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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 34.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (10. Fortsetzung.)

Schorschl schlief trotz seines harten Lagers in der Holzhütte endlich ein, hungrig und fröstelnd. Ein Dutzend Mal jedoch erwachte er im Laufe der Nacht und drückte immer wieder die Augen zu – auch als der Morgen schon zu grauen begann. Und da hatte er einen Traum. Ihm war, als säße er mitten im verschneiten Purtschellerwald, mit einem riesigen Butterbrot in der Hand. Ihn hungerte, daß ihm alle Rippen krachten, doch er konnte das Brot nicht zum Munde bringen, weil ihm Finger und Hände steif gefroren waren. Rings um ihn her bewegten sich alle Bäume, schüttelten den Schnee auf ihn nieder und zerkratzten ihm mit ihren rauhen Aesten die Hand, daß sie wie Feuer brannte. Er wollte aufstehen, um einen besseren Platz zu suchen, aber seine Beine waren wie Eiszapfen, völlig unbeweglich. Bald wollte er lachen, bald wieder schreien, aber die Zähne klapperten ihm so heftig, daß er keinen Laut hervorbrachte, nur ein Schnattern. Plötzlich sah er durch den Wald ein Mädchen daherkommen – und da dachte er sich gleich: „Paß auf, das is g’wiß kein’ andere als d’ Vroni!“ Und richtig war sie es, mit dem Spaten auf der Schulter und mit dem Beil in der Hand. Während er schnatternd und eiszapfenstarr im Schnee saß, blieb sie mit ihrer warmen, rosig blühenden Jugend vor ihm stehen, lachte ihn spöttisch an, zeigte ihm die gekrümmten Finger mit den langen Nägeln und sagte: „Miaaau!“ Wenn er nur wenigstens den einen Arm hätte rühren können – so dachte er in ohnmächtiger Wut – um ihr das Butterbrot an den Kopf zu werfen. Aber da ging sie schon wieder davon – und während er ihr grimmig nachblickte, sah er, daß die Bäume immer heftiger zu wackeln begannen. Der verschneite Boden fing an zu sinken, und krachend neigte sich eine riesige Fichte – gerade über Vronis Weg.

„Jesus Maria!“ kreischte Schorschl, und da hatte er plötzlich die Bewegung und all seine Kräfte wieder gefunden. „Vroni!“

Mit diesem Schrei stürzte er auf das Mädchen zu und versetzte ihm einen Puff in den Rücken, daß es unter der sinkenden Fichte hinaustaumelte auf einen sicheren Platz. Vroni war gerettet – doch er selbst lag unter dem Baum begraben.

Und da erwachte er. Es war heller Tag – von Schnee keine Spur zu sehen – aber draußen vor der Hütte hörte er im Erwachen noch ein dumpfes Dröhnen, als wäre wirklich ein Baum gefallen, und er selbst lag von der Kälte wie gelähmt auf der harten Pritsche. Aber das alles wäre ihm recht gewesen – nur eines rührte ihm die Galle auf: dieser höchst ungerechtfertigte Edelmut, den er im Traum gegen Vroni bewiesen hatte. In Wirklichkeit hätte er


Der Techniker Kuhl, in dem von ihm erfundenen Rettungsmantel den Rhein bei Köln herabschwimmend.
Nach einer Augenblicksaufnahme von Hofphotograph Schmitz in Köln.

[566] das ganz anders gemacht. Wie, das wußte er freilich nicht. Aber ganz anders!

Mühsam rappelte er sich auf die Beine und brauchte eine halbe Stunde, bis er seiner starren Glieder wieder Herr wurde und die Kälte aus seinem Blut brachte. Ziellos stieg er bergan, immer bergan. Was er wollte, war ihm unklar – nur den Tag totschlagen, alles, nur nicht arbeiten! Aber da machte er eine sonderbare Erfahrung. Gestern hatte ihn die „Lüftigkeit“ gezwickt und gekitzelt – und jetzt quälte ihn eine ganz merkwürdige, ihm völlig neue Sehnsucht nach der Arbeit, nach Hammer und Amboß. Als er aus dem Wald auf die freien Almen kam, blieb er alle paar hundert Schritte stehen und blickte nach seiner Schmiede ins Thal hinunter. Und je ungestümer ihm das Herz pochte, desto deutlicher hatte er die Vorstellung der schönen klingenden Hammerschläge. Das zog und lockte! Aber um keinen Preis der Welt hätte er dieser Sehnsucht nachgegeben! Wie „die da drunten“ gelacht haben würde, wenn sie plötzlich aus der Schmiede herauf die Hammerschläge gehört hätte! Nein! Ein Lump sein, ein ärgerer noch als früher – das Versprechen wollte er unverbrüchlich halten! Und da war es ihm eine boshafte Freude, daß er jetzt auch seine Trompete los war – denn Musik machen, das war schließlich doch auch noch eine Arbeit, dazu eine Arbeit, mit der man unter Umständen den anderen Vergnügen macht! Er aber wollte nur eines noch: die Leute ärgern – und ganz besonders „die da drunten!“

Um Frühstück zu halten, setzte er sich in die Heidelbeerbüsche und speiste so reichlich von den überreifen Beeren, daß ihm Finger und Lippen schwarz wurden. Dabei studierte er, welche Streiche er in den nächsten Tagen ausführen wollte, um das ganze Dorf in Alarm zu bringen. Es fielen ihm ein paar Narreteien ein, so ausgesucht verrückt, daß er vor Vergnügen hell hinauslachte – aber merkwürdig, sein Lachen hatte etwas Gezwungenes.

Als er dann weiter bergan stieg, begann er mit kreischender Stimme zu singen. Doch ob er auch seine fidelsten Lieder auskramte – es wollte ihm nicht gelingen, sich in die richtige wurstige Lumpenlaune hineinzujodeln. Die Schuld trug wohl nur der abscheuliche Tag! Denn der echte Galgenvogelhumor pflegt sich nur einzustellen, wenn die Sonne scheint. Aber die spielte heute Verstecken mit dem Daxen-Schorschl. Alles um ihn her war kalt und grau, die Almen, das Gebirge, die Luft und das Gewölk, welches regungslos, wie ein endlos scheinendes Kellergewölbe, über Thal und Höhen lag.

Um sich warm zu machen, kletterte Schorschl über eine schier pfadlose Felswand hinauf, so hoch, daß er in die Wolken kam. Dann suchte er wieder den gefährlichsten Niederstieg – und dieses sinnlose Spiel trieb er den halben Tag so weiter. Endlich fiel ihm ein, daß heute Samstag wäre – da gab es auf den Abend lustige Gesellschaft im Wirtshaus drunten!

„Sakra! Paß auf! Da will ich wieder einmal aufhauen, daß der Tisch kracht!“ Und mit langen Sprüngen ging’s hinunter über Stock und Stein. Aber seltsam – es war doch seine Absicht gewesen, den geraden, nächsten Weg ins Wirtshaus zu suchen – und da entdeckte er plötzlich, daß er eine halbe Stunde umgegangen und ahnungslos zur Simmerau gekommen war.

Bevor er ganz zur Böschung kam, hielt er inne und duckte sich hinter das Heckengestrüpp. Von hier aus konnte er einen Teil des kleinen Hauses übersehen – und da musterte er mit spähenden Blicken die Mauern. Er wollte freilich mit „der da drunten“ all sein Leben lang nichts mehr zu schaffen haben – aber wenn er mit ihren Eltern und mit dem armen, bedrohten Häuschen Mitleid hatte, das war ja doch etwas anderes! So atmete er erleichtert auf, als er die Mauern unversehrt fand – Mathes hatte die Eisenschlaudern wohl nur anfertigen lassen, um sie im Fall einer Gefahr gleich bei der Hand zu haben!

Im Schutz des Gebüsches schlich er sich ein wenig näher, aber so scharf er auch die Ohren spitzte, er konnte nur die Stimmen der beiden Alten unterscheiden, welche für Schorschl unsichtbar unter der Böschung standen und die neu eingerammten Balken des Verhaues mit Ruten durchflochten.

Während Schorschl dem müd’ tröpfelnden Gespräch der zwei Alten lauschte, machte er immer größere Augen, denn Michel und Mutter Katherl sprachen just von ihm! Und die beiden Leutchen redeten nicht viel Gutes über den Daxen-Schorschl!

Um dieses zweifelhafte Lob nicht länger anhören zu müssen, richtete er sich auf, und lachend die Fäuste hinter den Rücken kreuzend, trat er dicht an den Rand der Böschung.

Die beiden Alten gewahrten ihn nicht gleich. Und Mutter Katherl behauptete soeben: „Ja, Michel, hast recht! So ein’ giebt’s doch nimmer in der ganzen Gegend um und um, so ein’ närrischen Lüftikus, wie der einer is!“

„Ja ja!“ nickte Michel. „Aber er soll seine verruckten Streich’ machen, wo er will, nur net bei mir da heroben! Uns soll er in Ruh’ lassen, ja! Und wenn ich ihm wieder einmal begegnen thu’, so will ich ihm dengerst ein ernstes Wörtl sagen! Dem!“

„So?“ rief Schorschl über die Böschung hinunter. „No also, sag’ mir’s halt! Schau her, da hast mich gleich!“

Mutter Katherl war erschrocken, und um ihren Mann zu besonnener Ruhe zu mahnen, stieß sie ihm gelinde mit dem Ellbogen in die Seite. Aber Michel schien eines derartigen Appells zum Frieden gar nicht zu bedürfen; er warf nur einen grollend vorwurfsvollen Blick zum Rand der Böschung hinauf und arbeitete schweigend weiter, als wäre „der da droben“ Luft für ihn.

Während Schorschl geduldig auf die ihm angekündigte Predigt zu warten schien, ließ er seine spähenden Augen über Hof und Garten huschen. Er sah wohl den Hackstock mit dem Beil, an das er eine neue Schneide geschmiedet hatte, und hörte den Mathes im Haus mit dem Hammer klopfen – aber von Vroni war nichts zu sehen und nichts zu hören. Und da konnte Schorschl die spöttische Frage nicht verschlucken: „No? Wo is denn euer liebs Katzerl?“

Die weiße Katze lag schnurrend auf der Hausbank, aber sie schien augenfällig der Meinung zu sein, daß diese Frage nicht an ihre Adresse gerichtet war. Die gleiche Meinung teilte wohl auch der alte Michel, denn mit bitterbösem Blick rief er zum Rand der Böschung hinauf: „So, Du! Sei lieber froh, daß d’ Vroni im Ort drunten is und net daheim! Die möcht’ Dir ein paar scharfe Wörtln sagen! Dir! Ja!“

„Geh’, Michel,“ flüsterte Mutter Katherl ihrem Mann in Sorge zu, „thu’ Dich net aufregen! So einer is’ ja gar net wert, daß sich ein ordentlicher Mensch seintwegen veralterieren thut! Sei stad, Michel! Laß ihn gehn! Den!“

Aber auch diese Mahnung war überflüssig. Denn seit der Daxen-Schorschl gehört hatte, daß Vroni drunten im Dorf wäre, schien er sich seiner Absicht, möglichst flink im Wirtshaus einzutreffen, plötzlich wieder zu erinnern. Mit wortlosem Gruß rückte er das Hütlein, trollte am Rand der Böschung entlang und kam in immer rascheren Lauf – natürlich, denn es ging ja bergab! Und solch ein abschüssiger Weg zieht in den Füßen!

Den nächtlichen Ruhestörer so ganz ohne Verweis zu entlassen – das schien sich aber nun doch mit Michels Groll und Gerechtigkeitsgefühl nicht zu vertragen. Drohend hob er das Rutenmesser und rief dem Ausreißer nach: „Gelt, Du! Wenn D’ wieder einmal die müden Leut’ aufschrecken willst aus’m Schlaf, so blas’ ein paar feinere Liedln, als wie heut’ nacht! Solchene Schelmenstückln is man net g’wöhnt bei uns da heroben!“

„Ja, is recht!“ rief Schorschl halb lachend und halb geärgert über die Schulter zurück. „’s nächste Mal blas’ ich halt: Ueb’ immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab!“

„Schau Dir nur so ein’ Unchrist an!“ schalt Mutter Katherl jetzt. „Der is heilig imstand und treibt sein G’spött mit so ein’ braven Lied!“

„Na na, Mutterl!“ klang Schorschl’s lachende Antwort zurück. „Bei mir is ausblasen jetzt! Höchstens blast mir noch der Wind durch d’ Joppenlöcher! Zu einer neuen Trumpeten bring’ ich’s nimmer … und die alte is hin! B’hüt Gott miteinander! Jetzt geht ein lüftig’s Lumpen an!“

Er war um die Scheune verschwunden, und mit den Händen in den Hosentaschen, das Hütchen im Genick, hopste er über die steilen, von Erdrissen durchklüfteten Bühel hinunter. Dazu sang er mit gezwungen hoher Stimme:

„Und ’s Lumpen is lustig,
Und ’s Lumpen is schön,
Und ein Lump, der laßt d’ Welt
Schön kugelrund gehn!

Und d’ Weltkugel dreht sich
Im Tag einmal um,
So ein schläfriger Schneckentrab
Wär mir schon z’ dumm!

Ein richtiger Loder,
Kreuz Teufel juheh,
Der dreht im Tag ’s Unterste
Zwanzgmal in d’ Höh’!“

[567] So sang er weiter, ein „lüftiges“ Schnaderhüpfl ums andere, bis er das Dorf erreicht hatte. Singend und jodelnd wanderte er die lange Dorfstraße hinunter und schlug einen Spektakel auf, daß an allen Häusern die Leute aus den Fenstern guckten oder unter die Thüre traten, um einander mit Kopfschütteln zuzurufen: „Schauts nur den Schorschl an! Heut’ hat er schon ein’ am helllichten Tag … der kann sich gut auswachsen übern Sonntag!“

Als Schorschl in die Nähe des Marktplatzes kam, begegnete er einem Trupp Burschen, die schon Feierabend gemacht hatten und in breiter, fast die ganze Straße füllender Marschlinie ihre qualmenden Pfeifen spazieren trugen.

„Wart’, da laßt sich jetzt gleich ein bißl was machen!“ dachte Schorschl. „Sie is ja im Dorf herunten … ich muß ihr was z’ hören geben!“ Inmitten der Straße stellte er sich in rauflustige Positur und ließ die Burschen herankommen. „Auf z’ Seiten, sag’ ich! Und mein’ Weg frei!“

„Ja ja ja!“ sagte einer der Burschen gutmütig, während die anderen lachten. Und die Linie teilte sich.

„Weiter auseinander!“ schrie Schorschl. „Das Gaßl is mir z’ klein! Ich brauch’ ein größers!“

„Aber Schorschl? Was hast denn?“ fragte einer der Burschen.

Ein anderer sagte: „No schau, hast ja doch Platz, bist ja kein Leiterwagen!“ Und ein dritter rief lachend: „Jeh, der Schorschl is narrisch ’worden und bild’t sich ein, er is die Bäckenmahm’!“

„Bäckenmahm’? Was? Bäckenmahm’?“ Das Gesicht des Daxen-Schorschl rötete sich und strahlte vor Vergnügen. Jetzt hatte er einen, den er packen konnte. „Bäckenmahm! Wart, Dir will ich’s austreiben, daß D’ mir die Bäckenmahm’ beleidigst!“

Er stülpte die Aermel auf und schritt auf den Burschen zu, der halb geärgert und halb eingeschüchtert zurücktrat, als er diese nackten, kraftstrotzenden Arme sah. „Wer über die Bäckenmahm’ was sagt, hat ’s mit mir z’ thun! Komm nur her! Fang’ nur gleich an! Und eh’ Dich umschaust, hast schon Deine Schläg’, daß D’ übern Sonntag nimmer …“

Schorschl verstummte. Jähe Blässe war ihm über das Gesicht geglitten – und als hätte er plötzlich alles um sich her vergessen, stand er vor seinem Gegner und starrte an ihm vorüber auf die Thür des Krämerhauses.

Lachend oder halblaut scheltend gingen die Burschen davon. Nur der Angerempelte blieb noch immer stehen, um nicht als feiger Ausreißer zu erscheinen. Doch einer seiner Kameraden zog ihn am Arm mit sich fort und flüsterte ihm zu: „Geh, komm und laß gut sein! Der Schorschl meint’s ja net ernst! Heut’ spinnt er halt ein bißl … es muß ihm was Schiechs übers Leberl g’laufen sein! Geh, sei g’scheit und komm!“

Schorschl hörte nichts und schien nicht zu merken, daß er allein inmitten der Straße blieb. Die Blässe seines Gesichtes hatte sich wieder in dunkle Glut verwandelt, und während er erregt an den Lippen nagte, hingen seine funkelnden Augen an Vroni, die aus der Thür des Krämerhauses getreten war.

Sie trug auf ihren Armen drei große Brotlaibe, die ihr bis ans Kinn reichten und in die blaue Schürze gewickelt waren, damit der scharf ziehende Wind das frische Brot nicht austrocknen möchte. Als sie den Daxen-Schorschl gewahrte, glitt auch ihr eine flüchtige Röte über Stirn und Wangen, und einen Augenblick schien sie zu überlegen, ob sie nicht einen anderen Weg nehmen sollte. Aber welche Ursache hatte sie denn, vor „dem da“ davon zu laufen? Sie lächelte mit schmalen Lippen und folgte ruhigen Ganges der Straße. Etwa zwanzig Schritte vor Schorschl bog sie auf den Fußweg ein, der von der Straße durch einen mit Wasser angefüllten Graben und eine Pappelreihe getrennt war.

Schorschl lachte – es war ein merkwürdig gereiztes und gezwungenes Lachen – und setzte mit einem Sprung über den Graben. Mitten auf dem Fußweg blieb er stehen, legte die Hände auf den Rücken und wartete.

Vroni that, als hätte sie dieses Manöver gar nicht bemerkt. Erst als sie dicht vor Schorschl stand und nicht mehr weiter konnte, blickte sie auf. „Grüß Dich Gott!“ sagte sie mit kalter Ruhe – und das klang so von oben herab, obwohl sie um einen halben Kopf kleiner war als er und zu ihm aufschauen mußte. „Gut, daß D’ mir grad’ in Weg laufst!“

Schorschl schwieg, kaute an seinem Schnurrbart und schaukelte sich auf den Fersen.

Diesem Schweigen gegenüber schien Vronis Ruhe ein wenig ins Schwanken zu geraten. „Ich hätt’ Dich heut’ eh schon daheim in Deiner Schmieden aufsuchen sollen,“ sagte sie und gab ihrer Stimme ein bißchen mehr Schärfe, „aber ich hab’ mir gleich ’denkt, daß man Dich net daheim trifft.“

Schorschl schwieg; aber er machte eine tiefe Verbeugung.

„Drum hab’ ich Dir die drei Mark, die mein Bruder gestern schuldig bleiben hat müssen, zur Kramerin ’neing’legt. Und ..“ es zuckte wie in Zorn und Spott um Vronis Lippen, „ich hab’ mich schon b’sonnen, ob ich Dir net zehn Pfennig noch dazulegen soll … hast ja heut’ nacht bei uns droben Musi g’macht und hast auf’s Absammeln vergessen!“

Dieses Wort hatte dem Daxen-Schorschl das dunkle Blut ins Gesicht getrieben; aber er schwieg noch immer.

Vroni wurde ungeduldig – der funkelnde Blick, mit welchem Schorschls heiße Augen auf sie gerichtet waren, schien sie völlig um ihren schwer bewahrten Gleichmut zu bringen. „Was schaust mich denn so an? Du! Ich fürcht’ Dich net! Na! So ein’, wie Du bist, noch lang net! … Und jetzt geh’ aus ’m Weg! Dir liegt freilich net viel an der Zeit! Aber mir!“

Schorschl rührte sich nicht vom Fleck; aber die Sprache fand er. „Vergeltsgott, Katzerl!“ Das sagte er ganz leise, und mit ersticktem Lachen hob er ihr die zerkratzte Hand bis dicht vor die Augen. „Da schau her! … Feine Nagerln hast! Du könntst ja ein’ Toten wieder aus ’m Grab aussikratzen!“

Vroni furchte die Brauen und trat zurück. „So ein unsinnigs G’red’ da! … Du wirst schon selber wissen, wo Dir den Kratzer g’holt hast! Bei mir net! … Geh weg und laß mich heim!“

„So? Leugnen thust auch noch?“ Diese Erkenntnis brachte dem Daxen-Schorschl das Blut ins Kochen. „Du bist mir die Richtige! Wenn eine kratzt … no ja, in Gottsnamen … aber lügen braucht s’ deswegen doch net!“

„Du! … Ich hab’ in mei’m Leben noch net g’logen … und Deinetwegen thät’ ich ’s am allerwenigsten! … Gieb mein’ Weg frei, sag’ ich zum letztenmal!“

Ihre Stirne brannte, ein Zucken und Zittern ging um die heißen Lippen, und helle Blitze sprühten aus ihren Augen! Bei allem Zorn, der in Schorschl rumorte, war er doch nicht blind für das schmucke Bild, das Vroni in ihrer Erregung bot. So gut wie jetzt hatte sie ihm noch nie gefallen! Und da erwachte plötzlich in ihm die Erinnerung an die Träume des vergangenen Abends – das alles war nun freilich ganz anders gekommen, als er es sich gedacht hatte – statt mit dem Herzen hatte sie ihm die Antwort mit den Fingernägeln erteilt! Aber sollte er nun ganz leer ausgehen? Trotz allem, was in der vergangenen Nacht geschehen war, keimte in einem Winkelchen seines verliebten Herzens noch immer die lockende Vorstellung, wie schön und süß es sein müßte, diesen schmucken Trotzkopf an sich zu reißen und diesen roten, heißen Mund zu küssen! Nur ein einzigsmal! – Und warum denn nicht? – Hatte er denn nicht so eine Art von Recht, sich für den Streich bezahlt zu machen, den ihm das „liebe Katzerl“ in der Nacht gespielt hatte? – Dieser Gedanke war kaum in ihm aufgetaucht, da streckte er auch schon die Arme nach dem Mädchen.

„Du! … Mein’ Fried’ laß mir!“ stammelte Vroni und wich vor ihm zurück.

„Aber geh’! Ich kratz’ ja net! Im Gegenteil, schau, ich zahl’ Dir die heutige Nacht heim mit einer christlichen Wohlthat!“ Mit einem Sprung stand Schorschl an Vronis Seite und schlang den Arm um ihren Hals. Er meinte leichtes Spiel zu haben, da sie die drei Brotlaibe trug und wehrlos war. Doch er hatte wieder einmal falsch gerechnet, wie schon so oft in seinem Leben! Kaum hatte Vroni die Absicht des Daxen-Schorschl erkannt und seinen Arm an ihrem Hals gefühlt, da ließ sie kurz entschlossen die drei Brotlaibe fallen, welche plumpsend nach verschiedenen Seiten auseinander kollerten – und just in dem Augenblick, in welchem Schorschls gespitzte Lippen ihre Wange streifen wollten, stieß sie dem Burschen ihre beiden Fäuste mit so derber Kraft vor die Brust, daß er rücklings gegen die Hecke taumelte.

„Öha! Langsam!“ brummte Schorschl, während er mit beiden Armen fuchtelte, um das Gleichgewicht wieder zu finden. „Auskommst mir doch nimmer! Du!“ Und mit einem Feuermut, der ihm auf dem Schlachtfeld sicher die goldene Tapferkeitsmedaille eingetragen hätte, ging er wieder zum Angriff über.

Doch Vroni, welche bleich bis in die Lippen war, hatte das Schürzentuch, in das die Brotlaibe gewickelt waren, vom Boden [568] aufgerafft, und als ihr Schorschl in hiebsichere Nähe kam, schwang sie mit der gesteigerten Kraft ihres Mädchenzornes diese echt weibliche Waffe – und dem Daxen-Schorschl wurde es für ein paar Sekunden schwarz vor Augen – wirklich schwarz, obwohl die Schürze nur ein verwaschenes Blau hatte. Bei dem klatschenden Schlag stäubte ein weißliches Wölklein um Schorschls Kopf; sein Gesicht, die Brauen, der Schnurrbart und die Nasenspitze waren grau gepudert von dem Mehl, das die Unterseite der Brotlaibe an das Schürzentuch abgegeben hatte.

„Ja sakra noch einmal!“ fing er zu räsonnieren an, während auf seinen Wangen das Blut in brennend roten Strichen die Falten der Schürze nachzuzeichnen begann. „Kratzen in der Nacht und dreinschlagen am Tag … und so was sollt’ ich mir g’fallen lassen? Ah, da stimmst Dich aber!“

Doch als er das bleiche, entstellte Gesicht des Mädchens sah, sanken ihm plötzlich die Arme und sein Atem stockte. Scheu und verlegen stand er vor Vroni und wußte nicht, was er sagen oder beginnen sollte. Während er ratlos um sich her blickte, wie nach Hilfe suchend gegen diese stärkere Macht, sah er auf dem rinnenden Wasser des Grabens einen Brotlaib tanzen, welcher schon zu sinken drohte. „Jesus Maria!“ stotterte er und machte sich auf die Jagd nach dem schwimmenden Wecken.

Schwer atmend band Vroni die Schürze um die Hüften und bückte sich nach den beiden Brotlaiben, von denen der eine im Gestrüpp der Hecke, der andere mitten auf dem Fußweg lag. Und während sie langsamen Schrittes mit ihrer verminderten Last davonging, rannen ihr große, glitzernde Zähren über die Wangen, deren Blässe einer fieberhaften Röte wich.

Keuchend kam ihr Schorschl nachgelaufen. „Da, Vronerl! Da!“ stammelte er und putzte mit dem Joppenzipfel das Wasser von dem gefischten Brotlaib. „Da hast Dein’ dritten Wecken! Es hat ihm nix g’macht! Gar nix! Gar nix!“

Vroni sagte kein Wort; aber als ihr Schorschl den Brotlaib auf die beiden anderen laden wollte, machte sie eine ungestüme Bewegung nach der Seite; und da sie keine Hand frei hatte, um die Zähren von ihren Wangen zu wischen, kollerten ihr die glitzernden Perlen über Kinn und Wangen.

„Mar’ und Josef! Ich könnt’ mir ja gleich den Kopf abreißen!“ stotterte Schorschl und machte neuerdings einen nutzlosen Versuch, den Brotlaib anzubringen. „Aber Vronerl, um Gottswillen, sei doch g’scheit! Wirst ja doch meinetwegen Deine braven Leut’ daheim net um das gute Brot verkürzen wollen?“

Da machte sie kürzere Schritte und litt es schweigend, daß er den feucht glänzenden Laib auf die beiden anderen legte. Doch als er an ihrer Seite bleiben wollte, sah sie mit einem Blick zu ihm auf, der dem Daxen-Schorschl die Füße lähmte.

Mit hängenden Armen, wie ein begossener Pudel, blieb er an der Hecke stehen und sah der Davonschreitenden nach, bis sie um eine Biegung der Straße verschwunden war.

„So! Schön! Jetzt hab’ ich d’ Suppen erst recht versalzen!“ philosophierte er mit trübseliger Kummermiene. „Wie ein Wilder bin ich dreing’fahren! Und was hat denn ’s Madl eigentlich verschuld’t an mir? Nix! Gar nix! Aber rein gar nix! Wenn einer ein Madl so gahlings anpackt in der Nacht … mit so einer groben Hand …“ er betrachtete prüfend seine klobigen Finger, „da hat s’ ja doch recht, wenn sie sich wehrt und kratzt ein bißl. Und wenn man ’s wie ein Rauber überfallt … am helllichten Tag und auf der Straßen? Ja Kruzineser!“ In der Wut über sich selbst packte er sich bei den Joppenflügeln. „Da hätt’ doch jede andere dreimal dreing’schlagen … statt bloß ein einzigsmal wie ’s Vronerl!“ Er sah über die leere Straße hinauf und seufzte tief. „Das vergißt s’ mir ihrer Lebtag’ nimmer! … Jetzt is ’s aus! … Aber ganz!“ Bei dieser Einsicht überfiel ihn die Verzweiflung in ihrer ländlich sittlichen Urform. „Sakra! Sakra! Jetzt därf ich mir aber gleich ein’ anbicheln, ein g’hörigen! Sonst weiß ich net, was mit mir g’schieht in der heutigen Nacht!“

Mit brennendem Kopf und langen Schritten stürmte er dem Wirtshaus entgegen.

(Fortsetzung folgt.)


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein deutsch-österreichischer Dichter.

Von Peter Rosegger.

An einem nebligen Spätherbstmorgen des Jahres 1849 rollte aus dem steirischen Alpenorte Obdach ein leichtes Steirerwäglein die Straße entlang – in die weite Welt. Darauf saßen zwei Knaben in grauen Zeuggewändlein, wie es Bauernstudenten haben, wenn sie in die „Studie“ gehen.

Der eine blickte mit seinen braunen Augen, auf denen noch die Schatten des Abschiedes von daheim lagen, gegen den Himmel und sagte nach einer Weile betrübt: „Rudolf, es wird regnen!“

„Hans, es wird nicht regnen!“ gab der andere zurück, „morgen ist Vollmond, da regnet es nicht.“

Und richtig war’s. Als sie durch die Engschlucht unter der Ruine Eppenstein ins breite Murthal hinauskamen, löste sich der Nebel; als sie durch das alte Städtchen Judenburg fuhren, zeigte der Himmel die ersten blauen Scharten; als sie an der Felsenburg des streit- und sangeslustigen Ulrich von Lichtenstein vorüberrollten, blaute das ganze Firmament in herbstlicher Reine. So ging’s zwischen den schönen Bergen dahin, und als es abendlich wurde, sind die jungen Reisenden eingezogen in das ehrwürdige Benediktinerstift zu St. Lambrecht. Daselbst waren sie aufgenommen, um als Schüler den Wissenschaften der Welt obzuliegen und als hellstimmige Chorknaben das Lob Gottes zu singen.

Hans Grasberger.
Nach einer Aufnahme von Otmar v. Türk, k. k. Hofphotograph in Wien.

Der eine dieser Knaben hieß Rudolf Falb und ist heute der berühmte Erdbeben- und Wettermann, der andere Hans Grasberger, welcher sich später den schönen Künsten hingab und nun einer der besten Dichter Oesterreichs ist.

Dieser Hans könnte heute Johannes, Abt von Sankt Lambrecht, heißen, wenn er dem Stifte, welches er jetzt noch als sein zweites Vaterhaus verehrt, auch innerlich hätte verbleiben können. Aber das geheimnisvolle Geschick führte ihn auf anderen Straßen zu demselben Ziele des Schönen und Guten. Den zweiten Teil der Gymnasialstudien vollendete Hans in Klagenfurt, dann ging er auf die Universität nach Wien, wo er Rechtsstudien trieb und sich bald auf eigene Füße stellte. Durch die Vermittlung eines Freundes wurde es dem jungen Manne möglich, eine Reise nach dem Orient mitzumachen, bei welcher er die Kasse der Gesellschaft zu verwalten hatte. Damals führte noch keine Eisenbahn von Jaffa nach Jerusalem hinein. Ob sich der nun sechzigjährige Grasberger noch daran erinnert, wie damals der dreiundzwanzigjährige Hans arglos auf dem Maultiere sinnend und träumend unterwegs in den Steingebirgen von Judäa die Reisekasse verlor? Da mußte er wohl den Poeten verabschieden und klugen Blickes auf dem Rückritt im weglosen Sande die Richtung erforschen, bis die Tasche glücklich wieder gefunden war. Ueber die Erlebnisse, Gedanken und Stimmungen jener Reise hat der junge Poet getreulich Buch geführt und seine „Sonette aus dem Orient“ sind ein glänzendes Denkmal der großen

[569]

Rückkehr aus der Ferienkolonie.
Nach einer Originalzeichnung von Colanus.

[570] Morgenlandsfahrt, in welcher der fröhliche, sinnige, fromme Dichter kühnlich untertaucht in die Welt und jauchzend emporfliegt zu Gott. Ich habe nie etwas Schöneres über Reisen ins heilige Land gelesen als dieses Sonettenbuch, wovon vor zwei Jahren eine erweiterte und mit wertvollen Noten versehene Ausgabe in Leipzig erschienen ist.

Als dieser monatelange Morgenlands-Sonntag vorüber und der Dichter wieder heimgekehrt war in die Wienerstadt, ging freilich der prosaische Werktag an. Hans mußte sich einspannen lassen ins Zeitungsjoch, das für die Entfaltung dichterischer Talente sich oft so hinderlich erweist. Doch wußte er diesem Amte bald die für ihn ansprechendste Seite abzugewinnen; er wurde Feuilletonist und Kunstreferent. Als solcher ward Grasberger wiederholt nach Italien entsendet, in dessen sonnigem Leben und Weben seine dem Klassischen zugeneigte Seele schön und ebenmäßig ausreifte. Da brachte er stets feine Sachen mit heim, so Nachdichtungen von Michelangelo, eigene Poesien, die in den Sammlungen „Singen und Sagen“, „Aus dem Karneval der Liebe“, „Licht und Liebe“, „Ein Triptychon“ enthalten sind. Die Gedichte aus verschiedenen Lebensepochen sind natürlich nicht von gleichem Werte, mehr gedanklich als anschaulich, mehr tiefgründig als volkstümlich, aber stets von hoher Weltanschauung durchleuchtet.

Doch hat der Dichter in der südlichen Sonne nicht der schattenernsteren Heimat vergessen. Daß er in seinem Empfinden ein kerniger Aelpler geblieben, das bewies er bewundernswert durch seine Gedichte in steirischer Mundart. Die Sammlungen „Zan Mitnehm“, „Nix für ungut“, „Plodersam“, „Geistlingschichten“ sind an wahrer Volkstümlichkeit in Gehalt und Form nicht übertroffen, vielleicht nicht erreicht. Grasbergers „Vierzeilige“ sind nicht mehr Nachahmung des Schnaderhüpfels, sie sind das Schnaderhüpfel selbst; sie sind voll natürlicher Lebenslust und volkstümlicher Weisheit.

Wie schlicht weiß der Dichter die Innigkeit „heimlicher Lieb’“ zum Ausdruck zu bringen:

„I han a schöns Dirndl,
I nenn’s aber nöt,
I siach’s wohl bein Leut’n steh’n,
Kenn’s aber nöt.“

Dann will ich fragen, was man zu den trutzigen Herzklängen unglücklicher Liebe sagt:

Mit Nagerl und Rosmarin
Stöck i ma ’s Miada voll,
Daß Koani nöt mirk’n soll,
Wia-r-i valass’n bin.

Hiaz thua-r-i erst recht und röd
Wia-r-in da liabstn Zeit –
A hamlini Schadenfreud’
Gun i enk nöt!

In schwerem Weh nicht ein bißchen sentimental! So ist der Naturmensch draußen in den Waldbergen. Hierher gehört auch das folgende:

Wann er hoamkem wöllet,
Han i eahm frag’n lass’n –
Er hätt’ draußtn z’schaff’n,
Hat er sag’n lass’n.

Ob i eahm nachkem därfet,
Han i eahm schreib’n lass’n,
Er hat hintagschrieb’n,
Das söllt i bleib’n lass’n.

Er söllt net gar so sein,
Han i eahm bitt’n lass’n,
Und er: was broch’n war,
Das söllt i kitt’n lass’n.

Und wia-r aft ’s Kind is kömen,
Han i eahm ’s sech’n lass’n.
Aft is er fort von Ort
Und hat uns grech’n lass’n.[1]

Thatsächlich ist Grasberger als Mundartdichter weiter bekannt denn als hochdeutscher Sänger und Erzähler. In letzterer Richtung hat er sich langsam entwickelt. Er dürfte zu jenen allmählich wachsenden Naturen gehören, die erst in späteren Jahren jung werden. Bei unserem Hans kam zuerst der Philosoph, dann der Dichter, und dann erst – der Bräutigam. Heute mit sechzig Jahren erfreut er sich eines jungen, glücklichen Familienlebens. – Als Geschichtenerzähler hat er etwas lange auf sich warten lassen, seine Popularität ist eine aufsteigende und dürfte sein siebzigster Geburtstag einen größeren Kreis von Verehrern um ihn versammeln, als es vor kurzem der sechzigste am 2. Mai zu Wien gethan hat. Die ersten Erzählungen unseres Dichters waren in einem etwas schwerfälligen Schritt dahergekommen, die Sprache war zu gesättigt an Gedanken, zu behäbig, gerne an Nebenbildern verweilend. Man kam beim Lesen nicht weiter, jeder Satz verlangte ein Nachgrübeln für sich und darauf ist die heutige Leserwelt schon einmal gar nicht eingerichtet.

Doch ist die Philosophenfeder bald künstlerisch geworden und mit mancher Erzählung kann – was die formliche Vollendung angeht – unser Poet getrost mit den modernen Meistern des Stiles in die Schranken treten. Die Dorfgeschichte, die bürgerliche Erzählung, die Künstlernovelle weiß er mit gleichem Geschick zu meistern. Sollte in Grasbergers Geschichtenbüchern „Aus der ewigen Stadt“, „Auf heimatlichem Boden“, „Neues Novellenbuch“ nicht auch der strenge Recensent manchmal ein wohlgefälliges „Ah!“ von sich geben und sagen: ein hochgebildeter Geist! aber nicht das allein! – Die reizendste aller Grasberger-Geschichten erschien im vorigen Jahre zu Leipzig. Sie betitelt sich: „Maler und Modell“. Es ist eine Barockgeschichte aus Steiermark, so zierlich, so leuchtend und so herzig, wie die Litteratur seines Heimatlandes eine ähnliche nicht aufzuweisen hat.

Darf man bei dieser Gelegenheit auch einige Worte über des Dichters Persönlichkeit sagen?

Der kleine untersetzte Mann mit dem schönen Haupte, mit dem Auge, aus dem der Geist und die Güte leuchtet, aber auch Kampflust, wenn es gilt, mit beredtem Munde Rechtes zu verteidigen. Den Mann als Festredner zu hören! Das ist mehr als rhetorischer Erguß, es ist das volle, warme Ausleuchten einer Persönlichkeit. Eines Tages hörte ich ihn sprechen gegen die Korruption in der Kunst. Ich habe einmal bei nächtlicher Stunde den Ausbruch des Vesuv gesehen – diese Rede des sonst so sanften Hans hat mich daran erinnert. Oft, wenn es sich um gemeinnütziges Wohlthun handelt, reißt die Glut des sechzigjärigen Feuergeistes alle mit sich und der Idealist wird zum praktischen Rater und Thater. Wo es sich jedoch um eigenen Vorteil, um Anerkennung handelt, da ist unser Poet unentschlossen, säumig, zurückstehend und gelassen verzichtend. Wenn er heute gleichwohl zu den angesehensten, nicht aber zu den populärsten Dichtererscheinungen Deutschösterreichs gezählt wird, so ist das sein Verdienst und ein wenig auch – seine Schuld. Zur Zeit, da dieser und jener ein moderiges Phosphorleuchten für Morgenröte ausgiebt, soll ein echter Dichter sein Licht nicht unter den Scheffel stellen.

Und nun gönn’ ich meinem lieben Freunde selber das Wort, daß er in einem Stücklein aus seinem Leben den Lesern der „Gartenlaube“ erzähle, wie er für einen Teil seines Schaffens die Richtung empfing.


  1. Uns einfach selbst überlassen.


Wie ich meine Mundart entdeckte.

Von Hans Grasberger.

Ich hatte bereits das richtige Schwabenalter erreicht und ahnte noch nicht, daß auch ich zum Dialektdichter „berufen“ sei. Nach mannigfachen und großen Umwegen fand ich mich selbst erst und auch das mundartliche Börnlein in meiner Brust. Einmal entdeckt und geweckt, sprang dieses dann allerdings munter hervor, und es wurde auch als klar und echt anerkannt; es hatte aber nur einen kurzen Lauf, und es spiegelte sich keinesweges die ganze heimische Gebirgswelt darin.

Noch wirkt in Klagenfurt ein Gymnasialprofessor, der mich als Studentlein kannte, das sich sichtlich bestrebte, erzählend die halbvergangene Zeit einzuhalten. Ein befreundeter hochgestellter Geistlicher will sich noch erinnern, daß ich mich als fertiger Jurist und junger Leitartikelschreiber einer kernigen Ausdrucksweise beflissen. Mit der Advokatenkanzlei verdarb ich’s unter schadenfrohem Gelächter sämtlicher Kollegen durch eine „poetische“ Satzschrift[1] – es war dies eine „Einrede“, in welcher ich das endlos wiederkehrende formelhafte „Ich widerspreche“ teilweise durch sinnverwandte Ausdrücke ersetzt hatte, der Abwechslung halber. Nach meiner Orientfahrt wollte man meinem Stil zunehmendes Kolorit zuerkennen, und eine Weile danach fiel seitens eines namhaften norddeutschen Germanisten und Lexikographen das gewichtige Lob, daß ich zu denjenigen zähle, die in Süddeutschland „sprachbildend“ wirken.

In Rom traf mich Abbate Liszt auf meinem Dachstübchen, zu welchem die Wipfel des Quirinals hereingrüßten, über den Nachdichtungen der „Rime di Michelangelo“, und mein Uebersetzungseifer wollte in rascher Folge auch an die „Göttliche Komödie“, an Lorenzos de’ Medici lyrische Poesien und an die Satiren [571] Salvator Rosas gehen. Ich war so sehr im Banne der italienischen Litteratur und Sprache, daß mir beispielsweise die Vertraute eines römischen Flüchtlings in Neapel mit der Bemerkung schmeicheln konnte, „man höre gleich, daß ich ein – Römer sei“. Anderer Meinung hinsichtlich meines Mundwerks war allerdings meine römische Quartiersfrau, indem sie mir bedeutete, „man könne nicht wissen, was geschehe, wenn die Garibaldiner hereinkämen; auf alle Fälle, und das ganze Haus sei damit einverstanden, sei ich ihr Neffe; denn dunkel sei ich und zu – reden brauche ich nicht“. Wie dem auch sei, in meinen Erzählungen aus der ewigen Stadt und in meinen Kunstberichten der ersten Zeit brachte ich noch gern italienische Ausdrücke und Wendungen an.

Mit diesen Bemerkungen, die vielleicht nach Eitelkeit schmecken, aber von ihr keineswegs eingegeben sind, soll lediglich dargethan sein, daß damals meine Sprachstudien und mein Sprachgefühl weitab lagen vom heimischen Dialektboden. Ich sah die grünen Berge selten, besuchte mein altes Mütterchen nur für kurze Stunden und bildete mir übermäßig viel ein auf meine Erinnerungen aus dem Orient und auf meine italienischen Fahrten. Nichts durchbrach meine vorherrschende Geistesrichtung als etwa die Regung, welche sich unbewußt in meinem ersten Feuilleton kundgab. Dasselbe war eine Münchner Frucht, handelte vom Hofbräuhaus und fand durch Ludwig Speidel Aufnahme. Es war genrebildlich gearbeitet und hatte Volkstümliches ins Auge gefaßt.

So kam 1878 heran und ich gönnte mir Sommerrast zu Friesach in Kärnten, das mich schon oft angelockt hatte und an dessen unvergleichlichem Ruinenkranze ich doch immer rasch vorübergefahren war. Nun trat mich hier Geschichte und Romantik an, und was ich auflas, brauchte ich nicht mit anderen Eindringlingen zu teilen; denn der Fremde war im Städtchen noch eine Seltenheit.

Friesach dünkt sich älter als Rom und will vereint von einem Friesen und Sachsen gegründet sein. Es hält an dieser volkstümlichen Ueberlieferung lieber, als daß es in seinem Namen eine slavische Wurzel anerkennte. Es hat noch seine Mauern mit Zinnen und Schießscharten, seinen Graben lebendigen, fischreichen Wassers davor, seinen Zwinger zwischen Mauer und Graben und im Hintergrunde gegen die nahe bewaldete Gebirgslehne auf gesonderten Kegeln seine drei, vier Hochburgen, letztere allerdings nur noch in Trümmern. Von der Virgilienfeste südlich ist nur noch der Rumpf einer gotischen Kapelle übrig; an dem benachbarten Blutturm soll unschuldiges Nonnenblut kleben; der herrschaftliche Petersberg mit dem bischöflichen Schloß zu Lavant breitet seine Ruinenmassen fächerförmig aus: Turm, hohläugige Prachtgemächer, Thore, hochragende Giebelmauern – die Fresken an den Innenwänden des Palas lassen wenig mehr erkennen; den Arkadenhof nimmt ein Krautgärtlein mit Bohnenranken und kriechendem Kürbis ein; der geschwärzte Kaminturm erinnert noch an die Münzstätte, von der die „Karantanier“ oder Kreuzer ihren Ausgang genommen. Der Turm des nördlichen Gayerbergs endlich ist der keck herausfordernden Feder auf dem Barett eines Abenteurers vergleichbar.

Und Friesach hat Geschichte. Achthalb Jahrhundert lang war es trotz seiner Lage in Kärnten knapp an der steirischen Grenze salzburgisch, und die erzstiftische Vicedomschaft auf dem Petersberg war ein so bedeutendes Amt, daß sich der Kärntner Herzog und der Gurker Bischof gelegentlich (1131) blutig darum stritten. Im Mai 1216, „da der Wald schon gelaubt stand und die Haide ihr wonnigliches Sommerkleid angelegt hatte“, war in Friesach ein Fürstentag mit viel ritterlichem Tjostiren vor den Thoren. Ulrich von Lichtenstein verstach dabei seine Lanzen „wohl nicht als der Beste, doch auch nicht als der Böseste“, er ergeht sich in seinem „Frauendienst“ des weiteren über dieses Turnier. Aber 60 Jahre später drangsalierte König Ottokar von Böhmen die Stadt; darauf zündeten die Oesterreicher sie an allen vier Ecken an und hausten des Mathias Corvinus Ungarn darin, und kamen die Türken als ungebetene Gäste, und machten sich die Franzosen des gewaltigen Korsen fühlbar.

Sechszehnmal zerstört, ist die Stadt klein geworden – groß geblieben sind nur ihre Kirchen.

Hat man ihre Ruinen abgegangen und ihre Vergangenheit im Geiste durchwandert, so sitzt man abends gern unter der Caféhausveranda auf dem Hauptplatze angesichts des schönen Marmorbrunnens, auf dessen acht Feldern des untersten Beckens sich Reliefscenen nach den „Metamorphosen“ zeigen; die mittlere Schale wird von drei bärtigen, rücklings aneinander geschmiegten Männern, die oberste von drei Knaben getragen, und ein bronzener Neptun krönt das Ganze. Was will aber die Rübe im ornamentalen Beiwerk besagen? Sie deutet an, daß dieser Renaissancebrunnen sein Dasein dem Kärntnerischen Kleinhäuslerssohn verdankt, der als Leonhard von Keutschach um die Wende des 15. Jahrhunderts Salzburg regierte.

Kaum hatte ich mich im Städtchen einigermaßen umgesehen, so luden mich der Sparkassendirektor, der Apotheker und der Wirt von der Veranda gastfreundlich ein, an einem Ausfluge auf die Fladnitz teilzunehmen. Das ergab eine prächtige Wanderung. Zunächst ging’s zu Wagen knapp an der steirischen Grenze das östliche Metnitzthal entlang. Das bescheidene Dörflein St. Stefan will für das klassische Noreja kimbrischen Angedenkens gelten. Die grüne „Römerleiten“ berühmt sich, römisches Weingelände gewesen zu sein. Das Wolfgang-Kirchlein auf der Höhe von Grades – ad gradus sagten die Römer – ist ein Juwel spätgotischer Baukunst. Außen am Oktogon des Karners[2] von Metnitz verblaßt, längst des Schirmdaches beraubt, mehr und mehr ein herrlicher Totentanz.

Und nun bekamen die Pferde Rast und wir stiegen über anderthalb Stunden auf Waldpfaden bergan. Die Römerstraße wendet sich links hin, während wir rechts eine aufragende Felsklippe umziehen. Und kaum an dieser herumgekommen, haben wir in großer Ausdehnung das liebliche Almthal vor uns. Es erstreckt sich den Fuß des „Eisenhut“ entlang, der Ausblick in dreier Herren Länder gewährt. Ein klarer Forellenbach durchschlängelt den Plan. Die Sennhütten liegen zerstreut am Rasenhang und Waldsaum, können sich aber mit Ruf und Wink begrüßen. Sofort sichtbar sind Kirche und Wirtshaus, um so mehr, als beide, obwohl ungleiche Hälften, ungetrennt unter einem und demselben Dache stehen, so daß, wer in den Keller will, zu sehen hat, daß er sich nicht in die Sakristei verirrt. Auch das Jagdhaus hebt sich einigermaßen ansehnlich ab.

Den letzten Sonnenstrahl erspähten wir auf der „Hadnerhöhe“, von der aus die Thäler gegen die Drau zu von einem gemeinschaftlichen Grate rechts und links mit ihren Waldhängen wie Coulissen hintereinander abfallen.

Wir hatten eine Zither mit, denn in der Trinkstube sollten sich ein paar Forstleute zusammenfinden, die über helle Kehlen verfügten. Die bärtigen Gesellen blieben auch nicht aus. Wir luden sie zu uns, wir tranken ihnen zu, wir baten, schmeichelten, neckten, und die Zither klimperte präludierend. Aber die Bursche wurden trockener, je reichlicher sie sich anfeuchteten, tiefsinniger, je eifriger wir ihre Heiterkeit hervorlocken wollten.

Und draußen an Fenster und Thür huschte schon manch eine Sennerin neugierig und lauschend vorüber.

Die stummen Sänger thaten, als merkten sie nichts dergleichen. Da riß mir die Geduld. Ich wollte sticheln, herausfordern und zu sieghaftem Widerspruch reizen, indem ich nach einer bekannten Melodie zu singen begann, was mir soeben durch den Sinn fuhr und von den jüngsten Eindrücken herstammte: <poem> „Af der Fladnitzer Alm Bin i, Woasale, heint, Js a liabkalte Gegend, Wann’s a no so schen scheint; J schaug umi, schaug übri, Tiaf abi in Grabn: Koa Deandl, koa Herzlan, Das mi z’liabast möcht haben!“ – /poem>

Und merkwürdiger Weise: ich wurde verstanden, ich schlug mit diesem Einfall dem Faß den Boden aus; es wurde auf diesen Angriff hin lustig und sangeshell im rauchigen Stüblein, und man blieb beisammen, bis die Kerzen herabgebrannt waren.

Das mitgeteilte ist das erste Schnaderhüpfel, das ich gesungen, das ich, von der Stunde angeregt, improvisiert habe.

Die Ueberraschuug war für mich selbst auch groß. Ich mußte mich auf dem Rückweg von der Alm, der tiefer im Lande am Dom von Gurk vorüberführte, wieder und wieder fragen: sollte ich wirklich über die heimische Mundart gebieten? wäre sie mir, so lange und so kränkend ich sie auch vernachlässigt, all die Zeit her treu geblieben? und ließen sich in sie nicht viele frühe und liebe Erinnerungen kleiden, für die ich bisher vergebens nach Ausdruck gerungen?

[572] Kurz und gut, auf der Fladnitz habe ich meine heimische Mundart entdeckt, und nun mir das passende Instrument, meine Zither zur Hand war, weckten deren Klänge Bilder, Gestalten, Vorstellungen, Ausdrücke, welche samt und sonders bisher gebundenes Erinnerungsgut gewesen.

In vier Wochen hatte ich im wesentlichen das Büchlein „Zan Mitnehm“ beisammen, und als Freund Rosegger, dem ich diese Einfälle zur Beurteilung unterbreitet hatte, mir schrieb, „er müsse wohl glauben, daß die Sächelchen von mir seien, da ich es ausdrücklich sage, sonst hielte er sie für gut gesammelte“, war ich hinsichtlich ihrer ethnographischen Treue und ihrer poetischen Zulässigkeit beruhigt und konnte mir zur Stärkung meines mundartlichen Sprachgefühls bei den gelehrten Kennern des Dialekts Schmeller, Lexer, Hintner etc. weiter Rats erholen.

1884 und 1885 folgten je als Ferienfrüchte „Nix für unguat“ und das erzählende „Plodersam“.

Darüber hinaus habe ich es als Dialektdichter wenig mehr gebracht. Mein Vorrat ist erschöpft, der Quell versiegt; die Fülle, die allseitige Anschauung ländlicher Zustände fehlt mir. Ich bin, einmal der Heimat entnommen, zu sehr Stadtmensch gewesen und geblieben. Und so ist meine Dialektdichtung vielleicht doch nur eine Episode in meiner litterarischen Thätigkeit.


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Fürst Arno.

Novellette von Ernst Eckstein.

Baron Brüggstorm, der Ceremonienmeister Seiner Durchlaucht des regierenden Fürsten Arno von Gleiberg, atmete schwer und tief. Er befand sich im Zustand einer ganz ungewöhnlichen Aufregung. Die Arme straff über der Brust gekreuzt, die Stirne mißmutig gerunzelt und die Nüstern gebläht, so wandelte er im hochroten Ecksaal des Residenzschlosses auf und nieder, während Fürst Arno drüben im Arbeitsgemach den langwierigen Vortrag seines Premierministers entgegennahm.

Baron Brüggstorm hatte gestern in später Abendstunde eine verblüffende Nachricht empfangen. Der Geheimrat Stirlay, Mitglied der ersten Kammer, Direktor des fürstlichen Familienarchivs und Vorsitzender des Konservativen Klubs, hatte ihm beim Verlassen der Breslauerschen Villa im Ton herbster Mißbilligung erzählt, der neue Inhaber des Schlossergeschäfts Bergstraße Numero Zwanzig, der vor etlichen Tagen von Frankfurt nach Gleiberg übergesiedelt war, zeichne sich durch eine merkwürdige, geradezu peinvoll berührende Eigenschaft aus … Er sehe nämlich dem Fürsten so überraschend ähnlich, daß die banale Redensart „wie ein Ei dem andern“ hier sich von selbst auf die Lippen dränge. Der Ausdruck natürlich und die gesamte Art des Gebahrens lasse den Abstand erkennen, der den „ungebildeten Handwerker“ von dem „erhabnen Staatsoberhaupt“ trenne. Immerhin bleibe noch so viel Uebereinstimmung übrig, daß die Sache sehr wohl geeignet sei, die loyale Bevölkerung der fürstlichen Haupt- und Residenzstadt in ihren heiligsten Empfindungen zu verletzen, während sie anderseits den staatsfeindlichen Elementen, die leider auch schon in Gleiberg die giftigen Natternköpfe erhöben, eine nur allzu erwünschte Handhabe liefern möchte für die Betreibung ihrer schmachvollen antimonarchischen Wühlereien.

Der Zufall wollte, daß der Baron Brüggstorm gleich heute in aller Frühe die Gelegenheit fand, sich von der Thatsache dieses Naturspiels zu überzeugen. Er hatte um zehn Uhr vormittags bei seinem Bankier auf der Bergstraße zu thun und kam gerade in demselben Augenblick an dem Grundstücke Numero Zwanzig vorüber, als der Schlossermeister – Fritz Warnack, wie das mächtige Schild über dem Eingang besagte – aus der Thür seines Hauses langsam ins Freie trat. Es war just Frühstückspause und der fleißige Mann benutzte die paar Minuten, die ihm nach Einnahme des Imbisses noch erübrigten, um hier, die Hände unter dem Schurzfell, ein bißchen Luft zu schnappen.

Der Ceremonienmeister Baron Brüggstorm fühlte, wie ihm das Herz vor Schreck beinahe stille stand. Er bemerkte auch, daß ein großer Teil der Vorübergehenden die Erscheinung des neuen Mitbürgers mit ganz ähnlichem Starren und Staunen musterte wie er selbst. Das war in der That das leibhaftige Ebenbild Seiner Durchlaucht; etwas gröber und minder aristokratisch, ja; aber doch unverkennbar in jeder Linie. Die nämliche hohe, intelligente Stirn, das kluge, freundliche und doch so energische Auge, die vornehme, edelgeschnittene Nase und vor allem der prächtige braune Vollbart. Das alles litt nicht einmal wesentlich unter dem Ruß, der hier und da seine Spur hinterlassen hatte. Wenn man diesen Schlossermeister Fritz Warnack in die fürstliche Gala-Uniform steckte! … Baron Brüggstorm schauderte, als er sich eingestehen mußte, daß in diesem Fall die Möglichkeit einer Verwechslung absolut nicht zu leugnen war. Natürlich nur auf den ersten Augenblick, oder doch nur, solange der Schlossermeister nicht sprach; denn jetzt, wie Fritz Warnack dem Briefträger ein paar Worte über die Straße zurief, war die auffällige Aehnlichkeit augenblicklich verringert! Der Mann redete einen wuchtigen, für das Ohr des Gleiberger Ceremonienmeisters höchst unharmonisch klingenden Dialekt, während sich Seine Durchlaucht nur im korrektesten Hochdeutsch vernehmen ließen und überdies ein weit reineres und volleres Organ besaßen!

Gleichviel! Die Sache war und blieb in den Augen des Ceremonienmeisters eine Art unfreiwilligen Majestätsverbrechens. Wie betäubt eilte er weiter, seine eigenen Obliegenheiten unter dem Eindruck dieser Fatalität schier vergessend. Eins stand ihm fest wie ein Grundgesetz: die Aehnlichkeit zwischen dem Landesherrn und einem ganz gewöhnlichen Schlossermeister, der noch dazu nicht einmal im Besitze der Gleiberger Staatsangehörigkeit war, konnte und durfte nicht fürderhin obwalten! Irgend etwas mußte geschehen, um diesem unerträglichen Mißstand ein Ende zu machen. In so gefährlichen Zeitläuften wäre es ein vernunftwidriger Frevel gewesen, wenn man nicht alles gethan hätte, um das Ansehen des monarchischen und vaterländischen Gedankens um jeden Preis aufrecht zu halten.

Baron Brüggstorm beschloß, Seiner Durchlaucht die beklemmende Angelegenheit sofort zur Kenntnis zu bringen und mit dem allverehrten Landesherrn selbst zu beraten, welcherlei Maßregeln hier zu ergreifen seien. Im Residenzschlosse angelangt, fand er jedoch Seine Durchlaucht beschäftigt. Die Vorträge hatten diesmal besonders früh ihren Anfang genommen und würden voraussichtlich bis zur Stunde der Tafel dauern. So schritt denn Baron Brüggstorm in dem hochroten Ecksaal des Schlosses unmutig auf und ab und übersann die Geschichte nochmals nach allen Richtungen, bis er dann plötzlich stehen blieb und sich mit den Fingern der rechten Hand flach wider die Stirn schlug.

Ja! So wollte er’s machen! Selbstredend! Das war noch bei weitem einfacher und in gewisser Beziehung auch zartfühlender, als wenn er den Fürsten persönlich mit der unerbaulichen Sache belästigte. Daß er, der sonst so scharfsinnige Brüggstorm, nicht gleich im ersten Augenblick an diese Form der Lösung gedacht hatte! Nun, es war ja noch nichts versäumt! Also ohne Verzug ans Werk! Und wenn die Geschichte dann glatt und geräuschlos geordnet war, dann gab es wohl Mittel und Wege, Seine Durchlaucht nachträglich von der Aufmerksamkeit und Gewandtheit höchstihres Ceremonienmeisters gebührend in Kenntnis zu setzen!


Um seinem Auftreten etwas recht Offizielles und Feierliches zu geben, ließ der Baron, trotz der geringen Entfernung, seinen wappengeschmückten Landauer anspannen. Es schlug gerade halb Zwölf, als die zwei prachtvollen Rappstuten am Eingang des Schlossergeschäfts in der Bergstraße Halt machten.

Den Kopf mit einiger Selbstgefälligkeit in den Nacken gelegt, den schmalen Mund vornehm gekniffen, wandelte Brüggstorm würdevoll in den Laden. Hier stand eine sehr hübsche Verkäuferin, die unter anderen Verhältnissen der lebhaften Teilnahme des Herrn Ceremonienmeisters sicher gewesen wäre. Jetzt aber unterdrückte er das rein Menschliche und kehrte ausschließlich den fürstlichen Hofbeamten, den Mann von Welt, den glänzenden Aristokraten heraus. Mit schnarrender Stimme fragte er nach dem Schlossermeister

[573]

Kurze Rast.
Nach einem Gemälde von R. Epp.

[574] Fritz Warnack, mit dem er in einer wichtigen Angelegenheit persönlich zu sprechen habe, und nickte herablassend, als sich das Mädchen freundlich beeilte, den Gewünschten herbei zu holen.

Mit höflichem aber nicht gerade unterthänigem Gruße trat Fritz Warnack aus einer Seitenthüre. Er trug noch immer die Spuren der Werkstatt im Antlitz; das Haar hing ihm ein wenig wüst um die Stirne; die linke Hand hielt er nach seiner Gewohnheit im Bausche der Lederschürze.

„Sie sind Herr Warnack?“

„Der bin ich,“ versetzte der Schlossermeister, noch immer artig, obschon ihn die etwas geschraubte Sprechweise des Hofbeamten heimlich verdroß. „Womit kann ich dem Herrn dienen?“

„Mein verehrter Herr Warnack,“ näselte Brüggstorm, „wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten, möchte ich eine diskrete Privatangelegenheit ganz unter vier Augen mit Ihnen erörtern … Paßt’s Ihnen jetzt?“

„Bitte, wollen Sie mit hinaufkommen!“

Der Schlossermeister schritt langsam voran. Brüggstorm folgte.

Als sie dann droben allein waren und der Baron sich mit erkünstelter Nachlässigkeit in den hochlehnigen Großvaterstuhl gesetzt hatte, während Fritz Warnack sich erwartungsvoll einen Korbsessel heranschob, da entstand nach den ersten gleichgültigen Redensarten eine beklommene Pause. Der Schlossermeister, der den Baron nicht kannte, witterte eine Schererei mit der Stadtbehörde, die ihm schon vor seiner Uebersiedlung mancherlei Schwierigkeit in den Weg gelegt hatte; Brüggstorm, sonst ein so altbewährter Meister der Phrase, suchte mit wachsender Unsicherheit nach dem geeigneten Ton, bis er dann endlich mit der nicht ganz zutreffenden Bemerkung herausplatzte: „Ich komme im Auftrag Seiner Durchlaucht, unseres allergnädigsten Fürsten.“

„Wahrhaftig?“ rief der andre erstaunt.

„Das heißt,“ fuhr der Baron fort und betrachtete wie zerstreut seine Fingerspitzen, „wenn ich mich hier der Wendung bediene ‚im Auftrag‘, so ist das gewissermaßen schon bildlich geredet. Ich hätte nicht sagen sollen ,im Auftrag’ sondern ,im Sinne’. Durchlaucht haben zunächst keine Kenntnis davon, daß ich hier bei Ihnen vorspreche. Dafern aber meine Verhandlung mit Ihnen zu dem gehofften Ergebnis führt, werde ich Seiner Durchlaucht die Sache erzählen, und Sie dürfen sich überzeugt halten: Durchlaucht werden von meiner Initiative und Ihrem einsichtsvollen Entgegenkommen dankbarst erbaut sein.“

„Da bin ich ja neugierig! Mit wem hab’ ich denn eigentlich die Ehre …?“

„Brüggstorm, Freiherr von Brüggstorm, fürstlicher Ceremonienmeister … Also die Sache ist die. Ich weiß nicht, ob Sie sich jemals mit Staatswissenschaften befaßt haben. So viel aber wird Ihnen wohl auch ohne theoretische Vorbildung klar sein: die Grundlage jeder geordneten Monarchie besteht in der unerschütterten Ehrfurcht der Unterthanen vor dem gekrönten Haupte.“

„Ja, aber wie hängt das mit mir zusammen?“

„Sehr einfach, mein Lieber! Sie wissen doch zweifellos, daß Sie infolge einer sonderbaren Naturlaune unserm allergnädigsten Fürsten ganz außerordentlich ähneln.“

„Muß wohl sein,“ lachte Fritz Warnack; „denn alle Nasen lang krieg’ ich’s zu hören … Und wenn ich so nach den Bildern schätze, die ich gesehen habe … Drüben zum Beispiel im Gastzimmer der ‚Bayrischen Krone‘, da hängt sein Oeldruck. Ueber sich selbst kann man ja schlecht urteilen; aber ich mein’ schon …“

„Die Aehnlichkeit ist geradezu phänomenal!“ rief Baron Brüggstorm nachdrücklich.

„Sehr schmeichelhaft,“ versetzte der Schlossermeister.

„Für Sie, ja, aber nicht für Seine Durchlaucht. Verzeihen Sie, lieber Warnack! Ich will Sie durchaus nicht kränken, und nichts liegt uns da droben am Hofe Arnos des Dritten ferner als eine thörichte Unterschätzung des Mittelstandes. Immerhin werden Sie einsehen … Sie sind und bleiben doch immer ein schlichter Handwerker, der ja gewiß alle Achtung verdient, aber trotz alledem … na, wie soll ich mich ausdrücken? Es hat offenbar etwas Verletzendes, wenn das leibhaftige Ebenbild Seiner Durchlaucht in Bluse und Schurzfell hinter dem Amboß steht oder für einen Fünfer Nägel verkauft … Bitte, lassen Sie mich jetzt ausreden, Herr Warnack! Als Privatmann könnte der Fürst auf diese Aehnlichkeit ruhig und kaltblütig herablächeln; als Souverän aber ist er sich und seiner erhabenen Stellung doch eine etwas veränderte Anschauungsweise schuldig. Ein Fürst steht über dem Volk. Und wie das Gesetz den Monarchen durch Androhung schwerster Strafen gegen Beleidigungen zu schützen sucht, die im gewöhnlichen Leben oft nur mit kleinen Geldsummen gebüßt werden, so ist auch im Punkte des Schicklichen überall da, wo der Fürst mit in Frage kommt, eine gesteigerte Strenge nötig. Kurz und gut: die Aehnlichkeit Seiner Durchlaucht mit einem Schlossermeister scheint mir unerträglich. Da muß also Abhilfe geschafft werden – um jeden Preis!“

„Ja, wie soll das gemacht werden?“ fragte der Schlosser stirnrunzelnd. „Ein lebendiger Mensch ist doch kein Paletot, den man so kurzer Hand umarbeitet!“

„Doch – in gewisser Beziehung! Wenn Sie sich entschließen möchten, Ihren Bart abzunehmen und künftig rasiert zu gehen, so würde ein Hauptmoment dieser fatalen Aehnlichkeit ausgemerzt sein.“

„Na, hören Sie mal! Fatale Aehnlichkeit! Sie sprechen ja gerade, als wär’ ich ein Raubmörder!“

„Wie gesagt, ich will Sie nicht kränken, lieber Herr Warnack. Aber Sie müssen begreifen –“

„Nichts begreif’ ich! Den Vollbart soll ich mir abnehmen? Ja, ich bitt’ Sie, den trag’ ich nun seit meinem zwanzigsten Jahr! Wie käm’ ich dazu, mich jetzt scheren zu lassen und auf einmal herum zu laufen wie ein geroppter Hahn? Meine Frau würde mich schön auslachen!“

„Durchlaucht würden sich ohne Zweifel erkenntlich zeigen … Sie zum Hofschlosser ernennen …“

„Zu viel Ehre! Aber mein Bart ist mir nicht feil. Da bin ich ebenso stolz drauf wie euresgleichen auf seinen Stammbaum.“

„Bedenken Sie wohl, was Sie hier von der Hand weisen! Ein erheblicher Teil der Aufträge, die man bis jetzt Ihrem Konkurrenten am Bohlberg zugewandt hat, würde dann künftig Ihrer Werkstatt anheim fallen.“

„Nee! Was hätt’ ich davon, wenn ich mir sagen müßte: Warnack, Du bist ein Flappch! Und das wär’ ich ja doch, wenn ich so ganz ohne vernünftigen Grund …“

„Der Wunsch Ihres Souveräns – ist das kein vernünftiger Grund?“

„Sie haben doch selbst gesagt, der Fürst weiß gar nichts davon, daß Sie hier zu mir kommen. Und auch so! Kann ich Ihrem Herrn Fürsten sonst mal gefällig sein, mit dem größten Vergnügen. Ich bin kein so grober Flegel, daß ich nicht vorkommenden Falls auf eine hochgestellte Person Rücksicht nähme. Noch dazu, wo man von dem Herrn Fürsten überall Gutes hört! Nur das Bartabscheren, das paßt mir nicht! Soll ich mich gleich in den ersten acht Tagen hier vor der ganzen Stadt lächerlich machen? Von mir selbst und meiner Luise ganz zu geschweigen! Nee, verehrtester Herr Baron! Da müßt’ ich für keine drei Groschen Ehre im Leib haben!“

Der Ceremonienmeister wiegte unmutig den Kopf.

„Ich erlaube mir, Sie darauf hinzuweisen, daß der Arm des Monarchen außerordentlich weit reicht. Wenn Sie auf diese Manier den Spröden und Widerhaarigen spielen, dürften sich Mittel und Wege finden, Ihnen den Aufenthalt hier in Gleiberg stark zu verleiden.“

„Was?“ rief der Schlosser beinahe zornig. „Sie wollen mir drohen? Na, nun bitt’ ich Sie aber! Ich bin ein ehrlicher, freier Mann, der sich vor niemand zu fürchten braucht. Wenn Sie mir so kommen, gut! Dann wollen wir doch mal sehen, ob’s noch ein Deutsches Reich giebt. Ich bin wie ich bin – und so bleib’ ich, und damit Basta! Glaubt sich der Fürst durch diese Aehnlichkeit wirklich so schwer geschädigt, nun, dann mag er doch einfach die Bartschererei an sich selbst vornehmen!“

„Oh, oh, oh!“

„Was ist da zu ohen? Ein freier Entschluß hat nichts Entehrendes. Ich aber soll schmählich gezwungen werden. Und das lass’ ich mir nun mal unter keiner Bedingung bieten.“

Der Ceremonienmeister erhob sich. „Das wäre also Ihr letztes Wort?“

„Jawohl, Herr Baron! Mein allerletztes!“

„Empörend!“ murmelte Brüggstorm durch die gekniffenen Lippen. „Noch einmal, bei allem, was Ihnen heilig ist: überlegen Sie sich’s!“

„Da ist gar nichts zu überlegen! Ich bin kein Zuchthäusler! Ich kann mir den Bart wachsen lassen, wie mir’s beliebt!“

Der Ceremonienmeister neigte ein wenig den Kopf und schritt dann bleich und schwer atmend der Thür zu.

„Empörend!“ wiederholte er noch einmal, als er ins Freie trat.


Etliche Wochen später tummelten sich die beiden Kinder Fritz Warnacks – Karl und Emilie – in der Nähe des Schloßteichs. Es [575] war ein prachtvoller Maitag. Die hundertjährigen Wipfel des fürstlichen Parkes, den Seine Durchlaucht mit Ausnahme eines ganz unbedeutenden Streifens dem Publikum freigab, leuchteten im frischesten Grün; die zahlreichen Beete strotzten von jungblühenden Blumen.

Karl und Emilie trieben sich erst auf dem wenig begangenen Kiespfad herum, der zwischen dem Teich und der künstlichen Anhöhe mit dem Cäcilientempel einherführte. Bald aber lockte die spiegelnde Wasserfläche und die reichquellende Fülle der Seerosen. Die Kinder näherten sich mit wachsender Unternehmungslust dem einsamen Ufer. Hier lag ein Boot, zu dem ein schmaler, auf eingerammten Holzpflöcken ruhender Steg führte. Von diesem Boot aus konnte man sehr bequem in die Blumen hineingreifen. Die blonde Emilie hatte zwar anfangs Bedenken. Jedes Abpflücken hier in dem Schloßgarten war ja streng untersagt. Karl aber meinte, so etwas gelte doch nur von den Beetblumen, nicht von den Wasserrosen, die hier im Teiche wild wüchsen.

Der kecke achtjährige Bube lief also kurzer Hand auf den Steg, kletterte in den zierlichen Kahn und beugte sich weit über den Rand, um eine recht üppige, vollsaftige Blüte vom Stengel zu reißen. Bei dieser Bemühung bekam er das Uebergewicht, stieß einen furchtbaren Schrei aus und stürzte ins Wasser.

Emilie stand wie gelähmt. Sie war unfähig, nur einen Finger zu rühren. In das Gewirre der Seerosen verstrickt, rang der Knabe verzweiflungsvoll, jetzt auftauchend und jetzt wieder untersinkend.

Plötzlich kam eine schlanke Frauengestalt flink und leichtfüßig an dem zitternden Kinde vorbei über den Rasen gewandelt.

„Bleiben Sie nur, liebste Brüning!“ klang ihre wohltönende Stimme, als eine andere – ältere – Dame ihr nacheilen wollte. „Es ist nicht weiter gefährlich! Mein Wort darauf!“

Sie sprang rasch in den Kahn, ohne sich nach ihrer aufgeregten Begleiterin umzusehen. Ihr lichtblaues Gewand wehte wie eine Flagge. Im nächsten Augenblick hatte sie eines der Ruder ergriffen, die in dem Fahrzeug lagen, und es dem eben wieder emportauchenden Knaben geschickt unter den Leib geschoben. Dann half sie ihm mit der Linken vorsichtig über den Bootsrand. Nach wenigen Augenblicken stand Karl Warnack wohlgeborgen am Ufer, wo die laut aufweinende Schwester den Todblassen stürmisch umarmte, ohne in ihrer Gemütsbewegung für die liebreiche Retterin auch nur ein stammelndes Wort zu finden.

„Aber Durchlaucht!“ sagte die ältere Dame und streckte der jüngeren beide Arme entgegen. „Nein, so was! Mir zittern die Knie! Um ein Haar wären Sie übergestürzt! Und wie sich Durchlaucht beschmutzt haben!“

„Kommen Sie nur! Es blieb doch nichts anderes übrig Bitte rasch! Dort bleiben ja schon die Leute stehen. Sie wissen, Verehrteste, ich bin keine Freundin von Scenen …“

Und beide Damen entfernten sich schleunigst.

„Na, Du dummer Junge?“ rief jetzt ein gutmütiger alter Herr und tippte dem noch immer verdutzt dreinschauenden Karl auf die Schulter. „Hast Du Dich denn auch gehörig bedankt? Du weißt wohl gar nicht, wer das gewesen ist? Nicht? Ach so, ihr seid nicht von Gleiberg? Na, dann schreib’ Dir’s hinter die Ohren, und wenn Du Dein Abendgebet sprichst – Du verstehst mich schon! Das war Ihre Durchlaucht die Fürstin Marie, unsere gütige Landesmutter. Lauf’ nur jetzt heim, sonst wirst Du noch krank, und laß Dir die wohlverdienten Prügel aufzählen!“


Karl und Emilie trabten nach Hause. Nachdem Frau Warnack den triefenden Buben umgekleidet und mit etlichen Tassen heißer Milch erquickt hatte, rief sie den Vater.

„Du, was sagst Du dazu? Wenn die Kinder nicht Unsinn schwatzen …“

„Nein, Mutter,“ beteuerte Karl, „es ist kein Unsinn! Ganz deutlich hab’ ich gehört, wie die eine mit dem hellgrünen Sonnenschirm ,Durchlaucht’ sagte. Und dann kam doch der alte Herr und schnauzte mich an. Der hat dann expreß gesagt, das wäre die Fürstin.“

„Da hörst Du’s!“ sagte Frau Warnack eifrig. „Weiß Gott, ich finde das großartig! So ein gutherziger Engel! Zieht den garstigen Kerl da höchst eigenhändig aus der Tinte heraus! Konntest Du denn nicht selber das Boot packen?“

„Nee, Mutter! Ich kam ins Gewirre. Und Wasser hab’ ich geschluckt – gräßlich!“

Frau Warnack drückte den Knaben voll zärtlicher Bangigkeit an die Brust. „Hoffentlich schadet’s Dir nichts. Aber da siehst Du, wie recht ich hatte! Hundertmal hab’ ich’s euch eingetrichtert: bleibt von den Gräben und Flüssen und Teichen weg! Jawohl! Eigentlich sollte ich Dich mitsamt der Emilie windelweich hauen.“

Der Schlossermeister hatte inzwischen mit steigender Lebhaftigkeit nachgedacht. „Und es ist wahr: ihr Esel habt euch gar nicht ein bißchen bedankt?“ fragte er stirnrunzelnd.

„Nee, Vater! Wir waren Dir wie vor den Kopf geschlagen.“

„Dann muß ich morgen ins Schloß! Das erfordert der Anstand!“

„Ach!“ wehrte Frau Warnack. „Die lassen Dich gar nicht vor!“

„Die werden schon! Ich sage ganz einfach: Ihre Durchlaucht die Fürstin hat meinen Jungen gerettet, da hab’ ich als ehrlicher Mann wohl das Recht …! Das wäre ja noch schöner! Red’ mir nichts! Morgen beizeiten mach’ ich mich auf!“ Er nickte befriedigt und ging dann rasch in die Werkstatt zurück, wo es noch reichlich für ihn zu thun gab.

Unter dem Arbeiten sann er über das unverhoffte Begebnis nach, über sein Vorhaben und über alles, was mit der Sache zusammenhing. Da fiel ihm auch seine verblüffende Aehnlichkeit mit dem Fürsten ein und daß es die hohe Frau, die ihm den Sohn aus dem Wasser gezogen, doch vielleicht kränken möchte, wenn der einfache Schlossermeister ihrem fürstlichen Eheherrn so verwünscht gleichsah. Dieser Frau gegenüber, deren liebliches Antlitz er von dem Bild in der „Bayrischen Krone“ her schon in recht sympathievoller Erinnerung hatte und die er jetzt aus dem tiefsten Grund seines dankbaren Vaterherzens heraus glühend verehrte, kam er sich merkwürdig klein und gering vor. Beim Gedanken an sie empfand der sonst so trotzige, selbstbewußte Mann seine Aehnlichkeit mit dem Fürsten zum erstenmal wie eine Art Respektwidrigkeit. Und was er dem hochfahrenden Ceremonienmeister mit schroffer Kaltblütigkeit verweigert hatte, das gestand er nunmehr aus freien Stücken der schönen, guten, edelherzigen Fürstin Marie zu, der auch der leiseste Schimmer von Mißbehagen erspart werden sollte.


Am folgenden Morgen begab sich Warnack in die nahegelegene Barbierstube von Gaulitz.

„Haarschneiden?“ fragte der erste Gehilfe, als Warnack die Thür schloß.

„Kann ja wohl auch nicht schaden,“ meinte der Schlossermeister. „Vorerst aber nehmen Sie mir den Bart ab!“

„Wie Sie befehlen! Obgleich’s ja um dieses prachtvolle Exemplar eigentlich schade ist.“

„Macht nichts.“

Er setzte sich. Der Barbier hatte ganz recht: es war ein Staatsbart – und sein Dahingeben bedeutete für den Schlossermeister wirklich ein Opfer. Aber der weichherzige Mann brachte es gern. Seit gestern hatte sich, teilweise unter der Nachwirkung des Schrecks, eine Art Schwärmerei für die liebliche Landesmutter bei ihm entwickelt, ein Gemütszustand, der ihn im Zeitalter der Kreuzzüge vielleicht veranlaßt hätte, der Retterin seines geliebten Sohnes zu Ehren eine Fahrt nach dem Heiligen Grabe zu unternehmen. Er war überhaupt, trotz einer gewissen Rauhbeinigkeit, um den Finger zu wickeln, wenn man es nur verstand, ihm ein ganz klein wenig an die Seele zu fassen.

Der Bart also fiel. Der Haarkünstler rieb ihm das glattgeschorne Gesicht, aus dem jetzt nur noch der Schnurrbart als stattlicher Rest hervorragte, mit Kölnischem Wasser ab und puderte ihn, um der Gefahr einer Erkältung vorzubeugen. Dann stutzte er ihm ein wenig das Haupthaar.

„Nein, wie Du aussiehst!“ rief die Frau Schlossermeisterin, als ihr Gemahl heimkam, um sich in Gala zu werfen. „Ich kenne Dich kaum! Na, Du magst ja wohl recht haben mit Deiner Rücksichtnahme, obschon ich streng genommen nicht einsehe … Aber ein Jammer ist’s ewig!“

„Ach, Du wirst Dich schon dran gewöhnen!“

„Ich? Nie!“

Fritz Warnack zog seinen neuen Tuchrock an und setzte den Hut auf. Gegen halb elf bereits stand er vor dem fürstlichen Residenzschloß. Nach etlichen Schwierigkeiten gelang es ihm, bei der Hofdame Gräfin Thun gemeldet zu werden. Er hatte erfahren, die Gräfin Thun sei ungleich wohlwollender und zugänglicher als die Brüning und sehr eingenommen von der leichtblütigen, volkstümlichen Art der Fürstin, deren Auftreten dem Herrn Ceremonienmeister viel zu wenig ceremoniös war.

[576]

Friedrich der Große vor der Schlacht bei Zorndorf in dem zerstörten Küstrin.
Nach dem Gemälde von H. E. Pohle.

[577] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [578] Die Gräfin stellte den recht verlegen dreinschauenden Schlossermeister wirklich nach kurzer Frist Ihrer Durchlaucht vor. Der Titel des danksprühenden Vaters schien der liebenswürdigen jungen Dame ausreichend. Auch wußte sie, daß Unterredungen mit naturwüchsigen Bürgern und Bauern von Ihrer Durchlaucht oft als eine wahre Wohlthat empfunden wurden.

Fürstin Marie war gegen Fritz Warnack außerordentlich huldvoll. Sie drückte ihm ihre Freude darüber aus, daß es ihr durch einen glücklichen Zufall gelungen sei, einem braven Familienvater den einzigen Sohn zu erhalten, und meinte, das eigene Verdienst dabei sei nicht der Rede wert. Manchmal warf sie ihm einen seltsam prüfenden Blick zu. Dann plötzlich wandte sie sich zur Gräfin Thun.

„Lenore, bemerken Sie nichts? Ich finde das geradezu phänomenal! Ja? Sie verstehen mich?“

„Gewiß, Durchlaucht!“

„Zu merkwürdig! Das muß der Fürst unbedingt sehen! Sonst glaubt er es nicht. Ach, bitte, schicken Sie rasch mal hinüber! Er hat ja heut’ keine Vorträge. Wahrscheinlich sitzt er im Atelier und malt … Herr Warnack, bleiben Sie noch! Nur zwei Minuten!“

Der Fürst kam.

„Liebster Arno,“ begann die Fürstin mit reizender Schalkhaftigkeit, „Du weißt, wir haben erst neulich über das Thema Adel und Volk debattiert. Ich muß Dir da doch einmal einen echt deutschen Handwerker als Doppelgänger von Dir vorstellen! Seit Du Dir letzthin den Vollbart hast abnehmen lassen, siehst Du dem wackeren Mann hier so ähnlich, als wäret ihr Zwillinge!“

Der Fürst stand einen Augenblick starr. Er hatte dem unaufhörlichen Drängen des Ceremonienmeisters, der ihn mit „psychologischen Einwirkungen auf die empfängliche Volksseele“ und anderen gutklingenden Redensarten verfolgte, endlich nachgegeben und sich vorgestern alles bis auf den Schnurrbart wegrasiert; genau so wie der Schlossermeister. Und jetzt war die Aehnlichkeit wieder so vollständig hergestellt, daß Brüggstorm bei dem Anblick dieser sträflichen Identität vor Schrecken die Sprache verloren hätte.

„Was …?“ fragte der Fürst zögernd. „Wer ist dieser Mann …?“

„Der Schlossermeister Fritz Warnack – der Vater des Kindes, dem ich gestern am Schloßteich zu Hilfe kam.“

„Ja, Durchlaucht,“ stammelte Warnack mit einem tiefen Bückling. „Ich hatte mir unterthänigst die Erlaubnis erwirkt, Ihrer Durchlaucht zu danken …“

Der Fürst trat näher. „Sie also sind der Mann, von dem mir Brüggstorm all die Zeit über so viel gepredigt hat? Ja, ums Himmels willen, was soll denn das heißen? Ihr Bart ist ja nun doch den Weg alles Fleisches gegangen!“

Fritz Warnack erzählte. In schlichter Treuherzigkeit machte er dem erlauchten Herrn gegenüber kein Hehl daraus, wie er das Ansinnen des Ceremonienmeisters, der ihm nicht gerade liebreich zugesetzt, als eine schwere Kränkung empfunden und ihm deshalb ganz energisch die Zähne gezeigt habe, während er jetzt mit Rücksicht auf Ihre Durchlaucht, die huldreiche Retterin seines Sohnes, ohne Kampf zu dem Entschlusse gelangt sei … Und nun wolle der Zufall … Wirklich, ein abscheulicher Zufall! Seine Durchlaucht solle doch ja nicht glauben, daß irgend wie …

Er stockte. Da trat Fürst Arno, bei dem die Komik der Situation sehr bald die Oberhand über den Aerger gewann und der es im Grunde schon längst bereut hatte, den Einflüsterungen des wohlmeinenden aber engherzigen Höflings gefolgt zu sein, lächelnd zu dem Schlossermeister heran, klopfte ihm auf die Schulter und sprach dann mit großer Leutseligkeit:

„Herr Warnack! Ich glaube, Sie haben Kopf und Herz auf dem rechten Fleck. Ich will Ihnen etwas sagen! Lassen wir unsere Bärte von heute ab wieder getrost wachsen! Ich für mein Teil gräme mich nicht darüber, einem achtbaren Mann aus dem Volk ähnlich zu sehen, und finde auch keinen Schaden fürs Land dabei. Verwechseln wird man uns beide ja doch nicht!“

„Das denk’ ich auch, Durchlaucht.“

„Und zur Erinnerung an diese sonderbare Begegnung mach’ ich Sie hiermit zum Hofschlosser.“

„Danke von Herzen, Durchlaucht! Will mir auch alle erdenkliche Mühe geben!“

Ein gnädiger Wink: der neue Hofschlosser war entlassen. Gräfin Thun, die an dem kernhaften Wesen des Mannes großen Gefallen fand, gab ihm ein Stück Wegs das Geleit.

Und als nun die Fürstin Marie mit ihrem Gatten allein war, da fiel sie ihm strahlend vor Freude und Genugthuung um den Hals und gab ihm einen recht unceremoniösen herzhaften Kuß.


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Leben, Trachten und Sitten der chinesischen Frauen.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
II.

Würden unsere Damen die Lage ihrer Schwestern bei den anderen Völkerrassen aus eigener Anschauung kennenlernen, so würden sie uns wahrscheinlich größeren Dank wissen für die gewiß beneidenswerte Stellung, welche wir ihnen, wir wollen es zugeben, auch mit vollem Rechte eingeräumt haben. Die Chinesen vergleichen beispielsweise die Stellung der Frau zum Manne wie jene der Erde zum Himmel, wobei der letztere selbstverständlich durch das starke Geschlecht dargestellt wird. Die Geschlechter sind in dem uralten Reiche der Mitte keineswegs gleichberechtigt wie bei uns. Der Chinese huldigt der Frauenschönheit und Frauentugend nicht wie wir, er besingt und umschwärmt sie nicht, Frauenwünsche und Frauenlaunen sind ihm nicht Befehle, die Ritterlichkeit und Höflichkeit, mit welcher unseren Damen, wie sie meinen, noch viel zu wenig begegnet wird, ist den Chinesen vollständig unbekannt. Der Mann herrscht dort, die Frau dient; dem Manne allein gehört das öffentliche Leben, die Frau bleibt im Hause; der Mann genießt vollständige Freiheit, die Frau ist dem Willen des Mannes unterworfen. Sie tritt überhaupt nicht an die Oeffentlichkeit und wird im großen und ganzen als ein geringeres Wesen angesehen. Die Geburt eines Sohnes ist ein Freudenfest im Hause und in der ganzen Familie des Chinesen; die Geburt einer Tochter wird kaum berücksichtigt. Fragt man einen Chinesen, ob er Kinder besitze, so wird er das nur auf die Söhne beziehen und die Töchter gar nicht mit nennen, ja es wird von vielen Reisenden sogar behauptet, daß Tausende von neugeborenen Mädchen jährlich ermordet werden.

Thatsache ist es, daß in vielen Familien das Leben der Mädchen und Frauen nach unseren Begriffen einem langsamen Hinsterben gleicht, denn sie sind an das Haus gefesselt, keine Frau darf es ohne Bewilligung ihres Gatten verlassen, und thut sie es, so kann der Mann sie einem anderen Manne verkaufen. Man hat mir von vielen Frauen erzählt, welche das Haus jahrelang nicht verlassen haben! Freilich darf man sich unter den Häusern der Reicheren nicht etwa solche wie die unsrigen vorstellen. In China wohnen ganze Familien, oder vielmehr Familiengruppen, mit zahlreichen Männern, Frauen, Kindern und Sklavinnen in einem ausgedehnten Häuserkomplex mit Gärten und Lotosteichen, Lusthäuschen, Hallen und Tempelchen, alles von einer hohen Mauer umschlossen, aber über diese Mauer hinaus gelangen die Frauen nur selten. Sie haben ihre eigenen Häuser und Gemächer, und schon als Kinder von sechs bis sieben Jahren werden sie von ihren Brüdern und Vettern, mit einem Worte, von den Männern so viel als möglich abgesondert. Selbst in den Häusern der ärmeren Klassen dürfen Knaben und Mädchen nicht auf denselben Matten sitzen oder gemeinschaftlich ihre Mahlzeiten einnehmen.

Erreicht das Mädchen ein Alter von dreizehn bis fünfzehn Jahren, so wird sie von den Eltern verlobt, ja sehr häufig findet diese Verlobung schon statt, wenn die Kinder kaum das fünfte oder sechste Jahr erreicht haben. Von einer selbständigen Wahl ihrer Gatten ist natürlich niemals die Rede. Nur in seltenen Fällen hat das Mädchen der besseren Stände Gelegenheit, andere Männer wenigstens flüchtig zu sehen, aber selbst wenn zwei junge Leutchen auf solche Art Zuneigung zueinander fassen sollten, müssen die Eltern ihre Zustimmung geben. Ein chinesisches Sprichwort sagt darüber: „Will man ein Weib freien, so muß man sich an die Eltern wenden“. Die Eltern sind die unumschränkten Gebieter über ihre Kinder; diese werden niemals zu Rate gezogen, und nur von seiten der Männer darf eine Heiratsaufforderung ergehen, niemals von den Mädchen. Papa und Mama des zukünftigen Ehemanns, selbst wenn er erst [579] acht oder zehn Jahre alt sein sollte, lassen durch eigene Heiratsvermittler in den verschiedenen, ihnen im Range annähernd gleichen Familien nach einem passenden Mädchen Umschau halten. Ohne Heiratsvermittler giebt es in China keine Heirat. Der Chinese sagt: „Wie der Himmel ohne Wolken keinen Regen spenden kann, so kann auch keine Heirat stattfinden ohne Heiratsvermittler“; meist sind diese Vermittler pfiffige alte Weiber.

Die beiden Familien erkundigen sich eingehend nach den beiderseitigen Verhältnissen, und sind diese befriedigend, so wird die Summe festgestellt, welche die Eltern des angehenden Ehemanns den Eltern der Braut zu zahlen haben, denn die Ehe in China ist im Grunde nichts weiter als der Ankauf einer Frau. Unrichtige Angaben dürfen dabei nicht gemacht werden, sonst erhält der schuldige Papa vom Gerichte hundert Stockstreiche verabreicht und die Geschenke, welche der Braut beim Abschluß der Verlobung gemacht wurden, müssen zurückgeschickt werden. Auch darf kein Zwang eintreten. Sollte es sich herausstellen, daß jemand die Tochter eines freien Mannes zur Ehe mit seinem Sohn oder einem sonstigen Anverwandten gegen den Willen ihrer Eltern oder Vormünder veranlaßt hat, so wird er gerichtlich erdrosselt.

Sind die Erkundigungen nun befriedigend ausgefallen und die Verträge unterzeichnet, so sendet der Bräutigam seiner ihm gänzlich unbekannten Braut Verlobungsgeschenke, unter denen sich als wichtigstes häufig das nützliche, aber keineswegs besonders angesehene Haustier – eine Gans befindet. Die Gans gilt in China wie in Korea als das Symbol der ehelichen Treue! Mit der Annahme der Gans ist das Mädchen verlobt, obschon sie je nach ihrem Alter häufig noch Jahre warten muß, ehe ihr das zweifelhafte Glück zuteil wird, Frau zu werden! Was immer in manchen Werken über China behauptet werden mag, es kommt doch nur selten vor, daß Männer unter zwanzig Jahren, Mädchen unter fünfzehn Jahren wirklich heiraten.

Am Tage der Ehe wird die Braut von einem Freunde ihres Gatten abgeholt, in eine rote Sänfte eingesperrt und so nach ihrem zukünftigen Heim getragen. Aber ihre Stellung bleibt nach wie vor die gleiche, denn sie erhält keinen eigenen Hausstand. Als Mädchen war sie die unterwürfige Dienerin ihrer Eltern und älteren Brüder, als Frau ist sie die Dienerin ihrer Schwiegereltern und ihres Gatten. Der Verkehr mit dem Elternhause hört auf, die Eltern ihres Gatten sind nun ihre Eltern, und selbst wenn ihr Gatte sterben sollte, so bleibt sie in der Familie desselben und darf zu ihren eigenen Eltern nicht zurückkehren. Dies ist sogar der Fall, wenn der Tod ihres Verlobten vor der Heirat erfolgen sollte! Ein derartiges Los ist gewiß nicht beneidenswert! Sie gelangt mitten unter Fremde, die ihr keineswegs mit Liebe begegnen, ohne Murren muß sie die Befehle ihrer neuen Mutter, der Herrin des Hauses, ausführen; sie selbst hat nichts zu sagen, ja sie findet mit Beschwerden bei ihrem Manne kaum irgendwelche Unterstützung desselben, denn als erstes Gebot im chinesischen Familienleben gilt die Unterwerfung gegenüber den Eltern. Zeigt die junge Frau Unwillen oder Trotz, so kann sie von ihrem Manne geschlagen werden. Hilfe findet sie nirgends. Nur durch sklavische Befolgung ihrer Pflichten, durch Demut und Unterwürfigkeit kann sie sich allmählich die Neigung ihrer neuen Verwandten erwerben, und wird ihr ein Sohn geboren, so ist ihre Stellung gesichert, sie wird fortan mit Achtung und Liebe behandelt. Nur während des ersten Monats nach der Geburt ihres Kindes ist sie das Opfer einer Menge eigentümlicher Gebräuche. Mutter, Vater, ja ihr eigener Gatte meidet das Gemach, in dem die Kranke liegt. Niemand als ihre Dienerin darf es betreten, und ein großer Strauß von Immergrün, über der Thüre aufgehängt, warnt alle Besucher vor dem Eintritt. Ja die letzteren dürfen sogar ihre großen roten Visitenkarten nicht abgeben! Alle Personen, die mit ihr in demselben Hause wohnen, selbst Fremde, welche das Haus während dieses ersten Monats betreten sollten, werden „unrein“ und dürfen beispielsweise bis nach Ablauf des Monats keinen Tempel betreten! Stirbt die unglückliche Mutter während dieser Zeit, so hat sie im Fegefeuer schwere Strafen auszustehen, bis sie aus demselben durch besonders vorgeschriebene Tempelopfer befreit wird.

Ist das Kind ein Mädchen, so wird die Stellung der jungen Frau womöglich noch ungünstiger, denn nicht nur, daß sie in der Achtung ihrer Eltern und Verwandten sinkt, ihr Gatte wird sich auch bald, wenn es seine Mittel erlauben, nach einer zweiten Frau umsehen, da die Vielweiberei in China gestattet ist.

So gefügig und duldsam die chinesische Frau auch sein mag, eine Nebenbuhlerin im Hause muß auch ihr arge Seelenschmerzen bereiten. Um die Ruhe seines Hausstandes zu sichern, weist der Gatte der zweiten Gattin gewöhnlich eine eigene Haushaltung an, denn ein chinesisches Sprichwort sagt: „Ein Schlüssel macht keinen Lärm, zwei Schlüssel verursachen Gerassel“. Auch wenn die erste Frau ihm Söhne geschenkt haben sollte, nimmt der Chinese gerne noch eine zweite Frau; besonders Schiffer, Boots- und Handelsleute, die viel auf Reisen gehen, wohlhabendere Beamte, welche die Bäder besuchen wollen, u. s. w. Seine erste Frau kann er nicht mitnehmen, weil ihr die Leitung der Hausgeschäfte obliegt, als „Reisefrau“ nimmt er die zweite mit.

Der Ausdruck „zweite“ oder „dritte Frau“ ist nicht in strengem Sinne zu verstehen, denn nur die erste ist wirklich seine legitime Frau, und bei ihren Lebzeiten darf er keine zweite heiraten, er darf auch keine solche an die Stelle der ersten setzen, also ihre Stellungen in seinem Haushalte vertauschen. Die Nebenfrauen unterstehen der wirklichen Gattin. Sie allein hat im Hause zu befehlen, und das ist vielleicht die einzige Genugthuung, die ihr nach ihrer Demütigung durch ihren Gatten bleibt.

In Arbeit, Erziehung der Kinder und Verwaltung des Hauswesens vergehen die Jahre, und je älter sie wird, desto mehr steigt ihr Ansehen. In einigen Ländern soll es Sitte sein, daß Damen, wenn man sie nach ihrem Alter fragt, einige Jährchen davon unterdrücken. In China, diesem Lande der Widersprüche, ist das Gegenteil der Fall. Es gilt als ausgesuchte Höflichkeit, wenn nähere Bekannte einer Dame sagen, daß sie älter aussehe, als sie wirklich ist. War der Gatte einer Witwe der älteste Sohn der Familie und sterben seine Eltern, so hat sie die höchste Stellung in der Familie erreicht, ist umgeben und hochgeachtet von den Frauen der jüngeren Brüder, ihren Kindern und Enkeln, die alle unter ihrer Leitung in demselben Häuserkomplex wohnen. Stirbt der Gatte aber noch bei Lebzeiten seiner Eltern und so lange die Frau jung ist, so gilt es nicht für anständig, wenn sie sich einen zweiten Gatten nimmt, und die Fälle einer Wiederverheiratung kommen bei Witwen von Beamten niemals, bei solchen der höheren Stände nur selten vor. Aber ein chinesisches Sprichwort sagt: „Will der Himmel regnen und deine Mutter wieder heiraten, so kann sie nichts daran verhindern“. Um die althergebrachten Sitten zu wahren und angesehenen Familien die Schande zu ersparen, eine Witwe ihres Hauses in ein anderes Haus übertreten zu sehen, werden standhafte Witwen in China auf eigentümliche Weise belohnt. Ich habe in chinesischen Städten und Dörfern häufig freistehende Thorbogen aus Stein, mit Inschriften bedeckt, wahrgenommen. Ursprünglich dachte ich, sie wären Triumphbogen, zum Andenken an kriegerische Thaten oder tapfere Generale aufgeführt; aber diese tapferen Generale sind in diesem Falle gewöhnlich standhafte Witwen oder besonders brave Töchter gewesen. Ich kann mit meinem bescheidenen Europäerverstand freilich nicht begreifen, wie es bei einer Witwe besonderer Standhaftigkeit bedarf, nach den gewöhnlich sehr traurigen Erfahrungen der ersten Ehe dem Ansturm neuer Freier zu widerstehen. Aber in China scheint die Sache doch anders aufgefaßt zu werden, denn dieser tapfere Widerstand wird dem Distriktsvorsteher gemeldet, dieser macht einen Bericht an den Provinzgouverneur, und der sendet ihn an den Kaiser in Peking. Ich fand zuweilen in der Pekinger Staatszeitung Edikte, mit welchen Seine Majestät anordnet, daß der Witwe X. X. oder der braven Tochter Y. Y. in ihrem Heimatsorte ein Triumphbogen zu errichten sei.

Stirbt die gesetzliche Frau eines Mannes, so darf er sich wieder verheiraten oder eine seiner Nebenfrauen zur ersten Frau erheben, die mit zunehmendem Alter endlich die Herrschaft über den ganzen Familien-Clan erhält. Ja, sollte sie in dieser höchsten Familienstellung ihren Gatten verlieren, so tritt nicht etwa der älteste Sohn an dessen Stelle als Leiter der Familie, sondern die Mutter bleibt es in unumschränkter Weise bis zu ihrem Tode. Die chinesischen Ehen sind nicht etwa unauflöslich. Die Gesetze nennen sieben Gründe für die Ehescheidung, außerdem kann dieselbe auf gegenseitiges Einverständnis erfolgen.

Wie man sieht, ist das Los der Frauen bei den Chinesen kein glänzendes; wenig beachtet von den Männern, ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit, verbringen sie ihr Leben unter sich in Arbeit und Einsamkeit, denn die Gatten vergnügen sich auswärts mit Spielen und Banketten. Selten lassen sie ihre Frauen an solchen Vergnügungen teilnehmen, selten begnügen sie sich mit den schönsten und erhabensten unserer Freuden, jenen der eigenen Familie.


[580] 0


Blätter und Blüten.



Das Chemnitz-Bellmann-Denkmal in Schleswig. (Mit Abbildung.)

„Schleswig-Holstein meerumschlungen,
Deutscher Sitte hohe Wacht!“

so erklang es zum erstenmal in der Oeffentlichkeit am 24. Juli 1844 bei dem ersten schleswigschen Sängerfeste, auf dem der Schleswiger Gesangverein das von seinem Mitgliede, dem Rechtsanwalt Matthäus Friedrich Chemnitz (geb. 10. Juni 1815, gest. 15. März 1870), gedichtete und von seinem Dirigenten, dem 72jährigen Kantor Karl Gottlieb Bellmann (geb. 6. Sept. 1772, gest. 24. Dez. 1861), in Musik gesetzte Schleswig-Holsteinlied vortrug. Diese Dichtung, die in schlichten aber zu Herzen dringenden Worten dem Ausdruck verlieh, was damals alle Gemüter bewegte, fand in der leicht singbaren, echt volkstümlichen Weise sogleich jubelnden Beifall und in der Folge rasche Verbreitung. Man hörte das Lied jahrelang überall und bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie ein Vierteljahrhundert später die „Wacht am Rhein“. Es wurde zum Schlachtruf in dem Kampfe um das gute Recht, und seine Mahnung „Bleibe treu, mein Vaterland“ blieb in der trüben Zeit der Fremdherrschaft unvergessen, bis das Kampflied zur schleswig-holsteinischen Siegeshymne geworden war. Darum ist es nur recht und billig, daß man den beiden wackeren Männern, denen wir dies zündende Volkslied verdanken, ein würdiges Denkmal errichtet hat. Am 26. Juli wurde auf der Koppel in Schleswig, von deren Höhe man einen so schönen Ausblick auf die anmutig an der Schlei im Buchengrün gelegene Stadt genießt, und auf dem Platze, wo 1844 das Schleswig-Holsteinlied zum erstenmal gesungen worden ist, das Chemnitz-Bellmann-Denkmal enthüllt. Es ist ein trefflich gelungenes Werk des Bildhauers Paul Peterich, den schon sein Weber-Denkmal in Eutin und das Reventlow-Beseler-Denkmal in Schleswig vorteilhaft bekannt gemacht haben.

Das Chemnitz-Bellmann-Denkmal in Schleswig.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph G. J. Koch in Schleswig.

Aus einem Aufbau von unbehauenen erratischen Blöcken erhebt sich ein Granitsockel mit den bronzenen Medaillonbrustbildern von Chemnitz und Bellmann, dem schleswig-holsteinischen Landeswappen und entsprechenden Inschriften. Auf diesem Unterbau ragt mächtig empor die in Bronzeguß und mehr als doppelter Lebensgröße ausgeführte kraftvolle Reckengestalt eines jungen, mit dem Eichenkranze geschmückten Germanen. Kampfbereit schwingt seine Rechte das Schwert, seine Linke aber hält die Leier. In glücklichster Weise verkörpert so der Jüngling das für sein Deutschtum unter den begeisternden Klängen jenes Liedes zum Kampfe ziehende Schleswig-Holstein, das durch die That den Worten „Deutscher Sitte hohe Wacht“ Bedeutung verliehen hat. Fr. R.     

Ein Rettungsmantel für Schiffbrüchige. (Zu dem Bilde S. 565.) Eiues schönen Tages zu Ende des Juli bot sich den Passanten der Schiffsbrücke zu Köln ein seltsamer Anblick dar: den Rhein herab trieb ein rätselhaftes Ungeheuer, große aufgeblähte Schwingen hielten es über dem Wasser, während es mit den Händen aufgeschlagen ein Buch hielt, über welches sich ein Männerkopf mit starkem Schnurrbart und energischen Zügen beugte. Die Wellen trugen spielend die sonderbare Gestalt dahin, die sich für die Eingeweihten als der Techniker F. W. Kuhl entpuppte. Derselbe führte den Vertretern der Presse seinen neuen Rettungsmantel in erfolgreicher Probe vor.

Die Konstruktion dieses Mantels ist Geheimnis seines Erfinders. Aeußerlich unterscheidet er sich nicht von einem gewöhnlichen Ueberzieher, der mit einem doppelten Gummifutter ausgestattet ist; er ist sehr leicht, seine Füllung besteht aus einer Masse, die ein Untersinken unter Wasser verhindert; in zwei Minuten ist er angelegt, mit Luft gefüllt und zum Gebrauch fertig, wie der Erfinder es bei seiner Probe bewies. Herr Kuhl behauptet, mit dem nötigen Mundvorrat versehen, 16 bis 18 Tage im Wasser schwimmend zubringen zu können, wenn er noch die zu dem Mantel gehörigen Beinkleider, Schuhe etc. angelegt hat. Aber auch der Mantel allein genüge, den Schiffbrüchigen tagelang in bequemer Lage über Wasser zu halten. Im Hinblick auf die zahlreichen Schiffsunfälle gerade der letzten Zeit muß man jeden Versuch, Menschenleben dabei zu retten, mit Freude begrüßen, und so wollen wir hoffen, daß auch die Erfindung Kuhls einen Fortschritt in dieser Richtung hezeichne.

Die Ferienkolonisten kommen wieder! (Zu dem Bilde S. 569.) Sehnlicher wird wohl das Jahr über kaum ein Zug erwartet als der, welcher soeben in die große Bahnhofshalle einlief! Denn die vier Wochen wurden den Müttern doch recht lang, so froh sie auch waren, ihre blassen Stadtpflänzchen draußen auf dem Lande zu wissen im ungewohnten herrlichen Genuß von Waldluft und Wiesengrün, wo Milch und Obst nebst so vielem anderen die Kinderherzen erfreut.

Nun, endlich sind sie da; der Zug hält; die Thüren können nicht schnell genug geöffnet werden für die Herausstrebenden Kinder, die ganze Bahnhofshalle schallt wieder von dem Rufen, Lachen und Jubeln. Der Billetmann hat einen schweren Stand dem unaufhaltsamen Strom gegenüber, der nach den wartenden Eltern hindrängt. Und nun lösen sich die einzelnen und eilen in die ausgestreckten Arme. Rotbackig und lustig kommen sie daher in ihrem sauber geschonten Sonntagskleidchen, und nun beginnt ein Erzählen, das auf dem ganzen Heimweg kein Ende nimmt. Zuletzt heißt es beim Zubettegehen: „Es ist doch auch wieder schön daheim!“

Mancher warme Aufruf zu gunsten der so schnell überall eingebürgerten Ferienkolonien ist schon veröffentlicht worden und hat seine Früchte getragen. Das vorliegende hübsche Bild will demselben Zwecke dienen, es stellt den Spendern der Beiträge die glückliche Kinderschar vor Augen und mahnt dabei: nicht nachlassen! Den nächsten Sommer wieder etwas geben – es ist gut angelegt! … Bn.     

Friedrich der Große vor der Schlacht bei Zorndorf in dem zerstörten Küstrin. (Zu dem Bilde S. 576 und 577.) Unter den Schlachten des Siebenjährigen Krieges war die Schlacht bei Zorndorf eine der blutigsten und entscheidungsvollsten; denn der vielbedrängte, so oft siegreiche Preußenkönig warf hier die Russen, welche Ostpreußen besetzt hatten und schon in die Neumark gedrungen waren, nach einem schweren und hartnäckigen Kampfe zurück. Mitte August 1758 belagerte der russische General Fermor die Festung Küstrin, deren Besatzuug durch die Truppen des Generals von Dohna vom rechten Oderufer aus unterstützt wurde. Friedrich, von Schlesien aus in Eilmärschen herbeieilend, vereinigte seine Heeresmacht mit ihnen bei Küstrin und der russische Oberfeldherr hob, sobald er dies erfahren, die Belagerung auf, um mit seinen 50 000 Mann und seinen irregulären Reitertruppen den Angriff der Preußen in möglichst gedeckter Stellung zu erwarten. Das Bild des Malers H. E. Pohle zeigt uns nun Friedrich den Großen in den Straßen des durch die feindlichen Kugeln und Brandgeschosse halbzerstörten Küstrin. Ringsum Häuser in Trümmern, vom Rauch umqualmt, aus dem die Flammen noch emporschlagen; die Bevölkerung, Greise, Frauen, Kinder, elend, von Not und Hunger aufgezehrt, in Verzweiflung, fleht den König um Hilfe an, der nicht ungerührt mit seinen großen Herrscheraugen auf das sein Roß umdrängende Volk blickt. Hinter ihm hält der General von Seydlitz, der tapferste Reiterführer des Königs, der bald zu seinen alten Lorbeeren neue erwerben sollte. Und in der That, einige Tage darauf, am 15. August, verkündete der Kanonendonner von Zorndorf die Entscheidungsschlacht, entschieden durch den zweimaligen großartigen Reiterangriff von Seydlitz – ein neues Ruhmesblatt für den Sieger von Roßbach. †     



Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (10. Fortsetzung). S. 565. – Der Techniker Kuhl, in dem von ihm erfundenen Rettungsmantel den Rhein bei Köln herabschwimmend. Bild. S. 565. – Ein deutsch-österreichischer Dichter (Hans Grasberger). Von Peter Rosegger. Mit Bildnis S. 568. – Rückkehr aus der Ferienkolonie. Bild. S. 569. – Wie ich meine Mundart entdeckte. Von Hans Grasberger. S. 570. – Fürst Arno. Novellette von Ernst Eckstein. S. 572. – Kurze Rast. Bild. S. 573. – Friedrich der Große vor der Schlacht bei Zorndorf in dem zerstörten Küstrin. Bild. S. 576 und 577. – Leben, Trachten und Sitten der chinesischen Frauen. Von Ernst v. Hesse-Wartegg. II. S. 578. – Blätter und Blüten: Das Chemnitz-Bellmann-Denkmal in Schleswig. Mit Abbildung. S. 580. – Ein Rettungsmantel für Schiffbrüchige. S. 580. (Zu dem Bilde S. 565.) – Die Ferienkolonisten kommen wieder! S. 580. (Zu dem Bilde S. 569.) – Friedrich der Große vor der Schlacht bei Zorndorf in dem zerstörten Küstrin. S. 580. (Zu dem Bilde S. 576 und 577.)



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. 0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 34. 1896.

Das V. Deutsche Sängerbundesfest in Stuttgart. War das ein Jubel in der schwäbischen Hauptstadt, ein Singen und Klingen, ein Jauchzen und Frohlocken in den Festtagen vom 31. Juli bis 4. August von früh bis spät! Aus allen Landen, so weit die deutsche Zunge klingt, waren die Sänger zum fünften allgemeinen Bundesfeste herbeigeströmt, auch aus der Schweiz, aus England, Rußland, Polen, Rumänien und sogar aus dem fernen Amerika hatten sich Abordnungen deutscher Männergesangvereine frohgemut eingefunden. Zu Ehren ihrer Gäste hatte die anmutige Stuttgardia ein farbenfrohes Feiertagsgewand angelegt. Lustig flatterten die Fahnen im Winde; grüner Laubschmuck, vielfach mit Blumen durchsetzt, Wappenschilder, von Fähnchen flankiert, und vielerlei andere Ausschmückungen erfreuten das Auge und verkündeten die Festesstimmung der Stuttgarter Bevölkerung.

Festwagen „Schwäbisches Volkslied“.
Festwagen „Schwäbische Dichter“.

Mit dem Glockenschlng vier am Sonntag, den 2. August begann der Festzug bei heiterem Sonnenschein seinen Marsch durch die Straßen der Stadt nach dem Festplatz. Ein stattlicher Herold mit dem Reichsbanner und ein berittenes Musikcorps in der schmucken Tracht des 16. Jahrhunderts eröffnen das glänzende Schauspiel. Und nun folgen in schier endlosem Wechsel die Sängerbünde und Vereine. Hunderte im Sonnenlichte funkelnder Prachtbanner und Standarten, eine stattliche Anzahl Festwagen und Kostümgruppen und 18 Musikcorps geben dem Zuge reiche Belebung und leuchtende Farbe. Ohne Unterlaß jubelt das Publikum den vorüberziehenden Sängerscharen auf dem ganzen, 41/2 Kilometer langen Wege zu. Grüße und Kußhände fliegen aus deren Mitte zu den Fenstern und Balkonen hinauf, wehende Tücher grüßen herab, Blumen und Sträußchen werden den Sängern zugeworfen und eilig errafft, Hochrufe bald von den Sängern auf Stuttgart, bald von den Zuschauern auf diese oder jene Gruppe ausgebracht. Vor dem Residenzschlosse bringen die Sänger dem König, der mit seiner Familie von dem reich dekorierten Balkon aus zusieht, stürmische Huldigungen dar, die der Monarch sichtlich erfreut und freundlich dankend entgegennimmt.

Festwagen „Stuttgardia“.   Festwagen „Germania“.
Bilder vom Festzug des V. Deutschen Sängerbundesfestes in Stuttgart.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Zweigle.

Von den Festwagen und kostümierten Gruppen, die in den Sängerzug eingestreut sind, erweckt zunächst der Festwagen der Stadt Stuttgart Staunen und Bewunderung. Vier prächtig geschirrte Rosse, auf deren Volldecken das Stadtwappen sich abhebt, ziehen den in reichem Barock ausgeführten, mit Früchtenfestons, persischen Teppichen und Blumen und Pflanzen geschmückten Prunkwagen. Auf hohem Sitze, den ein goldstrotzender Baldachin überdacht, thront die edle Gestalt der Stuttgardia. Genien, die Kunst und Wissenschaft, Industrie und Gewerbe darstellen, stehen an der Vorderseite des Wagens, zwischen beiden erhebt sich ein goldener Korb mit Rebenlaub und Trauben.

Von den übrigen Festwagen fesseln das Auge am meisten „Germania“, „Schwäbische Dichter“ und „Schwäbisches Volkslied“. In der Germanengruppe ist durch augenfällige Träger des Liedes die Entwickelung des deutschen Gesanges versinnbildlicht. Germanische Recken, bekleidet mit Tierfellen und das Haupt geschmückt mit Büffelhörnern, marschieren an der Spitze; ihnen zur Seite schreitet ein greiser Barde, an das Heldenlied erinnernd, das unsern Ahnen schon zur Zeit der Wanderzüge ein treuer Begleiter war. Reiter, Posaunenbläser und Feldtrompeter aus dem Mittelalter schließen sich an, dann erscheint der Wagen der Germania, von sechs Brabanter Schimmeln gezogen. Der Wagen hat die Form eines Schiffes. Im Vorraum steht ein geharnischter Bannerträger, das Bundesbanner fest in der Faust haltend; hoch oben auf dem Deck thront Germania in stolzer Schönheit und Hoheit. Gottfried von Neuffen, umgeben von Minnesängern, Rittern und Knappen, geleiten das stattliche Schiff. Reich mit Blumengewinden und Stoffbehängen ist der Festwagen „Schwäbische Dichter“ geziert, in dessen Mitte sich auf hohem Sockel die Kolossalbüste Schillers erhebt, umgeben von Uhland, Hauff, Kerner, Schwab und anderen schwäbischen Dichtern. Vorne sehen wir den stolz sich bäumenden Pegasus, rückwärts die Idealgestalt der Poesie mit Palmzweig und Leier in den Händen. Sinnig und schön gibt der Festwagen „Schwäbisches Volkslied“ eine Darstellung allbekannter schlichter Weisen wie „Am Brunnen vor dem Thore …“ und „Jetzt gang i ans Brünnele“. Auch eine Spinnstube – als getreue Pflegerin des Volksgesanges – ist in dieser Gruppe mit intimem Reize veranschaulicht. Die Stuttgarter Bierbrauer haben einen Wagen zu dem Festzug gestellt, der Gambrinus verherrlicht. Der Stuttgarter Winzerklub legt mit seinem Festwagen „Herbst“ nicht minder Ehre ein, und mit dem märchenhaft schönen Festwagen „Flora“ haben sich die Stuttgarter Gärtner an dem Festzug beteiligt. –

Wie über dem Festzuge, so schwebte auch über den Festkonzerten und Festbanketten ein guter Stern. Etwa 8000 Sänger erschienen auf dem Podium der imposanten Halle. Der Stückfolge des ersten Konzerts lag die Idee der Verherrlichung des deutschen Liedes zu Grunde, die zweite Hauptaufführung gestaltete sich durch Hervorkehrung des nationalen Gedankens zu einem Nachklang der Jubiläumsfeier des Deutschen Reiches. Beide Aufführungen boten unter der Leitung der bewährten Festdirigenten Kremser (Wien), Meyer-Olbersleben (Würzburg) und Förstler (Stuttgart) erlesene, zum Teil großartige Genüsse. Auch die Bankettabende brachten reichlich Gesangsleistungen, bei denen dem Hörer das Herz aufging. Einzelbünde und Einzelvereine von der Donau und vom Rhein, aus Baden und Bayern, Württemberg und Sachsen u. s. w wetteiferten in anmutenden Darbietungen.

Es war ein Fest, das sich seinen Vorgängern: den deutschen Sängerbundesfesten in Dresden, München, Hamburg und Wien würdig anreiht; ein Fest der deutschen Nation, bei dem Männer von allen Stämmen, von allen Stellungen, Meinungen und Parteiansichten beim Sänge des deutschen Liedes sich als deutsche Brüder, als Söhne des einen großen Vaterlandes erkennen.


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  1. Satzschriften heißen in Oesterreich die Eingaben der Parteien im civilrechtlichen Verfahren.
  2. Karner heißen die meist runden romanischen Friedhofs- und Beinhauskapellen.