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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[581]

Nr. 35.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (11. Fortsetzung.)

Vroni hatte schon das Wäldchen am Fuß des laufenden Berges erreicht, als ihr noch immer die hellen Thränen über die Wangen rannen, und das stumme, schmerzliche Spiel dieser fallenden Tropfen begleitete sie auf dem ganzen steilen Heimweg. Erst als sie bei sinkender Dämmerung in die Nähe des elterlichen Hauses kam, blieb sie stehen und legte die schweren Laibe zu Boden, um ein Weilchen zu rasten und ihre Wangen zu trocknen. Da sah sie im Gestrüpp einer Haselnußstaude etwas hängen, das wie Gold glänzte – und als sie näher trat, erkannte sie die C-Trompete des Daxen-Schorschl, die in den Zweigen verfangen hing, wie ein Christkindlgeschenk am Weihnachtsbaum.

„Na! So ein Unsinn! So einer!“ stieß sie mit bebender Stimme vor sich hin. „Und wie er umgeht mit dem teuren Sach’!“ Scheu blickte sie sich nach allen Seiten um, dann griff sie hastig nach der Trompete und wickelte sie sorgfältig in die Schürze.

Als sie wenige Minuten später daheim den Hof betrat, hörte sie, daß ihr Vater und Mathes im Garten noch bei der Arbeit waren. Flink und lautlos trat sie ins Haus und eilte zu ihrer Kammer; noch ehe sie die Brotlaibe niederlegte, verbarg sie die blinkende Trompete in dem Kasten, auf dessen Thüren man trotz der tiefen Dämmerung noch die rotbrennenden Herzen leuchten sah.

Sie wollte das Brot in die Küche tragen; doch ehe sie zur Schwelle kam, fiel sie auf einen Sessel nieder, ließ die drei Laibe auf die Kommode sinken und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

So fand sie Mutter Katherl, welche vor Schreck die Hände über dem Kopf zusammenschlug. „Ja um Gottswillen! Madl! Was hast denn?“

„Ich weiß net …“ stotterte und schluchzte Vroni in der ersten Verwirrung. „So ein’ Wehdam hab’ ich halt! … So ein’ Wehdam!“

„Mar’ und Joseph! Am End’ hast Dich verkühlt! Gelt, ich hab’ Dir’s aber gleich g’sagt: zieh Dich ein bißl wärmer an! … Na! Na! Ja was thu’ ich denn mit Dir! … Wart’ ein bißl, ich mach’ Dir gleich ein’ recht ein’ heißen Thee!“

Wie sich Vroni auch wehrte – sie mußte ins Bett und mußte sich auf die von Mutter Katherl diagnostizierte „Verkühlung“ behandeln lassen.

Wieder fiel eine kalte, sternenlose Nacht über die Simmerau. Während die beiden Alten vor dem Schlafengehen noch ein Weilchen bei der „Kranken“ in der Kammer blieben, saß Mathes mit seiner Pfeife draußen auf der Hausbank und blickte bald empor zu dem schwarzen, sich immer dichter sammelnden Gewölk, bald wieder hinunter ins Thal, in welchem ein paar erleuchtete Fenster gleich winzigen Funken glimmerten.

Wenn der frostige Nachtwind schärfer emporzog über die Halden, klang vom Wirtshaus mit verschwommenen Tönen das Johlen und Singen herauf …

Das neu aufgefundene Bildnis Gerhart Vollks von Lukas Cranach d. Ä.
Im Besitz des Museums der bildenden Künste zu Leipzig.

[582] So laut und lustig wie an diesem Abend war es da drunten in der Wirtsstube schon lange nicht mehr zugegangen! Der Daxen-Schorschl hatte wieder einmal „aufgemischt!“

„Grüß Gott, Wirt! Pumpst mir noch?“ Mit dieser Frage war er bei sinkender Dämmerung, als die Kellnerin eben die Lampen anzündete, in die Stube getreten.

„Ja!“ hatte der Wirt lachend gesagt, „aber nimmer viel!“

„No also! Für ein’ g’sunden Rausch wird ’s doch noch reichen! … Wer weiß, ob’s net der letzte is!“ Mit dieser etwas melancholisch klingenden Andeutung hatte sich Schorschl hinter einen Tisch geschoben, an welchem schon mehrere Gäste versammelt saßen, um sich mit dem durch sechs Tage zusammengesparten Samstagsdurste in den Sonntag hinüberzutrinken.

Und ja, es hatte gereicht! Noch ehe die Stube richtig voll mit Gästen war – unter denen sich auch der Geschäftsführer der Bäckenmahm’ mit seinem Gesellen befand – hatte sich Schorschl bereits in eine Stimmung „hineingebichelt“, bei welcher er um so lebhafter die Hände rührte, je mehr er die Herrschaft über seine Füße zu verlieren drohte. Mit seiner gereizten Lustigkeit amüsierte er die ganze Stube, und als man ihm die Zither hingestellt hatte, ließ er unermüdlich die Saiten klingen und sang die ganze Litanei seiner „schnackerlfidelen“ Lieder herunter – natürlich auch die „Lumpeng’stanzeln“!

„Ein richtiger Loder,
Kreuzteufel, juheh!
Der dreht im Tag ’s Unterste
Zwanz’gmal in d’ Höh’!“

Noch war das Gelächter, das dieser Strophe folgte, nicht völlig verstummt, als draußen auf der Straße ein gellender Ruf ertönte:

„Feuerjo! Feuerjo!“

Und da hörte man auch schon die dumpfen Schläge der Feuerglocke.

In der Wirtsstube war es plötzlich still geworden; aber dieses atemlose Schweigen und Lauschen dauerte nur einen Augenblick; dann fuhren sie alle von den Bänken und Stühlen auf. Bevor noch die ersten zur Thüre kamen, stürzte einer von der Straße herein.

„Leut’! Es brennt!“

„Wo? Wo?“ schrieen zwanzig Stimmen durcheinander.

„Bei der dicken Bäckin!“

„Jesus Maria!“ stotterte Schorschl. „Die arme Frau!“

Als er aufgesprungen war, hatte er den frischgefüllten Maßkrug umgeworfen und dieser auf den Kopf gestülpte Krug war ein Bild für ihn selbst – wie dieser Krug, so leer und nüchtern war Schorschl mit einem Schlag geworden. „Jesus Maria! Wie soll denn die arme Frau aus ’m Haus! Die kann ja kein Schrittl net vom Fleck!“

Ein paar zu Boden werfend, die ihm den Weg verstellten, stürzte er zur Thüre. Keuchend rannte er die Straße hinunter und sprang, als er seine Schmiede erreichte, mit hohem Satz über den Staketenzaun. Da sich das Thor der Werkstätte auf den ersten Griff nicht öffnen wollte, warf sich Schorschl mit der Schulter gegen die Bretter, daß sie krachend auseinanderflogen. „Jesus Maria! Jesus Maria!“ stammelte er ein um das andere Mal, bis er in der finsteren Werkstätte gefunden hatte, was er suchte. Einen schweren Schmiedehammer auf die Schulter werfend, eilte er der Brandstätte zu.

Schon glomm die Feuerhelle über die Dächer der benachbarten Häuser auf, und blutrot färbten sich die niedrig hängenden Wolken.

10.

Rings um das brennende Haus her zuckte und zitterte alles von grellroter Helle und schwarzen Schatten. Schreiende Menschen füllten den Garten und rannten um das Haus; sie wollten retten und helfen, doch Rauch und Flammen verwehrten ihnen jeden Eingang. Das Feuer mußte in der Backstube ausgebrochen sein, hatte schon alle ebenerdigen Räume ergriffen und war über die Treppe in den Dachstuhl hinaufgeklettert. Der Rauch und das Geprassel hatten die alte Magd, die neben den Zimmern der Bäckin in einer Kammer schlief, aus dem Schlummer geweckt, und da sie die Treppe schon vom Feuer ergriffen sah, war sie im ersten sinnlosen Schreck, ohne sich weiter um ihre Herrin zu kümmern, aus dem Fenster in den Garten gesprungen. Jetzt heulte und jammerte sie um die arme Frau, die da droben hilflos verbrennen mußte und machte mit ihrem kreischenden Geschrei die Leute noch konfuser, als sie ohnehin schon waren. Einige riefen nach Leitern um die Fenster des oberen Stockes ersteigen zu können – andere wußten keinen besseren Rat, als gegen die geschlossenen, schon von Rauch umwirbelten Fenster hinaufzuschreien: „Bäckin! Bäckin! Bäckin!“ Kein Laut gab droben Antwort doch ein paar Leute, welche die ersten auf dem Brandplatze gewesen waren, erinnerten sich, im Hause einen matten Schrei und einen schweren Plumps gehört zu haben, als wäre ein Kasten umgefallen oder eine Bettstelle durchgebrochen.

Während alles noch wirr und ratlos durcheinander schrie, kam die freiwillige Dorffeuerwehr mit Spritze und Schubleiter angerasselt, und Purtscheller, der als kürzlich gewählter Kommandant eine funkelnagelneue Uniform und einen blitzblanken Messinghelm trug, begann mit hallender Stimme seine Befehle auszuteilen, von denen einer dem anderen widersprach. Alle wollten gehorchen, aber auch alle mitkommandieren, eine heillose Verwirrung entstand, und so hätte es der armen, bedrohten Frau in ihrem Stubenkerker dort oben gar übel ergehen können, wenn nicht der Daxen-Schorschl noch zur rechten Zeit mit seinem wuchtigen Schmiedehammer und einem fertigen Rettungsplan auf dem Brandplatz erschienen wäre.

Mit derben Ellbogen stieß er ein paar Feuerwehrmänner und den über diese Eigenmächtigkeit scheltenden Herrn Kommandanten beiseite, wälzte die Schubleiter vor die Firstmauer, und als er die Leiter bis zu einem Fenster aufgewunden hatte, kletterte er hurtig über die Sprossen hinauf. Mit einem einzigen Streich seines Hammers schlug er den ganzen Kreuzstock des Fensters in die Stube hinein und begann dann Hieb um Hieb auf die Mauer loszuarbeiten, mit so wilder Kraft, daß jeder Hammerstreich die Oeffnung in der Wand um eine ausgiebige Scharte erweiterte. Dicker Rauch quoll ihm entgegen, der ihm fast den Atem benahm, die Mauerbrocken fielen ihm auf Kopf und Schultern und streiften sein Gesicht – doch er schlug und schlug mit dem Hammer, bis das Loch in der Wand schon breiter als eine Thür geworden war.

Nun merkten die Leute, was er wollte, und da schrieen sie ihm Beifall zu und gehorchten willig jedem Wort, das er über die Schulter aus Rauch und Staub zu ihnen hinunterrief.

Durch die weite Oeffnung war fast der ganze Dampf und Qualm schon aus der Stube entwichen, und bei dem flackernden Schein der Flammen, welche durch die schon halb verbrannte Zimmerthür aus dem Treppenflur in die Stube hineinzüngelten, sah Schorschl die Bäckenmahm’ in weißer Nachtjacke und Schlafmütze bewußtlos auf den Dielen liegen.

„Wasser! Wasser!“ schrie er. „Die Pippen ’rauf!“ Und als der Spritzenmann mit dem Schlauch über die Leiter heraufgeklettert war, ließ Schorschl, um die Bewußtlose ein wenig zu ermuntern und das Holzwerk gegen das eindringende Feuer zu sichern, den kalten, zischenden Wasserstrahl über die Bäckenmahm’ und durch die ganze Stube spielen. Dann sprang er in das weit klaffende Mauerloch.

„D’ Leiter in d’ Höh bis unters Dach! Und den Flaschenzug ’runter vom Krahnen!“ befahl er. „Vierthalb Centner Frauenzimmer tragt ja keiner über d’ Leiter ’nunter! Net einmal der Goliath! Wir müssen s’ mit dem Flaschenzug ’nunterlassen wie ein’ Mehlsack! Aber flink! Um Gottswillen, nur flink! Mir scheint, es pressiert!“

Er wandte sich in die Stube, und da ihm von der fast übermenschlichen Anstrengung und von all dem geschluckten Rauch schon ein wenig wirblig zu werden begann, griff er mit beiden Händen in das auf den Dielen stehende Wasser und wusch sich das Gesicht. Dabei merkte er gar nicht, daß ihm die Hände blutig wurden. Jetzt hatte er auf andere Dinge zu achten, denn jetzt kam das Schwerste von allem: den ohnmächtigen Koloß der Bäckenmahm’ auf den Lehnstuhl zu heben! Viertehalb Centner frei vom Boden weg einen halben Meter emporzustemmen – das ist harte Arbeit! Aber sie gelang ihm. Freilich war ihm einen Augenblick, als wollten ihm von der gewaltsamen Anstrengung alle Adern zerspringen und alle Sehnen reißen. Entkräftet taumelte er gegen den Tisch, umwirbelt von dem rotbeleuchteten Dampf, der von der brennenden Thüre durch die ganze Stube wallte. Aber da [583] kletterte schon der Spritzenmann mit Stricken und mit dem Flaschenzug durch das Mauerloch. Mit sicheren Knoten und zwanzigmal gekreuzten Stricken wurde die Bewußtlose auf dem Lehnstuhl festgeschnürt und dann der Flaschenzug in die Stricke eingehakt.

„Auf!“ schrie Schorschl durch das Mauerloch hinunter.

Drunten begann ein halb Dutzend Leute aus allen Kräften am Seil zu ziehen – und der Lehnstuhl mit der Bäckenmahm’ geriet ins Schweben. Jetzt schwankte er durch das Mauerloch heraus und baumelte frei in der Luft – der Spritzenmann, der sich wieder auf die Leiter geschwungen hatte, vermochte das Schaukeln und Drehen des Sessels nicht zu verhindern – und so fing der Lehnstuhl mit der weiß gekleideten Bäckenmahm’ ein immer flinkeres Kreisen und Wiegen an, während er sich langsam zu Boden senkte. Das war bei allem Bangen des Augenblicks ein Bild von so drastischer Komik, daß die Leute trotz des bösen Schadens, den das Feuer anrichtete, und trotz des Erbarmens, das sie mit der armen Frau empfanden, den Ernst nicht völlig bewahren konnten. In das wirre Geschrei mischte sich lautes Lachen, und allen Lärm übertönte eine kreischende Weiberstimme: „Jesses na! Wie der heilige Geist schwebt s’ abi!“ Ein dumpfer Krach erstickte das Gelächter, welches diesen Worten folgte, und allen anderen Spektakel.

Es war höchste Zeit gewesen, daß der Lehnstuhl mit der Bäckenmahm’ den Boden erreichte. Der First des brennenden Hauses war entzwei gebrochen, brennende Balken stürzten nieder, droben in der Stube war die Decke eingesunken, und während ein Gewirbel von Rauch und Funken aus dem Mauerloch hervorquoll, sausten in dicken Garben die brennenden Flocken der auf dem Bodenraum explodierten Mehlsäcke durch das in Glut zerfallende Dach in die Nacht hinaus, flatterten im Winde und rieselten gleich einem feurigen Sprühregen über den ganzen Umkreis des Hauses.

Erschrocken stoben die Leute auseinander, und nur wenigen fiel es auf, daß der Daxen-Schorschl nicht beim Lehnstuhl der Bäckenmahm’ zu sehen war!

„Mar’ und Josef! Der Schorschl! Wo is denn der Schorschl?“

Entkräftet und halb besinnungslos saß er droben auf der Brüstung des Mauerloches und hielt den Kopf an die vom Rauch geschwärzten Steine gelehnt. Die Funken fielen auf ihn nieder, brannten ihm Löcher in das Gewand und versengten ihm die Haare. Als er seinen Namen schreien hörte, schaute er langsam auf und im gleichen Augenblick streifte ein fallender Glutstrunk seine Schulter.

„No, no, no … ein bißl langsam … ich geh’ ja gleich!“ brummte er, während ihm alle Sinne taumelten. „So gar pressiren wird’s ja doch net, daß der Teufel den Schorschl holt!“

Man wollte ihm die Leiter näher rücken, aber das wartete er nicht ab. Gemächlich, wie sich einer zu Boden gleiten läßt, der auf der Tischkante sitzt, so rutschte er von der Brüstung und ließ sich die fünf, sechs Meter in den Garten hinunter plumpsen. Ein paar Männer fingen ihn auf, aber der Sturz war doch ein so harter, daß sich Schorschl nur mühselig wieder aufzurichten vermochte.

„Um Gottswillen, Schorschl?“ fragte man. „Hast Dir ’was ’than?“

„Ah, Gott bewahr’! Unkraut verdirbt net!“ sagte er mit heiserer Stimme und schüttelte die Funken von der Joppe. „Aber wo is denn die Mahm’? Es is ihr doch hoffentlich nix passiert?“

Als er zum Lehnstuhl kam, von dem man gerade die Stricke löste, mußte er sich an den Knäufen der Lehne festhalten, um nicht umzusinken. Aber die kalte Nachtluft schien ihn langsam wieder zu ermuntern.

Die Bäckenmahm’ war aus ihrer Ohnmacht erwacht; doch ihre versunkenen Aeuglein blickten irr und verständnislos, während sie mit zitternden Händen an ihrem Nachtgewand umhertastete.

„Macht nix, Mahmerl, macht nix!“ tröstete Schorschl. „Dein Jankerl und d’ Schlafhauben trocknet schon wieder! Weißt, ’s Wasser is viel weniger gefährlich als wie’s Feuer!“ Aufatmend wandte er sich an die Umstehenden: „Ich bitt’ schön, Leut’ … mit dem besten Willen kann ich heut’ so ein Trumm Frauenzimmer nimmer tragen … packt’s halt ein bißl mit an! Wir müssen schauen, daß wir die Mahm’ zu mir heim bringen. Ich muß ihr halt in meiner Werkstatt aufbetten – wir bringen s’ ja in kei’m andern Haus zu keiner Thür net durch! Also, bitt’ schön, Leut’, packts an!“

Ihrer sechse faßten den Lehnstuhl, und wie eine „heilige Mart’rerin beim Umzug“ wurde die Bäckenmahm’ in die Daxen-Schmiede getragen.

Auf dem Brandplatze war jetzt Purtscheller als Feuerwehrkommandant wieder Herr der Situation. Er ließ alle nur erdenklichen Manöver ausführen, dirigierte den wirkungslos verpuffenden Wasserstrahl bald durch die Fenster in die brennenden Innenräume, bald wieder in die rauschende Lohe des Daches, und als die Brunnen kein Wasser mehr geben wollten, organisierte er aus den Leuten, welche von den entlegenen Gehöften immer zahlreicher zur Brandstätte strömten, zwischen der Feuerspritze und dem Bach eine dicht geschlossene Reihe, durch deren Hände die ledernen Wasserkübel auf und nieder wanderten. Aber die Leute, welche sahen, daß an dem brennenden Hause nichts mehr zu retten war, erlahmten bald in ihrem Eifer; die einen, welche in der Nähe wohnten und die eigenen Dächer von den fliegenden Funken bedroht sahen, eilten in Sorge ihren Häusern zu; und andere wieder fanden, daß ihnen das Schwatzen, Schelten und Jammern leichter wurde als die Arbeit, bei der sie nasse Kleider und steif gefrorene Finger bekamen. Nur eine kleine Schar hielt noch tapfer beim Wassertragen aus, und unter diesen geduldig und rastlos Arbeitenden befanden sich Mathes und Vroni mit ihrem Vater – die drei waren atemlos auf dem Brandplatz eingetroffen, gerade als man die Bäckenmahm’ in ihrem Lehnstuhl davongetragen hatte. Der Anblick des Daxen-Schorschl, der in seinem von Brandlöchern und Mauerschutt verwüsteten Gewand, mit dem versengten Haar und mit dem rauchgeschwärzten, blutfleckigen Gesichte kaum zu erkennen war, hatte Vroni stumm und bleich gemacht; und während sie die schweren Wasserkübel schleppte, horchte sie unruhig auf jedes Wort, das in ihrer Nähe gesprochen wurde.

Eine erregt durcheinanderschwatzende Gruppe hatte sich um den Geschäftsführer der Bäckin gebildet, der die Schuld am Ausbruch des Feuers auf eine Fahrlässigkeit des Gesellen schob und bald mit zornigem Schelten, bald wieder mit Thränen seinen Verlust bejammerte – er war ja nun brotlos und hatte den Koffer mit seinen Habseligkeiten und all seinem ersparten Gelde verloren. „An wen soll ich mich jetzt denn halten?“ klagte er. „Wer macht mir denn mein’ Schaden gut? Die Bäckin? Mein Gott, die hat ja selber nix mehr! Man hat ja nix ’raus aus’m Haus .. und ich weiß, sie hat ihr ganz’ Vermögen in Papier’ droben im Kasten g’habt! Und ihr G’schäft is hin! Und ihr Haus brennt nieder bis auf’n Boden! Und kriegen thut s’ auch nix dafür, weil s’ allweil z’ geizig g’wesen is, als daß sie sich hätt’ versichern lassen.“

Die Nachricht, daß die Bäckenmahm’ ihr Haus nicht versichert hatte, weckte in Purtscheller eine Erinnerung, die ihn im ersten Augenblick um alle Fassung brachte. Jetzt erst schien es ihm zum Bewußtsein zu kommen, daß er nicht nur Feuerwehrkommandant, sondern auch noch Besitzer des Purtschellerhofes wäre, für den er am ersten Oktober die Feuerpolice zu bezahlen „vergessen“ hatte. Verstört blickte er zu dem Flug der durch die grell erleuchtete Nacht dahintreibenden Funken auf, rief stotternd dem Spritzenwart zu, daß er das Kommando „für ein paar Minuten“ übernehmen möchte, und rannte auf die Straße hinaus. In der blinden, stolpernden Eile verlor er den schönen, neuen, blitzblanken Messinghelm und nahm sich gar nicht die Mühe, ihn wieder aufzuheben.

Als er seinen Garten erreichte, kam ihm Karlin’ von der durch den Feuerschein erhellten Hausthür entgegengeeilt. Sie trug ihr Bübchen auf den Armen, das sie zum Schutz gegen die Kälte der Nacht in eine warme Decke gehüllt hatte.

„Gott sei Dank, Toni, daß Du heimkommst!“ stammelte sie mit halb erloschener Stimme. „Schau, ich weiß mir ja nimmer z’helfen! ’s Tonerl bleibt mir net allein in der Stuben droben … und es muß doch wer herunten sein und aufpassen, ob nix passiert! All’ unsere Leut’ sind davong’laufen … und schau nur, wie d’ Funken ’rüberfliegen über unser Haus! Um Gott’swillen, Toni! Ich bin so viel in Sorgen!“

„Karlin’,“ keuchte Purtscheller, als er nach dem hastigen Lauf

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Die Parade der Rheinflotte im Hafen von Ruhrort vor der [Kaiseri]n Auguste Victoria und dem Prinzen Heinrich (7. August 1896).
Nach dem Leben gezeichnet von H. Hermanns.

[585] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [586] ein wenig Atem gefunden hatte, „Karlin’ … hast net ein bißl Geld bei der Hand? Gieb her, sag’ ich! Gieb her!“

„Aber Toni! Wie sollt’ denn ich Geld haben? Vertraust mir ja doch nie was an! Aber ums Himmelswillen! Toni! Was is denn?“

„Du mußt doch was haben! Du mußt! Und ich brauch’s! Her damit, sag’ ich!“

Sein verstörtes Wesen mehrte noch ihre Sorge. „Ich bitt’ Dich, Toni, so sag’ mir doch, was hast denn?“

„Unglück überall! Und grad’ heuer muß mir’s passieren, daß ich net an d’ Versicherung denk’! Weil Du ein’ aber auch auf alles vergessen laßt! Und wenn jetzt was passiert …“

„Jesus Maria!“ Karlin’ umklammerte seinen Arm. „Wie viel brauchst denn? Ich selber hab’ ja nix! Aber dem Tonerl sein Sparbüchsl hab’ ich droben …“

„Her damit! Her damit!“

Alle beide stürzten sie in das Haus und über die Treppe hinauf. In der Stube brannte die Hängelampe, doch die Schlafkammer war ohne Licht, nur matt erhellt durch den roten Feuerschein der Brandstätte; gleich tanzenden Sternen flogen draußen vor dem Fenster die Funken vorüber.

„Sei stad, mein Herzerl, ich bitt’ Dich, sei stad!“ tröstete Karlin’ mit versagender Stimme das weinende Kind, während sie mit zitternder Hand aus einem Versteck ihres Wäschekastens die kleine Blechbüchse hervorsuchte. „Das Schlüsserl hab’ ich nimmer,“ stammelte sie, während ihr die Thränen kamen, „das hab’ ich in der Kirch’ der heiligen Muttergottes in d’ Hand g’legt!“

„Ich brauch’ kein’ Schlüssel! Her damit!“ Purtscheller packte die Blechbüchse, in der es klirrte und klimperte, rannte in die Stube hinaus und riß mit Gewalt das Vorhängeschloß von dem kleinen Schatzgut seines Kindes. Ein Dutzend Goldstücke kollerte über den Tisch. Purtscheller raffte sie zusammen und eilte davon, ohne für Karlin’ noch ein Wort zu finden.

Zuerst suchte er den Buchbinder auf dem Brandplatze; aber hier fand er ihn nicht; der Mann war nach Hause gegangen, hatte seine Kinder und Gesellen zusammengerufen, um das von den fliegenden Funken bedrohte Schindeldach seiner Scheune mit Wasser zu überschütten, und stieg gerade, als Purtscheller kam, mit einer Gießkanne über die Leiter hinauf.

„Du! Sei so gut, ein’ Augenblick!“ rief ihm Purtscheller zu, kaum seiner Stimme mächtig.

Aber der Buchbinder schleppte ruhig die Gießkanne vollends über die Leiter und reichte sie einem seiner Buben. Dann erst kam er. „Was schaffen S’, Herr Purtscheller?“

„Da! Nimm! Da bring’ ich Dir ’s Geld für die Polizzen! Geh, sei g’scheit und nimm’s!“ Purtscheller versuchte ihm die Geldstücke in die Hand zu zwängen. Doch der Buchbinder hielt die Faust geschlossen und schüttelte den Kopf. „Was hast denn? So nimm doch!“ Purtschellers Stimme wurde heiser. „Ob ich’s gestern ’zahlt hätt’, oder ob ich’s heut’ erst zahl’, das wird ja doch Wurscht sein! Ich bitt’ Dich um Gott’swillen, so sei doch gescheit! So nimm’s doch!“ Er wollte dem Mann das Geld in die Joppentasche stecken.

Aber der Buchbinder wehrte sich mit beiden Händen und trat zurück. „Na, Herr Purtscheller! Heut’ in der Nacht nimmer! Das könnt’ ich als Agent net verantwortigen vor der G’sellschaft! Ich hab’ Ihnen g’mahnt, und Sie haben net g’hört drauf. Jetzt kann ich nix mehr machen! Morgen, ja, wenn alles wieder in der Ruh’ is … meinetwegen! Aber heut’ in der Nacht, wo ’s Feuer umeinander fliegt? Na, mein lieber Herr! Das geht net!“

In Purtscheller loderte der Jähzorn auf. „So? Also so einer bist Du? Ganz recht, daß ich Dich endlich einmal kennenlern’! Dich! Wart’ nur, Du! Ein andersmal mach’ ich die Faust und halt’ mein’ Sack zu! Man muß sich ja net grad’ bei Dir versichern lassen! … Hörst! Ich frag’ Dich zum letztenmal! Nimmst das Geld oder net?“

„Vater!“ klang vom grell beleuchteten Dach herunter eine erschrocken kreischende Knabenstimme. „Vater! Da schau ’nüber! Da geht schon wieder ein anderes Feuer in d’ Höh’!“

Der Buchbinder blickte auf und sah hinter dem Dach des Purtschellerhofes eine helle Flamme emporsteigen, als wäre Stroh in Brand geraten. „Herr Purtscheller!“ stotterte er. „Schauen S’, daß S’ heimkommen … ich fürcht’, Sie kriegen Arbeit daheim!“

Purtschellers Gesicht war entstellt, und taumelnd suchte er an der Leiter eine Stütze; so stand er eine Weile, zitternd an allen Gliedern; dann stürzte er wortlos davon, ohne zu merken, daß ihm die Goldstücke durch die schlaff gewordenen Finger glitten. Als er in die Nähe der Dorfstraße kam, sah er schon einen Haufen schreiender Leute nach seinem Hof eilen. Er rannte und rannte, bis ihm der Atem versagte. Bei der Gartentreppe stieß er mit Karlin’ zusammen; sie sah ihn wohl, doch sie erkannte ihn nicht; in verzweifelter Angst hielt sie mit den Armen ihr Kind umklammert, und ohne die Stimme ihres Mannes zu hören, welcher keuchend ihren Namen rief, eilte sie über die Straße hinüber, um den Knaben im Haus des Nachbars in Sicherheit zu bringen.

Auf dem Kirchturm begann eine zweite Glocke anzuschlagen, und rasselnd kam die Feuerwehr, welche das rettungslos verlorene Haus der Bäckin verlassen hatte, zum Purtschellerhof gefahren. Mathes ritt auf einem der beiden Pferde, die vor die Spritze gespannt waren, und mit dem Leitseil peitschte er auf die vom Geschrei der Leute, vom Glockenschlag und vom Feuer scheu gemachten Tiere los, welche die hügelige Auffahrt in Purtschellers Hof nicht nehmen wollten; aber so wild sich die Pferde auch gebärdeten – er zwang sie. Als er vor der brennenden Scheune, durch deren offen stehendes Thor die zündenden Flugfunken einen ungehinderten Weg zu den in Unordnung umherliegenden Strohgarben gefunden hatten, vom Pferd gesprungen war und den Schlauch der Spritze auseinanderrollen half, klammerten sich zwei zitternde Hände um seinen Arm.

„Mathes!“

Als er in Karlin’s nasse, verstörte Augen sah, in diese von Kummer und Sorge abgehärmten und vom grellen Feuerschein überflackerten Züge, brachte er nicht gleich ein Wort heraus; dann klopfte er sie auf die Schulter und strich ihr mit der Hand übers Haar, als wäre er noch der Bub’ von dreizehn und sie noch das Dirnlein von neun Jahren. „Sorg’ Dich net, Linerl! Ich bin schon da! Es is net so arg! Na, na! Sorg’ Dich net, Linerl! … Hast doch Dein Büberl in gute Händ’ ’geben?“

„Ja, Mathes! Bei der Nachbarin drüben!“

„No also, schau! Und fürs Haus is ja gar kein’ G’fahr net! Den Stadel halt, den wird der Toni verschmerzen müssen! Sonst aber is kein’ G’fahr! Na, Linerl, na! Thu Dich net sorgen!“

Sie schüttelte den Kopf und atmete auf.

„Und komm, Linerl, komm, hilf mit!“ Er riß einen Ledereimer vom Spritzenwagen. „Da hast ein’ Kübel!“

„Ja, Mathes, ja! Gieb her!“ Mit so heller Stimme, daß es über all den wirren Lärm hinaus klang, schrie sie: „Leut’! Leut’! Da her! Da is Wasser!“ Und den anderen voraus eilte sie zum Garten, zwischen dessen Bäumen der Entenweiher lag. Vroni und der Simmerauer waren die ersten bei ihr.

„Michel! Vronerl! Vergeltsgott!“

Karlin’ reichte den beiden zu raschem Druck die Hand, dann warf sie sich am Rand des Weihers auf die Knie nieder und hob den ersten vollen Eimer aus dem Wasser.

Mathes brauchte nur wenige Minuten, um zwischen Spritze und Teich eine Doppelreihe für die laufenden Eimer zu bilden.

Während man schon zu pumpen begann, um das Wasser in den Schlauch zu treiben, rannte der Spritzenwart überall umher und schrie nach Purtscheller. Neben der Hinterthür des Hauses fand er ihn an die Mauer gelehnt, ratlos vor Schreck und mit schlaffen Armen – Zäzil war bei ihm und redete mit tröstenden Worten auf ihn ein.

„He! Purtscheller!“ Der Spritzenwart rüttelte ihn am Arm. „Purtscheller! Was is denn? So rühren S’ Ihnen doch!“

„Aber so lassen S’ ihn doch in Ruh’!“ murrte Zäzil. „Sehen S’ denn net, wie’s ihm zu Mut is, dem armen Herrn!“

Ueber das Rauschen der Flammen und über allen Lärm hinaus, der den Hof erfüllte, tönte die hallende Stimme, mit welcher Mathes der Spritze ein Kommando gab.

Purtscheller blickte auf. „Der Mathes …“ stammelte er, „der Mathes soll reden für mich! Der Mathes! Der versteht sich auf d’ Arbeit!“

Kopfschüttelnd brummte der Spritzenwart etwas in den Bart und eilte zu seinem Posten.

[587] Mit thränenden Augen starrte Purtscheller in die wachsenden Flammen. Dann machte er eine Bewegung, als wären ihm die Kniee schwach geworden.

„Was haben S’ denn, Herr?“ fragte Zäzil.

„Völlig übel is mir von der Aufregung … geh’, Madl, sei so gut und mach’ mir ein’ schwarzen Kaffee!“

„Trinken S’ lieber ein guts Glasl Wein! Das macht Ihnen warm im Magen und richt’ Ihnen wieder ein bißl auf!“

„Ja, hast recht! … Bist ein guts Madl!“

Purtscheller ließ sich von Zäzil, die ihn barmherzig unter den Arm genommen hatte, kraftlos ins Haus und hinauf in die Wohnstube führen.

Und während Zäzil für den „armen Herrn“, welchem „so viel ungut“ war, eine Flasche Tiroler holte und das Glas füllte, arbeiteten drunten all die anderen mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft, um des Feuers Herr zu werden.

(Fortsetzung folgt.)


Fritz Reuters Briefe an seine Braut.

Nach den Originalen im Nachlaß der Witwe.
Erläutert von Johannes Proelß.


Als Fritz Reuter in der schönen stillen Villa bei Eisenach, die er sich 1863 vom Ertrag seiner Werke am Fuße der Wartburg erbaut hatte, gemeinsam mit seiner geliebten Frau die schwer errungene Muße seines Lebensabends genoß, überraschte ihn eines Tages ein prächtiges Geschenk von der Hand ihm unbekannter Verehrerinnen. Es war ein besonders reich und kunstvoll gestickter Teppich mit Emblemen, die auf die Dichtkunst Bezug hatten. Bei aller Freude, die der Dichter über die liebenswürdige Gabe empfand, konnte sich sein Humor doch nicht versagen, in seinem Dankschreiben die kostbare Stickerei als „gar zu schön für ihn“ zu bezeichnen; „die Damen jedoch,“ fügte er hinzu, „sind vollständig entschuldigt, weil dieselben meine etwas derbe, plattdeutsche Person nicht kennen und sich in mir etwa einen amaranthnen Oskar von Redwitz oder einen veilchenblauen Novalis gedacht haben.“

Die „etwas derbe plattdeutsche Person“, die als des Dichters Abbild in den selbstbiographischen Romanen „Ut mine Festungstid“ und „Ut mine Stromtid“, vom heiteren Glanze seines Humors verklärt, unsterblich weiterlebt, hat denn auch wahrlich nicht das mindeste mit der Figur eines romantisch gestimmten modernen Minnesängers gemein! Und die Forscher, welche wie Adolf Wilbrandt Reuters thatsächlichem Lebensgang hingebend gefolgt sind und uns sein Charakterbild nach der Wirklichkeit gezeichnet haben, konnten uns nur bestätigen, wie sehr dies poetische Abbild dem persönlichen Wesen des Dichters entsprach. Tiefeingewurzelt in dem heimatlichen Boden des mecklenburgischen Plattlands, dessen Volkstum er uns ohne Schminke und Firnis in all seiner herben Frische und derben Fröhlichkeit geschildert hat, war und blieb allezeit auch sein Wesen. Und wie er seinen Inspektor Bräsig, seinen Karl Hawermann, wenn’s die Gelegenheit fordert, vor uns hintreten läßt mit den Spuren der Feldarbeit an den hohen Stulpstiefeln, gleichviel, ob’s Erntezeit oder Zeit fürs Mistfahren ist –, wie er seine mecklenburgischen Bauern, Küster und Stadtphilister daherreden läßt, wie ihnen der plattdeutsche Schnabel gewachsen ist, so war’s dem Stavenhagener Bürgermeisterssohn auch für seine Person ein Bedürfnis, sich in Reden und Thun als echtes mecklenburgisches Landkind zu geben und auch die Regungen des tieferen Gefühls gern hinter Scherz und Ironie zu verbergen.

Aber freilich, wie Reuters urkräftiger Humor die launige Darstellung menschlicher Beschränktheit und Thorheit stets mit dem freundlichen Sonnenlicht warmherziger Menschenliebe durchleuchtet hat, so hatte all sein Schauen und Schaffen ein gar liebreiches Herz zum Urquell. Die „Treuherzigkeit“, wie er sie aus sich heraus so vielen seiner komischen Gestalten verliehen, war die Grundeigenschaft seines echt naiven Gemütes, und wo er in seinen Werken die Liebe von Herz zu Herzen zu schildern unternahm, ob in ihrer ersten noch kindlichen Regung, wie in der Liening- und Miening-Idylle, oder im Ausbruch heftiger Leidenschaft, wie in „Kein Hüsung“, ob als festgegründetes Eheglück, wie an dem Gürlitzer Pastorspaar, da offenbarte er einen tiefen, keuschen Respekt vor der Heiligkeit ihres Waltens. Was er selbst als Liebender erlebte, hat er – so gern er sonst sein Erleben zum Vorbild seines Dichtens machte – zwar nirgends direkt erzählt, aber der Duft reinster Auffassung überhaucht die Kapitel, die in seinen Dichtungen von treuer Herzensneigung und ehrlicher Liebeswerbung handeln. Auch die scherzhafte Erzählung „Woans ich tau ’ne Fru kamm“ giebt kein direktes Bild von seiner eigenen Verlobung, aber im Preise der Ehe, wie sie, klingt auch die erste seiner größeren Dichtungen, die „Reis’ nach Belligen“, aus, in der es am Schluß heißt:

„Mit den uns’ Herrgott meint dat tru,
Den giwwt hei eine gaude Fru!“

So konnte denn auch das anziehende Bild von der Ehe des Dichters nicht überraschen, als nach seinem Tode Freunde von ihm sein häusliches Glück zum Gegenstand öffentlicher Schilderung machten. Dies geschah zum erstenmal und sogleich nach der besten Quelle durch den Romanschriftsteller Friedrich Friedrich, der sich, dem Beispiel des Reuterschen Ehepaars folgend, anfangs der siebziger Jahre in Eisenach angesiedelt und mit jenem seitdem in freundnachbarlichem Verkehr gestanden hatte. Sein Aufsatz „Fritz Reuters Louising“, der, durch eine Niederschrift von dieser selbst ergänzt, im Jahrgang 1874 der „Gartenlaube“ erschien, ist für alle späteren Biographen Reuters eine wichtige Quelle geworden. Er schrieb denselben, wie schon Frau Reuters Mitarbeit beweist, welche sich auf ihres Gatten litterarische Anfänge bezog, in Uebereinstimmung mit dieser, die in ihrer schlichten Art dabei gewiß nicht auf Anerkennung und Lob ihrer eigenen Verdienste ausging, dagegen überzeugt war, daß zur vollen Wertschätzung und richtigen Beurteilung gerade ihres Mannes diese Ergänzung nicht fehlen dürfe. Es gewährte da einen besonderen Reiz, zu erfahren, wie Reuter, der erst im 43. Lebensjahr, dem zweiten seiner Ehe, dazu kam, sein erstes Buch, die „Läuschen un Rimels“, herauszugeben, überhaupt erst in der Umfriedung seiner Ehe das Zutrauen zu seinem Talente gefunden hatte, um öffentlich als Dichter aufzutreten. Und als dann später dem Biographen Reuters, Adolf Wilbrandt, es durch das Vertrauen von Frau Luise Reuter gestattet war, den Schleier diskret zu lüften, der bis dahin die langwierigen inneren Kämpfe, die dem Ehebunde vorausgegangen waren, verhüllt hatte, da war dieser Einblick um so ergreifender, als man sich die Vorgeschichte des letzteren nicht idyllisch genug hatte ausmalen können. Wohl war diese Werbe- und Wartezeit von sechs Jahren den sozialen und lokalen Verhältnissen nach, unter denen sie sich abspann, idyllisch genug, idyllisch wie die von fruchtbarem Acker- und Wiesenland umrahmten Rittergüter, Landstädtchen und Landpfarreien, welche in „Ut mine Stromtid“ den Schauplatz bilden, und wie die benachbarten Güter Demzin und Rittermannshagen gelegen sind, auf denen der schon in den Dreißigen stehende Oekonomievolontär Fritz Reuter und die um zehn Jahre jüngere Pastorstochter Luise Kunze sich kennenlernten. Aber sie war überschattet von den tragischen Nachwirkungen, welche die lange Gefängnis- und Festungshaft, mit der er sein patriotisches Schwärmen als Burschenschafter zu büßen gehabt, über das ganze Leben dieses grundedlen Mannes, namentlich aber über das dieser schweren Leidenszeit folgende Jahrzehnt, gebracht hat.

Nun ist auch vor zwei Jahren Reuters Frau ins Jenseits hinübergeschlummert, sie, die seine Muse zwar nicht in dem Sinne war, daß sie selbst und die Liebe zu ihr den Gegenstand seiner Poesie gebildet hätten, aber doch insofern, daß sie die Retterin und Hüterin des goldnen Schatzes wurde, der in Fritz Reuter bis zu seiner Ehe so gut wie ungehoben schlummerte und den er erst unter dem Segen derselben umzumünzen lernte in die poetischen Gaben seines schöpferischen Humors.

Aus ihrem Nachlaß treten jetzt die Briefe, die er in jener Prüfungszeit an sein „Louising“ geschrieben, in der „Gartenlaube“ zum erstenmal, soweit sie vorliegen, vollständig ans Licht; in [588] demselben Blatte, das vor 22 Jahren zuerst der Nation bekannt gab, was diese edle deutsche Dichtersfrau ihrem Manne gewesen ist. Und wer nun diese Liebesbriefe Reuters, von denen bisher durch Wilbrandt nur einige wenige teilweis veröffentlicht wurden, im Zusammenhange liest, der wird mit Erstaunen und gewiß auch inniger Sympathie erkennen, wie zart und glühend seine „etwas derbe plattdeutsche Person“ in der Zeit, da er mit heißer Inbrunst um Liebe warb, seine Gefühle zu äußern wußte.

Er wird mit uns fühlen, wie der urwüchsige, kernhafte Poet, der in unserer Litteratur als der größte Humorist des Jahrhunderts dasteht, die heilige Glut der Liebe noch inniger empfunden hat als so mancher andere Dichter, der nach Minnesängerart seine Leier zeitlebens zum Preise der Liebe gerührt hat. Und nicht ohne ein leises Lächeln wird er daneben wahrnehmen, wie die spätere „derbe plattdeutsche“ Art des Dichters seinen damaligen Antrieben doch nicht entsprach, sondern diese letzteren, wie die dem ersten unserer Briefe eingeflochtene Parabel und andere Gedichte an seine Braut, die erst kürzlich veröffentlicht wurden, beweisen, fein hochdeutsch bethätigte – wenn auch nicht gerade in „amaranthener“ oder „veilchenblauer“ Farbenstimmung.

Drei Werke sind im letzten Jahre hervorgetreten, welche über die Jahre Reuters, aus denen seine Briefe an die Braut stammen, nähere Auskunft geben und daher zur Erläuterung derselben wertvolles Material bieten. Es sind die Bände: „Aus Fritz Reuters jungen und alten Tagen“ von Karl Theodor Gaedertz, der sich schon durch seine „Reuter-Reliquien“ und „Reuter-Studien“ ähnliche Verdienste erwarb, „Fritz Reuter in seinem Leben und Schaffen“ von A. Römer und „Wahrheit und Dichtung in Fritz Reuters Werken“ von Gustav Raatz. Alle drei Bücher sind mit Porträts und Ansichten geschmückt, die uns den Dichter, seine Angehörigen und Freunde und seine mecklenburgische Heimat vergegenwärtigen, zum Teil nach Originalen von Reuters Hand. Es soll unsere Aufgabe sein, auf Grund dieser Feststellungen den Inhalt der Briefe an seine Braut dem Verständnis der Leser noch näher zu bringen.


Die tragischen Nachwirkungen seiner „Festungszeit“, welche dem Dichter die Gründung eines eigenen Herdes so schwer machten, wurden ebensosehr von der Unsicherheit seiner Existenz wie von dem Leiden verursacht, das er als Folge des ungesunden Lebens in Gefängniszellen und Festungskasematten ins bürgerliche Leben mit hinüber genommen hatte. Durch die langjährige Haft, die das juristische Studium des Burschenschafters unterbrach, war er demselben entfremdet worden, und es bedurfte wiederum vieler Jahre, bis er zur Erkenntnis seines eigentlichen Berufs kam und es wagen konnte, auf diesen seine Existenz zu gründen. Erschwert aber wurde ihm der Gewinn bürgerlicher Selbständigkeit weiter durch die traurige Krankheit, die ihm sein gesunder Studentendurst und das Bedürfnis nach schlafbringenden Getränken im Gefängnis zugezogen hatte, wo die unzureichende Kost und der Mangel an Bewegung seine einst so kräftige Konstitution von Jahr zu Jahr mehr untergruben – jene Neurose des Magens, die, wie Wilbrandt in seiner Reuter-Biographie des näheren auseinandergesetzt hat, den von ihr Befallenen zu periodisch wiederkehrenden Excessen im Trinken zwingt, welche die Naturheilkraft als befreiende Krisen fordert und gegen die der moralische Wille nicht anzukämpfen vermag. Und doch hielt Fritz Reuter selbst, hielt sein Vater und dann auch für längere Zeit das geliebte Mädchen diese häßlichen Anfälle einer Krankheit für Ausschreitungen moralischer Schwäche!

Wie der Dichter wiederholt hervorgehoben hat, bietet sein Buch „Ut mine Festungstid“ ein vom Humor sehr verklärtes Bild des furchtbaren Elends, das er sieben Jahre lang – erst im letzten, auf Dömitz, fand er bessere Behandlung – hinter Kerkergittern hatte ertragen müssen. Als ein blühender kraftstrotzender Jüngling voller Lebenslust und von heiterster Sinnesart war er von den Häschern der damaligen preußischen Polizeijustiz mitten aus dem freien frischen Studentenleben und dem des Zieles sicheren Bildungsgang als Jurist herausgerissen worden; gebrochen an Leib und Seele verließ er – ein Dreißigjähriger – im Herbst 1840 die letzte seiner Gefängnisstationen, um in das väterliche Haus zurückzukehren. – „Sieben verlorene Jahre!“ – Der Gedanke verbitterte ihm unsäglich die Freude an der endlich gewonnenen Freiheit und die Frage: „Was nun?“ legte sich gleich Bleigewichten auf des Heimkehrenden Seele. Beim Zurückerinnern an seine Gefängnisleiden konnte sein Humor in den späteren Jahren voll glücklichem Lebensbehagen „Feigen von den Disteln pflücken“; an jene Tage der Rückkehr ins Leben gedenkend, läßt er im Schlusse seines „Festungs“-Buchs die Verzweiflung zum Wort: er erzählt, wie die Frage, was nun aus ihm werden solle, sich zwischen ihn und seinen Vater gedrängt, wie sie ihm das Leben vergällt habe – lange Jahre hindurch. „Ick grep hir hen, ick grep dor hen, nicks wull mi glücken … ick was sihr unglücklich, vel unglücklicher as up der Festung!“

Die Verhältnisse im Vaterhaus erschwerten es ihm, den rechten Weg zum Vorwärtskommen zu finden. Die zärtlich geliebte Mutter war tot. Der Bürgermeister von Stavenhagen, ein strenger ernster Mann, bereits hoch in den Sechzigern stehend, hatte sich allmählich daran gewöhnt, den einzigen Sohn als einen „verlornen“ zu betrachten; er machte jetzt mit Nachdruck seinen Willen geltend, daß Fritz das juristische Studium neu aufnehme und beende. Diesem jedoch war die ganze Jurisprudenz verleidet nach all der Unbill, die ihm von den berufenen Hütern des Rechts widerfahren war. Auf der Festung hatte er sein hübsches Zeichentalent bedeutend vervollkommnet; so war z. B. auf Dömitz die ganze kinderreiche Familie des Kommandanten von Bülow von ihm porträtiert worden; wie schon als Gymnasiast empfand er auch jetzt den Wunsch, Maler zu werden. Aber sein Vertrauen in die Stärke seines Talents war doch nicht groß genug, um diesen Wunsch dem Vater gegenüber, der von demselben nichts hören wollte, mit Nachdruck zu vertreten. Dagegen bat er den Vater, ihn Landwirt werden zu lassen; die Neigung dazu war in ihm gleichfalls schon früher vorhanden gewesen und hatte im Gefängnis an Stärke zugenommen, ihn auch zum Studium landwirtschaftlicher Werke veranlaßt. Hatten doch das Vorbild und die Oekonomie des Vaters, der ganze Charakter seiner im wesentlichen vom Landbau lebenden Vaterstadt schon in dem Knaben das Interesse dafür erregt! Auch war es früher der Wunsch des Vaters gewesen, sich in seinem einzigen Sohn einen Nachfolger sowohl in der Bürgermeisterei wie in der Verwaltung seiner landwirtschaftlichen Anlagen heranzuziehen. Jetzt aber lagen die Dinge anders! Die beiden Halbschwestern Reuters, Lisette und Sophie, waren während der Jahre seiner Kerkerhaft herangewachsen und hatten sich verheiratet. Die ältere, Lisette, führte dem Vater zu dessen größter Zufriedenheit die Wirtschaft und that dies auch weiter als die Gattin eines städtischen Beamten; der Mann der zweiten Schwester stand als technischer Leiter an der Spitze der Bierbrauerei, welche der Bürgermeister nach bayrischem Muster angelegt hatte. Bei der Verheiratung der Töchter hatte er diese zu Erbinnen seiner Oekonomie eingesetzt, während dem Sohn, der ja Richter oder Advokat werden konnte, nur der entsprechende Zinsgenuß zugedacht wurde. Raatz berichtet, daß diese Verfügungen zwar unter Zustimmung des Sohnes, während er auf Dömitz saß, erfolgt seien, daß aber das Verhalten des Vaters in dieser Angelegenheit in dem Gefangenen eine tiefe Verbitterung hervorgerufen habe, die er die Schwestern freilich nicht entgelten ließ. In den neuerdings von Franz Engel herausgegebenen „Briefen Fritz Reuters an seinen Vater aus der Schüler-, Studenten- und Festungszeit“ findet sich ein Brief des Bürgermeisters an den nach Heidelberg zur Fortsetzung des juristischen Studiums gegangenen Sohn, in welchem er ihn nochmals vor der „Landmann-Carriere“ warnt und in ernsten Worten wiederholt, daß er über den eigenen landwirtschaftlichen Besitz zu gunsten der Schwestern verfügt habe.

Dennoch setzte Fritz seinen Willen durch. Sein Versuch, sich in Heidelberg nochmals mit dem Studium der Pandekten zu befreunden, mißlang vollständig. Die in ihm so lange unterdrückte, hier endlich wieder erwachende Lebenslust atmete anfangs auf, als er sich in der Studentenwelt als Märtyrer des Burschentums geehrt und gefeiert fand, sie drängte ihn bald aus den Hörsälen, auf deren Bänken er sich inmitten der viel jüngeren Scholaren alt und einsam vorkam, zum Genuß der endlich – endlich wiedergewonnenen Freiheit. Aber unter dem Druck der beständigen väterlichen Mahnungen zu Fleiß und Solidität, der Einsicht, daß er zum Juristen nicht mehr tauge, der üblen Folgen, welche ein sorgloses Kommersieren nach alter Studentenart seiner Gesundheit zuzog, wich das verspätete Aufflackern der Burschenlust einer

[589]

Ferien auf dem Lande.
Nach einem Gemälde von O. Kirberg.

[590] lastenden Schwermut. Die Thäler und Höhen der schönen Umgebung Altheidelbergs sahen ihn jetzt viel als einsamen Wanderer, düsteren Grübeleien über sein verfehltes Leben verfallen; unter dem Eindruck der fruchtbaren Landschaft reifte in ihm dabei der Entschluß, trotz der Ungunst seiner Aussichten und der Widerrede des Vaters doch noch Landwirt zu werden. Er kehrte heim, freilich nicht ohne daß es vorher zwischen der starren väterlichen Gewalt und seiner Willensschwäche zu einem schweren Konflikt gekommen wäre. Wenn auch widerstrebend, willigte jetzt der Vater in die neue Berufswahl. Fritz wurde „Strom,“ d. h. Volontär auf einem Gut; seine von ihm nachmals so köstlich geschilderte und poetisch verherrlichte „Stromtid“ begann. An Alter und Erfahrung ein Mann, war er nach Amt und Beschäftigung wieder ein Anfänger. Erst gab ihm ein Aufenthalt bei seinem Onkel Pastor in Jabel, einem gemütlichen Manne, dann die Oekonomie des Vaters Gelegenheit, sich mit der Landwirtschaft praktisch vertraut zu machen; im nächsten Jahr kam er nach Demzin, einem Gut, das zur gräflich Hahnschen Herrschaft gehörte, in der Nachbarschaft Stavenhagens. Mit dem Schwager seines Lehrherrn, Fritz Peters, der auf Thalberg bei Treptow an der Tollense Pächter war, schloß er innige Freundschaft, und nach Beendigung der Lehrzeit folgte er dessen Einladung, zu ihm zu ziehen, um sich in den angenehmen Verhältnissen auf Thalberg an der Seite dieses lebensfrohen, geistig regen, fortschrittlich gestimmten Landwirts, der sich kurz vorher verheiratet hatte, weiter für die spätere Uebernahme eines Guts auszubilden.

Unter dem frischen Anhauch dieses Lebens in der freien Natur erholte sich Reuters Wesen zu neuer Blüte. All die reichen, in der Gefangenschaft verkümmerten Gaben seines Geistes und Gemütes kamen bei der gesunden Thätigkeit auf Feld und Wiese, im Verkehr mit anregenden Persönlichkeiten, die an seiner liebenswürdigen Unterhaltsamkeit Gefallen fanden, in der Berührung mit den verschiedensten Vertretern des heimatlichen Volksschlags, die sich – zunächst ihm unbewußt – in seinem Innern zu Modellen für seine spätere humoristische Dichtung auswuchsen, zu kräftiger Entfaltung. Während er mit Fleiß den Obliegenheiten eines Fritz Triddelfitz nachging, reifte in ihm die humordurchtränkte, dem Ackerboden der Heimat entsprossene Weltweisheit seines Bräsig. Seine litterarischen Neigungen, schon in der Schule gehegt, erwachten wieder; sein immer reges poetisches Jmprovisationstalent fand in dem geselligen Leben vielfältige Gelegenheit, sich zu bewähren; aus seinen Lieblingsdichtern Scott und Dickens las er dem jungen Petersschen Ehepaar begeistert vor; seine naive Lust an humoristischem Geplauder und Anekdotenerzählen machte ihn zum Mittelpunkt der Unterhaltung in allen Freundeskreisen, in der Familie ebenso wie am Wirtstisch. „Landluft und Landbrot,“ schrieb er später im dankbaren Gedenken an diese Zeit, „und Gottes Herrlichkeit ringsherum, bloß zum Zulangen, und immer was zu thun, heut’ dies und morgen das; aber alles in der besten Regelmäßigkeit und im Einklang mit der Mutter Natur, das macht die Backen rot und den Sinn frisch, das ist ein Bad für Leib und Seele, und wenn die Knochen und Sehnen auch einmal müde werden und auf den Grund sinken wollen, die Seele schwimmt immer lustig oben! Ich segne die Landwirtschaft, sie hat mich gesund gemacht und mir frischen Mut in die Adern gegossen.“

Nur in einer Beziehung gesundete er nicht; jene tückische Krankheit, deren Auftreten sich ganz unabhängig von dem keineswegs übertriebenen Maße vollzog, in dem er unter Freunden bei heiteren Gesprächen den herzstärkenden und den Sinn fröhlich stimmenden Gaben des Bacchus zusprach, überfiel ihn wieder und wieder, wenn auch oft nur in langen Zwischenräumen. Und der grämliche Vater, der von einem „ordentlichen“ Landwirt mit Recht einen anderen Begriff hatte als dem lustigen Treiben seines Sohnes auf Thalberg entsprach, beurteilte jene Anfälle mit herber Strenge als abschreckende Symptome eines ihm nur „liederlich“ erscheinenden Lebenswandels. Er machte dem Sohne darob die bittersten Vorhaltungen und der verächtliche Ausruf „Ut em ward nix!“ wurde zum Kehrreim seiner absprechenden Aeußerungen über den „Ungeratnen“. Ja, noch mehr – als er am 22. März 1845 an der Schwelle des 70. Lebensjahrs gestorben war und der aufs tiefste erschütterte Sohn ihm pietätvoll die letzten Ehren erwiesen hatte, mußte dieser zu seinem Entsetzen und seiner tiefsten Demütigung erfahren, daß die Abneigung und die falsche Beurteilung des alten Mannes ihn auch noch übers Grab hinaus zu strafen bemüht war. In seinem letzten Willen hatte Bürgermeister Reuter, wie A. Römer berichtet, sein Vermögen auf rund 15 000 Thaler veranschlagt und unter seine drei Kinder verteilt. Der Sohn sollte das Kapital jedoch erst bekommen, wenn er vier Jahre hintereinander sich von dem „Laster der Trunksucht“ freigehalten hätte. Bis dahin sollten ihm nur die Zinsen zufließen, und auch diese sollte er zu gunsten der Schwestern verlieren, wenn er – heiraten würde. Die Schwestern, mit denen übrigens Fritz Reuter sein Leben lang auf gutem Fuß blieb, haben später auf dieses Recht verzichtet und dem Bruder auch weiter den Zinsgenuß überlassen; aber unter dem Eindruck des Testaments mußte der so Getroffene alle Pläne, die sein wieder hoffnungsfrohes Gemüt ins Blau der Zukunft gebaut hatte, als meuchlings vernichtet ansehen!

Und zu diesen Plänen gehörte die Absicht, als Pächter eines Landguts, sobald als möglich ein eigen Heim zu begründen, an dessen Herd ein geliebtes Weib walten sollte! Das Eheglück, das er an dem Freundespaar Peters auf Thalberg täglich vor Augen sah, hatte diese Sehnsuchtsträume geweckt: sein einziger Verwandter, der ihm als vertrauter Freund zur Seite stand, der Pastor Reuter in Jabel, hatte ihm oft zugeredet, dies Ziel ins Auge zu fassen, und gerade in der Zeit vor dem erneuten Schiffbruch seiner Lebenshoffnungen hatte er auch das Mädchen näher kennengelernt, dem er in seinen Träumen die Rolle der Hausfrau am eigenen Herde zuwies, die Predigerstochter Luise Kunze aus Roggensdorf bei Lübeck, die in dem Dorf Rittermannshagen als Erzieherin in der Familie des Pastors Augustin lebte. Anmutig von Gestalt und Wesen, von Natur heiter und für Humor empfänglich, der ihre braunen klugen Augen lustig aufblitzen ließ, hatte sie gleich beim ersten Begegnen einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, der noch verstärkt wurde, als ihm Gelegenheit ward, sie als Sängerin zu bewundern. Der Wunsch „sie oder keine!“ war mächtig in ihm geworden. Und jetzt sah er sich für den Fall der Verheiratung völlig enterbt! Den Fluch, den er später in „Kein Hüsung“ in ergreifender Tragik geschildert hat: bei treuer Liebe im Herzen kein Heim – kein Hüsung – zu haben, in das die Geliebte als Gattin einziehen darf, und keines erhoffen zu können, hat damals der Dichter im eigenen Herzen erlebt! Die Qual jener Tage, in denen ihm die unveränderte Freundschaft des Petersschen Ehepaares Trost und Halt gewährte, tönt zitternd in den ersten Briefen nach, die Reuter an die im nächsten Jahre dann doch zur Braut Gewonnene schrieb.

Aber dieses erschütternde Erlebnis mit seiner Demütigung, mit seinem quälenden Stachel, wirkte, nachdem der unverwüstliche Lebensmut Reuters sich auch mit ihm abgefunden, als ein mächtiger Sporn auf all die guten Kräfte seines Wesens. Nicht nur, daß er den Kampf gegen jenes Leiden, das er selbst als Schwäche empfand, mit einer Energie aufnahm, die ebenso rührend wie bewundernswert ist, daß er als Oekonom den Pflichtenkreis, den ihm die Freundschaft auf Thalberg bot, mit größerem Ernst als je zuvor und mit vollem Einsatz seines Könnens auszufüllen bestrebt war, er begann auch, seinem litterarischen und poetischen Talente, das er bisher fast nur zum Ausschmuck geselliger Feste verwendet hatte, ernstere Beachtung zu widmen und in seinen Entwürfen, wie er trotz alledem doch noch auf einen grünen Zweig gelangen könne, als Faktor in Betracht zu ziehen. Von Liebigs geistvollen Reformideen für die Anwendung der Chemie auf die Landwirtschaft angeregt, dachte er unter Zustimmung seines Freundes Peters und anderer Gesinnungsgenossen daran, sein Wissen und Können als Schriftsteller in den Dienst derselben zu stellen. Er studierte eifrig die Werke auch anderer landwirtschaftlicher Reformer, wie Thaer, und bereitete sich vor, Mitarbeiter oder Redakteur einer landwirtschaftlichen Zeitschrift zu werden. In der Poesie fand sein Herz jetzt ein Mittel der Selbstbefreiung und Wiederaufrichtung; sein Humor, den er bis dahin litterarisch nur zu Polterabendscherzen und Julklappversen verwertet hatte, bemächtigte sich der Formen der sozialen Satire, und in seinem Geiste begannen die Gestalten seiner späteren Dichtungen – nun für ihn bewußt – ihren poetischen Werdeprozeß.

An diesem für den Dichter Reuter, den wir alle kennen und lieben, entscheidenden Aufschwung war die Liebe zu dem Mädchen seiner Wahl aufs innigste beteiligt. Sein Ehrgeiz fühlte sich herausgefordert, der Geliebten zu zeigen, daß er wahrhaftig nicht der verlorene Sohn sei, für den ihn sein Vater gehalten, und das ihn jetzt überkommende Vorgefühl der in ihm schlummernden [591] Dichterkraft und Poetenbestimmung gab seinem Werben hinreißende Macht. Während er daran ist, seine erste, noch hochdeutsche, humoristische Schilderung aus dem heimatlichen Volksleben für den Druck fertigzustellen, die geistreich heitere Satire „Ein gräflicher Geburtstag“, die 1846 in dem von W. Raabe herausgegebenen Jahrbuch „Mecklenburg“ erschien, findet er den Mut, der Geliebten sein Herz zu enthüllen und sie einzuweihen in seine Hoffnungen für die Zukunft und die Hoffnungslosigkeit seiner gegenwärtigen Lage. Ein Fest in Demzin bei seinem früheren Lehrherrn, zu welchem sie beide eingeladen waren, bot die Gelegenheit. Eine leidenschaftliche Aussprache erfolgte; er rief ihre Liebe an als die ihm von Gott bestimmte Retterin aus all seiner seelischen Bedrängnis. Wohl fühlte sich Luise zu dem stürmischen Bewerber hingezogen, tiefe Teilnahme erfüllte sie für sein Schicksal, das ihn so schwere Prüfungen schon hatte ertragen lassen, aber mächtig waren auch die Bedenken, die sich in ihr gegen ein übereiltes Verlöbnis mit dem so liebenswürdigen und doch auch so abenteuerlichen Manne auflehnten. Vergeblich bemühte er sich, dieselben schon jetzt zu beseitigen; aber dem halb „erzwungenen Kusse des Mitleids“ folgte doch schon jetzt die Erlaubnis, ihr schreiben zu dürfen, und die Zusage, ihm antworten zu wollen. Die ihm wohlgesinnte, schöngeistig veranlagte Frau seines Arztes in Stavenhagen, Dr. Liebmann, hatte er ausersehen, die Vermittelung des heimlichen Briefwechsels zu übernehmen.

Die Begegnung hatte am Tage vor seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, am 6. November 1846, stattgefunden. Noch am Abend desselben Tages setzte er sich hin, ihr zu schreiben. Dieser erste Brief ist in drei verschiedenen Abschnitten teils in Thalberg, teils in Stavenhagen, wo seine Schwester Lisette ihm eine Stube bereit hielt, am 6., 7. und 9. November geschrieben. Er ward von einer kräftigen Reaktion seines Selbstgefühls auf die Bedenklichkeit der Geliebten diktiert. Mündlich hatte er ihr seine Fehler, seine Schwächen, seine unglückliche Lage gestanden; jetzt hat er das Bedürfnis, ihr zu sagen, daß er sich dennoch ihrer Liebe wert hält. Leider fehlt der Anfang des Briefes; doch geht aus einer späteren Stelle hervor, daß er poetischen Inhalts war; die erste Seite des uns Erhaltenen hebt an mit dem Schluß eines Satzes, der auf seinen Beitrag in Raabes Mecklenburger Jahrbuch hinweist. Noch giebt er sich ganz als Landmann, der das Glück, das er für sich und die Geliebte erhofft, an die Bewirtschaftung eines Gutes gebunden glaubt; aber dieser Landwirt ist ein Reformgeist, der zur Zeit, statt seinen eigenen Acker zu bestellen, seine Kräfte den allgemeinen Interessen der Landwirtschaft widmet, er ist ein Poet, welcher der ländlichen Welt die Bilder zu dem Bekenntnis entnimmt, daß sein Herz einem wohl guten, aber verwilderten Acker gleiche, den von allem Unkraut zu befreien, die Bestimmung der Geliebten sei. Und dieser Poet wird zum Propheten: das ganze Schicksal seiner Ehe, wie sie sich später nach fünf Jahren des Langens und Bangens zu gestalten begann, findet sich in dem Schluß dieses Gedichtes vorgezeichnet: wenn sie erst den Acker gejätet haben werde, dürfte er einst ihr reiche Ernte tragen – tausendfältig! Doch hören wir den Dichter nun selbst:


„…. Die Richtung, die ich einschlage, und mit mir eine gewisse Anzahl anderer, ich kann dreist sagen, intelligenter Landleute, wird von den Anhängern der alten Schule bespöttelt und als Bücherwissen lächerlich gemacht; aber glauben Sie mir, das ist nichts anders, als das Gefühl der Unlust dieser alten Schiendrianisten, das in ihnen durch die Betrachtung hervorgerufen wird, ihre Art zu wirthschaften habe sich überlebt und sie selbst seien zu alt, zu bequem oder zu reich, um den neuen Weg einzuschlagen. – Sehen Sie, da haben Sie sogar eine Art landwirthschaftlichen Glaubensbekenntnisses. Nicht wahr? ich erschöpfe Ihre Geduld, erst mit Poesie und nun mit Landwirthschaft. –

Gute Nacht, süße Luise, ich werde diese Nacht gewiß träumen von 6–8 Last culturfähigen Bodens und dreischüriger Wiesen und von mir als Herrn darauf und von Ihnen als meiner Herrin. Und über Jahr und Tag soll’s kein Traum mehr sein, sondern die handgreifliche Wirklichkeit, wenn Sie es so wollen. Darum gute Nacht! schöne Herrin der 6 Last culturfähigen Ackers und der dreischürigen Wiesen und möge der lustige Gott der Träume mich Ihnen vor die Augen führen in landwirthschaftlichen Stulpenstiefeln und Sporen und grünem goldbeknopften Jagdschniepel, die Reitpeitsche in der Hand und den Mund voll Sport, damit Sie morgen lachen können und meinen Geburtstag heiter begehen; – ach! wie gerne hörte ich Sie lachen! Gute Nacht!


      d. 7ten Nov.

Mädchen! rief der Vater seinen Kindern,
Will euch geben den verheißnen Acker,
Daß ihr reiche Erndten drauf gewinnet,
Reich an Garben und an weichem Flachse,
Weiße Brodte euch daraus zu backen,
Weiße Linnen euch daraus zu weben. –
Und die Mädchen folgten froh dem Vater,
Der sie führte auf die weiten Felder
Und aus seinem Reichthum jeder theilte.
Jeder ward ein Acker angewiesen,
Frei von Unkraut und von Dorn und Diesteln,
Reinlich, schimmernd lag er ausgebreitet,
Reiche Erndten ohne Müh’ verheißend.

Und nur noch die Lieblingstochter harrte,
Ihres Looses auf dem Feld gewärtig.

Und der Vater nahm die liebe Tochter,
Führte sie durch Dornen und Gestrüppe
Hin zu dem ihr längst bestimmten Acker.
Zweifelnd blickt die Tochter auf zum Vater,
Ob wohl richtig sie sein Wort verstanden,
Zitternd fragt sie, zagend, seine Augen,
Ob wohl Strafe ihr entgegen drohe;
Denn so einsam lag der wüste Acker,
Ganz von Dorn und Diesteln überwildert,
Sorge viel und wenig Frucht verheißend.
,Hab’ ich darum auf das Glück gehoffet,
Hab’ ich darum Dir so treu gehorchet,
Hab’ ich darum Dich so reich geliebet,
Daß mein Loos so hart Du mir bestimmest?
Meine Schwestern hast Du hoch beglücket,
Hör’ ihr frohes Jauchzen in der Ferne,
Jubelnd haben sie die goldnen Saaten
In die offnen Furchen eingestreuet,
Und mit Blumen ist ihr Haupt umkränzet.
Warum hast Du mich also gestrafet,
Warum hast Du mich so tief betrübet,
Die Dich doch so innig hat geliebet?‘
Und der Vater sah der lieben Tochter
Lange, tröstend mild ins bange Auge.
‚Jäte!‘ sprach er, ‚diesen wilden Acker;
Wo das Unkraut also üppig sprießet,
Wird die goldne Saat sich üppig breiten;
Nicht die Fläche giebt der Pflanze Leben,
In der Tiefe sucht sie ihre Säfte,
In der Tiefe wirken alle Kräfte,
Nicht die Fläche wird die Erndte geben;
Wo die Wirkung trozig überfließet,
Da wird Armuth nicht im Boden sein,
Kraft ist nöthig, daß das Unkraut sprießet,
Kraft ist nöthig zu der Saat Gedeih’n!

Darum jäte, liebes gutes Mädchen,
Jät’ den wilden Acker meines Herzens,
Daß er reiche Erndten Dir einst trage,
  Tausendfältig!

Haben Sie heute meine Bitte erfüllt und das Lied gesungen, um das ich bat und auch zur Zeit der Dämmerung, dann haben sich unsere Gedanken begegnet.


      Stav., d. 9ten Nov.
Da bin ich nun wieder, geliebte Luise, auf meiner stillen Stube und bin eingezogen mit sehr viel Lust zum Guten und vielem Dank für das Gute; und in mich ist eingezogen eine große, zufriedene Ruhe, eine Behaglichkeit des innern Menschen, eine Liebe zu stiller Betrachtuug der eigenen Seele, von der der große Dichter singt:

Verlassen hab ich Feld und Auen,
Die eine tiefe Nacht bedeckt,
Mit ahnungsvollem, heil’gem Grauen
In uns die beß’re Seele weckt.
Entschlafen sind nun wilde Triebe
Und jedes ungestüme Thun;
Es reget sich die Menschenliebe,
Die Liebe Gottes regt sich nun.
Und wenn in unsrer engen Zelle
Die Lampe freundlich wieder brennt,
Dann ist’s in unserm Busen helle,
Im Herzen, das sich selber kennt.
Vernunft fängt wieder an zu sprechen,
Und Hoffnung wieder an zu blüh’n,
Man sehnt sich nach des Lebens Bächen,
Ach! nach des Lebens Quellen hin!

[592] Ja, nach meines Lebens Quell sehne ich mich, dessen Gemurmel ewig gültige Worte, dessen Echo die Liebe und dessen Najade Sie sind. Gießen Sie ihn aus, diesen Quell, rein und klar und voll, und beugen Sie sich freundlich über seinen Rand, damit Ihr liebes Bild sich darin spiegle und ein Gruß für ihn sei, der ihn begleitet durch freundliche Wiesengründe und hallende Wälder und hemmende Klippen, bis er still verrauschend sich senkt ins Meer der Ewigkeit.

Mein erster Gang war heute zu Dr. Liebmann, und zu meiner größten Freude wurde mir die Nachricht, daß die Doctorin wieder hergestellt sei und sich mit Schreiben und Dichten im Bette beschäftige; so daß also auch für mich und meine Hoffnung nichts im Wege steht, da sie sich zur Besorgerin und Empfängerin gewisser Briefe gütigst erboten hat. Diesen Brief werden Sie durch die dritte Hand, durch den Dr. Timm in Parchim erhalten, der so überaus gütig gewesen ist, mir eine schöne Arbeit auf den Hals zu laden, ich soll für ihn Notizen über Turnen und eine Geschichte des Friedländer Turnplazes schreiben, dafür aber drehe ich ihm eine Nase und mache ihn, ohne daß er es ahnt, zum postillon d’amour, zu dem er sich schickt (verzeihen Sie den Ausdruck) wie der Esel zum Geigenspielen.

Liebe Luise, erhalten Sie sich gesund, spazieren Sie fleißig, ich bitte darum und denken Sie öfter einst an mich und wenn ich nicht zu viel bitte, so schreiben Sie mir bald, damit ich nur das Vergnügen habe, zum erstenmale Ihre Handschrift zu sehen. Leben Sie wohl!
Ihr F. Reuter.“ 
(Fortsetzung folgt.)


Jocko.

Humoristische Erzählung von Joachim v. Dürow.

Ich kaufte mir einen Affen. –

Der geehrte Leser wird gebeten, von der allegorischen Bedeutung dieser Rede freundlich abzusehen, da solche ein eigentümliches Streiflicht auf die Schreiberin dieser Zeilen, eine schlichte Hausfrau vom Lande, werfen könnte. – Also: Ich kaufte mir einen Affen, in des Wortes wirklicher, verwegenster Bedeutung, und zwar um so verwegener, als der Ankauf in eine Zeit fiel, da es geboten schien, sich weder Affen, noch andere Entbehrlichkeiten zu kaufen; eine jener Zeiten, in denen der Landmann, zu dessen Beruf das Stöhnen bekanntermaßen gehört – einmal nicht stöhnt, d. h. wo es ihm wirklich schlecht geht. – Ernste Sorge findet nur schwer den Weg über die Lippe.

Schon seit Wochen zeigte sich der Himmel in endloser, strahlender Bläue; ungedeihlich war die Dürre für alles, was aufs Wachsen, aber höchst gedeihlich für alles, was aufs Kriechen angewiesen ist, für die Zünfte der Schnecken, Schwaben, Maden, Erd- und anderer Flöhe! Neben diesen veralteten Sorten ordinärer Kriecher erfreute sich die moderne Gesellschaft der Bakterien und Spaltpilze eines bedeutenden Aufschwunges.

Sonst war von Aufschwung wenig bei uns zu spüren, ausgenommen in dem sich darin großartig hervorthuenden Steuerzettel und in der Höhe der Beiträge für die verschiedenen Versicherungen, als da sind: Hagel-, Feuer-, Lebens-, Vieh- und Pferdeversicherung; Unfälle, noch in der Zeiten Schoße ruhend.

Neben diesen den Besitzern in der Provinz gemeinsamen Sorgen hatte sich für uns eine specielle herausgestellt, und zwar in Gestalt eines meinem Manne gekündigten, bedeutenden Kapitals; gerade in einer Zeit, wo totale Mißernte alles mit Hypotheken stark belastet hatte, so daß es ungemein schwer hielt, zu nur irgend annehmbaren Prozenten Geld zu erlangen. Dem Sprichwort gemäß, daß Freunde in der Not hundert auf ein Lot gehen, war die Frage, woher das Geld nehmen, noch immer eine offene, und der dadurch möglicherweise heraufbeschworene Verkauf unseres geliebten alten Familiensitzes hatte etwas geradezu Lähmendes für die Thatkraft meines Mannes, dessen Ehrgeiz in dem Wort: „vererbt von Kind zu Kindeskind“ wurzelte!

Von dem sinkenden Schein der Abendsonne angeleuchtet, saßen wir nach einem heißen Tage beim Abendbrot, mein Mann, ich, Fritz und Liese – unsere Kinder – ein alter Hauslehrer und „Fräulein“.

„Fräulein“ ist ein Begriff, der sich in den letzten Jahrzehnten von einer Anrede zu einem Gattungsnamen entwickelt hat; „Fräulein“ ist eine Zusammensetzung von Erzieherin, Wirtschafterin, Gesellschaftsdame und Kammerzofe höheren Stils; von jeder Gattung ein wenig, obschon in einzelnen Häusern das Verlangen besteht, daß „Fräulein“ von allem eben das Ganze sei.

Wenn in einer Gesellschaft die Hausfrau vorstellt: Herr von Soundso – Frau von Soundso – meine Töchter, und „Fräulein“, erfaßt mich immer ein Verlangen, mich an Fräulein sachte heranzupirschen (mein Mann ist ein starker Nimrod, daher der weidmännische Ausdruck), um sie nach ihrem Namen, ihrer Art und ihrer Sippschaft zu fragen, genug, mich ein wenig mit Fräulein außerhalb ihrer Charge zu beschäftigen. Ich halte auch daran fest, trotzdem die Hausfrau oft leicht die Stirn runzelt und flüstert: „Fräulein neigt so wie so schon stark der Ueberhebung zu.“

Unser Fräulein war eben unser Fräulein, und ich hoffe, daß sie sich in den langen Jahren unseres Beisammenlebens auch stets als die „unsere“ gefühlt hat!

In stillem Denken vor sich hinsehend, hatte mein Mann den ersten Teller mit saurer Milch ausgelöffelt und hielt ihn eben zu abermaliger Füllung hin, als der Klang von Musik uns alle aufschauen machte. Von der Rampe des Hauses ertönten Fidel, Klarinette und Baß, anfangs in einer alten Weise lieblich anheimelnd, dann aber in ein greuliches Charivari von Tönen ausartend, in dem sich besonders die Klarinette groß zeigte.

„Als ob man der Katz’ in den Schwanz kneift,“ sagte mein Mann, der im Getriebe des Alltagslebens prosaische Ausdrucksweise liebte; „gieb den Leuten was, August, und sie sollen machen, daß sie fortkommen!“

August war schon meines seligen Vaters August gewesen; daher die Einräumung gewisser Privilegien und zuweilen eine Vertraulichkeit der Redeweise, die sonst außerhalb der Rechte eines „August“ zu stehen pflegt.

Der Alte trat auf die Rampe hinaus: „Fort mit euch, ihr Painisten mit der Vijoline; schämt ihr euch denn nicht, mit so ’ner Musik vor ein adliges Haus zu kommen?“

Der Schlußsatz dieser Rede war überraschend feudal, aber er verfehlte insofern seine Wirkung, als die Leute ihren Abzug noch immer verzögerten.

„Sie haben nämlich einen Affen bei sich,“ flüsterte August, zufällig in der unmittelbaren Nähe von Fritzens Platz.

Mein Mann hielt im ganzen streng auf Disciplin, aber ebensowenig wie er nach Ansicht der Kinder ein Sitzenbleiben bei hereinbrechender Wassers- oder Feuersnot erwarten konnte, war dieses von ihnen vorauszusetzen, wenn draußen ein lebendiger Affe war.

Fritz und Liese gehörten zu jenen, ich muß es sagen, bevorzugten Kindern vom Lande, deren Fuß die große Stadt noch niemals betreten hat. Unerschlossen lag der Zauber des Theaters vor ihrer Phantasie, als ein unzertrümmertes Ideal stand der Zoologische Garten da; nicht einmal eine gewöhnliche Menagerie hatte sich auf den Lebensweg dieser Kinder gestellt. Weder hatten sie, wie solches mir in meiner Jugendzeit beschieden war, einem Panther gegenübergestanden, der „Omama“ sagte, noch hatten sie die Riesenschlange in ihrem uninteressanten Dasein in einem wattierten Kasten teilweise kennengelernt. So war ihnen auch der Affe nur aus der Naturgeschichte bekannt als frech, nachahmend, geschickt im Klettern, alles in allem ein durchaus heiter angelegtes Bild.

Um so niederschlagender war die Enttäuschung diesem Affen gegenüber! Hitze und Ruhelosigkeit hatten das arme Vieh bis aufs äußerste ermattet; die Toilette hemmte die Freiheit der Bewegung, die Jacke war durchaus im Schnitt verfehlt, in den Aermeln zu enge, und die viel zu kleine Husarenmütze konnte nur durch scharfes Anziehen des Sturmriemens auf der Höhe des Hauptes erhalten werden. Außerdem schnürte der Affenleibriemen die lange Taille hart zusammen, und wie sterbend schaute das gequälte Tier aus halbgeschlossenen Augen auf uns herab; es ließ den Zucker aus der lässig geschlossenen Hand teilnahmslos herabfallen – es leistete nicht das geringste in der erhofften Frechheit, und vorzugsweise

[593]

Pfui! Haas!
Nach einem Gemälde von G. Wolters.

[594] war es um den Nachahmungstrieb, dessen Sprichwort und Naturgeschichte erwähnen, übel bestellt.

„Ich möchte das arme Tier am liebsten den Leuten abkaufen,“ warf ich, hingenommen von Mitleid, hin.

„Kaufe ihn, Mama, ach, bitte, kaufe ihn,“ faßte Fritz das Wort auf, und seine Arme umklammerten meinen Hals.

„Was, kaufen? – Dieser Affe ist mir mehr wert wie tausend Thaler Geld,“ sagte der Mann, schob die Husarenmütze zurecht und den niedergeschlagensten aller Affen unter den Arm; worauf er, mit Hinterlassung seiner Verachtung, abschiedslos von dannen zog.

Allerlei Haushaltungssorgen und Berechnungen hielten mich noch am Schreibtisch fest, als die Kinder längst zur Ruhe waren und das energische Schnarchen meines Mannes mir den tröstlichen Beweis gab, daß seine kräftige Natur die Sorgen wenigstens im Schlaf unterbekam. Die Fenster standen offen, ein schwüler Wind blähte die Gardinen sanft um mein Haupt, und allerlei Töne klangen trotz der anbrechenden Nachtstunde von außen herein.

Auf der andern Seite des Weges, dem Dorfe zugehörend, lag eine vor kurzem erbaute Schenke – den Bewohnern zur Freude, meinem Manne zum „Sargnagel“, wie er immer sagte; er neigte in seinen Auffassungen zuweilen der Hyperbel zu. In einer Beziehung jedoch hatte der Sargnagel eine gewisse Berechtigung – und diese Beziehung führt zu August herüber.

Treu wie Gold war der Alte – geschickt als Diener, großväterlich mit den Kindern. Aber der dunkle Punkt in seinem Leben war eine Vorliebe für alle ins Spirituöse hinüberschweifenden Flüssigkeiten jeglicher Art, „dieweil der Trunk ein großes, aber doch so ganz prachtvolles Laster sei“, wie er in reuevoller Stunde dereinst zu „Fräulein“ sagte.

Nach vielen fruchtlosen Ermahnungen unsererseits schaffte der Abschluß eines Kompromisses für einige Zeit Ruhe. August sollte sich demnach verpflichten, sechs Tage in der Woche die Schenke zu meiden – wogegen der Sonnabend von sieben Uhr an sein Sonnabend sein sollte und wenn er dann Sonntags die Augen ein wenig länger zudrückte, nun so drückten wir eben auch ein Auge zu.

Im Uebertretungsfalle war sofortige Entlassung zu gewärtigen – und August kannte meinen Mann!

An jenem erwähnten Abend nun führte der Wind von der Seite der Schenke her dieselbe Musik herüber, die August für unser adliges Haus als nicht passend befunden hatte. Dazwischen schallten die häßlichen Tone trunkener, sich zankender Menschen – und – hörte ich denn recht? Augusts Stimme war ja auch dabei! Beim Trinken mit dabei – ohne jeden Zweifel!

Die Entdeckung war mir im höchsten Grade fatal. Einmal wegen der Aussicht, mich innerhalb vierundzwanzig Stnnden ohne Diener behelfen zu müssen, und zweitens wegen des Vertrauensbruches von seiten des Alten. Eben erwog ich im Geiste, ob ich, den bequemen Weg der Feigheit einschlagend, thun solle, als habe ich nichts gehört, oder ob ich, den unbequemen Pfad der Pflicht wandelnd, meinem Manne zu all den andern auch noch diese Unannehmlichkeit aufbürden solle, als ein leises Klopfen an meiner Thür ertönte, und auf mein „Herein“ August in eigner Person vor mir stand.

„Du kommst aus der Schenke, August!“

„Zu Befehl, gnädige Frau, zu Befehl!“

„Aus der Schenke – und wir haben heute erst Montag! Daß ich das von Dir erleben muß! Du bist nun zweiundvierzig Jahre in unserm Dienst.“ –

Dreiundvierzig, gnädige Frau.“

„Natürlich muß ich das dem gnädigen Herrn sagen.“

„Natürlich müssen das die gnädige Frau dem gnädigen Herrn sagen; es ist doch aber ein Unterschied, ob man als leibhaftiger Sünder mitmachen thut, oder ob man sich bloß die Sünderei von den andern durch die Fenster betrachtet; gnädige Frau, es ist doch eine total verächtliche Kreatur solch ein betrunkener Montagsmensch.“

„Na, na, August!“

„Total verächtlich, gnädige Frau! Denn der Sonnabend, das ist eben der Sonnabend – und wie sich der liebe Gott gefreut hat, nachdem er alles fertig gemacht, so freut sich unsereins auch, wenn er alles schön zum Sonntag gepicht hat, Fenster und Schlösser – und ich meine, daß die Art und Weise, wie die Kreatur sich freut, unserm lieben Herrgott nicht einerlei ist.

Warum ich mich aber unterstanden habe, die gnädige Frau zu stören: das besoffene Pack da drüben – Pfui über das Laster! – hat nämlich den elenden Affen gerade vor, und ich denke nicht, daß ihm das zum Segen gereicht. Ein Bein hing ihm schon so ganz verdächtig schief, und was der Vagabonde ist, dem er gehört, der schlägt ihn jetzt für ein Billiges los, weil über kurz oder lang für den krepierenden Affen keiner mehr einen Heller riskieren wird. Wir haben ja oben auf der Lucht[1] noch das Bauer, wo der Eichkater und der Spachheister drin gewohnt haben.“

„Hole den Affen, August; wird er für zehn Mark zu haben sein?“

„Na, ich denke, für fünf mit Kußhand. – Aber morgen – unser Fritz! – Ich sag’ bloß – die Augen!“


Der Affe lag in meinem Arm.

Zunächst zog ich ihm die schlecht sitzende Jacke aus, befreite ihn dann von dem harten Riemen, und als ich das verstauchte Beinchen vorsichtig berührte, machte ich die Wahrnehmung, daß ich leicht angefletscht wurde, welchem Fletschen ein ganz leiser Biß in den Finger folgte – gleichsam nur der Schatten eines Bisses, aber als ein Zeichen erwachender Energie durchaus erfreulich.

Ich machte ihm ein Lager zurecht, in das er sich mit leise wimmerndem Ton einnestelte, und als am andern Morgen mein erster Gang mich an das Affenbett führte, hatte ich die Genugthuung, daß nach eingenommenem Frühstück ein fetter Brummer eines teilnahmsvollen Nachschauens würdig befunden wurde. Es hatte mich aber, nächst dem Blick der Liebe aus den Augen von Mann und Kindern, seit langer Zeit nicht etwas so gefreut wie dieser Blick, aus Affenaugen einem fetten Brummer nachgesandt!

Leider entsprach das Bauer, darin der Eichkater und der Spachheister – wie bei uns Eichhorn und Elster heißen – gewohnt hatten, den gehegten Erwartungen nicht ganz, denn das lose Drahtgeflecht zeigte immer eine schwache Stelle, durch die es dem genesenden Affen gelang, ins Freie zu kommen. Und mit diesem Freiheitsdrang fing unser Leiden an.

Verhältnismäßig ruhig war die Zeit, wo er noch krank war, gewesen, und sehr zum allgemeinen Frieden trug die Gesellschaft eines Kätzchens, das wir hin und wieder in das Bauer setzten, bei.

Der Affe nahm es sofort an Kindesstatt an. Er streichelte es, drückte es an sein Herz, und – „lauste“ es mit bewunderungswürdiger Ausdauer, für welchen vulgären Ausdruck nur die eine Entschuldigung gelten kann, daß er eben in den Rahmen eines echten Affenbildes hineingehört.

Die Idylle spielte jedoch nicht lange. Das Kätzchen zog unangenehme Saiten auf; es buckelte, pfauchte – und als die erste Ohrfeige mit Krallen die Affenwangen empfindlich getroffen, löste sich das Verhältnis im Zorn. Der Affe nahm das einstige Adoptivkind beim Schwanz, hart an der Spitze, und schwang es kräftig und rücksichtslos wie einen Perpendikel.

Das war die Zeit der Ruhe!

Mit der Wiederkehr völliger Gesundheit nahm der Freiheitsdrang in Jocko zu. Das Verhältnis zu unserem Fritz wurde dabei intimer! Sowie er seine Stimme vernahm, gebärdete er sich wie rasend. Immer gelang es einem von beiden das Bauer zu öffnen, und mannigfach waren die Freuden ihres Beisammenseins in Haus und Garten.

Ein von Jocko besonders bevorzugtes Vergnügen war das Schaukeln.

Leider erwählte er mit Vorliebe eine Ampel, in deren Schale er gerade Platz hatte. Unsere vielfachen Bemühungen, durch einen hingehaltenen Besen oder sonst ein Instrument dieser Art ihn zum Abstieg zu bewegen, ließ er völlig unbeachtet. Er schaukelte sich ja sanft; aber Besorgnis erregend in hohem Grade war der Gedanke, daß der Affe, mit plötzlichem Satz die Ampel verlassend, sich auf einen benachbarten Schrank schwingen könnte – gleichwie Tell dereinst sich auf die Felsenplatte schwang, das Boot in Nacht und Verderben hinausstoßend!

Ein anderer Sport galt dem Aufenthalt auf der Höhe der Gardinenstange, ein Aufenthalt, dessen größter Reiz für Jocko offenbar in der Art des Absteigens bestand. Durch die Thatsache, daß das alte Gewebe mehr Schein als Sein repräsentierte, begünstigt, bedurfte es von seiten Jockos nur des Einhakens eines seiner [595] Finger in einer Masche des Vorhangs, um den Abstieg zu bewerkstelligen. Unentschieden ist es geblieben, was mich mehr verdrossen: der neue Riß in der mühsam zusammengeflickten Gardine oder die Frechheit, mit welcher der Affe die beiden Hälften grinsend vor mir auseinanderbreitete.

Vielleicht hätten diese Vorkommnisse mein Gemüt noch mehr erschüttert, wenn ich nicht gerade damals auf der gefurchten Stirn meines Mannes schwere Sorgen gelesen hätte. Die Erfahrung, daß über einem großen Leid die Nadelstiche des Lebens ihre Wirkung verfehlen, trat eben auch an uns heran.

Eines Tages erschien mein Mann zu ungewohnter Stunde in meinem kleinen Zimmer, und die Art, mit der er seinen Arm um meine Schulter legte, bekundete mir, daß er „irgend etwas wolle“, zu dessen Erreichung persönliche Liebenswürdigkeit ins Feld geführt werden müsse.

„Liebe Alte“ – eigentlich war ich durchaus nicht alt – „mir ist heute ein Gedanke gekommen. Möchtest Du nicht die Tante Kunigunde von Böhmer für einige Wochen zu uns einladen?“

„Aber, lieber Ernst, zu alldem andern auch noch Deine Tante Kunigunde?“

„Liebes Kind! Wem der Raps ausgefroreu, die Erbsen vertrocknet und zwei Kühe toll geworden sind – der nimmt auch noch den Besuch einer Tante mit in Kauf.“

„Aber, traut’ster Mann, was haben wir von dieser zugeknöpften, schweigsamen und sicher sehr anspruchsvollen Tante?“

„Möglicherweise haben wir sehr viel von ihr; verstehst Du mich denn noch immer nicht?“ – –

„Du meinst?“ – – –

„Ja, ich meine. … Die Tante hat, wie ich weiß, viel Geld in ausländischen Papieren, und besser als diese Ausländer sind heimatliche Hypotheken! Liebe Alte, thue es! Ich lasse Dir das Eßzimmer altdeutsch tapezieren, denke Dir, mit Holzgetäfel! Ich kaufe Dir einen Eisschrank, ich erhöhe Dein Wirtschaftsgeld wegen der Tante; aber bitte, bitte, thue es! Schreibe heute noch – gleich – und wenn sie der Einladung folgt, so setze Deine beste Haube auf, nimm Deine lieblichste Miene an, rede in Deiner sanftesten Sprache, und, wie Du einst mich, den Lieutenant, berückt hast, so berücke mir jetzt „det Generalke!“

„Um Gotteswillen, lasse die Kinder den Spitznamen nicht hören,“ war alles, was mir zur Antwort einfiel.

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.

Der neue Lukas Kranach im Leipziger Museum. (Zu dem Bilde S. 581.) Zu den in neuerer Zeit ans Licht gezogenen Werken alter Meister ist jüngst als einer der hervorragendsten Funde eine eigenhändige Bildnisschöpfung des älteren Lukas Cranach (1472 bis 1553) gekommen, die aus dem Besitze der Leipziger Stadtbibliothek in den des dortigen städtischen Museums der bildenden Künste übergegangen ist. Dies Porträt, das unser Holzschnitt auf S. 581 wiedergiebt, hat als ganz neu aufgefundenes Werk jenes Meisters nicht nur Wert für die Kunstgeschichte im allgemeinen, sondern wegen seiner auch dem Laien sich offenbarenden Schönheit noch für die Würdigung des Malers im besonderen. Das Bildnis ist auf eine Tafel aus Lindenholz, das der ältere Cranach als Malgrund bevorzugte, von 0,405 Meter Höhe und 0,282 Meter Breite, gemalt und vorzüglich erhalten. Es zeigt uns auf dunklem Hintergrunde die Halbfigur eines jungen Mannes von fünfundzwanzig bis höchstens dreißig Jahren. Das lockige Haupt bedeckt eine graue, mit Hasenfell verbrämte Mütze; über dem reich gemusterten schwarzen Wams, das auf der Brust das mit einer zarten Kante bestickte Hemd sichtbar werden läßt, trägt er eine am Kragen mit schwarzem Pelz umsäumte braune Schaube. Durch deren Aermellöcher hat er die Arme hindurchgesteckt, die Hände hält er gefaltet. Sem Gesicht ist bartlos und trägt einen träumerisch-sinnenden Ausdruck, der ihm in Verbindung mit den treuherzig in die Welt blickenden Augen etwas einnehmendes verleiht und uns darauf schließen läßt, daß der Betreffende ein lauteres und biederes Wesen besessen haben muß. Unter der Mütze fallen beiderseits ein paar Locken über die Schläfen herab; die Hautfarbe ist in einem zartbräunlichen, etwas ins Violette hinüberspielenden Kolorit gehalten. Das Bildnis verrät eine große Kunst der malerischen Darstellung und eine wunderbare Gabe der Charakterisierung. Zur Bezeichnung des Malers fehlt allerdings das bekannte Monogramm des älteren Cranach: die geflügelte Schlange mit dem Ring im Rachen, auf der Tafel; dafür geben uns jedoch zwei aus verschiedenen Jahrhunderten stammende Inschriften auf ihrer Rückseite über den Verfertiger des Bildes wie über den Dargestellten Auskunft.

Am oberen Rande steht: „Meines Großvaters Gerhart Vollk Contrafei Kurtz hernach als er sein erst weib geeheliget ist abgemalet anno 1518 vom alten Lucas Chranach.“ Die Mitte der Tafel trägt von anderer, die Schriftzüge der Reformationszeit verratenden Hand die Jahreszahl: „Anno domini XV c XVIII“ und noch weiter unten liest man, augenscheinlich von derselben Hand: „Meister Lucas in Wittenberg seyn selbsthand 1518.“ Die Inschrift am oberen Rande rührt vermutlich von dem urkundlich festgestellten Wittenberger Amtsschreiber Abel Volk her, der sich 1604 mit einer Urenkelin Lukas Cranachs des Aelteren vermählte. Es ist nicht mehr festzustellen, wie und wann das Gemälde auf die Leipziger Stadtbibliothek gekommen ist. Ihr Oberbibliothekar, Dr. Wustmann, entdeckte es; dem Direktorialassistenten des städtischen Museums, Dr. Julius Vogel, aber gebührt das Verdienst, das Bild als ein unzweifelhaft echtes Werk des älteren Cranach bestimmt und es für diese Galerie erworben zu haben, die außerdem noch ein anderes hervorragendes Gemälde desselben Meisters enthält: die ebenfalls aus dem Jahre 1518 stammende, schon von Goethe gepriesene „Sterbescene“. Th. K.     

Niederrheinische Feste. (Zu dem Bilde S. 584 und 585.) An demselben Tage, dem 7. August, haben in zwei niederrheinischen Städten bedeutungsvolle Festlichkeiten stattgefunden, zu denen Kaiser Wilhelm II. und die Kaiserin Auguste Viktoria ihr Erscheinen in Aussicht gestellt hatten. In Wesel handelte es sich um die feierliche Einweihung der wiederhergestellten, aus dem 12. Jahrhundert stammenden protestantischen Willibrordikirche und in Ruhrort um die Enthüllung des von Eberlein geschaffenen Denkmals für Kaiser Wilhelm I. und den Fürsten Bismarck. In letzter Stunde traf leider die Nachricht ein, daß Kaiser Wilhelm II. sich erkältet habe und auf ärztlichen Rat von der Fahrt Abstand nehmen müsse; die Kaiserin aber – wurde hinzugefügt – werde die Reise programmmäßig ausführen und von ihrem Schwager, dem Prinzen Heinrich, als Vertreter des Kaisers begleitet werden.

Am Tage des Festes langte der Kaiserzug kurz nach 91/2 Uhr vormittags von Oberhausen in Wesel an, wo nun die Feierlichkeiten den vorgesehenen Verlauf nahmen. Dann erfolgte unter dem Salut der Festungsgeschütze die Abfahrt der hohen Gäste auf dem Rhein-Salondampfer „Deutscher Kaiser“ nach Ruhrort, wo das Schiff gegen 21/2 Uhr im Hafen am Eisenbassin landete.

Die Kreisstadt Ruhrort liegt an der Mündung der Ruhr in den Rhein, wo sich auch der 4,5 Kilometer lange Ruhrkanal nach Duisburg abzweigt. Gegenüber am anderen Rheinufer ist die Station Homberg der Ruhrort–Krefelder Bahn, und zwischen beiden Orten werden die beladenen Eisenbahnwagen mittels einer großartigen Trajektanstalt über den Strom geführt. Ruhrort ist ein Hanptstapelplatz des Handels mit Steinkohlen nach Holland und dem Mittel- und Oberrhein und der Sitz einer hochentwickelten Jndustriethätigkeit.

Es ist ein Emporium der Arbeit und des Weltverkehrs, und aus ganz kleinen Anfängen haben sich seit 1822 die Binnenschiffahrtsanlagen an der Ruhrmündung zu den größten Verkehrsvermittlern entwickelt. Ruhrort besitzt heute den größten Binnenhafen des Kontinents; die großartigen Hafenanlagen sind 7,5 Kilometer lang und hatten 1894 einen Orts- und Durchgangsverkehr von etwa zwölf Millionen Tonnen aufzuweisen.

Der Rundfahrt im Hafen und Flottenparade ging die Denkmalsenthüllung voran, die programmmäßig verlief. Nachher bestieg die Kaiserin mit dem Prinzen den Hafendampfer „Düssel“, den eine goldene Krone überragte und der mit seiner prächtigen Ausschmückung den Eindruck eines altvenetianischen Prunkschiffes machte; der Dampfer „Erft“ nahm das Gefolge auf. Nun begann die Dampferfahrt durch den Außenhafen, den Süd-, Nord- und Kaiserhafen. Salutschüsse erschollen, doch das Donnern der Geschütze wurde fast noch übertönt von dem Jubel der überall am Ufer wahrhaft beängstigend dichtgedrängten Menge, mit dem sich die von den Schiffen erklingenden Hurras einten. Von einer Art Kommandobrücke konnten die Kaiserin und ihr Schwager, der die Marineuniform trug, in bequemster Weise das in seiner Art einzig dastehende Schauspiel genießen, das ihnen nunmehr geboten wurde und das der Stift unseres Zeichners im Bilde wiedergibt.

Alle die großen Firmen und die verschiedenen bedeutenden Gesellschaften, deren Schiffe den Rhein befahren, hatten sich vereinigt, um diese Flottenparade bei Ruhrort zu ermöglichen, die den hohen Gästen vor ihrem Scheiden von der betriebsamen Stadt gewissermaßen in einem einzigen Blick die hohe Bedeutung des Verkehrs auf Deutschlands schönem Strome und der rheinisch-westfälischen Industrie, in deren Diensten die überwiegende Mehrzahl jener Fahrzeuge steht, anschaulich machen sollte. Und dies Vorhaben ist in glänzendster Weise gelungen. Die zur Parade hier versammelten Schiffe, an denen das Kaiserschiff nun vorüberzog, waren alle, mehrere hundert an der Zahl, in Stromlinie verankert. Fürwahr eine stolze Reihe! Ein Dampfer lag neben dem anderen, hier die großen Schleppdampfer der Firmen Haniel, Stinnes u. a., dort die gewaltigen Kolosse, welche den unteren Rhein wie auch den Ocean [596] befahren, und dann wieder elegante Salondampfboote. Unterschiedlich waren sie in Form und Größe, alle aber aufs schönste und reichste geschmückt, und von allen schollen der Kaiserin, sobald ihr Schiff sich nahte, begeisterte Zurufe und Grüße entgegen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis der Kaiserdampfer die Parade abgenommen und die Linie der aufgestellten Schiffe passiert hatte. Ein Schauspiel von solchem Glanz und Umfang ist auf dem Niederrhein bisher noch nicht zu sehen gewesen; Ruhrort darf auf diesen Tag und die Rheinfahrt der Kaiserin stolz sein.

Nach beendigter Parade begaben sich die hohen Herrschaften zu dem unfern der Landestelle liegenden Stahlwerk der Aktiengesellschaft Phönix, das besichtigt wurde, worauf um 61/2 Uhr die Weiterfahrt auf der Eisenbahn nach Essen folgte. Der 8. August war der eingehenden Kenntnisnahme der Kruppschen Werke gewidmet; mit besonderem Interesse ließ sich die Kaiserin namentlich die verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen zum Besten der Beamten und Arbeiter zeigen, über die sie sich mit hoher Befriedigung äußerte. Damit war die glanzvolle Rheinreise der Kaiserin und des Prinzen Heinrich, die in der Erinnerung der Bewohner des Niederrheins noch lange fortleben wird, zum Abschluß gebracht; am Abend traten die hohen Gäste ihre Rückreise an. P. G.     

Pfui! Haas! (Zu dem Bilde S. 593.) In früheren Jahren liebte man es, mit einem ruhigen, langsamen Hunde, der dicht vor dem Jäger hin und her trottete, Hühner und Hasen zu suchen. Heute aber, wo man es für unweidmännisch hält, auf der Hühnerjagd Hasen zu schießen, sind solche Hunde fast verschwunden. In feuriger, flüchtiger Suche sollen die Felder abreviert und doch darf kein Huhn überlaufen werden, die Nase soll mit den Läufen in Einklang stehen. Die elegante Arbeit des Hundes, die Kunst, einen feurigen Hund führen zu können, und schließlich auch das Erlegen des Wildes, das sind auf der Hühnerjagd die drei Momente, welche dem Jäger den höchsten Jagdgenuß bereiten. Die Arbeit des Hundes steht vielen Jägern aber höher als das Schießen.

Der Hund muß hasenrein sein, d. h. er darf auf der Hühnerjagd hinter keinem Hasen herhetzen. Aber es hält oft sehr schwer, diese Tugend einem Hunde anzudressieren, in dessen Brust es vielleicht leidenschaftlicher vor Jagdeifer pocht als in der des Jägers. Da steht ein Junghase vor ihm auf, und alle guten Lehren sind vergessen. Ihm nach geht’s, was er winden kann, trotz des donnernden „Downs!“[2] seines Führers, das ihn bei der Dressur auf hundert Schritt Entfernung, als wäre er vom Blitz getroffen, auf die Erde warf; vergessen ist, was der schrille Pfiff bedeutet – in seinem Jagdeifer verwechselt er „Pfui! Haas!“ mit „Hui faaß!“ und gestreckten Laufs geht’s über Wiesen, Stoppeln und Sturzäcker, durch Rübenbreiten und Kartoffelstücke immer in sausender Eile hinter dem armen Löffelmann her, der zwar von seinem Vater gute Läufe ererbt hat, dessen Lungen aber solchen Strapazen noch nicht gewachsen sind. Endlich ist Hektor ihm zum Greifen nahe – aber Lampe drückt sich blitzschnell – der Hund überschießt ihn und der arme jugendliche Biedermann hat wieder zwanzig Schritt Vorsprung. Wieder ist ihm Hektor dicht auf der Pelle, wieder drückt sich „der Dreiläufer“ oder er schlägt einen Haken – aber endlich ist doch seine Kraft verbraucht und in Hektors „Fange“ erlischt des armen Lämpchens Lebenslicht.

Stolz ob seiner Großthat trabt Hektor mit seiner Beute zu seinem Herrn zurück – je näher er aber herankommt, je langsamer werden seine Schritte – er scheint zu überlegen, daß das „Pfui! Haas!“ doch wohl nicht gleichbedeutend mit „Hui faaß!“ sei – – – und sein Herr wird gewiß auch nicht versäumen, ihn über diesen Punkt nicht im unklaren zu belassen, sondern ihm mit Frakturschrift die Bedeutung jener Worte auf den Rücken schreiben. Ich fürchte jedoch, daß Hektorchens Gedächtnis nur kurz ist und er beim nächsten Hasen die Lehren seines Gebieters schon wieder vergessen hat. Karl Brandt.     


  1. Ostpreußischer Provinzialismus für „Dachboden“.
  2. Down“ („nieder“) wird dem Hunde zugerufen, wenn er sich legen soll.

Neues von den Roentgen-Strahlen. Die Verwendung der Roentgenstrahlen zu praktischen Zwecken gewinnt immer mehr an Bedeutung. Namentlich zieht die Medizin aus der Durchleuchtung des menschlichen Körpers immer größeren Nutzen. Es ist in jüngster Zeit der „Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft“ in Berlin gelungen, neue wirksamere Vakuumröhren herzustellen, welche selbst die Durchleuchtung des Rumpfes ermöglichen. Ueber die Erfolge, die man damit erzielt hat, berichtet Dr. Max Levy in einer Broschüre „Die Durchleuchtung des menschlichen Körpers mittels Roentgen-Strahlen“ (Berlin 1896, Aug. Hirschwald). Mit Hilfe der neuen Apparate ist es möglich, einen Einblick in das Innere des Brustkorbes beim lebenden Menschen zu erhalten. Hierbei wird die Stellung gewählt, daß die zu untersuchende Person ihren Rücken der Röhre zukehrt, weil in dieser Stellung das Herz am deutlichsten und am wenigsten vergrößert auf dem Fluorescenzschirme hervortritt.

Zunächst sieht man in der Mitte des Schirmes einen breiten dunklen Streifen senkrecht von oben nach unten verlaufen; er stellt die Wirbelsäule dar. Unten erscheint diese Säule gestützt durch eine nach oben gewölbte Kuppe, deren obere Grenze durch das Zwerchfell gebildet ist. An der linken Seite des Bildes erscheint vom Zwerchfell bedeckt die obere Lebergrenze in dem größten Teile ihrer Ausdehnung, während rechts unterhalb des Zwerchfells, je nach dem Lichtfüllungszustand, kleinere oder größere Teile des Magens sichtbar sind. Bei der Atmung bewegen sich Zwerchfell und die mit diesem verbundene Leber senkrecht auf und nieder in einer Ausdehnung, welche bei Tiefatmung und gesunden Menschen 5 bis 7 cm beträgt und jedenfalls mit Leichtigkeit zu messen ist. Oberhalb der Zwerchfellkuppe erkennt man deutlich ein Schattenbild, welches der bekannten Form des Herzens entspricht und im wesentlichen aus einem dunklen centralen und einem helleren den ersteren umgebenden Teile besteht. Man beobachtet auch rhythmische Bewegungen, die man unschwer als Zusammenziehungen und Erweiterungen erkennen kann.

Mit Hilfe der verbesserten Röhren ist es in der That gelungen, verschiedene krankhafte Veränderungen im Innern des menschlichen Körpers zu ermitteln. So wurden Stellen, an welchen Arterien verkalkt waren, genau festgestellt. In anderen Fällen war es möglich, bösartige Geschwülste, die durch die bisherigen Methoden nicht ermittelt werden konnten, sichtbar zu machen; so z. B. eine bösartige Magengeschwulst, die sich bereits in den Brustraum fortgepflanzt hat. – Wir sehen also, daß die epochemachende Roentgensche Entdeckung in der That berufen ist, der Menschheit die größtem Dienste zu erweisen. Seit ihrem Bekanntwerden sind erst wenige Monate verflossen und schon sind die kühnsten Hoffnungen, die man anfangs schüchtern an sie knüpfte, verwirklicht! *      

Ferien auf dem Lande. (Zu dem Bilde S. 589.) Wer je schöne Ferienwochen im bayrischen Gebirge verlebt hat, der kennt die Scenerie dieses Bildes: das wohlhäbige und geräumige Bauernhaus mit weißen Wänden und grünen Läden, dessen oberer Stock für „die Herrschaften“ hergerichtet ist und sehr bescheidenen Ansprüchen an Schlaf- und Wohnbequemlichkeit genügt, dann aber die übrigen Herrlichkeiten, deren Zauber die frugale Unterkunft mehr als aufwiegt: den schattigen Grasgarten, als unschätzbaren Spielplatz der Stadtkinder, dahinter den blauduftig ansteigenden Bergwald mit seinen Alpenrosen und Erdbeerschlägen, das Bad im nahen See, die ganze glückliche Ungebundenheit des auf das Land verlegten eigenen Haushalts, der seine Gäste am gemütlichen Kaffeetisch bewirten kann und den Kindern ein anderes Heimgefühl gewährt als die Unterkunft in einem eleganten Riesenhotel. Glücklich, wer, wie die beiden jungen Frauen hier, sorglose Wochen in dem grünen Schatten am Tegernsee oder Berchtesgaden verleben darf! Es ist dem Maler des hübschen Bildchens geglückt, die besondere Stimmung solcher herrlichen Augustnachmittage voll Blumenduft und Sonnenglanz festzuhalten und eine Ahnung davon auf den Beschauer zu übertragen, der sich wohl gerne ebenfalls eine solche Sommerfrische wünschen mag! Bn.     


manicula Hierzu Kunstbeilage X: „Herzblättchen.“ Von Th. Grust.


Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (11. Fortsetzung). S. 58l. – Der neue Lukas Cranach in Leipzig. Bildnis. S. 581. – Die Parade der Rheinflotte im Hafen von Ruhrort vor der Kaiserin Auguste Viktoria und dem Prinzen Heinrich (7. August 1896). Bild. S. 584 und 585. – Fritz Reuters Briefe an seine Braut. Nach den Originalen im Nachlaß der Witwe. Erläutert von Johannes Proelß. S. 587. – Ferien auf dem Lande. Bild. S. 589. – Jocko. Humoristische Erzählung von Joachim v. Dürow. S. 592. – Pfui! Haas! Bild. S. 593. – Blätter und Blüten: Der neue Lukas Cranach im Leipziger Museum. S. 595. (Zu dem Bildnis S. 581). – Niederrheinische Feste. S. 595. (Zu dem Bilde S. 584 und 585.) – Pfui! Haas! Von Karl Brandt. S. 596. (Zu dem Bilde S. 593.) – Neues von den Roentgenstrahlen. S. 596. – Ferien auf dem Lande. S. 596. (Zu dem Bilde S. 589.)




In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

Auf der Sonnenseite.
Geschichten von Ernst Lenbach.
Inhalt: Stropp der Hund. – Mäuschen. – Der erste Patient. – Des Glückes eingedenk. –
Maien. – Nur ein Baum. – Die Chronik des Klausners.

Illustriert von C. Reichert, A. Mandlick, O. Bluhm, R. Reinicke, P. Rieth,
G. Buchner, B. Hohlfeld.

Mit farbigem Umschlag von Fritz Reiß.

Preis geheftet 2 Mark.

Den vielen Verehrern des beliebten Erzählers bieten wir hiermit die in der „Gartenlaube“ und dem „Gartenlaube-Kalender“ verstreut erschienenen heiteren Geschichten in einem Bande gesammelt dar, der sich infolge seiner reizenden Ausstattung besonders auch zu Geschenkzwecken für Freunde frischen, fröhlichen Humors eignen dürfte.

Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 35. 1896.

Die Katastrophe zu Schmilka in der Sächsischen Schweiz. Am 1. August gingen schwere Wolkenbrüche in Oesterreich-Ungarn, wo namentlich Wien und seine Umgebung hart heimgesucht wurde, und in Belgien, in Württemberg wie in einem Teile der Sächsischen Schweiz nieder. Hier ist über den kleinen Ort Schmilka, der dicht an der böhmischen Grenze liegt und nur 280 Einwohner zählt, an jenem Tage ein bedauerliches Unglück hereingebrochen. Gegen Abend entlud sich in der Gegend ein schweres Unwetter, das südlich vom Großen Winterberge in einen Wolkenbruch ausartete. Ungeheure Wassermassen ergossen sich teils in der Richtung nach der Edmundsklamm und nach Herrnskretschen, teils nach Schmilka zu mit unheimlicher Gewalt thalabwärts. In letzterem Ort vernahmen die erschreckten Bewohner gegen halb neun Uhr plötzlich ein unheimliches, mit Blitzesschnelle näher kommendes Sausen und Brausen: der längs der Dorfstraße, beziehungsweise unter ihr entlang laufende Mühlbach vermochte die von den Bergen kommenden Wassermassen nicht mehr zu fassen. Sie nahmen mit einemmal die ganze Dorfstraße ein, diese in einen reißenden Strom verwandelnd, der Baumstämme, Steinblöcke und Schlammmassen mit Windeseile zu Thale führte und auf seinem Wege furchtbare Verheerungen anrichtete. Zum Glück vermochten die in den Häusern nächst der Dorfstraße wohnenden Leute wenigstens sich selbst und ihr Vieh noch zu flüchten, aber als der Sonntagmorgen anbrach, bot das sonst so freundliche Oertchen ein Bild grausiger Verwüstung, von der unsere Ansicht eine genügende Vorstellung gibt. Die Bewohner des Dorfes, meist Schiffer und Steinbrecher, leben überhaupt in recht bescheidenen Verhältnissen; durch diese Katastrophe ist großes Elend über sie hereingebrochen. Hoffentlich wird der Staat den armen Leuten zu Hilfe kommen, aber auch die Privatwohlthätigkeit sollte zu ihren Gunsten rege werden. Wir wollen deswegen nicht unterlassen, zur Kenntnis unserer Leser zu bringen, daß der Stadtrat von Königstein an der Elbe eine Sammlung zum Besten der Beschädigten eröffnet hat und Gaben entgegennimmt.Th. G.     

Die untere Dorfstraße zu Schmilka in der Sächsischen Schweiz nach der Ueberschwemmung am 1. August.

Nordpolfahrten. Während die ganze gebildete Welt mit Spannung die Nachricht von dem Aufstieg Andrées und seiner beiden Gefährten im Luftballon erwartete, traf die Kunde ein, daß ihr Landsmann Fridthjof Nansen von seiner großen Nordpolexpedition glücklich zurückgekehrt sei. Wir haben über die beiden zur Erreichung des Nordpoles geplanten Unternehmungen unseren Lesern bereits in Nummer 13 eingehend berichtet. Nansen ist etwa drei Jahre und einen Monat unterwegs gewesen und hat den Pol allerdings nicht erreicht, ist ihm aber näher gekommen als alle seine Vorgänger. Sein Plan war bekanntlich, sich mit seinem eigens erbauten Expeditionsschiff „Fram“ innerhalb des treibenden Polareises über den Pol führen zu lassen. Der am 22. Juli 1893 von Vardö abgegangene „Fram“ hielt denn auch den Kurs auf den Nordpol und trieb, wie beabsichtigt, mit dem Packeise unablässig seinem Ziele zu. Nördlich vom 82. Grade wurde kein Land mehr wahrgenommen. Endlich konnte der „Fram“ aber wegen des anhaltenden Nordwindes nicht weiter nach dem Pole zu gelangen, sondern wurde immerfort nach Nordwesten getrieben. Da entschloß sich Nansen am 14. März 1895, das Schiff der Führung Sverdrups zu überlassen und es mit Hjalmar Johansen unter 83 Grad 59 Minuten nördlicher Breite und 102 Grad 27 Minuten östlicher Länge von Greenwich zu verlassen, um das Gebiet nördlich von der Kursrichtung des „Fram“ zu erforschen. Sie nahmen 28 Hunde, drei Schlitten und zwei Kajaks (grönländische Boote) mit, doch wurde das Vordringen dadurch, daß das Eis mit großer Schnelligkeit südlich trieb, bald so schwierig, daß Nansen am 7. April es aufgab, dem Nordpol noch näher zu kommen, mit seinem Begleiter vielmehr die Richtung auf Franz-Josephsland einschlug. Sie waren bis 86 Grad 14 Minuten nördlicher Breite gekommen; von seinen Vorgängern erreichte Lockwood 83 Grad 24 Minuten, Markham 83 Grad 20 Minuten, Nansen hat sie also beide hinter sich gelassen. Am 6. August erreichten die kühnen Reisenden mit Eis bedeckte Inseln, am 26. August eine Stelle an der Nordküste von Franz-Josephsland, wo sie ihr Winterquartier erbauten. Am 19. Mai 1896 zogen sie südwärts weiter und erreichten die Jacksonsche Expedition, welcher der englische Dampfer „Windward“ im Juni gerade neuen Proviant nach Franz-Josephsland brachte. Mit diesem landeten sie am 13. August wieder in Vardö. Ohne Zweifel wird Nansens Reise einen wichtigen Markstein in der Geschichte der Nordpolforschung bilden, allein das hindert nicht, daß gegenwärtig die allgemeine Aufmerksamkeit doch in erster Linie darauf gerichtet ist, ob es Andrée und seinen Gefährten gelingen werde, in ihrem Ballon wirklich den Pol zu erreichen. Unsere Leser werden daher mit besonderem Interesse das Gruppenbild betrachten, das uns die drei Männer vorführt. Im Vordergrunde sitzt Oberingenieur S. A. Andrée, ein großer, breitschulteriger, kräftiger Mann; die kühn gebogene Nase ist von scharfem Schnitt, ein hellblonder Schnurrbart beschattet die Lippe. Er ist der Leiter der Expedition und ein mit den arktischen Verhältnissen wie mit der Praxis der Luftschiffahrt durchaus vertrauter Mann, der in Schweden verschiedene Auffahrten zu wissenschaftlichen Zwecken unternommen hat. Der Ballon, den die drei Männer zur Fahrt nach dem Nordpol benutzen, ist nach Andrées eigenen Angaben von dem Pariser Fabrikanten Lachambre angefertigt worden. Andrée gegenüber steht auf unserem Bilde Dr. Nils Ekholm, Meteorolog am Centralobservatorium in Stockholm, der schon 1882 mit Andrée als Leiter der schwedischen Polarstation am Kap Thordsen in Spitzbergen überwintert hat. Dort haben die beiden Männer reiche Erfahrungen über die Naturverhältnisse des hohen Nordens gesammelt. Der dritte im Bunde, ein noch ganz junger Mann, ist der Kandidat der Philologie Nils Strindberg, Amanuensis an der Stockholmer Hochschule; er hat ebenfalls bereits einmal in Spitzbergen überwintert.

Ekholm.   Andrée.       Strindberg.
Andrée und seine Gefährten.
Nach einer Photographie von G. Florman in Stockholm.

[596 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]