sie willig mit ihm gegangen, obwohl das Lohnversprechen, das ihnen der Daxen-Schorschl gab, etwas unbestimmt lautete. „Ich zahl’ schon einmal!“ hatte er gesagt. „Wann? Das weiß ich freilich selber net! Aber ich kann doch das arme, kranke Weiberleut net in der Werkstatt auf’m Boden liegen lassen! Seids halt so gut und helsts mir ein bißl!“

Während nun die Zimmerleute im Garten emsig auf die Balken loshackten, konnte Vroni sie mit halblauten Stimmen von dem „G’frett“ plaudern hören, das der Daxen-Schorschl haben würde, um in dem mit langen Schritten der Gant zulaufenden Hause sich selbst, die Bäckin und dazu noch deren Magd zu erhalten, die ihm zur Pflege der kranken Frau doch unentbehrlich war! „Man müßt’ ihm eigentlich doch ein bißl beibringen,“ meinte der Zimmermeister, „und schauen, daß ihm d’ Leut’ wieder Arbeit zutragen!“

Das hörte Vroni, und sie atmete so erleichtert auf, als hätte man ihr selbst eine ersehnte Wohlthat versprochen. Freilich, was ging sie „der da drinnen“ an? Mit dem „Wildling“ hatte sie ausgeredet ein für allemal! Aber wenn die Leute dem Daxen-Schorschl ein wenig auf die Beine halfen, das kam doch auch der armen Bäckin zu gute – und deshalb freute sie sich!

„Jetzt muß ich aber heim!“

Seufzend über das „harte Los der Bäckin“ warf sie noch einen letzten langen Blick durch die trübe Scheibe des Fensters und wollte sich um die Hausecke schleichen. Doch mit purpurrotem Gesichte fuhr sie zurück.

Schorschl war aus der Werkstätte getreten und ging zum Brunnen. In den Händen hielt er eine große irdene Schüssel mit einer Wasserflasche und zwei Gläsern, und ein paar nasse Handtücher hingen ihm über die Schulter. Er trug noch die von Brandlöchern durchsiebte Joppe; aber das Gesicht hatte er gewaschen; dabei hatte er freilich nur den Ruß und Mörtelstaub weggebracht, die roten Schrunden, welche ihm die scharfkantigen Mauerbrocken in Stirne, Nase und Wangen gerissen hatten, waren geblieben: und auf der einen Seite des Kopfes hatten ihm die Feuerfunken das Haar bis auf die Haut versengt – das war anzusehen, als hätte der Daxen-Schorschl Türke werden wollen, sich aber mit halb rasiertem Kopf noch eines besseren besonnen!

Beim Brunnen pumpte er so energisch, daß das Wasser mit dickem Strahl aus der Röhre schoß – freilich, aufs „pumpen“ verstand sich Schorschl wie kein anderer – und dann begann er die Handtücher auszuwaschen und die Gläser zu spülen.

Er stellte sich dabei durchaus nicht ungeschickt an – aber Vroni, die mit der Nasenspitze hinter der Hausecke hervorguckte, meinte doch, daß ihm diese Frauenzimmerarbeit nicht recht von der Hand ginge. Wär’s ein anderer gewesen als der Daxen-Schorschl, sie wäre flink zum Brunnen gesprungen und hätte ihm die Mühe abgenommen. Aber „dem da“ helfen? Nicht um die Welt!

Während Schorschl wusch und plätscherte, spähte er immer wieder nach allen Seiten, wie in Sehnsucht, einen Menschen zu sehen; aber die Straße war leer.

„Natürlich! Die ganze Nacht sind s’ mir auf die Füß’ umeinander ’treten!“ brummte er. „Und jetzt, wo ich ein’ brauch’, laßt sich keiner anschauen!“

Da sah er einen Buben mit dem Schulränzlein daherkommen und rief ihm zu: „Du, Büberl, geh, sei so gut, lauf’ zum Wirt ’nüber und sag’ ihm, er soll mir aus’m Eiskeller ein’ Zuber voll Eis ’rüberschicken.“

„Ich kann net, ich muß in d’ Schul’!“

„Aber schau, hast ja noch Zeit! Und ich brauch das Eis für die kranke Mahm’! Geh, Büberl, sei brav, lauf ’nüber!“

„Ich muß in d’ Schul’!“ wiederholte der kleine Bursch verlegen und trabte am Zaun vorüber.

Schon wollte Schorschl dem Buben ein Paar gesunde Grobheiten mit auf den Weg geben, als er hinter sich eine schwankende Mädchenstimme fragen hörte: „Schorschl? … Könnt’ ich net den Weg zum Wirt ’nüber machen?“

Der Daxen-Schorschl fuhr beim Klang dieser Stimme auf, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen. Und während er mit gespreizten Fingern, von denen das Wasser niedertropfte, vor Vroni zurücktrat, betrachtete er zuerst das Mädchen vom Kopf bis zu den Füßen, dann die Kratzwunden auf seiner Hand. Dazu lachte er ganz merkwürdig. „Ah, da schau her! … Du!“ sagte er und wischte mit der Hand über die Hüfte, als stünde noch das Blut auf den Wunden, die ihm das „liebe Katzerl“ geschlagen hatte. „Was willst denn?“

Die Antwort kam nicht gleich und klang auch nicht besonders freundlich. „Ob ich net ein bißl helfen muß … hab’ ich g’meint.“

[600] „So so? Helfen?“ Schorschl streifte mit schiefem Blick die blaue Schürze, die sich im kalten Morgenwind unruhig bewegte. „Helfen? So? … Wie gestern vielleicht? … Und mir willst helfen?“

„Dir?“ Vronis Augen schossen einen finsteren Blick. „Na! Dir net! … Der armen Bäckin aber gern!“

„So so? Der Bäckin? … Mir also net?“

Da fuhr sie ihn zornig an: „Der Bäckin, hab’ ich g’sagt!“

„Ich dank’ schön! Der Bäckin hilf ich selber! B’hüt Dich Gott!“

Mit diesem Gruß ließ Schorschl das Mädchen stehen, ging auf die Straße hinaus und eilte ins Wirtshaus hinüber, um das Eis zu holen.

Verblüfft und geärgert sah ihm Vroni nach. Schon wollte sie den Hof verlassen, aber da kam ihr in Gedanken die Frage: „Was kann denn die arme Bäckin dafür? Daß ihr so einer helfen muß!“ Sie ging zum Brunnen, spülte das Geschirr, wusch die Handtücher, daß kein Flecklein mehr an ihnen war, und trug die Sachen in die Schmiede. „O Du mein lieber Herrgott!“ stammelte sie bewegt, als sie bei dem Zwielicht, das die graue Morgenhelle und ein in der Esse flackerndes Holzfeuer in dem großen, rußgeschwärzten Raum verbreitete, die schwer geprüfte Frau in den von Schorschl aus dem ganzen Haus zusammengeschleppten Decken und Kissen auf der Erde liegen sah. Da man ein für ihren Umfang passendes Gewand zum Austausch für die durchnäßten Kleider nicht hatte auftreiben können, hatte man sie in zwei zusammengeheftete Leintücher und in den weiten, schweren Wintermantel gehüllt, der noch von Schorschls Vater und Großvater stammte. Ein nasser Umschlag bedeckte ihre Stirn, die Augen und das halbe Gesicht; kraftlos lagen die rund gepolsterten Hände auf der Decke und glühten von heißem Fieber.

„Schorscherl?“ lispelte die Kranke, als sie den Schritt des Mädchens auf der Schwelle hörte.

Mit zitternden Händen stellte Vroni das Geschirr auf den Amboß und sagte leis: „Ich bin’s, Bäckin, die Simmerauer-Vroni!“

„So? … Wo is denn mein Schorscherl?“

„Ins Wirtshaus is er ’nüber ’gangen, für Dich ein bißl ein Eis holen, weißt!“

„Kommt er bald wieder?“

„Ja, Bäckin!“ Vroni hatte sich auf die Kniee niedergelassen und streichelte die heißen Hände der Kranken. „Gleich wird er wieder da sein! Gleich!“

Da atmete die Bäckenmahm’ tief auf und ein mattes Lächeln huschte um ihre Lippen. „Mein Schorscherl! … Gott sei Dank, daß ich den noch hab’! … Und so viel ungut bin ich g’wesen zu ihm, wie er mich braucht hätt’!“ Sie hörte einen Schritt. „Kommt er schon?“ Aber es war die Magd, die aus der Küche kam und eine Schale mit Fleischsuppe brachte.

Thränen waren in Vronis Augen getreten. Hätte ihr die Bäckin eine lange Stunde das Lob des Daxen-Schorschl vorgesungen, es hätte bei Vroni nicht so tief gewirkt wie dieses erleichternde Aufatmen der Kranken, wie dieses matte Lächeln und der dankbar zärtliche Klang dieses kurzen Namens: „Mein Schorscherl!“

Mit fürsorglicher Geschäftigkeit war sie der Magd behilflich, um der Kranken die Suppe einzuflößen Dann erhob sie sich und versprach „ganz g’wiß“, recht bald wieder nachzuschauen, wie es der „lieben Bäckin“ ginge.

Als sie in den Hof hinaus trat, kam ihr Schorschl mit dem Eis entgegen. Sie nickte ihm zu und sagte: „B’hüt Dich Gott, Schorschl! Jetzt muß ich heim … aber die Handtücher hab’ ich Dir noch g’schwind ausswaschen! B’hüt Dich Gott!“

Er machte große Augen und schien nicht recht zu wissen, wie ihm geschah. Und während er kopfschüttelnd in die Schmiede trat, brummte er, was vom vergangenen Tag her seine Lippen so gewohnt waren: „B’hüt Dich Gott, Katzerl!“

Unwillig blieb Vroni stehen. „Katzerl! Allweil wieder: Katzerl!“ murrte sie. „Ich möcht’ nur wissen, was er denn eigentlich hat mit dem unsinnigen G’red da!“ Sie machte Miene, wieder umzukehren, um sich diesen zweifelhaften Kosenamen allen Ernstes zu verbitten.

Aber da sah sie, daß es durch die grauen Lüfte weiß und gaukelnd niederfiel – erst waren es nur ein paar vereinzelte Flocken – aber droben in der Höhe lösten sich alle Wolken schon in licht herniedersinkknde Schleier.

Mit warm aufquellender Freude dachte Vroni an die Ihrigen zu Hause. „Gott sei Lob und Dank! Der Winter is da!“ Sie begann zu laufen, daß ihre Röcke flatterten, und als sie an dem noch rauchenden Brandschutt des Bäckenhauses vorüberkam, wirbelten ihr die weißen Flocken schon in dichtem Tanze um den Kopf.

Straß’ auf und ab tönte das lustige Geschrei der Schulkinder, welche ihre Ränzlein und Taschen zu Boden warfen, um den ersten noch dünn liegenden Schnee von den Bretterplanken der Zäune zu streifen und die nassen Ballen mit sicher gezieltem Wurf hinter ein ahnungsloses Ohr zu pflanzen. Das kreischende Spiel setzte sich von der Straße in alle Gärten fort, sogar auf die Brandstätte, deren qualmende Ruine den tollenden Humor der Kinder nicht zu beeinträchtigen vermochte. Höchstens, daß das eine und andere ein paar Sekunden stehen blieb, um mit scheuem Blick die kahlen, rauchgeschwärzten Mauern zu überhuschen – dann ging’s aber gleich wieder mit Lachen und Kreischen in das lustige Treiben hinein. Und da gab es nun plötzlich für die Kinder ein großes, wundersames Ereignis! Ein Junge, der im Garten der Brandstätte den Schnee zu einem Ballen zusammenraffte, hatte einen Apfel gefunden. Das wäre nun allerdings für die Kinder nichts Neues und Erstaunliches gewesen. Aber der Apfel war gebraten! Freilich kalt – aber wunderschön gebraten, so recht wie der ideal gebratene Apfel sein soll: auf der einen Seite schön weich, auf der anderen Seite noch etwas fester, damit man doch Abwechslung im Genusse hat!

Zuerst betrachtete der Junge seinen merkwürdigen Fund mit verblüfften Augen; dann dachte er sich: probieren geht übers Studieren – und grub alle Zähne in den Apfel. Das schmeckte so gut, daß der Junge schmatzte vor Vergnügen. Er rief sein Schwesterchen und ließ es am Apfel beißen – die anderen Kinder sammelten sich mit neidischen Blicken um das Pärchen – und plötzlich machte jenes Bürschlein, das für den Daxen-Schorschl nicht zum Wirt hatte gehen wollen, weil es „in die Schule mußte“, die aufregende Entdeckung, daß all die vom Feuer versengten Bäume im Garten der Bäckin noch voll von gebratenen Aepfeln hingen. Da gab es nun, während lustig die Flocken tanzten, bis in die höchsten Aeste hinauf ein Klettern um die Wette und der Lehrer in der Schule hatte lang’ auf seine Schüler zu warten. Wie ein lärmender Spatzenschwarm hockte die Kinderschar im Gezweig, speiste die gebratenen Aepfel vom Baum und ergötzte sich an der wundersamen Schlaraffiade, zu der sich das Unglück der Nacht verwandelt hatte.

Man konnte das Jauchzen und Kreischen der Kinder bis hinüber zur Daxen-Schmiede hören, in welcher die arme Bäckin auf ihrem Schmerzenslager ruhte.

(Fortsetzung folgt.)


Fritz Reuters Briefe an seine Braut.

Nach den Originalen im Nachlaß der Witwe.
Erläutert von Johannes Proelß.

  (1. Fortsetzung.)


Von der Antwort, die der Dichter auf den ersten Brief an das Mädchen seiner Liebe von diesem empfing, ist uns leider ebensowenig erhalten geblieben wie von all den anderen Herzensbekenntnissen, durch welche Luise als Braut ihren Erwählten erschütterte und beglückte. Aber aus des Empfängers nächstem uns erhaltenen Briefe läßt sich erkennen, daß sein treues Werben auf keinen hartnäckigen Widerstand stieß, und daß, als sie beide im nächsten Frühjahr sich wiedersahen, die Zweifel und Bedenken soweit überwunden waren, um dem natürlichen Drange inniger Herzensneigung zu weichen. Rittermannshagen liegt Thalberg und Stavenhagen nahe genug und Reuter genoß genug persönliche Freiheit, um ein öfteres Zusammentreffen mit der Geliebten zu ermöglichen. Und alle Lust und Wonne, welche der Wiederschein und Wiederhall des jungen Lenzes in glücklich liebenden Herzen weckt, alle Poesie, die in blühenden Geißblattlauben und im Schatten frischgrünender Linden bei Küssen und Kosen ein frohes Liebespaar überkommt, ist in jenem Frühjahr 1847, trotz aller gemeinsamen Sorgen, unserem seligaufatmenden Freund und seiner Braut zu teil geworden.

[601]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Lohengrin und Elsa am Hochzeitsabend.
Nach dem Gemälde von C. Schweninger.

[602] Unser nächster Brief trägt das Datum des 10. Mai dieses für Reuter reichgesegneten Jahres. Luise hat sich inzwischen mit ihm verlobt, wenn auch zunächst nur heimlich; an die Stelle des zaghaften „Sie“ ist das trauliche „Du“ getreten; der Sonnenschein froher Zuversicht auf eine gemeinsam zu erringende glückliche Zukunft leuchtet ungebrochen aus diesen Zeilen. Und zugleich tritt in ihnen eine andere Zuversicht hervor – die Ueberzeugung, dass die Ideale, für welche Reuter die lange, trübe Kerkerhaft erlitten, sich im Vaterland zu verwirklichen beginnen. Die Nähe des Jahres 1848, welches das erste Parlament Alldeutschlands ins Leben treten sah, kündet sich in diesem Briefe bei allem Bewußtsein der noch herrschenden Uebelstände in hoffnungsfrohen Lerchentönen an, und das Schlagwort seines demokratischen Fortschrittsglaubens „Alles für – alles durch das Volk“ überträgt er auf sein Herzensleben: „Alles für – alles durch meine Luise!“

  „Liebe, süße Luise,
Was soll ich Dir schreiben, was Dir sagen, um Dir den ganzen heißen Dank eines glücklichen Herzens abzustatten? wie können diese todten Zeilen wohl jenen Weg zu Deinem Herzen finden, den das lebendige Wort fand? Oh, Luise, hättest Du damals in meine Brust blicken können, Du hättest einen Abgrund von Seeligkeit geschaut, Du würdest stolzer Dein schönes Haupt erheben, weil Du die Schöpferin solcher Wonnen warst. Wie lieb’ ich Dich! wie denk’ ich an Dich, wie denk’ ich für Dich! Tausend Pläne für Dein Glück tauchen in mir auf, mit dem gläubigsten muthigsten Herzen verfolge ich sie, zu tausend Mühen und Entsagungen bin ich bereit, wenn es Dich, einen so herrlichen Preis, gilt. Oh fürchte Dich nicht, süßes, geliebtes Mädchen, Den nur erwarten Täuschungen auf dieser Erde, der das Glück außer sich selbst sucht, der den Gütern des Lebens einen so hohen Preis setzt, daß er sie auf Kosten seiner Ruhe zu erringen sucht; wir beide werden nicht getäuscht werden, wenn wir das Glück in uns selbst und Eins in dem Andern suchen. Unser Loos, was wir uns gar noch erst zwei Jahre hindurch zu erkämpfen haben, wird und kann nur ein sehr bescheidenes sein; aber es ist doch keine Niete, und am Schlusse unsers Lebens werden wir auch dankbar für das kleine Glück sein, was uns gefallen.

Liebe Luise, Gott hat die Zukunft unsers Glücks in eine schwere, hartbedrängte Zeit gelegt. Die Noth, die auf allen Klassen der Gesellschaft lastet, drückt uns freilich nicht unmittelbar, aber die Folgen können und werden sich gewiß auch auf uns erstrecken, die Erwerbung einer Brodtstelle, eines noch so kleinen Besitzes wird sicherlich sehr dadurch erschwert werden; aber so schwer wie augenblicklich, glaube ich, wird es gewiß nicht bleiben und darum vertraue auf mich, ich bin aus den Jahren des Unbedachts hinaus und die mannigfachen Erfahrungen meines Lebens können für Dich, was sie mich auch gekostet haben, nur seegensreich sein und wenn ich ins tiefste Innere meiner Seele blicke, so sehe ich dort den Entschluß und den festen Willen, Dich glücklich zu machen. Doch Du hast mir selbst gestanden, daß Du an meine aufrichtige Liebe glaubest, und dafür seegne Dich Gott!

Blicke um Dich, liebe Luise, es ist eine inhaltschwere Zeit, worin es dem Weibe wohl Noth thut, sich an den Mann anzuschließen, um nicht niedergetreten zu werden in dem rastlosen Treiben; es ist eine Zeit der Partheiung, ein Ringen nach einem neuen Werden nicht etwa auf der Oberfläche der Welt, nein in deren tiefstem Grunde, in die bescheidensten und verborgensten Verhältnisse dringend, zugleich hoffnungsreich und furchterregend. Diese Zeit ist für jeden denkenden Menschen verderbenschwangerer, als das brausende Meer, als der tückische Vulkan; darum, liebes Mädchen, schließe Dich an an einen Mann, der den Willen und will’s Gott, auch die Kraft hat, Dich zu schützen gegen die Stürme der Zeit. Die Könige und die Gewaltigen dieser Erde schwingen ihre modernden Paniere mit dem Rufe „Alles für das Volk“; aber man glaubt ihnen nicht mehr. Das selbstständig gewordene Bürgerthum schaart sich um die Vertreter der Intelligenz mit dem Rufe „Alles durch das Volk“. Das sind die Stichworte der beiden Partheien und nie haben sich feindlichere gegen einander über gestanden. Wo ist hier eine Versöhnung möglich, Partheien haben nie den Geist der Liebe gekannt, durch den allein die Versöhnung möglich wird. Aber was hat dieser Brief, was mein jetziges Leben und Sein mit der Politik zu thun? Ich habe nur ein Ziel, für das ich streite, nur ein Gegenstand erfüllt mich ganz und das ist Deine Liebe; dort herrscht keine Parthei, dort geht Eins in das Andere auf, nur für meine Luise denke, fühle und bin ich, nur Dein Glück ist mein Zweck und nur durch Dich will ich selber glücklich werden. Also: „Alles für meine Luise“ und „Alles durch meine Luise“!

Holdes, süßes Mädchen, es giebt gewiß in dem Leben jedes Menschen Momente, in die sich die ganze Zukunft zusammendrängt, in denen sich der Keim zukünftigen Glücks und Unglücks entwickelt. Heil dem Menschen! den Gott befähigt, solche Stunden zu erkennen, heil mir! daß ich einer dieser Auserwählten geworden bin und daß ich fort und fort an diese Wahrheit geglaubt habe. Der Augenblick, in dem ich Dich zum erstenmale in R: sah, war ein solcher; mit welcher Ueberraschung, ich kann wohl sagen Staunen, erblickte ich Deine hohe schlanke Gestalt, mit welcher Ahnung zukünftiger Wonne sog ich den reizenden Ausdruck Deiner lieblichen Züge in mich, lauschte ich dem Wohllaute Deiner Stimme, Deines Gesanges und wie durchfuhr mich der Gedanke an Liebe zu Dir. Und Du hast geglaubt ich sei kalt? und Du hast geglaubt, es sei diese Liebe nichts anders als eine grundlose Hartnäckigkeit des Vorsatzes? Was Du für Kälte hieltst war der Ernst und die Wahrheit meiner Liebe, war das Gefühl der Ehrerbietung, das in meiner Brust durch die Ueberzeugung reiner Liebe erweckt werden mußte, was Du für Caprice hieltst war die Stärke dieser Ueberzeugung und der Glaube daran und der Entschluß, doch fest zu halten, sei’s an dem Glück, sei’s an dem Unglück, wenn’s nur von Dir herrührte. Ich liebe Dich mit einer Gluth, von der Du keine Ahnung hast, Du bist bei mir des Tags unter den Menschen, Du bist bei mir in der Stille der Nacht, in meinen Träumen. Mein Leben ist in zwei Hälften getheilt, in die Erinnerung an Dich, an die Stunden, in denen ich mit Dir allein war und in die Hoffnung auf Dich, auf die Stunden, in denen ich mit Dir allein sein werde. Die Gegenwart geht spurlos an mir vorüber, sie berührt mich aber deswegen auch nicht unangenehm, ich bin heiter und fröhlich, denn ich glaube an eine noch schönere Gegenwart, und der einzige Kummer, den ich habe, ist der Gedanke, daß Du, mein Leben, meine Liebe, daß Du leidest, daß für Dich die Gegenwart drückend und verletzend sei, daß der Trübsinn Dich beschleichen und Deine Gesundheit untergraben kann.

Entschuldige mich bei Herr und Madame Schweer, daß ich heute nicht an sie geschrieben habe, ich habe es wirklich sehr eilig und überhaupt jetzt viel zu thun. Die Doctorin Liepmann habe ich in Stav. gesprochen, muß aber leider gestehen, daß ich sie sehr schwach und sehr verändert gefunden habe. Die allgemeine Stimme hat sie aufgegeben; ihren Mann habe ich nicht darnach fragen mögen. Sie war zwar auf und schien sehr heiter; aber man sah ihr Leiden deutlich.

Nun lebe wohl, mein holdes Mädchen, gedenke meiner, wie ich Deiner gedenken will und schreibe bald, ob Du noch so freundlich gegen mich gesonnen bist, wie Du es warst; was Du denkst, was Du hoffst, was Du fürchtest; Du weißt, daß es eine Brust giebt, die mit Dir alles fühlt. Luise, ich bin Dir auch gar zu gut! Lebewohl! Auf immer
Dein F. Reuter. 

Thalberg d. 10ten May 1847.

Den Ring meiner Mutter schicke ich Dir lieber nicht, ich bringe ihn Dir selbst, hoffentlich Michaelis, wenn ich bei Deinen Eltern gewesen bin. Liebes, liebes Mädchen!“


Wir sehen, ein Schatten trübt doch auch jetzt das selige Liebesglück, das Reuter dem Jawort seiner Luise verdankt: sie ist leidend. Die Sorge, daß für sie die Gegenwart drückend und verletzend sein, daß der Trübsinn sie beschleichen und ihre Gesundheit untergraben könne, ist aber nicht etwa in ihrer Liebe zu Reuter, sondern in ihrer eigenen Lage begründet. Sie hat um diese Zeit ihre Stellung bei Augustins in Rittermannshagen aufgegeben und inzwischen Unterkunft oder eine neue Stelle bei den obengenannten Schweers gefunden, die wie dem nächsten Briefe zu entnehmen ist – in Ludwigslust wohnten. Diese Sorge um ihr Wohlergehen verbündete sich in seinem Herzen mit der Sehnsucht, sie in seiner Nähe zu haben. Die treue, vielbewährte Freundschaft seines allzeit hilfsbereiten Peters und seiner Frau, mit der sich Reuter nicht weniger gut stand, fand auch hierfür die richtige Lösung. Sie luden die Braut ihres getreuen „Statthalters“ ein, bis zu ihrer [603] Verheiratung zu ihnen zu kommen, um an der Seite der Gutsherrin die ländliche Hauswirtschaft zu erlernen. Wir dürfen dies aus dem Anfang unseres nächsten Briefes und der Thatsache schließen, daß im nächsten Jahr Luise wirklich einer solchen Einladung Folge leistete; auch der weitere Schluß ist gestattet, daß die Eltern des Mädchens, wie sie selbst, Bedenken trugen, in ein so nahes Zusammenleben der Verlobten zu willigen, ehe ihr Bund nicht den Segen der ersteren erhalten hatte. Dafür aber erfolgte eine Einladung an Reuter zu einem längeren Besuche im Pfarrhaus zu Roggensdorf, wo das Pastorspaar Kunze mit nicht geringer Spannung der Gelegenheit entgegen sah, den Mann, den ihre Aelteste sich zum Gatten erwählt, persönlich kennenzulernen. Roggensdorf, zwischen Lübeck und Wismar, nahe der nordwestlichen Grenze von Mecklenburg-Schwerin gelegen, während Thalberg bereits jenseit der östlichen Grenze auf pommerschem Boden liegt, war für die damaligen Verkehrsverhältnisse schon ein recht entferntes Reiseziel. So erklärt sich der Ton der Enttäuschung, in welchem der nachfolgende Brief anhebt.

„Thalberg d. 1sten August 1847.     
Das ist eine sehr traurige Nachricht, die Dein letzter Brief enthält, sie ist nicht allein betrübend dadurch, daß sie uns vieler Freuden, vieler Annehmlichkeiten beraubt, ich halte sie vielmehr deßhalb für sehr schlimm, weil sie uns der Möglichkeit beraubt, uns bis in’s kleinste kennen zu lernen; es wäre dies von unaussprechlichem Nutzen und sehr bildendem Einflusse für uns gewesen.

Du hast Dich darüber getröstet, das ist gut, aber ich kann nicht anders, als es tief bedauern, daß Du hierdurch die Gelegenheit verlierst, Deine Gesundheit zu kräftigen. Wirst Du es auch wohl bei Sch. ertragen können? Doch hievon wollen wir mündlich sprechen; denn ich habe mich entschlossen Deiner Aufforderung nach Roggensdorf zu kommen, Genüge zu leisten. – Es ist dies ein Ersatz – aber ein sehr geringer im Vergleich mit dem Glücke, das uns im andern Fall bevorstand. Ob ich Recht thue, Deiner Einladung nach Rogg. zu folgen? Ich hoffe es; aber wenn es Unrecht sein sollte, so wäre es das erste Unrecht, was ich gegen Dich beginge, indem ich meiner Freude Dein Wohl nachsetzte, denn ich glaube, daß ich alle Ursache habe, für Dich sparsam zu sein, und solche Reise geht nicht ohne Kosten ab. Bedenke aber auch: ob Du Deinen Eltern nicht eine Last aufbürdest, die ihnen bei dem andern Besuch, den sie schon dort haben, drückend werden könnte; dies ist natürlich keine Ziererei von meiner Seite, sondern wirkliche Besorgniß. Und doch will ich wünschen, daß Du beide Puncte schon zu meinen Gunsten entschieden hast und daß ich Dich auf diese Weise wiedersehe. Unsere Erndte geht, bei dieser günstigen Witterung so rasch, daß ich recht wohl abkommen kann. Daher schreibe ich Dir zu, daß ich Dich treffen will in Roggensdorf, wenn Gott nicht unübersteiglichc Hindernisse in den Weg legt. Ich werde um den 14ten August herum in Roggensdorf eintreffen, und Dich dort, oder, wer kann’s wissen, Dich schon zufällig in Grewismichlen vorfinden.….. Diese seeligen 14 Tage müssen wir recht ausbeuten, um Kraft zu gewinnen für eine lange Trennung. Wie werde ich so glücklich sein! wie will ich Dich küssen, wie Dir so ganz angehören, Du sollst die Ueberzeugung noch mehr gewinnen, wie sehr ich Dich liebe. Du sollst mich fest an Dein liebes Herz drücken, und die schattige Laube soll Deinen lieben Worten lauschen, die meinen trunkenen Ohren wie süße Lieder erklingen. Ich fürchte keine Kälte von Deiner Seite, ich weiß es jetzt, daß Du mich liebst, ich fürchte nur die Störungen von Außen und diese müssen wir so viel, wie möglich beseitigen. Sei nur ja recht wohl! Bringe ja recht viele Noten mit, meinen Zeichenapparat bringe ich ebenfalls mit.

Ach! liebe Luise, das wird eine glückliche Zeit, Dich 14 Tage hindurch zu hören, Dich täglich zu sehen, mit Dir unter einem Dache zu schlafen, Dich fort und fort zu küssen und Dir zu jeder Stunde sagen zu können, wie sehr ich Dich liebe! Wie werde ich mein Glück ertragen, wie die Zeit bis dahin aushalten? Wenn Du diesen Brief erhalten hast, setze Dich gleich hin und schreibe mir ein paar Worte; aber sogleich, und schicke den Brief direct an mich, nicht durch Wilhelm[1], denn ich fürchte, daß er ihn aufhalten könnte, dann werde ich ihn zeitig genug erhalten, um zu rechter Zeit eintreffen zu können. Thue dies ja mein liebes Kind, Du sollst auch 100 Küsse extra dafür erhalten.“

Und so kam denn der Tag, an welchem Fritz Reuter in das Roggensdorfer Pfarrhaus einzog. Die Augustsonne lag leuchtend über den erntereifen Getreidefeldern, ein Hauch von Erntesegen umspielte die alten Linden, die vor dem langgestreckten einstöckigen Wohnhaus neben der Kirche stehen, und das Vorgefühl des Elternsegens, den er sich für seine Ehe mit Luise zu holen kam, die auch seinem bisher so unruhevollen Leben eine Zeit der Ernte sichern sollte, beseligte ihn beim Betreten des Hauses. Er freute sich unsäglich auf das Wiedersehen mit Luising, aber das ihm hier zur Pflicht werdende Sicheinbiedern in eine ihm doch fremde Familie schuf ihm auch einiges Unbehagen. Ein Pastor – eine Frau Pastorin – die haben gewiß strenge Grundsätze! Wird man mich verirrtes, vielverfemtes Weltkind denn hier verstehen? So ging’s ihm durch den Sinn. Er ahnte nicht, daß ihn in den vier Wänden des Heims seiner Braut ein Glück erwarte, das für die geheimsten Wunden seiner Seele heilenden Balsam bereit hatte – der Ersatz für das unter so demütigenden Umständen verlorene Vaterhaus! Er ahnte nicht, welche Bedeutung die Bekanntschaft mit Luisens Eltern für die Erntezeit seines Lebens erhalten sollte – in ihnen lernte der Dichter von „Ut mine Stromtid“ die Originale für die Frau Pastorin Behrens und „ihren Pastor“ kennen!

Von einer ähnlichen Poesie verklärt, wie sie die Eltern Friederikens in Goethes „Sesenheimer Idylle“ und die dort gerühmten Pfarrersleute in Goldsmiths „Vicar of Wakefield“ umspielt, so leben die Eltern von Reuters Braut in den ergreifendsten Kapiteln seines bedeutendsten Romans über ihren Tod hinaus weiter. Alles Gute und Tüchtige, was ihren poetischen Abbildern dort nachgerühmt wird, muß nach den Versicherungen Solcher, welche Poesie und Wirklichkeit vergleichen konnten, ihnen eigen gewesen sein. Aber zur Kinderlosigkeit wie das Gürlitzer Pastorspaar im Roman war das Roggensdorfer nicht verurteilt, und ein fremdes Töchterchen an Kindesstatt anzunehmen, wie es jene in „Ut mine Stromtid“ an Karl Hawermanns kleinem Luising thun, mußte ihnen fernliegen. Neben dem eigenen großen Luising, das sie in die Fremde hinausgegeben hatten, um Selbständigkeit zu erlernen und sein Wissen und Können in einem Beruf zu bethätigen, hatten sie an Kindern eine so reiche Zahl, daß ihnen die Aufgabe, alle zu tüchtigen Menschen heranzuziehen und sie in der Welt vorwärts zu bringen, nicht wenig Sorge gemacht haben mag. Doch für den neuen Familienzuwachs, den Sohn, der da zu ihnen aus der Fremde herankam, um sie um die Hand ihrer Aeltesten zu bitten, hatten sie offene Herzen und offene Arme, wie die Gürlitzer Pastorsleute es hatten für das kleine mutterlose Luising des braven Karl Hawermann.

„. . . Nun kommen sie und drängen sich zum Gast
Mit hast’ger Lieb’, mit liebevoller Hast;
Sie schütteln ihm die Hand so treu und bieder,
Daß die Besinnung ihm kehrt augenblicklich wieder.
     Ihm ist, als wär’ er aus Schlaf erwacht,
     Als wäre verschwunden des Traumes Nacht,
     Als wäre versunken in Dunkelheit
     Eine lange, eine schwere, eine finstere Zeit;
     Als tauchten die ersten Morgensäume
     Der Kindheit auf und die Jugendträume,
     Als säh’ er die ersten Plätze wieder,
     Wo ihm gesungen die Wiegenlieder,
     Als ging’ er hier lange schon ein und aus,
     Als wär’s das verlorne Vaterhaus,
     Wo ihn begrüßet der Mutterblick –
     Als kehrte dies alles mit eins zurück!
     Die alten Möbel, sie nickten ihm zu,
     Das Sofa lud zur gewohnten Ruh,
     Die Linde sie deckte mit Schattenkühle
     Den Tummelplatz der Knabenspiele.
     Der Garten mit seinen Blumen all,
     Der Vögel Gesang, der Glocken Schall,
     Ein jegliches Aug’ und jeglicher Mund
     Und jegliches Antlitz war ihm kund,
     Es spiegelte wieder einen Zug
     Des Bildes, das er im Herzen trug:
     Ach! Alles schien ihm so längst bekannt,
     Vor allem – der Druck der Mutterhand.“

So schilderte er nach seiner Heimkehr von dem Besuch den Eindruck, den er im Roggensdorfer Pfarrhaus empfangen, und der ihm nicht weniger wohlgethan hatte als das Wiedersehen mit Luise. Es geschah in einer humoristischen poetischen Epistel, die er an deren jüngere Schwester Liening richtete, mit der Weisung am Schluß, daß das Schreiben im Grunde doch für die ältere [604] Schwester bestimmt sei. Und in dem Brief an die Braut, den wir nun folgen lassen, nannte er die in Roggensdorf verbrachte Zeit die glücklichste seines Lebens.

„Thalberg d. 6. October 1847.     
  Meine geliebte Luise,
Es ist jetzt ein Jahr, als ich Dich nach langer Trennung wiedersah, als ich mit der letzten verzweifelten Hoffnung der lauten Stimme meines Herzens folgte und die Zukunft meines ganzen Lebens Dir entgegentrug, damit Du darüber entscheiden möchtest … Diesem Jahr verdanke ich viel; wie die Stunden in Rogg. die glücklichsten meines Lebens waren, so war dies Jahr das glücklichste; es ließ mich hoffen auf die Zukunft, es ließ mich siegreich gegen einen alten Feind kämpfen, es ließ mich die Gegenwart mit Muth und Zuversicht ertragen und Du warst der Engel des Lichts, der mit dem sanften Fittig der Liebe und der Hoffnung mich umflog im Wachen und im Traum, Du warst mir der sichtbare Bote von oben, der Träger himmlischer Verzeihung und einer neuen Weihe. Mein Herz fordert mich laut auf, Gott zu danken und Dir. Es ist ein überschwengliches Glück, daß gerade Du es sein mußtest, Du, die ich erwählt von allen andern Menschenkindern, die auch der Herr erwählte, daß sie mir beistände, mich tröstete, mich leitete, mich führte auf die Bahn des Guten und Wahren. Wie so trostlos verließ ich Dich vor einem Jahr; Deine jetzige trübe Stimmung kann nicht so vernichtend sein, als die meinige; es war das Grab meiner letzten Hoffnung, das sich über das unruhige Herz geschlossen hatte und nur in der Erlaubniß, an Dich zu schreiben, dämmerte mir ein entfernter Schein von unbestimmter Aussicht, Dir wenigstens zeigen zu können, daß ich Dich liebte, wenn auch hoffnungslos, und wie ich Dich liebte. Und hat sich für mich nicht alles zu der höchsten edelsten Freude verklärt, sind dem erzwungenen Kusse des Mitleids nicht die freundlichen, vertrauenden, hingebenden Küsse der Liebe gefolgt? …

Meine angebetete Luise, ich beschwöre Dich auf meinen Knieen, laß nicht die Hoffnung auf eine Zukunft voll Glück und Liebe fahren; sie wird kommen. Einem jeden Menschen ist sein Maaß und Ziel gesetzt; ich verstehe dies nicht blos von der Zeit seines Lebens, sondern auch von den Erscheinungen im Leben, von Freude und Kummer; je mehr Kummer Du jetzt erduldest, desto weniger hast Du vor Dir … Du weißt, daß unser Loos kein glänzendes sein wird, d. h. im Sinne der Welt; aber in meinem Sinne, im Sinne einer Seele, die aufrichtig an wahres Glück denkt, wird es ein glänzendes, ein aus Liebe, Heiterkeit, Hingebung und Achtung erbautes sein.“ …

Der Schluß dieses Briefes fehlt. Aber wir können nicht zweifeln, daß auch in ihm das im Kampf mit dem Mißgeschick erstarkte hoffnungsvolle Herz des Dichters die Braut an ein künftiges Glück zu glauben beschwor, zu dessen Verwirklichung freilich noch beinahe vier Jahre nötig waren.

Nach der Verwandtschaft der Stimmung zu urteilen, dürfte um diese Zeit auch das Gedicht an Luise entstanden sein, welches Gaedertz gleich der oben citierten poetischen Epistel in seinem jüngsten Reuterbuch mitgeteilt hat:

„Ich denke Dein, wie eines schönen Bildes,
Geschaffen einst in Gott geweihter Stunde;
In Deinem Auge nichts als Holdes, Mildes,
Und ewige Verzeihung in dem Munde.
Und was in meinem Herzen Trotz’ges, Wildes
Mich selbst gestört, entflieht im Hauch; die Wunde,
Sie schließt sich, und ich eil’ mit scheuem Beben
An Deiner Hand hinauf zu neuem Leben.

Ich denke Dein, wie eines frohen Sanges,
Der wie ein Trost zu mir herüberklingt,
Unwiderstehlich, wie die Lieb’ ein banges,
Gequältes Herz zu neuem Hoffen zwingt,
Wenn bei dem Glockenton voll süßen Klanges
Der Sehnsucht Thrän’ ins feuchte Auge dringt,
Das Herz mit seliger Vergessenheit umhüllet
Und jede Rache ruht und alle Schmerzen stillet.

Ich denk’ an Dich, wie an ein hohes Wort,
Das Gott einst einem Genius versprach,
Als in des Chaos finstren Armen dort
Noch als ein unerschaffner Geist ich lag;
Du solltest sein in meiner Brust der Hort,
Du solltest lösen meines Lebens Frag’,
Dich sollte ich auf Erden wiederfinden
Und Deine Liebe mich vom Fehl entsünden.“

(Fortsetzung folgt.)


Ein deutscher Fürst.

Von den jubelnden, aufrichtigen Glückwünschen seines Volkes begleitet, feiert Großherzog Friedrich von Baden am 9. September seinen 70. Geburtstag. Schon seit Monaten werden im Lande, das unter ihm zu einer hohen Blüte gediehen ist, Vorbereitungen getroffen, um diesen Tag gebührend festlich zu begehen und dem im besten Sinne volkstümlichen Herrscher die äußeren Zeichen der Verehrung, deren er sich bei allen Ständen und Parteien erfreut, darzubringen.

Als Landesfürst hat Großherzog Friedrich allezeit den Grundsätzen entsprechend gehandelt, die er einst in den schönen Worten aussprach: „Ich konnte nicht finden, daß ein feindlicher Gegensatz sei zwischen Fürstenrecht und Volksrecht: ich wollte nicht trennen, was zusammengehört und sich wechselseitig ergänzt – Fürst und Volk, unauflöslich vereint unter dem gemeinsamen, schützenden Banner einer in Wort und That geheiligten Verfassnng.“ Immer hat er an einer freien Staatsauffassung festgehalten, und wenn Baden in der That ein Musterstaat genannt werden kann, so ist das wesentlich mit seinem musterhaften Regenten zu danken, der in liberalem Geiste und als streng konstitutioneller Fürst nicht nach starrer Schablone, sondern in lebhaftester persönlicher Arbeit nun schon seit vierundvierzig Jahren am Steuer des ihm anvertrauten Landes steht. Aber die Wirksamkeit des Großherzogs ist keineswegs auf Baden selbst beschränkt geblieben. Der Grundzug seines ganzen politischen Wirkens bestand vielmehr von Anfang an darin, daß er unablässig Deutschlands Einigung zu fördern bemüht war und selbst unter den schwierigsten Verhältnissen das Wohl des großen deutschen Vaterlandes allem anderen voranstellte. Was dieser Fürst zunächst für die Vorbereitung und nachher für die Kräftigung und Befestigung unserer nationalen Einheit gethan hat, steht auf den Blättern der Geschichte verzeichnet und darf nimmermehr vergessen werden.

Großherzog Friedrich ist geboren am 9. September 1826 als der zweite Sohn des Großherzogs Leopold und seiner Gemahlin Sophie, einer geborenen Prinzessin von Schweden. In einer für ganz Deutschland und namentlich für Baden trüben und schweren Zeit sollte der Prinz zur Regierung berufen werden. Er hatte vorher mit seinem älteren Bruder, dem am 15. August 1824 geborenen Erbgroßherzog Ludwig, die Hochschulen in Heidelberg und Bonn besucht und sich dann dem Militärdienst gewidmet. 1848 nahm er an dem Feldzug in Schleswig-Holstein im Hauptquartier Wrangels teil.

Am 24. April 1852 schied Großherzog Leopold aus dem Leben. Der Erbgroßherzog Ludwig war schon damals so schwerem körperlichen und geistigen Siechtum verfallen, daß die Aerzte jede Hoffnung auf Wiederherstellung und persönliche Uebernahme der Regierung für ausgeschlossen erklären mußten. Als Stellvertreter seines Vaters hatte Prinz Friedrich bereits seit dem 21. Februar jenes Jahres die Staatsgeschäfte geleitet, und nach agnatischem Hausbesehluß übernahm er nun die Regierung zunächst als Prinzregent. Die Annahme der großherzoglichen Würde erfolgte am 5. September 1856, nachdem die Unheilbarkeit des Großherzogs Ludwig in aller Form festgestellt worden war. Er vermählte sich am 20. September desselben Jahres mit der Prinzessin Luise von Preußen, einzigen Tochter des damaligen Prinzen von Preußen, späteren Kaisers Wilhelm I. Am 22. Januar 1858 ward er dann durch das Ableben seines älteren Bruders alleiniger Großherzog.

Es harrten des jungen Regenten gar schwierige Aufgaben in dem Lande, in welchem sich die Nachwehen der vorhergegangenen politischen Stürme arg genug geltend machten, das aus tausend Wunden blutete, und dessen Wohlstand schwer gelitten hatte. Sein persönliches Eingreifen wurde zunächst durch kirchliche Wirren nötig gemacht, wobei seine staatsmännische Weisheit, sein scharfer Blick für die Wahl der richtigen Persönlichkeiten und sein Streben, allen berechtigten Wünschen seines Volkes entgegenzukommen, deutlich hervortraten. Die am 28. Juli 1859 mit der Kurie abgeschlossene Konvention hatte in Baden gewaltige Unzufriedenheit erregt, so daß sich der Großherzog veranlaßt sah, die Konkordatsminister von Meysenbug und von Stengel zu entlassen und aus der liberalen Opposition ein neues Ministerium zu berufen. Er erließ am 7. April 1860 eine Proklamation „Friedensworte an mein teures Volk“, welche die Absicht aussprach, sich mit der Kammer zu verständigen, [605] zugleich aber auch die entschiedene Willensmeinung des Großherzogs kundgab, „daß der Grundsatz der Selbständigkeit der katholischen Kirche in Ordnung ihrer Angelegenheiten zur vollen Geltung gebracht werde“. Das Konkordat fiel, und an seine Stelle trat der Grundsatz gesetzlicher Regelung der Verhältnisse zwischen Staat und Kirche, indem zugleich für alle Gebiete des öffentlichen Lebens das Prinzip freiheitlicher Entwicklung aufgestellt ward.

Was nun die äußere Politik betrifft, so war, seitdem Prinz Wilhelm von Preußen, des Großherzogs Schwiegervater, an Stelle seines erkrankten Bruders, des Königs Friedrich Wilhelm IV., in Preußen die Regierung übernommen hatte, die Idee der bundesstaatlichen Einigung Deutschlands unter preußischer Führung und mit Ausschließung Oesterreichs auf die Tagesordnung gesetzt worden, und Großherzog Friedrich ist sofort mit nachhaltigem Ernst und mit selbstverleugnender Aufopferung für diesen Gedanken, für die nationale Einigung Deutschlands eingetreten. Auf dem Fürstentage in Baden-Baden (16. bis 18. Juni 1860) sprach er sich mit Entschiedenheit für die Gründung eines deutschen Bundesstaates mit Parlament aus. Auf dem Frankfurter Fürstenkongreß von 1863 weigerte er sich, an irgend einer Neugestaltung Deutschlands ohne volle Zustimmung Preußens teilzunehmen. Trotzdem aber sah er sich 1866 als konstitutioneller Fürst genötigt, der Meinung seiner Minister und der Landesvertretung Rechnung tragend, sich mit den übrigen Staaten Süddeutschlands gegen Preußen zu erklären.

Mit dem Frieden wurde jedoch sofort das geheime Schutz- und Trutzbündnis Badens mit Preußen geschlossen, und in der Thronrede, mit welcher der Großherzog 1867 den Landtag eröffnete, sagte er: „Mein Entschluß steht fest, der nationalen Einigung mit dem Norddeutschen Bunde unausgesetzt nachzustreben, und gern werde ich und wird mit mir mein getreues Volk die Opfer bringen, die mit dem Eintritt in denselben unzertrennlich verbunden sind. Sie werden reichlich aufgewogen durch die volle Teilnahme an dem nationalen Leben und die erhöhte Sicherheit für die freudig fortschreitende innere Staatsentwicklung, deren Selbständigkeit zu wahren stets Pflicht meiner Regierung sein wird.“

1868 ernannte der Großherzog den preußischen Militärbevollmächtigten General v. Beyer zum badischen Kriegsminister; die Reorganisation der badischen Division wurde ungesäumt durchgeführt, wodurch sie befähigt wurde, die ihr während des deutsch-französischen Krieges zufallenden schwierigen Aufgaben in so ruhmvoller Weise zu lösen. Am 2. Oktober 1870 beantragte Baden seinen Eintritt in den Norddeutschen Bund, am 15. November wurde der Verfassungsvertrag mit dem Norddeutschen Bunde und am 25. November die Militärkonvention mit Preußen abgeschlossen.

Großherzog Friedrich von Baden.
Nach einer Originalphotogrphie von Oskar Suck in Karlsruhe.

Kaiser Wilhelm I. ehrte seinen Bundesgenossen und Schwiegersohn, indem er ihn 1877 zum Generalinspekteur ernannte; 1888 ward er Generaloberst der Kavallerie mit dem Range eines Generalfeldmarschalls. Am 24. April 1892 vollendete Großherzog Friedrich das vierzigste Regierungsjahr, nachdem bereits im Herbst 1881 ihm und seiner Gemahlin vergönnt gewesen war, das Fest ihrer Silbernen Hochzeit und zugleich die Vermählung ihrer Tochter, der Prinzessin Viktoria, mit dem Kronprinzen von Schweden und Norwegen zu begehen. Der Erbgroßherzog Friedrich Wilhelm (geb. 9. Juli 1857) ist seit dem 20. September 1885 vermählt mit Prinzessin Hilda, Tochter des früheren Herzogs Adolf von Nassau, jetzigen Großherzogs von Luxemburg.

Ihre schönste Erfüllung haben in der Ehe des Großherzogs Friedrich jene Worte gefunden, mit denen der damalige Prinzregent am 26. November 1855 dem Landtage seine Verlobung anzeigte: „Diese Verbindung, die mir persönlich so viel Glück verheißt, wird auch, das bin ich überzeugt, meinem Volke zum Segen gereichen.“ Durch ihre unermüdliche, segensreiche Thätigkeit im Dienste der Menschenliebe hat sich die Großherzogin die Zuneigung ihres Volkes erworben, Freud’ und Leid hat sie dem Gemahl getreulich tragen helfen.

Viel Schweres ist schon über beide hingegangen, besonders im Jahre 1888, als die zum Besuche des kaum genesenen ältesten Sohnes an die Küste des Mittelmeeres gereisten Eltern plötzlich durch die Botschaft von der tödlichen Erkrankung des blühenden jüngeren Sohnes, des Prinzen Ludwig Wilhelm, nach Hause zurückgerufen wurden. Sie sollten ihn nicht lebend wiedersehen; am 23. Februar, wenige Stunden vor ihrem Eintreffen, hatte er den letzten Atemzug gethan. Nur wenige Tage später folgte ihm der bis dahin so rüstige Kaiser Wilhelm I., und kaum hatte die Großherzogin den Sohn und den Vater dahingehen sehen, als der Tod auch noch den geliebten Bruder, den Kaiser Friedrich, aus dem Leben abrief. Selbst damals aber vergaß die edle Frau nicht ihres Werkes im Dienste der leidenden Menschheit, und diese Liebesthätigkeit stählte ihre Kraft, daß der Schmerz sie nicht niederzubeugen vermochte.

So wirkt sie auch heute noch als die treueste und verständnisvollste Genossin des Großherzogs. Möge dem trefflichen Fürsten noch lange vergönnt sein, für sein eigenes Land und für das gesamte deutsche Vaterland thätig zu sein und sich der Anerkennung und des Dankes der Nation zu erfreuen! E. M.     


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Aus der Hohen Tatra.

Von Johannes Schmal.

Wer die schweizer und österreichischen Alpen kennt, der wird von dem ersten Anblick der Centralkarpathen, zumal wenn er sich ihnen von der Süd- oder Ostseite nähert, überrascht sein. Unvermittelt, ohne die in den Alpen fast überall die Hochspitzen umgebenden Vorberge und allmählichen Erhebungen steigt hier der Gebirgsstock, einer von Giganten aufgetürmten Mauer gleich, aus der Ebene der Popper und der Weißen Waag empor. Man hat den in seiner Kruste erstarrenden Erdball mit einem gebratenen und dann erkalteten Apfel verglichen; nirgendwo trifft dies Gleichnis augenscheinlicher zu als in den Karpathen und ihrer Umgebung. Hier sieht man, wie die Erdoberfläche zusammengeschrumpft ist, wie große Tiefebenen hinabsanken, durch ihren seitlichen Druck die stehengebliebenen Erhebungen noch mehr emporpreßten und so aus einer großen Hochfläche diese buckelige Welt bildeten, die wir heute, nachdem sie durch die stille Thätigkeit von vielen vielen Jahrtausenden, durch die Wirkung des Wassers, den Wärmewechsel und die chemische Zersetzung hübsch ausgehobelt und gefeilt worden ist, Gebirgs- und Flachland nennen. Hätte diese gewaltige Naturthätigkeit, dieses stete und in unseren Tagen noch still und unmerklich fortdauernde Versinken nicht stattgefunden, so hätten wir eine Menge der interessantesten Dinge nicht; wir ermangelten beispielsweise der natürlichsten Landesgrenzen, der Stromschiffahrt, der Hochtouristik; es gäbe in Europa und auch in anderen Erdteilen eben weder Flußthäler noch Gebirgskämme, weder Almen noch Sennerinnen darauf, sondern nur ein großes ebenmäßiges Plateau, sich abdachend an der einen Seite, steil abfallend an der andern ins brandende Meer.

Wennschon für das geologisch geschulte Auge das ewige Walten der Natur, nicht nur das Nebeneinander, sondern auch das Nacheinander allüberall erkennbar ist, so bieten doch die Karpathen in dieser Beziehung ein besonders anschauliches Bild. Der Verwitterungsprozeß, der da unten in der Popperebene alles so sorgsam geebnet und geglättet hat, ist auch den senkrecht emporstrebenden Bergwänden und dem massiven Gestein an der Hochfläche, dem Granit und Phyllit, dem Gneis, der Hornblende und dem Glimmerschiefer zu Leibe gegangen. Die Massengesteine hatten Sprünge erhalten, aus diesen wurden größere Spalten, Teile der benachbarten Kruste stürzten nach, und es entstanden so die ausgefransten Thalengen, durch welche von der Hohen Tatra aus die Flußläufe sich nach allen Richtungen der Windrose hin ergießen.

Die Hohe Tatra! Seit im Jahre 1875 der gebirgskundige Bielitzer Professor Kolbenheyer im Auftrage des Ungarischen [606] Karpathenvereins eine Monographie über diese zwischen dem Lilijowe- und dem Kopapasse lagernde Gebirgswelt veröffentlichte, ist dieselbe der Touristik mit einem Schlage erschlossen worden; wo ehemals nur einige wenige nach anstrengenden Kletterpartien sich an der Großartigkeit und Erhabenheit der Gletscherscenerien erbauten, da trifft man jetzt Naturfreunde aus aller Herren Ländern. Durch die thatkräftige Fürsorge des Ungarischen Karpathen- und des Polnischen Tatravereins sind bis in die höheren Gebiete gangbare Wege und Pfade hergestellt worden, Gaststätten, allen billigen Anforderungen genügend, entstanden, und so ist es nicht zu verwundern, wenn die Hohe Tatra gegenwärtig nicht nur die Sprache der sich in ihrem Schatten begegnenden Völkerschaften, der Ungarn, Deutschen, Slovaken und Polen, sondern auch die der Skandinavier, Engländer, Franzosen und Italiener hört. Die Hohe Tatra ist ein Ziel der Welttouristik geworden und wird es von Jahr zu Jahr mehr.

Treten wir von Poprad, einer südlich der Karpathen gelegenen Station der von Berlin und Wien kommenden in Sillein sich vereinigenden Bahnlinien, die Tour in die Hohe Tatra an, so genießen wir schon hier, vom Park Huß aus, den Anblick eines gewaltigen Panoramas. Vor uns ragen die höchsten Erhebungen des Gebirgskolosses in die Wolken, die Gerlsdorfer Spitze (2659 m), daneben wie getrennt durch die den Namen „Polnischer Kamm“ führende Einsattelung die 2500 m hohe „Warze“, deren gezackte Fortsetzung, der Kastenberg, den Horizont bis zu der mächtig hervortretenden Schlagendorfer Spitze begrenzt. Halb verdeckt von der nahen „Königsnase“ lugt der „Breite Turm“ in blauen Tinten neben dem „Markasit“ und dem „Mittelgrat-Turm“ herüber, und dicht zusammengedrängt mit diesen Zweien die 2630 m hohe Eisthaler Spitze. Noch mehr zur Rechten gruppieren sich dann die Zinnen und Scharten der Lomnitzer Spitze (2635 m) des Lomnitzer „Nordbrabant“, die „Grüne Seespitze“ und andere Bergriesen, bis vom „Dreifüßigen Mann“ ab niedriger werdende Gebirgszüge sich in nebelhafter Ferne verlieren. Kaum irgendwo am Fuße der Alpen zeigt sich uns ein so überwältigendes Gebirgspanorama wie hier, und was der Anblick von der Ebene aus verspricht, das hält die Hohe Tatra, wenn wir nun in nördlicher Richtung ihre höheren Regionen aufsuchen.

Der Künstlerwasserfall.

Auf wohlgepflegten Wegen gelangen wir da zunächst zu dem freundlichen Badeort Schmecks, der Perle der Tatra, wegen der hier sprudelnden eisenhaltigen Mineralquellen – Acidulas Schlagendorfenses, fast jetzt schon den Ruf eines Modebades genießend. Fahrgelegenheiten, Reitpferde und Führer stehen hier dem Wanderer in genügender Auswahl zu Gebote, und nach allen Richtungen hin öffnen sich Wege für die lohnendsten kleineren und größeren Partien. Wir sind schon 1000 m über dem Meeresspiegel. Halten wir uns weiter in nördlicher Richtung, so gelangen wir, noch immer mühelos, in das pittoreske Kohlbachthal. Vorher aber müssen wir seitwärts ein paar Abstecher machen: links zum „Felsensturz“, einem am 26. August 1813 durch Wolkenbruch herabgeschwemmten riesigen Felsblock, zur Rechten zu den „Räubersteinen“. Von den letzteren aus eröffnet sich eine reizende Aussicht in die Kohlbachthäler und die Popperebene, überall begleitet den Wanderer der Anblick der vielgestaltigen Berggiganten. Ueber das „Kämmchen“, einen Ausläufer des „Schartigen Kammes“, hinweg geht es nun dem rauschenden Kohlbach entgegen. Schon ist die Höhe von 1200 m überschritten. Da, mitten in die malerische Wildnis eines Tannenhages hinein, hat der menschliche Unternehmungsgeist ein Hotel gesetzt und neben diesem breitet die Rosahütte, ein im Jahre 1875 vom Ungarischen Karpathenverein erbautes, jetzt der Georgenberger Waldbürgerschaft gehöriges Schutzhaus, sein gastliches Dach aus. Neben ihm und tiefer am Abhange wiegen Tannen ihre bärtigen Aeste im Winde, von Westen fernher blinken in schneeiger Frische die Schlagendorfer und Gerlsdorfer Spitzen. Neue und geradezu überraschende Ausblicke eröffnen sich dem Wanderer. Nach Norden überfliegt der Blick eine riesige Mulde, bedeckt mit Trümmern und Geröll, umgrenzt von Moränen und schroff emporragenden Granitwänden. Ein mächtiger Vorsprung des nahen Felsens trägt die Bezeichnung Kanzel, und wie um die vorhin erwähnten Räubersteine, so rankt sich auch um diese Kanzel die nimmer ruhende Volkssage in vielgestaltiger Ausschmückung.

Sie ist eine der vielen Teufelskanzeln geworden, wie sie im Gebirge mit allerhand unheimlichem Spuk belebt wurden.

Bis herauf zur Kanzel dringt schon das Rauschen der Kohlbachfälle.

Es giebt in der Nähe eine stattliche Reihe solcher Fälle. Zunächst der lange Fall, dann der große, der kleine, der verborgene Fall, der Riesensturz und dann ganz besonders der Künstlerwasserfall. Der lange Fall in der ungefähren Höhe von 40 m beginnt 1197 m über dem Meeresspiegel, weiter aufwärts stürzt sich der große Fall mehrere hundert Meter kaskadenartig von Fels zu Fels, bis er zuletzt in zwei getrennten Strahlen tosend in den unten ausgehöhlten Hexenkessel hinabschießt. Wie hier, so hat auch in den übrigen Fällen ein heimischer Forscher, Ed. Blasy, glattausgeriebene kesselartige Vertiefungen konstatiert, die nicht nur von dem sprichwörtlichen steten Tropfen ausgehöhlt worden sind, sondern von Felsblöcken, wie sie die Sturzwasser bei starken Anschwellungen selbst von oben herabwälzen. In jedem dieser Kessel liegt nämlich ein großer und eine Anzahl kleiner Steine. Wenn Hochwasser kommt, wie im Frühjahr bei der Schneeschmelze, so beginnt der große Stein seine Reibthätigkeit, unmerklich aber sicher sein Lager in dem kompakten Felsen vertiefend. – Entsprechend ihren Namen ist der Riesensturz des Kohlbaches der bedeutendste und der Künstlerwasserfall der malerischste aller Fälle. Jener stürzt 40 m tief senkrecht in den von Felsblöcken angefüllten Kessel, dieser, mit seiner reizenden Umgebung, bietet Künstlern und Photographen jederzeit willkommene Ausbeute.

Bevor man thalaufsteigend zu ihm gelangt, trifft man in einer Thalmulde, von tannenbewachsenen Bergen umgeben, die Vereinigung des großen und kleinen Kohlbachs in einer Seehöhe von 1286 m. Das stark verbreiterte Flußbett ist auch hier mit Steingeröll durchsät, klar wie überall umspült das Gewässer die moosgrünen Blöcke. Dem Zusammenfluß zunächst am Fuße der Schlagendorfer Spitze liegt die Rainerhütte auf grünem Wiesenplan und neben ihr noch ein Unterkunftsort [607] für Touristen, die von der Gemeinde Alt-Walddorf erbaute Restauration „Zur Gemse“.

Doch verlassen wir jetzt den Flußlauf, um die höheren Bergpartien aufzusuchen. Bald haben wir die Krummholzregion hinter uns gelassen, nur spärliches Gras oder Alpenpflanzen decken hier und da noch das Gestein, das, in unzählige Zacken verlaufend, in schroffen Wänden sich gleichsam abschließt vor der Annäherung des Menschen. Die erste Besteigung mag der Schlagendorfer Spitze gelten wegen des überwältigenden Rundblicks, den man von dort genießt. 2473 m erhebt sich der Rücken dieses in verschiedene Seitenäste auslaufenden Berges. Seine Ersteigung ist nicht gerade eine besondere hochtouristische Leistung, aber es geht vielfach steil aufwärts und durch schotterbedeckte Schluchten. Jedenfalls ist der Besuch der Mühe wert. Oestlich erblickt man die sich am Kohlbachufer entlang ziehenden schroffen Maukschabstürze und darüber hinweg das offene Land bis nach Galizien hinein; ringsum zahlreiche Seen – man zählt ihrer von der Spitze aus etwa 20 – die Eisthaler und die Lomnitzer Spitze im Norden und Nordosten, dann westlich die Gerlsdorfer, die Tatra- und Meeraugspitze und südwärts über die niedrigen Kuppen und Zacken hinweg einen Teil der oberen Liptau. In die Bergeinsamkeit da oben ist das Geräusch des öffentlichen Lebens noch nicht gedrungen, weder der Klang eines Posthornes noch der Pfiff der Lokomotive wecken hier das Echo, ja manche der in die Wolken ragenden Felsspitzen, wie die „Warze“, hat noch nie ein menschlicher Fuß betreten; das pflanzliche Leben ist fast ganz erstorben, in dem Gestein haust nur das Murmeltier und die Alpenfauna.

Aussicht von der Schlagendorfer Spitze.

In westlicher Richtung verläuft die Schlagendorfer Spitze in den um 300 m niedrigern Polnischen Kamm. Ein kaum 2 m breiter, nach beiden Seiten steil abfallender Felsgrat bietet dem Touristen den nicht immer unbedenklichen Pfad. Auf- und Abstieg sind beschwerlich. Hier sind wir schon so recht im Gebiete der Bergseen, welche der Hohen Tatra ein so charakteristisches Gepräge verleihen. Das Gebirge enthält ihrer weit über hundert, und zwar auch solche von größerer Ausdehnung – bis zu 34 Hektaren Flächenraum. Ihre Tiefe reicht bis zu 40 ja bis 77 und 78 m. Sie sind meist durch sogenannte Seewände gebildet worden, Barrieren, welche die Thäler durchqueren und so das von den Höhen kommende Schmelzwasser sammeln. Man hält die Seen, von den Deutschen auch Meeraugen genannt, für Folgeerscheinungen der diluvialen Vergletscherung der Karpathen, die sich auch sonst, durch Felsenschliffe sowie durch Seiten- und Stirnmoränen, noch vielfach in Erinnerung bringt. Unsere Illustration auf S. 609 zeigt den 1494 m hoch gelegenen Schwarzen See. Schwarzer, weißer, grüner und roter Seen giebt es übrigens im Tatragebiet mehrere, insbesondere ist bei der Benennung die grüne Farbe, die allerdings den meisten dieser Seen eigen ist, mit Vorliebe angewandt.

Den Mittelpunkt der Centralkarpathen bilden zwei respektable Erhebungen, die Tatra- und die Meeraugspitze, letztere vorzeitig schon der ungarische Rigi genannt. Beide überragen die Höhe von 2500 m.

Mit einem Blick auf diese Kerntruppen nehmen wir Abschied von der Hohen Tatra und wählen zu unserm Scheideblick als Standpunkt das Mengsdorfer Thal, das man mit Recht eines der großartigsten Thäler der ganzen Tatra nennt. Nicht nur wegen seiner räumlichen Ausdehnung, sondern auch wegen der wahrhaft großartigen Gebirgsbilder, die es dem Auge entrollt, verdient es diese Bezeichnung. Selbst in saftiges Grün gekleidet, öffnet es die Fernsicht auf die mit Eis und Schnee bedeckte, dem Wechsel der Jahreszeiten entrückte Region des Hochgebirges.

Es erübrigt uns, zum Schlusse noch einiges über die Bewohner des Tatragebietes zu sagen. Im Gebirge selbst giebt es wenige und nur sehr kleine Ansiedelungen, aber an seinem Fuße begegnen sich nicht weniger als sechs in ihrer Eigenart ausgeprägte Volksstämme, unter denen ein Wettbewerb besteht, der, wie es unsere Zeit der nationalen Leidenschaftlichkeit nun einmal mit sich bringt, neben manchen berechtigten und erfreulichen Erscheinungen auch viele unschöne zeitigt. Westlich von dem Centralgebirge wohnen die Slovaken und die polnischen Goralen, nördlich die Mazuren, nordöstlich grenzen, ihre Vorposten über den Zdzewer Paß hereinschiebend die Ruthenen bis zur Javorinka. Im Osten liegt des Gebiet der Zipser Deutschen, eine Sprachinsel wackerer [608] Landsleute, die dort seit mehr als einem halben Jahrtausend ihre Scholle bebauen und mit der stahlharten Wetterfestigkeit der Siebenbürger Sachsen ihre Sprache und Eigenart bewahrt haben. Von ihnen rühren alle die deutschen Bezeichnungen her, die, von Botzdorf bis zur Alabasterhöhle, von Groß-Schlagendorf bis zur Meeraugspitze, fast die Hälfte des Tatra-Gebirges bedecken. Mit Zagen sehen die Zipser Deutschen jetzt aber in die Zukunft, denn die Ungarn halten das Magyarisieren für ihr souveränes Recht und üben es mit geradezu verblüffender Rücksichtslosigkeit. Während der letzten zwei Jahrzehnte ist es ihnen gelungen, das Popperthal und den ganzen Süden in ihre Hand zu bringen, indem sie in Volks- und Mittelschulen sowie bei den Behörden die ungarische Sprache obligatorisch machten. Auch im Zipser Komitat sind sie jetzt bei der Arbeit.

Die Tatraspitze vom Mengsdorfer Thal aus gesehen.

Weniger als die Sprache haben sie übrigens bisher im Tatragebiet ihre Nationaltracht zur Geltung bringen können. Die malerischen Kostüme aus der Pußta lassen sich ins Gebirge nicht leicht verpflanzen, und die Zipser Bauern auf der einen, die Slovaken auf der andern Seite der Tatra, sie besitzen beide ihre eigene liebgewonnene Nationaltracht; in ihren roten Westen und weißen Mänteln sehen sie schmuck genug aus, um auf den ungarischen Schnürrock und die Franzosenhosen der Czikos verzichten zu können. Und nicht viel zutraulicher als die Zipser Deutschen zu den Ungarn verhält sich – wenn auch aus anderen Gründen – der kleine aufstrebende Volksstamm der Ruthenen zu den Polen, der der Slovaken zu ihren westlichen Nachbarn. – Für denjenigen, der die Hohe Tatra als moderner Reisender und nicht als Forscher besucht, treten die verschiedenen Volksstämme nur selten in die Erscheinung, ihre Gegensätze berühren ihn kaum, denn die Personen, mit denen er in Berührung kommt, Wirte, Bergführer und andere auf den Fremdenverkehr angewiesene Eingeborene, sind kosmopolitisch angehaucht und nichts weniger als nationale Typen. Was den Besucher der Centralkarpathen von vornherein gefangen nimmt und was bei ihm bleibenden Eindruck hinterläßt, das ist das Gebirge selbst mit seiner grandiosen Weltverlassenheit. Ein Abend auf einem der Bergriesen bei Mondschein oder ein Sonnenaufgang, der die vielgestaltigen Kuppen und Zacken, die Felsschrofen und wallenden Nebel darunter in rosiges Licht taucht und mit Gold verbrämt, das ist ein Genuß, den auch skeptisch angelegte Naturen zeitlebens nicht vergessen.


Jocko.

Humoristische Erzählung von Joachim v. Dürow.
      (Fortsetzung.)


Tante Kunigunde war eine der fünf Töchter des Generals von Böhmer. Wegen ihrer auffallenden Aehnlichkeit mit dem Vater, der stark entwickelten Nase und der durchaus militärischen Haltung hatte ihr die allen fünf Töchtern gemeinsame alte Kinderfrau den Namen „det Generalke“ gegeben, und diese Benennung war ihr zeitlebens geblieben. Sie hatte an ihr gehaftet während des heroisch ausgefochtenen Kampfes mit beschränkten Verhältnissen, die ja für die hinterbliebenen Töchter höherer Offiziere meist selbstverständlich zu sein pflegen. Er war ihr auch geblieben, als, nachdem eine Schwester nach der andern hingegangen, eine jähe Wandlung in ihren Verhältnissen eintrat.

Eines Tages hatte nämlich Fräulein Kunigunde die Entdeckung gemacht, daß die Nummer eines mit dem Hauptgewinn herausgekommenen Prämienscheines in Serie und Zahl genau mit dem Schein übereinstimmte, der in dem Bureau des seligen Vaters wohlgeborgen zu finden war. Und wenn die Sache ihre Richtigkeit hatte, so war die arme, alte Kunigunde mit einem Schlage zur „reichen alten Tante“ geworden.

Ehe sie sich aber der Sache als „Gewißheit“ hingab, war es vorsichtigerweise geraten, zum Bankier zu gehen, ob nicht etwa ein Fehler im Druck die ganze Geschichte zur Chimäre machte.

Nein, es stimmte; und da es stimmte, verneigten sich die Bediensteten des Bankhauses außerordentlich tief vor dem „Generalke“. Sie hätten sich auch ebenso tief vor einem „Corporalke“ geneigt, wenn er der Gewinner gewesen wäre, dieweil Beugen vor dem Golde der Menschheit erb- und eigentümlich ist.

Die Leute sagen, daß die Tante, als sie von jener Erkundigung zurückkehrte, zum erstenmal in ihrem Leben gesenkten Hauptes durch die Straßen gegangen sei. Auch an das Glück will sich der Mensch erst gewöhnen, obschon das Gewöhnen nach dieser Richtung hin sich einer außerordentlich schnellen Gangart zu erfreuen hat.

Und Tante Kunigunde hob auch ihr Haupt bald wieder empor; sie war mehr denn je „det Generalke“, hauptsächlich jenen Verwandten gegenüber, welche die teure Tante immer hoch verehrt, aber bisher noch keine Gelegenheit, diese Verehrung zu entfalten, gefunden hatten.

Nun sollten auch wir in den Reihen dieser Verwandten stehen? Konnten wir denn auf eine Annahme dieser Einladung rechnen?

Tante Kunigunde hatte sich, einmal im Besitz der Mittel dazu, mit Interesse und Verständnis rasch die Welt angesehen. Aber sie hatte es dabei kaum erlebt, irgendwo von irgendwem mit Interesse wieder angesehen worden zu sein. Entschieden nicht vom Vatikanischen Apoll oder von der Juno Ludovisi; – kalt war der Blick des Gletschers, und teilnahmslos glühten sämtliche Hörner der Alpen. Sie hatte in krampfhaftem Einsiedlerdrange einige auf „oge“ endigende Inseln der Nordsee, als da sind: Spiekerooge, Wangerooge, Langeooge, und schließlich blos „Oge“ abgegrast, – so weit das Wort „Gras“ mit diesen Inseln vereinbar ist. Sie hatte ihr Kommen und Gehen dort in Geduld von Ebbe und Flut abhängig gemacht und war ohne Rücksicht auf Ebbe und Flut der Länge und der Breite nach durch Europa gesaust. Aber, ob sie wartete – ob sie sauste – sie war eben immer allein.

[609]

Der schwarze See in der Hohen Tatra.
Nach der Natur gezeichnet von A. v. Swieszewski.

[610] Unsere Einladung setzte daher in ihr den Wunsch voraus, zur Abwechslung einmal ein Leben in der Familie zu führen – und wirklich die Einladung wurde angenommen!

Des Empfanges gewärtig, standen wir alle an der Hausthür, als die Tante ausstieg. Ganz wie ich sie mir gedacht hatte – sehr förmlich, außerordentlich gerade in der Haltung mit scharfen Augen alles musternd vom Scheitel bis zur Zehe der „alte General!“

Ich wußte vom Hörensagen, daß Tante Kunigunde eine kleine Schwäche für allerlei „Gebackenes“ habe, und da ihre Ankunft gerade in die Kaffeestunde fiel, stand bald der Teller mit knusperig gebackenem Apfelkuchen, heiß aus der Pfanne, vor ihr. Außerdem hatten wir an allerlei kleine Aufmerksamkeiten gedacht, so z. B. an einen duftenden Blumenstrauß zu Seiten der Kaffeetasse. Und gnädig schien die Aufnahme, denn tief versenkte sich die Erbnase zwischen Stiefmütterchen und Rosen. Wir durften zufrieden sein mit dem Erfolge. „Schlichen“ wir auch gerade nicht „erb“, so lag meinem Manne doch eben viel daran, die Tante zu einem Darlehn geneigt zu machen.

Da fuhr es plötzlich, von der Lehne des Sessels her hinter ihr herum, an der Wange vorbei mit langem Arm nach den Blumen greifend! – Herr Du meine Güte – der Affe!

Entsetzt wandte sich die Tante, und Auge in Auge mit dem ganz unerwarteten Tier, schnatterte es ihr kräftig ins Gesicht.

Tiefes Schweigen; – schwüles Schweigen; – dann eine Flut von Scheltworten von seiten meines Gatten; direkt auf Fritz und August, indirekt auf mich; der Affe sollte sofort totgeschossen werden!

Merkwürdigerweise nahm aber die Tante den Vorfall humoristisch auf: „Seltsamer Empfang das; – habt ihr noch mehr solche herzige Tiere?“

Fritz zog, vorläufig den Totschlag nicht wörtlich nehmend, mit dem Affen im Arm ab, um ihn in seinem Bauer dingfest zu machen. Sei es nun aber, daß der Junge, zurückgelockt von dem Duft des Apfelkuchens, wieder einmal nachlässig im Verschluß des Bauers gewesen, oder daß möglicherweise August die Hand im Spiele gehabt – genug, der zu einer Thür hinausgeworfene Affe schlich zur andern sachte wieder herein.

Er faßte, der bessern Uebersicht wegen, erst auf der Höhe des Büffetts Posto. Dann flog er, die Richtung sicher im Auge habend, mit einem einzigen Satz hart an den Teller mit dem Apfelkuchen heran und begann mit Blitzesschnelle sein Werk. Erst stopfte er die eine Backentasche voll, dann, mit dem Daumen nachschiebend, die andere, und als die Tante dem Greuel zu wehren suchte, fuhr er ihr mit der fettigen Pfote ins Gesicht und versetzte ihr eine Ohrfeige.

So verlief die erste Stunde.

Nebenbei war August ungemein verstimmt, weil die Ankunft mit dem Sonnabend zusammenfiel! Sonst pflegte eines der Mädchen an diesem Abend aufzuwarten, heute aber mußte er bleiben, teils um der Wahrung des Anstandes willen, teils um die Mysterien des Hauses nicht gleich am ersten Abend preiszugeben.

„Ich glaube, der Affe hat uns von vornherein um die Gunst der Tante gebracht,“ meinte mein Mann gedrückt, als die Ruhe unseres Schlafzimmers uns umfing.

„O nicht doch. Die Tante ist verbittert und grämlich, aber meiner Ansicht nach großherzig; sie hat sogar, was sonst nicht in ihrer Art liegen soll, den Kindern etwas mitgebracht; Liesen einen Tuschkasten und Fritz ein Zimmer-Aquarium.“

Das Aquarium fand seinen Platz am Fenster meines Boudoirs und Fritz konnte sich den ersten Tag nicht davon trennen. Es enthielt neben dem Urtiere der Aquarien, einem heiteren Goldfisch, einen ansehnlichen Molch und eine nette kleine Schildkröte. Fritz nahm die Schildkröte heraus, und da sie schleunig den Kopf einzog, meinte Liese, Fritz habe die Kröte hingerichtet, und fing bitterlich an zu weinen.

August, dem die Reinigung und Füllung des Aquariums – er nannte es Quararium – übertragen wurde, war der Neuerung nicht hold: „Na, heule man weiter, Liese – denn wenn ein Quararium ins Haus kommt, und es quarrt absulut nichts darin, muß doch ein anderer die Musik besorgen. Was hat sie Dir denn mitgebracht, die Tante, die partout am Sonnabend einpassieren mußte?“

Liese war schon wieder getröstet.

„Einen Tuschkasten hat sie mitgebracht und Bilderbogen mit Vögeln, Blumen und Arabesken.“

„Was für Sachen?“

„Arabesken.“

„Ah so – Arabestien! Vermutlich ’ne neue Sorte Viecher; mußt Dir deutlicher ausdrücken, mein Kind. Uebrigens kannst Du ihr ja denn gleich abmalen, die Arabestien rings herum und den Affen meinetwegen auf der Schulter; ich hoffe immer, der treibt uns die Tante aus dem Hause, noch vor dem nächsten Sonnabend.“ – –

„Wann sind Sie gewöhnt, aufzustehen, liebste Tante?“ fragte ich, nach dem Wunsche meines Mannes die lieblichste Miene und die sanfteste Sprache annehmend, wenn auch die beste Haube noch feierlicheren Gelegenheiten vorbehalten blieb.

„Punkt sechs; so hat es mein seliger Vater gehalten.“

Ach Du gerechter Gott! Die etwas vorgerückte Morgenstunde war ja meine schwache Seite. Und nun saß die Tante wirklich da, stramm und steif, und wartete auf den Kaffee, auf das „Unterhalten werden“, ohne daß eine Falte sich verschob, ein Knopf sich lockerte, ja ohne daß ein Haar sich rührte.

Logiergäste sind eine angenehme Sache, vorausgesetzt, daß sie das Bedürfnis fühlen, sich hin und wieder von ihren Wirten abzusondern. Der Uneingeweihte hat kein Verständnis für das Gefühl der Erleichterung, mit dem die Hausfrau dem für eine Weile verschwindenden Gast nachblickt. Die lächelnde Miene wird abgelegt, die Schürze vorgebunden, und nun geht’s schleunig ans Werk – Mayonnaisen-Sauce rühren, Gelee auflegen, Tischzeug ordnen, eine aufgeschobene Rüge erteilen und derlei hausfraulicher Pflichten mehr!

Meine Liebenswürdigkeit begann, wie mein Mann immer sagte, mit der Suppe von neuem; sie befand sich mit dem Braten auf der Höhe und ging bei dem Dessert stark bergab. Ich bin eben keine sehr kräftige Natur, und eine kleine Nachmittagsruhe war mir stets ein Bedürfnis.

„Nicht wahr, verehrte Tante, Sie schlafen ein wenig nach Tische?“

„Mein seliger Vater schlief nie nach dem Essen.“

Wehmütig flog der Blick zu meinem Manne hinüber; er hielt nach Art der Männer nichts vom „opfern“ und ignorierte den Blick, aber „Fräulein“ fing ihn auf, und Fräulein, obschon für ein Paar Augen voll Schlaf durchaus empfänglich, hielt tapfer aus!

Innerhalb der nächsten Tage hatten wir mit der Tante alles besprochen, was unsere beiderseitigen Interessen berühren konnte.

Ich kannte die Ansichten des seligen Vaters bei den verschiedensten Vorkommnissen des Lebens; ob aber der selige Vater den Papieren oder den Hypotheken zugeneigt gewesen, konnte ich noch immer nicht erfahren, dieweil er weder Hypotheken noch Papiere besessen, sondern nur den Säbel, „den vor ihm sein Vater trug“.

„Ich hoffe, liebe Tante, Sie haben sich nicht an den Aktien des Panamakanals beteiligt (der Besuch fiel in die Zeit vor dem Krach und Lesseps war noch „Größe“) – jedenfalls sollten Sie, falls Sie welche haben, diese schleunig verkaufen.“

„Beruhigen Sie sich über meine Papiere, Frau Nichte, sie sind sicher im Vaterlande geborgen; mein seliger Vater sagte immer –“

„Mama, ich glaube, der Affe hat Bauchgrimmen – arges Bauchgrimmen,“ greinte Fritz plötzlich hereinstürzend.

„Ach geh doch, ein Affenleib ist viel zu unbedeutend dazu – was sagte Ihr seliger Vater, liebste Tante?“

„Mein seliger Vater sagte immer: ,Bleibe im Lande und nähre dich redlich‘ und daran halte ich mich bei meinen Papieren fest.“

Dieser Ausspruch des seligen Vaters war mir nicht ganz neu und niedergeschlagen wandte ich mich Fritzens Kummer zu.

„Der Affe wird gewiß sterben, Mama,“ jammerte der kleine Mann, „und dann – dann sterbe ich auch.“

„Gottloser Junge,“ brauste die Tante auf. –

Wir gingen zu dem Bauer des Affen – es war leer; wir suchten im Hause, wir suchten im Garten, wir riefen und lockten, es war alles umsonst!

Endlich vernahmen wir ein leises Wimmern, und, der Richtung des Tones nachgehend, entdeckten wir, daß der jammernde Laut aus dem eine Treppe hoch gelegenen Zimmer der Tante kam.

Natürlich – da hatten wir die Bescherung! Auf dem Sofa lag, sorgsam ausgebürstet und ausgebreitet, Tante Kunigundens neuer, taubenblauer Flanellschlafrock: expreß zu dieser Reise angekauft, tadellos im Stoff, hochmodern im Schnitt und demgemäß geschont wie eben „mein seliger Vater“ die „erste Garnitur“ zu schonen pflegte.

[611] Ob erste oder zweite Garnitur, war aber dem Affen egal; nur dem Bedürfnis nach „weich und warm“ folgend, hatte er sich in den molligen, schmiegsamen Stoff förmlich eingenistet, und neben ihm fand man in unvertilgbaren Spuren Ursache und Wirkung des jammervollen Gebahrens. Und weiter sahen wir auch, womit er seinen Magen so übel zugerichtet hatte. „Der Affe hat sich über den Tuschkasten hergemacht,“ war eine jede Hypothese niederschlagende Gewißheit.

Da nun nichts schlimmer ist als der Feldzug gegen einen unbekannten Feind, so verhalf uns die durch diese Wahrnehmung erhaltene Gewißheit zu einer verhältnismäßigen Ruhe. Die übliche Vergiftungsmilch trat, sobald Jocko ein ziemlicheres Lager erhalten, in ihre Rechte – die Milch that ihre Schuldigkeit, und, ruhig atmend, lag er dann, mit weißen Tüchern angethan, da, während Fritz mit seiner dicken warmen Kinderhand die magere, kalte Pfote liebend umschlossen hielt.

„Manch einer mag sich in Italien solch einen Affen braten,“ meinte August, dessen Geographie mit Italien endete, „obschon der Mensch doch erbärmlich wenig an so einem trockenen Vieh zu knabbern hat.“

„August ißt nämlich alles, wenn es nur Fleisch ist,“ bemerkte Lieschen in unverhohlener Entrüstung, „er hat sogar einmal Katzenbraten gegessen.“

„Kind, rede mir nichts drein; Katz’ schmeckt allerliebst, und manch ein feiner Musje in Berlin, der seine Portion Hasenbraten im Gasthof teuer berappt, denkt auch nicht, daß das Essen von einem Lampus kam, der das Schnurren und Mausen aus dem FF verstanden hat.“

Der Affe fuhr empor, begann von neuem zu jammern, Fritz machte angstvolle, flehende Augen, und da der Inspektor gerade gemeldet hatte, daß es bei einem der Mastochsen da draußen mit der Freßlust bedeutend haperte, konnte man ja ohne besondere Schwäche gegen den Jungen und seine flehenden Augen den Tierarzt einmal holen lassen. –

Wir saßen mit einigen Nachbarn auf Besuch gemütlich um den Kaffeetisch, als Fritz in seiner schonungslosen Offenheit jubelnd hereinstürzte: „Wir sollen uns um den Affen nicht ängstigen, hat der Tierarzt gesagt! Dem Tierarzt sein Vater ist viele Jahre Diener bei dem Großonkel General gewesen, und er hat auch die Tante gut gekannt; wenn die den Tuschkasten gekauft hat, hat der Tierarzt gesagt, werden die billigen milden Pflanzenfarben wohl keinem Affen in der Welt Schaden thun.“

Schwül war die Luft, und schwüler ward die Stimmung.

„Sie sind dem dummen Jungen doch nicht böse, mein gutes Tantchen?“ fragte ich, nachdem die Gäste fort waren.

„Böse? O bewahre, Frau Nichte; ich kann nur nicht umhin, im stillen meine Vergleiche zwischen der Erziehung heutiger Zeit mit der aus meiner Kindheit zu ziehen. Man muß sich eben daran gewöhnen, daß zum Beispiel Geschenke von Respektspersonen, die man früher vom Kinde dem Kindeskinde vererbte, heutzutage der Menschheit zum Spott, den wilden Tieren zum ungedeihlichen Fraße dienen; infolge welcher Ungedeihlichkeit das Verderben neuer Flanellschlafröcke gleichmütig hinzunehmen ist.“

„Sie haben recht, liebste Tante; nur bitte ich Sie, diesen unglückseligen Affen, den niemand uns abnehmen will, einmal als ein ,Ausnahmetier‘ zu betrachten.“

„Freue mich, daß ihr in der brillanten Lage seid, euch Ausnahmetiere zu halten; wir hatten’s eben nicht dazu!“

Die nächsten Tage gingen, vielleicht infolge des Umstandes, daß der noch immer leidende Zustand des Affen dessen Thatkraft dämpfte und daß auch Fritz sich dementsprechend gemäßigt zeigte, in verhältnismäßiger Ruhe hin, bis zu jener unseligen Mittagsstunde, wo August, eifrig mit dem Braten und der Sauce hantierend, halblaut mit den Kindern flüsterte, was erfahrungsmäßig Unheil bedeutete.

„Na, ich sage bloß, das ganze Kabinett ist ein See.“

„Was ist geschehen, August?“

„O, nichts weiter; unser Affe hat bloß den Stöpsel unten aus dem Quararium ein bißchen herausgezogen, und da wäre die kleine Stube ziemlich unter Wasser, wenn nicht die Stücke Gardinen, die doch nach der neuen Mode auf die Erde zu liegen kommen, das Wasser beinahe aufgesogen hätten.“

„Und die Tiere?“

„Na ja, die Tiere! Den Molch, den hat der Affe wohl ein bißchen herzhaft kapojiert, wenigstens das Hinterviertel, was noch davon da ist – die Schildkröte ist ja schon seit ein paar Tagen so wie so weg.“

„Und der Goldfisch?“

„Hat den Ehrenplatz – liegt in der Visitenkartenschale.“

„Aber Fritz – Fritz was sagst Du dazu?“

Fritz kaute mit vollen Backen: „Nischt! Die Biester sind mir zu langweilig.“

Der Nachmittag ging in resultatlosem Suchen nach der kleinen Schildkröte unbehaglich dahin. Allerdings rühmte ja die Naturgeschichte diesen Tieren die Fähigkeit, wochenlang hungern und dursten zu können, nach, immerhin aber fiel es mir auf die Nerven, daß der Versuch solchen Hungerns und Durstens sich in meiner unmittelbaren Nähe abspielen sollte.

Am Abend erschien Tante Kunigunde unerwartet in dem Zimmer meines Mannes. „Ich wollte Dich bitten, lieber Ernst, mich innerhalb der nächsten Tage zum Bahnhof zu schicken. Ich möchte eine größere Geldsendung, die ich hierher dirigiert habe, noch abwarten und mich dann in meine vier Pfähle in ungestörtem Frieden wieder zurückziehen.“

„Aber Tantchen, ich hoffte, Dich einige Wochen als unsern lieben Gast hier zu haben!“

„Sage: ich dachte, lieber Neffe, und Du kommst der Wahrheit entschieden näher; ich dachte auch, daß ich mich in eurem Familienkreise noch eine Weile wohl fühlen könnte.“

„Und Du hast Dich nicht wohl bei uns gefühlt?“

„Teilweise, ja; soweit es Deine Frau, Deine Kinder und euer herzliches Leben untereinander betrifft. Ich bin aber zu altfränkisch, um mich mit den Ausnahmeprinzipien in eurem Hause in klugem Schweigen abzufinden; ich kann über die Ausnahmeerziehung der Kinder ebensowenig wegkommen wie über die Verschwendung in einzelnen Dingen, als da sind die kostbaren Gardinen, deren unterer Teil als Scheuerlappen dient, wenn es dem Ausnahmetier beliebt, das Haus unter Wasser zu setzen. Mein seliger Vater hat in seinen Erziehungsprinzipien die Regel aufgestellt, daß der Mensch sich den Mund nicht verbrennen solle; ich folge diesem Prinzip; aber ich gehe der Versuchung aus dem Wege und reise Dienstag ab.“

(Schluß folgt.)


Blätter und Blüten


Wie lange soll der Mensch schlafen? Zu den wichtigsten Vorbedingungen der Gesundheit zählt zweifellos ein ausgicbiger und geregelter Schlaf. In ihm erholen sich das Gehirn und das Nervensystem und beide nehmen Schaden, sobald dem Schlafbedürfnis nicht Genüge gethan wird. Es ist allerdings nicht so leicht, dafür allgemein gültige Regeln aufzustellen. Bei erwachsenen Menschen gestaltet sich das Schlafbedürfnis verschieden, es wird wohl durch die Beschaffenheit des Körpers sowie durch die Art der Arbeit beeinflußt. Immerhin konnten erfahrene Aerzte Durchschnittszahlen ermitteln, denen sich jeder einzelne anzupassen vermag. Vor allem ist zu beachten, daß die Dauer des Schlafes nach dem Lebensalter bemessen werden soll. Der russische Arzt, Prof. Manasseïn, hat in dieser Hinsicht jüngst einige Regeln aufgestellt, denen wir folgendes entnehmen:

Was die Neugeborenen betrifft, so muß dafür gesorgt werden, daß ihr Schlaf weder absichtlich noch unabsichtlich unterbrochen, noch künstlich verlängert wird. Für die ersten vier bis sechs Wochen seines Daseins muß das Kind täglich zwei Stunden wachend zubringen. Ein- bis zweijährige Kinder brauchen einen täglichen Schlaf von 16 bis 18 Stunden; zwei- bis dreijährige sollen 15 bis 17 Stunden täglich schlafen; drei- bis vierjährige 14 bis 16 Stunden; vier- bis sechsjährige 13 bis 15 Stunden; sechs- bis neunjährige 10 bis 12 Stunden; neun- bis dreizehnjährige 8 bis 10 Stunden. Im Uebergangsalter, wenn die Kinder sich zu Jünglingen und Jnngfrauen entwickeln, muß die Schlafenszeit ein wenig verlängert werden; gegen Ende dieser Periode kann man die Dauer des Schlafes wieder anf 7 bis 9 Stunden verkürzen. Nachdem die Periode des Wachstums vorbei ist, also mit dem 19. bis 20. Jahr, halten wir es für zweckmäßig, die tägliche Schlafenszeit auf 6 bis 8 Stunden zu beschränken. Das reifere Lebensalter – vom 25. bis zum 45. Jahre – kann sich nötigenfalls mit 5 bis 7 Stunden Schlafenszeit täglich begnügen, jedoch nur bei vollkommenem Wohlbefinden.

Was nun alte Leute – Greise – anbetrifft, so hat sich die Dauer [612] ihres Schlafes danach zu richten, in was für einer Verfassung ihr körperlicher und geistiger Zustand sich befindet, d. h. ob derselbe normal oder mehr oder minder geschwächt ist. … Wenn aber ihr Schlafbedürfnis auch noch so groß ist, so sollten sie sich womöglich dennoch nicht gestatten, mehr als zehn Stunden täglich dem Schlafe zu widmen. Nur bei sehr großer Schwäche dürfen sie bis zu zwölf Stunden täglich schlafen, jedoch nicht in einem Zuge, sondern mit einer Unterbrechung. Die Hauptschlafenszeit muß natürlich während der Nacht sein, eine kürzere am Nachmittag. Es darf nie vergessen werden, daß der Organismus sich auch an solche Dinge gewöhnen kann, die schädlich sind. … Schläft der Mensch länger, als es die Ruhe seines Körpers und Geistes und die Thätigkeit seiner vitalen Funktionen erfordern, so entsteht daraus erstens eine Abnahme der Körper- und Geisteskräfte aus Mangel an genügender Uebung, und zweitens gewöhnen sich die Organe an einen anormalen Zustand der Ernährung, wodurch ihre Bethätigung im wachen Zustande geschwächt wird. Künstliche Mittel zur Herbeiführung des Schlafes, die betäubender Natur sind, sollten grundsätzlich vermieden werden; denn sie sind Gifte, durch welche das Nervensystem völlig zerrüttet werden kann.

Die religiösen Stirnzeichen der Hindus. (Zu dem Bilde S. 597.) Was ist das erste, das der rechtgläubige Hindu thut, nachdem er sein rituelles Morgenbad mit den vorgeschriebenen Rücken-, Kopf- und Schultergüssen genommen hat? Er geht zu einem inmitten von Farbentöpfen nahe dem Badeplatz hockenden Brahminen, kauert vor ihm nieder und läßt sich von dem kunstfertigen Priester das ihm zukommende Stirnzeichen, das tilak oder nama, auf die Stirn schminken, auf daß jedermann wisse, wes Gottes Verehrer er sei. Doch nicht genug damit. Auch die in den Dienst der Tempel gestellten Zugtiere, die Elefanten, welche bei festlichen Umzügen die Götterbilder auf schwerfälligen Karren durch die staubigen oder kotigen Straßen schleppen, müssen allmorgendlich vor dem priesterlichen Maler niederknien, um ihren Stirnstempel zu erhalten, nachdem sie mittels Besen und faserigen Kokosnußschalen in der Schwemme gründlich abgeschrubbt wurden. Ja selbst leblose Kultusgeräte, die Wände und Thore der Tempel verkünden durch derartige Zeichen, welcher Gottheit die Stätte geweiht ist.

Von den 300 Millionen Bewohnern Vorderindiens sind etwa 250 Millionen brahminische Hindus. Diese stattliche Religionsgemeinde erkennt zwar Brahma als unbestrittenen Weltschöpfer an, zollt demselben aber als einem Gott, der seine Aufgabe erledigt hat, keine sonderliche Verehrung mehr und gliedert sich im Hinblick auf die beiden anderen Hauptgottheiten in zahlreiche Sekten, die entweder dem gütigen Welterhalter Wischnu oder dem auf Weltzerstörung bedachten Schiwa die höhere Machtstellung einräumen. Diese beiden Gottheiten treten aber ebenso wie ihre Gemahlinnen in vielfältigen Verkörpernngen unter ebensovielen verschiedenen Namen auf und um jede dieser „Incarnationen“ bildet sich eine Verehrergruppe, die dieser von ihr bevorzugten Lieblingsgottheit besonders kräftiges Beistehen in allen Lebensfragen zutraut. Da es außerdem nach der brahminischen Götterlehre noch die Kleinigkeit von 330 Millionen untergeordneter Gottheiten giebt, kann es nicht wunder nehmen, daß sich die beiden Heerlager der Wischnuiten und Schiwaïten aus fast zahllosen Fähnlein mit anders geformten Wappenbildern, will sagen Stirnzeichen, rekrutieren.

Ein Hindu, der „schlecht und recht“ dem guten Gotte Wischnu seine religiöse Verehrung zuwendet – wozu ihn natürlich keineswegs freie Ueberzeugung, sondern allein die in seiner Kaste seit Jahrtausenden herrschende Ansicht bestimmt – läßt sich vom Hausbrahminen, dem guru, oder bei Familienfesten von den nächsten Verwandten ein nama-Zeichen in Gestalt eines unten abgestumpften römischen V auf die Stirn malen. Auf unserem Bilde ziert es die Stirn des Elefanten und die des abseits stehenden Brahminen, der sofort an den fünf um seine linke Schulter gelegten heiligen Baumwollenfäden als Priester erkennbar ist.

Dies Wischnuzeichen deuten verschiedene Sekten verschieden; die einen erklären es als Abdruck beider Füße des Gottes, andere begnügen sich, darunter nur einen Fußtritt desselben zu verstehen u. s. w. Durch verschiedene Länge und Neigungswinkel beider Seitenlinien dieses Stirnzeichens, durch fehlende, verzierte oder geradlinige Verbindung derselben drücken die Wischnuiten die verschiedenen Verklausulierungen ihrer Anerkennung Wischnus aus. Will z. B. der Inhaber eines solchen Zeichens zu verstehen geben, daß seine Hochachtung sich in gleichem Maße auf die bessere Hälfte dieses „guten“ Gottes erstreckt, d. h. auf die liebevolle Göttin Lakschmi, so erhält das Zeichen noch eine Mittellinie und ähnelt dann einer Heugabel \|/ Der rechtgläubige Hindu malt diese galante Aufmerksamkeit als brennend rote Linie, während das eigentliche Wischnutilak in schneeweißer Farbe leuchtet. Gemischt wird diese Farbe aus stark deckendem mineralischen Weiß, aus gebräunten „Opfermuscheln“ (turbinella rapa), aus Asche verbrannten Düngers von heiligen Kühen und aus wohlriechendem Sandelholzpulver.

Eine andere Sekte dieser Wischnu-Anhänger, die Ramavat-Sadhus, zeigt durch Bemalung ihres ganzen Körpers mit den Attributen des Gottes, mit Lotosblumen, Opfermuscheln, Schleudern und Keulen an, daß sie die von Wischnu in seiner Menschwerdung als Dämonentöter Rama bewiesenen heldenhaften Eigenschaften ganz besonders hochschätzt und zu würdigen weiß.

Begreiflicherweise zahlt der Schreckensgott Schiwa weit mehr opferbereite Anhänger als der milde Wischnu; ihm huldigen zumeist jene berüchtigten religiösen Bettler und Büßer, die Yogis, Sanyasis, Bairagis, Agoris u. s. w. Diese Schiwaïten malen ihr tilak in Gestalt dreier dicker weißer horizontaler Linien auf die Stirn, ja wenn sie in religiösen Dingen zu der äußersten Rechten gehören, auch auf Oberarme, Brust und Leib. Kommt ein derartig wie mit weißen Rippen bemalter dunkelhäutiger Ehrenmann aus der Ferne heran, so vermeint man erschreckt, ein Gespenst, ein wanderndes Gerippe zu sehen, zu dem der in der Regel fanatische Ausdruck des ausgemergelten Schiwaïtengesichtes ganz vortrefflich paßt. Den auf unserem Bilde dargestellten Elefanten habe ich in dem Augenblick photographiert, als er, mit seinem Mittagsmahl beladen, zu seinem gewöhnlichen Standplatz zurückschritt, der sich in der Tausendpfeilerhalle, dem Mandapan, des uralten Wallfahrtstempels zu Seringam befand. Dr. K. Boeck.     

Die Kreuzotter als Hungerkünstlerin. Die Menschen können nur kurze Zeit ohne Nahrung bestehen, selbst die geübtesten Hungerkünstler bringen es nur einige Wochen lang fertig; vielfach ist noch dazu ihr „Fasten“ keineswegs ein wirkliches, sondern läuft auf Betrug hinaus. Gleich dem Menschen vertragen alle warmblütigen Tiere den Hunger schlecht; der Stoffwechsel ist bei ihnen lebhaft und der Körper verlangt raschen Ersatz der verbrauchten Nahrungsstoffe. Anders verhalten sich die kaltblütigen Tiere, bei denen die Lebensfunktionen sich träger abwickeln. Sie können monatelang hungern; ja manche von ihnen, wie z. B. einige Schlangen, fressen nur etwa dreimal im Jahre und leben und wachsen dabei. Terrarienbesitzcr haben oft Gelegenheit, dieses Verhalten der Kriechtiere und Lurche zu beobachten. Die Kreuzotter verweigert z. B. fast regelmäßig in der Gefangenschaft jede Nahrungsaufnahme und bleibt dabei doch lange am Leben. Jüngst machte mit ihr der französische Naturforscher J. Vignard folgende Erfahrung: Eine gefangene Kreuzotter verweigerte jede Aufnahme fester Nahrung und lebte trotzdem 464 Tage. Am Anfang dieser Beobachtung wog sie 26 g, unmittetbar nach dem Tode 23,5 g. In der Zeit hatte sie sich einmal gehäutet und die abgestoßene Haut wog 1,20 g. Die Hungerkünstlerin war also in der Zeit von fünf Vierteljahren nur um 1,30 g abgemagert!

Das Engadin in Bild und Wort. Im südöstlichen Winkel des Kantons Graubünden liegt das Engadin, eines der namhaftesten und schönsten Längenthäler im Alpengebiet. Berühmt ist es weit und breit durch gewaltige Bergriesen, wundervolle Seen, blumige Wiesengründe, schattige Wälder und weite Gletscher mit blinkenden Eisfeldern. Dabei ist es von der Natur mit einem günstigen Klima ausgestattet und seinem Boden entspringen mehrere Heilquellen, unter denen die von St. Moritz, Tarasp und Schuls sich eines besonderen Rufes erfreuen. Wiederholt hat die „Gartenlaube“ ihren Lesern Bilder aus dieser herrlichen Gebirgsgegend vorgeführt, welche im Sommer, und in St. Moritz auch im Winter, von zahlreichen Kurgästen und Touristen aufgesucht wird. Heute möchten wir die Alpenfreunde unter unseren Lesern auf ein neues Buch hinweisen, das ein prächtiges Gesamtbild jenes Thales vor unseren Augen entrollt. Es ist dies „Das Engadin in Bild und Wort“ von M. Cawiezel (Verlag von Simon Tanner, Samaden). Ueberaus reichhaltig illustriert, giebt es treffliche Auskunft über die Natur des Landes, über die Gestaltung der Berge und Thäler, über Tier- und Pflanzenleben; es macht uns vertraut mit dem Engadiner Volksleben und führt uns ein in das bunte Treiben, das sich in den Bädern entfaltet. Das Buch ist kein trockner „Führer“, berücksichtigt aber doch die moderne Touristik. Jedem, der ins Engadin reisen will, bietet es die beste Auskunft und für jeden, der das herrliche Land besucht hat, wird es ein schönes Erinnerungsalbum bilden.

Lohengrin und Elsa am Hochzeitsabend. (Zu dem Bilde S. 601.) Der Brautchor ist verhallt, an Stelle der erloschenen Hochzeitsfackeln tritt das Mondeslicht und strömt mit dem Rosenduft des Gartens vereint in das Brautgemach, wo Lohengrin und Elsa dem stillen Abend des lauten Tages selig entgegensehen. „Wir sind allein, zum erstenmal allein,“ tönt es von des geheimnisvollen Gralsritters Lippen, und jedes Herz in dem weiten Theaterraum fühlt den sehnsüchtigen, berauschenden Zauber dieser Musik, vergißt, daß nur Schein da oben waltet, und erlebt alles mit: den mystisch leidenschaftlichen Ueberschwang der Liebe, die hier eine so gewaltig ergreifende Sprache in Tönen redet, das Nahen des Verhängnisses, vergebliches Warnen und Flehen, endlich – das Schicksalswort und den jähen Zusammenbruch des goldenen Glückstraumes in Nacht und Tod … Kein Wunder, daß auch die bildende Kunst diesen poesieerfüllten dritten Akt von Wagners „Lohengrin“ mit Vorliebe zum Gegenstand wählt und sich bemüht, die beiden Idealgestalten so hoch über der gemeinen Wirklichkeit darzustellen, wie Wagner sie mit dem geistigen Auge sah. Bn.     

Die Teilung Afrikas. Die Völker Europas haben den Dunklen Weltteil unter sich geteilt. Das größte Gebiet ist Frankreich zugefallen; es umfaßt 9 600 000 qkm und wird von etwa 35 Millionen Eingeborenen bewohnt. Weite Ländereien dieses Gebietes bestehen jedoch in wüsten Strecken der Sahara; England hat dagegen den besseren Teil erwählt; es besitzt nur 5 Millionen qkm, dieselben weisen aber eine Bevölkerung von etwa 38 Millionen auf. Der Kongostaat erstreckt sich über ein Territorium von 2 600 000 qkm und soll von etwa 20 Millionen Menschen bewohnt sein. Der deutsche Besitz in Afrika beträgt etwa 2 800 000 qkm mit 8 650 000 Einwohnern. Darauf folgen Portugal, Egypten, Italien, die Türkei und Spanien mit geringerem Besitz. Abgesehen von den barbarischen Reichen im Sudan, giebt es Afrika vier unabhängige Staaten: das Kaiserreich Marokko, die kleine Republik Liberia, die südafrikanische Republik (Transvaal) und den Oranje-Freistaat. *      


Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (12. Fortsetzung). S. 597. – Elefant in Vorderindien mit religiösem Stirnstempel. Bild. S. 597. – Fritz Reuters Briefe an seine Braut. Nach den Originalen im Nachlaß der Witwe. Erläutert von Johannes Proelß. (1. Fortsetzung). S. 600. – Lohengrin und Elsa am Hochzeitsabend. Bild. S. 601. – Ein deutscher Fürst. S. 604. Mit Bildnis S. 605. – Aus der Hohen Tatra. Von Johannes Schmal. S. 605. Mit Abbildungen S. 606, 607, 608 und 609. – Jocko. Humoristische Erzählung von Joachim v. Dürow (Fortsetzung). S. 608. – Blätter und Blüten: Wie lange soll der Mensch schlafen? S. 611. – Die religiösen Stirnzeichen der Hindus. Von Dr. K. Boeck. S. 612. (Zu dem Bilde S. 597.) – Die Kreuzotter als Hungerkünstlerin. S. 612. – Das Engadin in Bild und Wort. S. 612. – Lohengrin und Elsa am Hochzeitsabend. S. 612. (Zu dem Bilde S. 601.) – Die Teilung Afrikas. S. 612.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. 0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 36. 1896.


Das Kobell-Denkmal in München. Seit dem 19. Juli ist die Isarstadt um ein stattliches Denkmal reicher. An diesem Tage wurde nämlich in den prächtigen Anlagen am Gasteig (in der Nähe des Maximilianeums) das Denkmal des Mineralogen und Dichters Franz v. Kobell, das ihm Verehrer, Schüler und Freunde mit Unterstützung des Prinzregenten Luitpold und der Stadtverwaltung errichtet haben, feierlich enthüllt. Franz v. Kobell, dessen Vater ein Rheinpfälzer war, wurde am 19. Juli 1803 in München geboren und schon mit dreiundzwanzig Jahren zum Professor der Mineralogie an der dortigen Hochschule ernannt. Er ist der Erfinder des Stauroskops, eines Instrumentes, das zur Untersuchung der optischen Eigenschaften der Krystalle dient; er verbesserte die Galvanoplastik, führte zahlreiche Analysen aus und bestimmte viele Mineralien. Dem deutschen Volke aber ist er vor allem bekannt und lieb durch seine Gedichte in pfälzischer und oberbayrischer Mundart, wie auch durch seine hochdeutschen Dichtungen. Namentlich bayrisches Volkstum und die kraftvolle bayrische Eigenart hat er in seinen Dialektdichtungen wie wenige zu verherrlichen verstanden; köstlich sind seine humoristischen Lieder und Sprüche. Kobell war aber auch ein tüchtiger Weidmann, und sein „Wildanger“ ist ein wahrhaft herzerfrischendes Buch. Er gehörte zu jenen Auserwählten, die seinerzeit König Maximilian II. um seine Person versammelte; gestorben ist er am 11. November 1882.

Das Denkmal für Franz von Kobell in München.
Nach einer Photographie von Maximilian Stuffler in München.

Die Festrede bei der am Geburtstage Kobells stattgehabten Enthüllung des Denkmals hielt der greise Präsident der bayrischen Akademie der Wissenschaften, Geheimrat Professor Dr. von Pettenkofer, der Vorsitzende des Denkmalsausschusses und wohl der älteste Ueberlebende aus dem engeren Freundeskreise Kobells. Die von dem Bildhauer Professor König in München modellierte überlebensgroße Büste gibt das freundliche Gesicht des liebenswürdigen Gelehrten und Humoristen mit wahrhaft sprechender Aehnlichkeit wieder; der Bronzeguß wurde in der bekannten Millerschen Anstalt in München ausgeführt. Am Fuße des Denkmals liest man die Worte, mit denen Kobell einst von Scheffel gefeiert wurde:

„Ihm wurden die Geister des Wildwalds vertraut
Und die edelsteinhütenden Zwerge,
Seiner Lieder krystallklarer Jodellaut
Bleibt das Kronjuwel bayrischer Berge.“

Der Poststempel als Wetterprophet. Lange Zeit waren Wetterprophezeiungen völlig unsicher; seitdem jedoch in den Kulturländern ein Netz von Beobachtungsstationen geschaffen worden ist, geben unsre Wetterwarten täglich Wettervoraussagen heraus, die wenigstens für den nächsten Tag mit ziemlicher Sicherheit einzutreffen pflegen. Durch Anschläge und Zeitungen wurden sie bisher dem Publikum bekannt gegeben.

Nun hat der Postdirektor Villet in Washington die Anordnung getroffen, daß jede Postsendung mit einem Aufgabestempel bedruckt werde, der außer den üblichen Angaben: Aufgabeort, Datum und Stunde des Aufgebens noch das mutmaßliche Wetter für den folgenden Tag enthält. Letztere Angaben sind zu besonderen Typen zusammengestellt, die innerhalb des äußeren Kreises auswechselbar sind und folgende Bezeichnungen enthalten: – für morgen – kälter, wärmer, Frost, große Kälte, bewölkt, schön, kalt, Regen, Schnee, Strichregen – diese Bezeichnungen sind einzeln oder zu mehreren zusammenstellbar. Der Washingtoner Aufgabestempel erhält beispielsweise die obenstehende Form und prophezeit auf der linken Seite kälteres Wetter, auf der rechten Schnee, außerdem am unteren Rande noch die Aussicht auf Strichregen. Einen Versuch wird der Vorschlag wohl wert sein, wenn er meist auch nur für die umliegende Gegend Bedeutung haben wird.

Droschken auf „Fahrrädern“. Im Jahre 1888 wurde durch den Schottländer L. B. Dunlop das Fahrrad mit dem sogenannten pneumatischen Reifen versehen. Derselbe besteht aus einem Luftschlauch, in dem sich komprimierte Luft befindet, und einer äußeren Umhüllung oder Laufdecke. Dadurch wurde das Fahrrad wesentlich vervollkommnet, indem der Luftreifen die unangenehmen Erschütterungen auf unebenen, holperigen Wegen auf das geringste Maß zurückführte und dadurch die Leistungsfähigkeit der Maschine sowie des Radfahrers wesentlich steigerte. Nunmehr wird der Luftreifen auch für Wagen verwendet. In Paris ist bereits eine Anzahl Droschken vorhanden, deren Räder mit Luftreifen versehen sind oder eigentlich auf Velocipedrädern laufen. Der Vorteil liegt auf der Hand. Es fährt sich auf solchen Rädern ungemein bequem, da die Erschütterung nur geringfügig ist; das Wagengerassel fällt fort, und die Wagen selbst werden geschont; indem die einzelnen Teile weniger gestoßen werden, sind auch Beschädigungen seltener und die Reparaturkosten geringer. Schließlich werden die Pferde bei Anwendung des Luftreifens bei weitem weniger angestrengt. Es ist somit zu erwarten, daß der Luftreifen bei Wagen zur Personenbeförderung, namentlich in nicht bergigem Terrain, häufigere Anwendung finden wird.

Nähbeutelchen. Für reiselustige Damen ist nachstehend beschriebenes praktisches Nähbeutelchen sicher eine willkommene Gabe. Man schneidet von leichtem, hellfarbigem Tuch zwei kreisrunde Stücke von a) 25 cm und b) 15 cm Größe. Diese werden ringsum ausgezackt und mit kleinen, ausgenähten Löchern versehen. Durch die letzteren zieht man Seidenschnürchen und stellt so Züge her, welche Beutelchen bilden. Man legt die beiden auseinander gezogenen Scheiben aufeinander und befestigt sie in der Mitte mit einigen Stichen. An die Außenseite wird ein Quästchen genäht. Mit den Schnürchen zieht man die Beutelchen zu. Den kleineren Behälter füllt man mit Nadeln, Knöpfen, Haken, Fingerhut u. s. w. Der größere Raum aber dient zur Aufnahme von Faden, Schnur, Bändern und ähnlichem. A. S.     

Einmachglas mit Paraffinverschluß.

Einmachgläser mit Paraffinverschluß. Das Alte kehrt immer wieder, wenn auch in neuer Gestalt. Es ist altbewährt, den Luftzutritt von eingemachten Früchten u. dgl. dadurch abzuhalten, daß man über die oberste Schicht irgend ein leicht gerinnendes Fett gießt. Bei dem nebenstehend abgebildeten Einmachglase, wie es von der Firma J. E. Schmidt in Erfurt in den Handel gebracht wurde, ist aber dieser Fettverschluß vervollkommnet. Die Gläser besitzen am oberen Ende eine Rinne, auf die ein glockenförmiger Deckel gesetzt wird. Ist nun das Glas mit Früchten gefüllt, so wird der luftdichte Verschluß in der einfachsten Art hergestellt, indem man das Paraffin in einem Löffel oder Töpfchen über Feuer schmilzt und in die Rinne gießt.

Hier erstarrt es sofort zu einem festen Ringe. Will man die Büchse öffnen, so braucht man nur etwas heißes Wasser auf die Rinne zu gießen; das Paraffin wird sofort weich, und der Deckel läßt sich leicht abheben.


An unsere Leser.

manicula Um den praktischen Interessen der Familie zu dienen, haben wir in dem Anzeigenteil der „Gartenlaube“ eine besondere Rubrik, den „Kleinen Vermittler“, eingeführt. In denselben werden Anzeigen, welche Stellengesuche und Stellenangebote, Unterricht und Pensionatswesen betreffen, Inserate über Kauf und Verkauf von Grundstücken, sowie überhaupt Ankündigungen aus dem täglichen Kleinverkehr zu besonders ermäßigtem Insertionspreise aufgenommen. Das Wort in gewöhnlicher Schrift kostet 15 Pf., in fetter Schrift 20 Pf. Wir empfehlen den „Kleinen Vermittler“ der freundlichen Beachtung unserer Leser. Die Anzeigen sind an die Annoncen-Expedition von Rudolf Mosse in Leipzig, Berlin oder deren Filialen, also nicht an den unterzeichneten Verlag, zu richten. Der Verlag der „Gartenlaube“.     
[612 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Der älteste Bruder Luisens, der Postbeamter war.