Die Gartenlaube (1896)/Heft 27
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Nr. 27. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Der laufende Berg.
(3. Fortsetzung.)
Heller Vollmondschein lag über den zerrissenen Gehängen des laufenden Berges und über den schiefen Wipfeln des Purtschellerwaldes. In der Tiefe der Erde gurgelte das versunkene Wasser, und zwischen den Bäumen ließ von Zeit zu Zeit ein Käuzlein seinen klagenden Schrei vernehmen.
In dem schwarzen Schatten, den der Waldsaum über die Wiese warf, saß Schorschl an einen Baum gelehnt. Er hielt die Arme um die aufgezogenen Kniee geschlungen und blickte bald hinunter ins Thal, in welchem der eben liegende und vom Mondschein beleuchtete Nebel sich ansah wie der matt schimmernde Spiegel eines langgestreckten Sees – bald wieder spähte er hinüber gegen die nahe Simmerau, von welcher trotz der sinkenden Nacht noch immer der Hall der rastlosen Schläge herübertönte – dann wieder starrte er brütend vor sich nieder und nickte bedächtig mit dem Kopf. Dazu sagte er sich laut und langsam die fünf Worte vor:
„Schorschl! Du bist ein Lump!“
Diese Worte hatten ihm das Geleit gegeben von der Simmerau bis hinauf in die Felswände, die das Seekar umringen, und bis hinein ins Latschendickicht, in welchem der „ausgemachte“ Hirsch sein ahnungsloses Mittagsschläfchen hielt. Was er auf diesen Wegen auch immer dachte und in Gedanken sich vor redete – alles lief am Ende auf diese kurze Weisheit hinaus:
„Schorschl! Du bist ein Lump!“
Was er auch hörte, der Tritt seiner Schuhe, das Klirren des Bergstockes, das Rollen der Kiesel, welche sein stolpernder Fuß in Bewegung brachte, und der ungestüme Schlag seines eigenen Herzens – alles und alles hatte den Klang dieser fünf „verflixten“ Worte! Und als er in seiner blinden Narretei den sichern Hirsch „verpatzt“ hatte, als das aufgescheuchte Tier, statt den von Purtscheller besetzten Wildsteig anzunehmen, in rasender Flucht durch das Latschenholz hinunterstürmte, klang es bei jedem Sprung ganz deutlich im Takt:
„Schorschl … Du bist … ein Lump … ein Lump!“
Das Wort hatte ihn um all seine lustige Ruhe gebracht. Als er sich von der Seite Purtschellers und des Jagdgehilfen hatte wegstehlen können, war er glücklich gewesen, mit sich allein zu sein. Und nun saß er hier seit langen Stunden immer auf dem gleichen Fleck, immer mit dem gleichen Wort auf den Lippen. Es hatte sich in seinen Gedanken festgeklammert, und dennoch wollte er diesen fünf verwünschten Silben nicht glauben. Er zählte sich, um diese kurze Weisheit zu widerlegen, an den Fingern all seine guten
[450] Eigenschaften vor; suchte jeden tollen Streich zu entschuldigen, den er auf dem Gewissen hatte; machte alle äußerlichen Dinge, die den Leichtsinn in ihm genährt und großgezogen hatten, für seine „Lüftigkeit“ verantwortlich und redete sich ein, daß er doch eigentlich bis heute nicht die geringste Ursach’ und Verpflichtung gehabt hätte, ein ordentlicher Mensch zu sein! Aber bei all dieser schweißtreibenden Gedankenmühe kam er doch immer wieder zu dem gleichen Schluß:
„Schorschl! Du bist ein Lump!“
Ein Lump? Ja!
„Aber gar so arg, wie sie’s g’meint hat, kann’s ja doch net sein!“
Eine Weile noch brütete er vor sich hin; dann sprang er auf und bürstete mit dem Aermel sein Hütlein.
„Es laßt mir kein’ Ruh’ nimmer! Ich muß das Madl heut’ noch fragen!“
Drunten im Thal schlug die Kirchenuhr die neunte Stunde, während Schorschl über die Wiesen rannte und mit hohen Sätzen alle Risse und Klüfte übersprang, als hätte seine Frage die höchste Eile und könnte die Antwort nicht mehr erwarten. Doch als er die Böschung über dem Haus des Simmerauers erreichte, hielt er ratlos inne und zog sich scheu zurück, um nicht gesehen zu werden.
Denn im Hofraum, über dem sich das Mondlicht mit dem zuckenden Schein zweier Kienfackeln mischte, standen Michel, Mathes und Vroni noch bei der Arbeit. Doch eben jetzt – die Fackeln waren schon zu kurzen Stümpfen niedergebrannt – ließ der Simmerauer die Säge ruhen.
„Kommts, Kinder,“ sagte er, „endlich müssen wir ja doch Feierabend machen! Die Nacht hat der liebe Gott für ’n Schlaf erschaffen. Und den brauchen wir!“
Ohne viel zu reden, trugen sie ihre Werkzeuge zur Hausbank und gingen zum Brunnen, um den Schlamm von ihren Füßen zu waschen. Michel faßte den Schwengel, und schon nach wenigen Zügen plätscherte ein dicker Wasserstrahl in den Trog.
„Schau nur, Mathes,“ sagte der Alte, „so viel Wasser, kaum daß ich’s Ziehen anfang’! Es muß doch ’s Wasser schon wieder g’stiegen sein? Meinst net?“
„Ja, Vater! Und ’s Brunnenwasser kommt von unt’ auf.“
„Ja! Von unt’ auf wenn’s käm’, das wär halt ein Glück!“
Der Simmerauer pumpte, bis der Trog überlief – als könnte er sich an dem vielen Wasser gar nicht satt sehen.
Eins nach dem anderen stellte die Füße auf den Trogrand und schöpfte Wasser mit der Hand. Mathes löschte die niedergebrannten Fackeln aus; vor der Hausthür blieb er stehen und blickte über das mondbeglänzte Gehänge hinunter ins Thal; dort unten hatte sich der Nebel geteilt und war in die Seitenthäler auseinandergeflossen, so daß man die höher liegenden Häuser des Dorfes matt unterscheiden konnte.
„Die da drunt’ haben’s gut,“ sagte Mathes zu seiner Schwester, als sie vom Brunnen kam, „überall schlafen s’ schon und alle Häuser sind finster.“ Nach einer stummen Weile fügte er mit versunkener Stimme bei: „Bloß im Purtschellerhof brennt noch ein Lichtl.“ Er blickte zu Vroni auf und fragte zögernd: „Meinst, ihr Kindl is krank?“
„Gott soll’s verhüten!“ Die Schwester legte ihm den Arm um die Schulter und schob ihn zur Thüre. „Aber denk an uns, Mathes … denk net an andre!“
„Ja, hast recht!“ Er strich mit der Hand über die Stirne und trat in den Flur. „Aber Dir, Vronerl, könnt’ ich heut’ auch was sagen!“
„Was denn?“
„Seit der Schorschl da g’wesen is, studierst mir z’viel!“
Sie schüttelte den Kopf und sagte ruhig: „Da hast Dich verschaut, Mathes! An so ein’ denken, wie der Schorschl … Gott bewahr’ mich! Da laß ich mir’s Elend von unserer armen Zenz zur Warnung sein!“ Sie bekreuzte sich, als sie den Namen der verstorbenen Schwester nannte. „Weißt, so g’meint hab’ ich bloß: es wär’ doch eigentlich schad’ um den Schorschl!“
„Ja, um den is schad’! So ein lebfrischer Mensch, recht wie zur Arbeit g’wachsen!“
Ein dumpfes Rollen, wie der schwache Wiederhall eines fernen Donners, klang von der Höhe des Berges herunter.
Da sprangen sie alle beide vor die Thür hinaus und lauschten. Auch der Simmerauer, der noch beim Brunnen stand, richtete sich auf und spähte in die Höhe.
Kein Laut mehr, alles war still dort oben.
„Es wird halt wieder wo ein Brocken niederbrochen sein!“ sagte Michel; er kam zur Thüre, und hier standen sie noch eine Weile und horchten; dann schob der Alte seine Kinder ins Haus. „Geh’n wir halt ’nein unter’s Dach! Der liebe Hergott soll uns b’hüten und soll uns das bißl müden Schlaf vergunnen!“
Die Stube, welche sie betraten, war so niedrig, daß sie mit den Köpfen fast an die Decke stießen. Mutter Katherl, welche schon die geblümte Nachtjacke trug und das Schlaftuch um den Kopf gewickelt hatte, stand am Tisch und zog mit einer Haarnadel den verkohlten Docht aus dem Schnäbelchen der Oellampe, deren Flämmlein ein mattes Zwielicht über das bescheidene Gerät der Stube warf.
Gegessen hatten sie bereits, vor ein paar Stunden schon, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Nur beten mußten sie noch. Michel und Mathes zur Rechten vom Herrgottswinkel, Mutter Katherl und Vroni zur Linken – genau so, wie Männer und Frauen in der Kirche ihre getrennten Plätze haben – so knieten sie zu beiden Seiten des Tisches nieder. Mit lauten Stimmen sprachen sie den Mariensegen und die Litanei zu allen Heiligen, bei welcher Mutter Katherl vorbetete. Nach dem letzen Vaterunser, als die anderen schon das Kreuz machen wollten, sagte Michel: „Bleibts noch ein bißl, Kinder! In b’sonderer Zeit muß der Christ was B’sonders haben für sein’ guten Herrn!“ … Und er fuhr fort zu beten: „Du lieber, gnädiger Vater droben, der sein’ einzigen Sohn für uns hat bluten lassen, schau, ich thu Dich bitten, denk’ ein bißl an uns arme Leut’ und nimm halt unser Häusl in Dein’ festen Schutz! Bist ja so ein guter Mann! ’s unsinnige Vieh und alle Pflanzerln haltst in Deiner sicheren Hut … schau, da kannst doch auch Dein’ alten Michel net ganz verlassen! Und weil ich schon den festen Glauben hab’, daß ein guter Christenmensch bei Dir droben kein’ Fehlspruch macht, so sag’ ich Dir halt im voraus gleich Vergeltsgott für alles, ja! Im Namen Gott des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!“
„Amen!“ sagten die anderen.
Der alte Simmerauer erhob sich und streckte die steifen Knie und den gekrümmten Rücken. „So, Kinder, jetzt kann man sich schlafen legen in aller Ruh’ … er hat mich schon verstanden, mein’ ich!“
Mathes ging zum Ofen, breitete eine Kotze über die Holzbank und ballte einen Wettermantel für sich zum Kissen zusammen. Wie er war, legte er sich nieder.
Inzwischen entzündete Vroni an dem Flämmlein der Oellampe einen Kienspan. „Gut’ Nacht, Vater und Mutter!“ sagte sie und verließ die Stube.
Als die Mutter sich mit dem Lämpchen zur Kammerthür wandte und hinter sich den Schritt ihres Mannes nicht hörte, blickte sie über die Schulter. „Michel? Warum kommst denn net?“
„Grad’ is mir g’wesen, als hätt’ einer durchs Fenster ’rein g’schaut zu uns in d’ Stuben!“
„Aber geh! Wer sollt’ denn draußen sein?“
„Ja, hast recht! Muß mich doch wohl der Mondschein ’täuscht haben!“
Sie traten in die Kammer.
Doch nicht der Mondschein hatte den Simmerauer getäuscht – seine Augen hatten recht gesehen. Draußen stand der Daxen-Schorschl mit pochendem Herzen an die Mauer gedrückt. Als er sah, daß die Stube finster wurde, glitt er lautlos zum nächsten Fenster, das sich matt erhellte. Vorsichtig spähte er durch die Scheiben. Aber das war nicht das Stübchen, das er suchte – es war die Kammer der beiden Alten: ein kleiner, ärmlicher Raum, in welchem zwei Betten nebeneinander standen; da mußten der Simmerauer und sein Weib ein unbequemes Liegen haben, denn zwischen ihren Plätzen war aus blauen Kissen ein Nest für die beiden Enkelkinder gerichtet, welche eng aneinander geschmiegt in ruhigem Schlummer lagen, mit roten Wangen und zerzausten Haaren.
Mutter Katherl streifte die Pantoffel von den Füßen und blies die Lampe aus. „Gut’ Nacht halt, lieber Michel!“ hörte Schorschl sie sagen und der Simmerauer antwortete im Dunkel: „Gut’ Nacht, mein Katherl, mein gut’s! Jetzt schlaf’ halt ein und thu Dich net sorgen!“ Ein gepreßter Seufzer, ein mattes Aechzen der Bettstellen – dann war’s still in der Kammer.
[451] Schorschl trat zurück und spähte nach der Dachstube; aber auch dort oben war alles finster. Da sah er, daß hinter dem Haus ein rötlicher Schimmer über das halb entlaubte Gezweig der Apfelbäume fiel. Hurtig sprang er um die Ecke und gewahrte ein kleines, von zuckendem Lichtschimmer erhelltes Fenster, über dessen roten Vorhang sich der Schattenriß eines Mädchenkopfes mit gelösten Zöpfen bewegte. „Jetzt bin ich aber recht dran!“ meinte Schorschl. Im gleichen Augenblick erlosch das Licht und schwarz lag das Fensterchen inmitten der vom Mond beschienenen Mauer.
Schorschl drückte sich in den Schatten eines Obstbaumes, und an den Stamm gelehnt, mit den Händen in den Hosentaschen – denn die Nacht begann kühl zu werden – stand er in geduldigem Warten. Von den Almen herunter klang das dumpfe Röhren eines starken Hirsches; doch Schorschl hatte kein Ohr für diesen Laut. Er verwandte keinen Blick von dem schwarzen Fensterchen und that nur manchmal einen brunnentiefen Atemzug. Als ihm so eine Stunde vergangen war, trat er aus dem Schatten des Baumes hervor und murmelte: „Jetzt, mein’ ich, schlafen s’ aber doch schon!“ Lautlos schlich er auf das Fenster zu, bekreuzte sich, als hätte er den Kampf mit einem gefährlichen Gespenste aufzunehmen, und pochte mit dem Fingerknöchel leis an die Scheibe.
Ein paarmal mußte er dieses Pochen wiederholen, ehe sich im Stübchen ein Geräusch vernehmen ließ.
„Was is denn? Wer klopft denn da draußen?“ fragte unwillig eine schlaftrunkene Stimme.
Schorschl drückte den Fensterrahmen ein wenig aus den Fugen und flüsterte in den Spalt: „Geh, sei so gut, mach’ ein bißl auf!“
„Was willst denn?“
„Geh, sei g’scheit, mach’ auf … ein bißl was Wichtig’s z’reden hätt’ ich halt mit Dir!“
„Jetzt in der Nacht? Wer bist denn?“
„Wer soll ich denn sein? Ich bin’s halt! Ich!“
Vroni mußte ihn an der Stimme erkannt haben.
„… Du?“ Das klang wie ein ellenlanges Wort.
„Ja! Ich! Geh, mach’ auf!“
Eine Weile war lautlose Stille in der Kammer, als ginge Vroni mit sich zu Rat, ob sie öffnen sollte oder nicht. Dann hörte Schorschl den raschen Tritt eines bloßen Fußes – und das kleine Fenster wurde aufgethan, doch kaum zur Hälfte und mit deutlich merkbarer Vorsicht.
„Was willst?“
Diese Frage klang so wenig freundlich, daß dem Daxen-Schorschl im ersten Augenblick die Sprache versagte. Er streckte den Hals und guckte sich fast die Augen aus dem Kopf; doch zwischen den mondbeglänzten, innen vom roten Vorhang verhüllten Scheiben sah er durch die schmale Spalte nur ein finsteres Stücklein der Kammer; wohl versuchte er das Fenster ein wenig weiter aufzudrücken, doch drinnen stemmte sich eine kräftige Hand gegen den Rahmen, und Vronis unwillige Stimme klang: „Sei net so keck, Du! Sondern sag’, was D’willst! Aber flink!“
Schorschl seufzte. „Schau, ich muß Dich was fragen!“
„Was?“
Nun kam die Frage, scheu und zögernd: „Is ’s wahr, Vroni .. auf Ehr’ und G’wissen … bin ich wirklich ein Lump?“
„Ja! Und was für einer! … Gut’ Nacht!“
Das Fenster wurde zugeschlagen, der Riegel knirschte, dann war’s wieder still in der Kammer.
Schorschl rückte das Hütlein in die Stirn, kraute sich hinter den Ohren, blickte melancholisch vor sich hin und murmelte: „Jetzt muß ich’s aber doch glauben!“ Lang’ währte diese gedrückte Ergebung in sein Urteil nicht; als wäre ihm plötzlich das Blut siedheiß zu Kopf gestiegen, richtete er sich auf und hob die geballte Faust gegen das Fenster.
„Wart’, Du! Dir will ich’s zeigen, ob ich einer bin! Du sollst Dich ’täuscht haben im Schorschl!“
Da klang hinter der Mauerecke, aus der Schlafstube der beiden Alten, die erregte Stimme des Simmerauer: „Um Herrgottswillen, was is denn da draußen?“
Schorschl hätte in seiner Wut mit dem Teufel gerauft …. aber Vronis Vater, das war für ihn eine stärkere Nummer! Erschrocken packte er seinen Hut, schwang sich über die Böschung hinauf und rannte querein in die Wiesen. Erst in der Nähe des Gaßner-Häuschens, das mit seinen verschobenen Balken und Mauern traurig und verlassen stand, hielt er inne, um sich zu verschnaufen.
„Jetzt muß ich’s glauben! Ja!“
Er stülpte den Joppenkragen auf, bohrte die Fäuste in die Taschen und trollte mit kleinen Schritten über den Berghang hinunter. Auf halbem Wege merkte er, daß er irgendwo seinen Bergstock gelassen hatte. Einen Augenblick besann er sich, ob er umkehren sollte.
„Ah was! Soll der auch noch hin sein!“
Seufzend ging er weiter.
„Aber der Stecken, der soll ’s Letzte g’wesen sein, was mir aus der Hand rinnt! Von jetzt ab wird zug’halten! Aber fest!“ Er blickte über die Schulter gegen die Simmerau hinauf. „Wart’, Du!“ Und trollte weiter.
Als er – nicht auf der Straße, sondern auf geradem Weg durch Wald und Gärten – das Dorf erreichte, schlug es elf Uhr. Der Heimweg führte ihn am Wirtshaus vorüber, an welchem die beiden Fenster des Extrastübchens noch beleuchtet waren – und nach alter Gewohnheit wollte er eintreten. Doch vor der Thüre blieb er stehen und schüttelte den Kopf.
„Nix da! Heut’ noch wird ang’fangt mit der Sollididätt!“
Aber ihn hungerte und die Kehle war ihm trocken – seit früh um drei Uhr, seit er sich aufgemacht hatte, um für den Purtscheller den starken Hirsch aufzuspüren, hatte er keinen Trunk und Bissen genossen.
„Kein Lump nimmer! Ja! Aber verhungern und verdursten braucht man sich deswegen doch net lassen!“
Zögernd griff er in alle Taschen, als wüßte er nicht, daß er keinen blanken Knopf bei sich trug.
„Gott sei Dank! Jetzt muß ich heim! Pumpen thun s’ mir eh’ nimmer gern da drin!“
Lachend, als hätte er seine Freude daran, daß die leeren Taschen seinen guten Vorsätzen so kameradschaftlich zu Hilfe kamen, wanderte er die Straße entlang. Da hörte er von einer heiser gröhlenden Stimme ein Schnaderhüpfl singen und erkannte den Bierbaß seines Gesellen.
„Natürlich! Der hat schon wieder ein’!“
Im Hof der Schmiede holte er den Betrunkenen ein, der bedenklich an der Mauer hin und her schwankte und ein Fenster für die Thüre zu nehmen schien.
„Da hat der Zimmermann’s Loch g’macht!“ sagte Schorschl, stieß die Thür auf und versetzte dem Gesellen einen Puff, daß er in den Hausflur stolperte. „Du bist mir ein schöner Tagdieb!“
„Ich mach’s halt …. Dir nach ….“ lallte der Betrunkene, „wie der Meister …. so der G’sell!“
Schorschl hob die Hand auf – aber er ließ sie wieder sinken und sagte ernst: „Vergelt’s Gott, Steffel! Das will ich mir merken!“ Und als er sah, daß der Gesell im Dunkel mit den Händen auf den Dielen umhertappte, fragte er: „Was suchst denn?“
„Mein’ …. mein’ Hut ….“
„Leg’ Dich nieder und schlaf’ Dein’ Rausch aus! Morgen geht’s an d’ Arbeit! Den Hut such’ ich Dir schon!“
Schorschl suchte im Flur und suchte im Hof, aber der Hut wollte sich nicht finden lassen. Im Mondschein nach allen Seiten spähend, ging er die Straße zurück bis zum Wirtshaus.
„Wahrscheinlich hat er ihn drin liegen lassen?“ dachte er, schüttelte aber gleich den Kopf. „Na! ’Neingeh’n thu’ ich net! Ich kenn’ mich! Da komm’ ich nimmer fort! Lieber schenk’ ich ihm von mir ein’ Hut!“ Er nahm seinen mürben Filz herunter und betrachtete ihn beim Lichtschein, der aus dem Fenster fiel. „Den nimmt er net …. da muß ich ihm schon mein’ neuen schenken!“ Mit diesem Entschlusse wollte er den Heimweg antreten, aber da erwachte in ihm die Neugier. „Wissen möcht’ ich doch, wer so spät noch da drin hockt.“ Er gab sich einen Schwung, bekam mit den Händen das eiserne Fenstergitter zu fassen und zog sich an der Mauer in die Höhe ….
In der von der Hängelampe erleuchteten und von dickem Cigarrenrauch erfüllten Wirtsstube saß Purtscheller im Kartenspiel mit einem Viehhändler und einem Commis Voyageur um den runden Tisch; hinter ihm stand der Wirt und sah ihm über die Schulter in das Spiel, während die Kellnerin in der Ofenecke ihr Schläfchen machte.
Die Gesichter der drei Gäste waren von der Wirkung des Tirolers und von der Erregung des Hazardspiels, das sie trieben,
[452][453] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [454] heiß gerötet. Der Commis, welcher die Bank legte, und der Viehhändler waren mit schweigendem Ernst bei der Sache – nur Purtscheller schwatzte und räsonnierte über den Gang des Spiels, und dennoch schien er zerstreut und mit seinen Gedanken wo anders. Eben hatte er neue Blätter aufgenommen, aber erst die Bemerkung des Wirtes: „Ein nobel’s Blatt!“, schien ihn aufmerksam zu machen, daß die Karten diesmal gut für ihn gefallen waren.
Da klirrte ein Schlag an der Fensterscheibe, man hörte ein unterdrücktes Lachen und einen Plumps auf der Straße draußen. Scheltend öffnete der Wirt das Fenster, doch er sah nur die leere, mondhelle Straße.
„Wie nur ein Mensch Freud’ d’ran haben kann, solche Kindereien z’machen.“
„Das is kein anderer g’wesen als der Daxen-Schorschl!“ sagte die Kellnerin, die aus ihrem Schläfchen aufgefahren war.
„Der Schorschl? Ah na! Der wär’ schon ’rein ’gangen!“
Die Spieler hatten des Vorfalls nicht geachtet, und da Purtscheller noch immer verdrießlich in die Karten guckte, fragte der Bankhalter: „Wie viel?“
„Hab’ ich’s noch net g’sagt? Die Bank gilt’s: zwei König’ und ein Aß in drei Farben hab’ ich …“ Purtscheller warf die Karten offen auf den Tisch, „da halt’ ich Bank, und wenn’s um ein G’schloß geht!“
Die Karte wurde umgeschlagen – es war die Sieben der vierten Farbe – und Purtscheller hatte verloren.
„Jesus Maria!“ stammelte der Wirt erschrocken.
Doch Purtscheller erhob sich ruhig, und kaum merklich vertiefte sich die Röte seines Gesichtes. „Jetzt mag ich nimmer! Heut’ hab’ ich kein Glück … und ich hätt’ eh’ schon lang heim sollen! Sei so gut, Wirt, und zahl’ aus, ich hab’ net so viel bei mir!“ Sein Verlust überstieg dreihundert Mark – aber wer Purtscheller heißt, hat im Wirtshaus ein leichtes Borgen, und der Wirt sagt ihm noch ein Vergeltsgott für die Ehre.
Die beiden Spieler saßen schweigend hinter dem Tisch und lächelten, während Purtscheller seinen Hut vom Nagel nahm.
„Gut’ Nacht, meine Herr’n!“
Draußen auf der Haustreppe fragte er den Wirt, der ihn begleitet hatte: „Is der Rufel[1] heut net da?“
„Der Jud’?“
„Ja!“
„Heut’ net. Aber morgen oder übermorgen kommt er g’wiß.“
„So sag’ ihm, er soll ein’ Sprung zu mir ’nüber machen.“
„Haben S’ was Alt’s für ihn?“
„Der Purtscheller? Und ’s alte G’wand verkaufen? Na! So was verschenk’ ich! … Bloß ein’ Auskunft möcht’ ich.“
„So so!“ Der Wirt blickte zum mondhellen Himmel auf und streckte die Hand, wie um die Luft zu fühlen. „Frisch macht’s! Mir scheint, es zieht ein bißl an heut’ nacht. Wär’ ein Glück für die da droben, wenn der Frost bald einfallen möcht’!“
„Ja! Wär’ ein Glück! Gut’ Nacht, Wirt!“
„Gut’ Nacht, Herr Purtscheller! Ein andersmal die Ehr’!“
Es schlug Mitternacht. Dann lag wieder Stille über dem schlummernden Dorf; nur das Bergwasser rauschte im tieferen Thal und in einem der höher gelegenen Gehöfte sang ein Hund dem Vollmond sein jammervolles Ständchen.
Je näher Purtscheller seinem Anwesen kam, desto rascher wurde sein Schritt. Manchmal seufzte er schwer und spähte dabei dem Lichtschein entgegen, der im Oberstock seines Hauses aus einem Fenster fiel. Und als er den Garten erreichte, blieb er vor der Treppe stehen und sprach vor sich hin wie ein Held, der sich selbst überwunden: „Und wenn ich zehnmal der Purtscheller bin … das muß ich ihr abbitten, ja! Das is grob g’wesen!“
Lautlos öffnete er die Hausthür, streifte im Flur die Schuhe von den Füßen und schlich auf den Socken über die Treppe hinauf – um sein Kind nicht aus dem besten Schlaf zu stören.
Im Wohnzimmer brannte noch die Hängelampe; Karlin’ saß hinter dem Tisch und hielt das Gesicht in den Armen vergraben. Als die Thür ging, fuhr sie erschrocken auf.
„Grüß Dich Gott, Linerl!“ sagte Purtscheller leise und legte den Hut ab.
Hastig schob sich die junge Frau aus der Bank hervor, und damit er nicht sehen möchte, wie verweint ihre Augen waren, stellte sie sich mit dem Rücken gegen die Lampe.
Zögernd kam er auf sie zugegangen, bot ihr die Hand, und dabei wurden ihm vor Rührung die Augen naß.
„Linerl? … Kannst mir verzeihen?“
Sie vermochte nicht zu sprechen; aber sie nickte und gab ihm die Hand.
Da nahm er sie in seine Arme, zog sie zur Bank und auf seinen Schoß, streichelte ihr die Wangen und war so herzlich zu ihr, daß sie an den Ernst seiner Reue glauben mußte. Zitternd preßte sie sich an seine Brust, und das Gesicht nur halb von seiner Schulter erhebend, sagte sie mit erstickter Stimme: „Gelt, Toni, so was thust mir nimmer an? … Schau, so was könnt’ mir ’s Herz versteinern! … Ich bitt’ Dich, bitt’ Dich, thu mir ’s nimmer!“
„Aber geh, Du Narrerl, Du lieb’s!“ Auch in seiner Stimme waren Thränen. „Es is mir ja selber, ich kann Dir’s gar net sagen, wie! Aber schau, es is ja doch bloß im gachen Jähzorn g’schehen! Gern hab’ ich Dich ja doch! … Freilich, d’ Hauptschuld hab’ ich schon selber. So die erste Sorg’ hat mich halt ganz rebellisch g’macht! Der unglückselige Brief halt! … Aber freilich, ich hätt’ Dir ihn lesen lassen sollen. Eigentlich is ja gar nix dran! Da schau …“ Er zog das zerknüllte Blatt aus der Tasche, „so lies halt!“
Sie wehrte erschrocken den Brief von sich ab.
Doch er sagte: „Aber geh’, so lies doch! Jetzt will ich’s selber haben! Mann und Frau sollen doch nix g’heim haben voreinander!“
Während er sie fester umschlang und unter unsicherem Lächeln ihr Haar streichelte, fing sie zu lesen an. Immer heftiger zitterten ihre Hände; nun ließ sie das Blatt sinken und sah mit entsetzten Augen zu ihrem Manne auf.
„Toni! Um Gottswillen …“ Sie konnte nicht weitersprechen.
„So geh, Du Dschapperl! Ueber so was brauchst Dir doch kein Schrecken z’ machen!“
„Aber Toni! Es is ja ’s erste Wörtl, das ich hör’ davon! … Hypotheken auf’m Purtschellerhof! … Jesus Maria! … Toni!“
Er wurde verlegen und schob sie von seinem Schoß auf die Bank. „No ja, das Geld liegt halt noch am Hof von Vaters Zeiten her!“
„Aber da hättst mir doch lang schon was g’sagt davon!“
Purtscheller zögerte mit der Antwort. „No mein, ich hätt’ Dir halt gern die Sorg’ erspart, und drum hab’ ich Dir’s verschwiegen.“
Scheu blickte Karlin’ zu ihm auf; eine angstvolle Frage schien auf ihren Lippen zu liegen – aber sie fürchtete seinen Jähzorn und hatte nicht den Mut, ihm das ins Gesicht zu sagen.
Er vermied ihren Blick und zuckte mit gezwungenem Lachen die Achseln. „Weißt, ich hab’ mir halt ’denkt, ich könnt’ die G’schicht schön langsam abzahlen. Und die letzten Jahr’ her hab’ ich selber ein bißl schlechte Zeiten g’habt! Aber von jetzt an pack’ ich’s halt ein bißl strammer an … da bin ich in zwei, drei Jahr’ mit dem Bettel fertig!“
„Bettel? … Toni? … An die fünfzigtausend Mark?“
„Und zweimalhunderttausend is er wert, mein Hof! Da wird’s ja doch so weit net fehlen!“
Purtscheller begann ungeduldig zu werden doch als seine Frau das bemerkte und deshalb verschüchtert schwieg, wurde er wieder ruhig. Er stand auf und ging ein paarmal durch die Stube; dann sagte er: „Mein Wald droben, der muß g’schlagen werden, ’bald der Winter einfallt … sonst verschluckt ihn im Frühjahr der Berg! Und da schlag’ ich meine vier, fünf Tausend Klafter ’raus wie nix. Und an Neujahr zahl’ ich dem Schloßbräu den Schmarren hin auf’n Tisch! Blank! Und b’halt’ noch was übrig für mich!“ Er lachte im Vorgefühl der stolzen Genugthuung, die ihm dieses glatte, klingende Geschäft bereiten würde. „Der soll Augen machen! Er hat mir die Hypothek eh’ nur aus Bosheit ’kündigt, weil er mir neidisch is um mein’ Bräunl! Jetzt hat er sich zwei neue Traber eing’handelt … aber die fürcht’ ich net, die fahr’ ich ihm nieder wie nix! Gleich morgen fang’ ich mit’m Bräunl ’s Tränieren an! Der soll Augen machen!“ Er rieb sich die Hände und lachte wieder, als wäre jede Sorge von ihm abgestreift.
Karlin’ saß wortlos, das Gesicht so weiß wie die Wand.
Lachend trat Purtscheller auf sie zu und faßte ihr Kinn.
„Geh’, Du Sorgenhaferl!“ Er setzte sich an ihre Seite und umschlang sie. „Schau, lassen wir jetzt die ganze dumme G’schicht’ in Ruh’ und denken wir lieber dran, daß wir zwei wieder gut sind [455] miteinander! … Und weil ich in der Hitz’ heut gar so grob g’wesen bin und weil mir so schön verziehen hast … das muß ich Dir doch vergelten! Geh, Linerl, sag’ mir, mit was ich Dir eine Freud’ machen könnt’? Hast kein’ Wunsch?“
Sie schüttelte stumm den Kopf.
„Aber geh, so red’ doch! Machst mir selber eine Freud’ damit!“
Da sah sie ernst zu ihm auf.
„No also? Was soll ich Dir geben?“
„Dein’ Erlaubnis, daß ich in der Wirtschaft d’Arbeit überschau’ und zugreif, wo’s nötig is!“ Sie vermochte kaum zu sprechen.
„No ja, meinetwegen … wenn ich net daheim bin!“
„Und wenn’s was z’reden giebt, ich bitt’ Dich, Toni, so hör’ mich an in Geduld und Ruh’! Schau, Dein’ Frau is ja doch Dein bester Freund … und ich rat’ Dir doch g’wiß in nix zum Schlechten!“
„Ja, ja, ja, das weiß ich schon! … Aber jetzt mußt mir noch was anders sagen! Was Dir Freud’ macht! Magst ein seidnes Kleid? Oder ein Armband mit Hirschgranln? Meine schönsten gieb ich her dazu! Oder magst ein altdeutsch Kupferg’schirr in Dein Kucherl?“ So zählte Purtscheller noch eine lange Reihe von Dingen auf, die ihm für eine Frau begehrenswert erschienen.
Aber Karlin’ schüttelte zu allem still den Kopf, so daß er schließlich fast unwillig wurde.
„Linerl! Wenn mir jetzt net auf der Stell’ was sagst, mit was ich Dir eine Freud’ machen kann … meiner Seel’, so bin ich Dir bös!“
Da nahm sie seine Hand.
„Toni?“ Matte Röte glitt über ihre Wangen.
„No also, was?“
„Darf ich mir alles wünschen?“
„Alles!“
„Und nimmst mir ein offenes Wörtl net übel?“
„Auf Ehr’ und Seligkeit … alles kannst sagen!“
„So thu mir den G’fallen … net mir … na, Toni, Dir selber thu den G’fallen und schick die Zäzil fort von unserm Hof!“
„Aber geh! Wie kommst mir denn jetzt mit so was!“ Geärgert sprang er auf und rief über die Schulter zurück: „Traust mir vielleicht net?“
„Ja, Toni, ich trau’ Dir blind!“ sagte Karlin’ ruhig und erhob sich. „Wie könnt’ ich Deine Frau sein und glauben, daß Du net einmal Respekt hättst vorm eigenen Haus! Aber schau, Toni, wenn Du so Deine Spassetteln mit die Dienstboten machst … und gar nix denkst dabei … aber schau, da merkst halt oft net auf, was Dir über d’Lippen kommt. Aber d’Leut haben Ohren . . und sie reden schon drüber!“ Es zuckte um ihre Lippen. „Dir ins G’sicht sagt’s freilich keiner … aber mir tragt man’s zu in aller Freundschaft … und das ung’schickte Madl, statt daß sie sich wehren that dagegen, hat noch ihr Freud’ an dem G’red’ … und lacht, so oft s’ an mir vorbeigeht.“
Als Karlin’ dieses Letzte sagte, unterbrach Purtscheller seine Wanderung durch die Stube und sah seiner Frau ins Gesicht. In einem Gefühl des Unbehagens bewegte er die Schultern unter dem Sammetflaus und brummte verdrossen: „No also, meinetwegen … damit ich ein’ Fried’ hab’ … morgen sag’ ich der Zäzil auf! Soll sich um ein’ anderen Platz umschauen! … Und Du geh schlafen! Gut’ Nacht! … Schon wieder halb eins vorbei! In keiner Nacht kommt man zu seiner Ruh’!“ Er ging auf das Ledersofa zu und warf sich nieder, daß das Möbel in allen Fugen krachte.
Mit zitternden Lippen stand Karlin’ am Tisch, regungslos, den von Thränen verschleierten Blick auf ihren Mann geheftet, als müßte sie noch ein freundliches Wort von ihm zu hören bekommen. Aber sie wartete vergebens.
„Gut’ Nacht, Toni!“ lagte sie leis und ging zur Thür. Auf der Schwelle wandte sie das Gesicht. „Geh, ich bitt’ Dich, bleib’ nimmer gar z’lang! Den ganzen Tag am Berg droben … es muß Dich ja müd’ g’macht haben!“
„In Ruh’ laß mich!“ murrte er und drehte das Gesicht gegen die Wand. „Ich geh’ schlafen, wenn’s mir paßt!“
Karlin’ verließ die Stube.
Eine Weile lag Purtscheller, ohne sich zu regen. Dann stieß er mit dem Ellbogen das Polster zurück.
„So verdirbt s’ mir aber jedesmal den besten Hamur! Um den Finger hätt’ s’ mich wickeln können, wie ich heim’kommen bin! Und jetzt …“
Er seufzte, streckte sich bequemer und blickte verdrossen zur Stubendecke auf. Aber die unmutigen Gedanken, die ihn erfüllten, schienen nicht lange anzuhalten. Er begann zu lächeln. Denn im Geiste malte er sich das Bild des nächsten Trabrennens aus: ein milder, schöner Tag im Vorfrühling; die Rennbahn trocken und gut; rings um die Barrieren Tausende von Menschen, Kopf an Kopf gedrängt; sie schreien „Hoch!“ und „Bravo!“ und all ihre Blicke folgen dem Ersten, der keck und flott auf dem leicht dahinfliegenden Gig schaukelt und den mit Schaum bedeckten Braunen sicher durch das Ziel führt, während der Schloßbräu mit seinem amerikanischen Halbblut weit hinter ihm zurückbleibt …
Bei diesen wohligen Gedanken überkam den Purtscheller, ohne daß er es merkte, ein gesunder Schlaf. Er schnarchte mit offenem Munde.
Gleichmäßig zählte die Wanduhr mit ihrem Ticktackschlag die fliehenden Sekunden, und in der Hängelampe begann der Docht zu rußen.
Die Perle der Antillen.
Der Befreiungskampf, welchen die eingeborene Bevölkerung Cubas mit zäher Kraft und wachsendem Erfolg gegen die Vorherrschaft der Spanier auf der Insel führt, hat neuerdings durch die Stellungnahme der Vereinigten Staaten von Nordamerika an allgemeinem politischen Interesse gewonnen. Das Verhältnis der letzteren zu Spanien ist infolge dieses Eingreifens ein gespanntes geworden, und mit Teilnahme verfolgt man in Europa die Entwicklung des Konfliktes, der sich auf das Schicksal einer Insel bezieht, die als Spenderin des besten Tabaks der Welt ohnehin in Europa besonderer Beachtung sich erfreut. Ein Charakterbild derselben dürfte daher gerade jetzt vielen Lesern willkommen sein.
Als der Entdecker der Neuen Welt, Columbus, auf seiner ersten Reise im Oktober 1492 zu der großen Antilleninsel Cuba gelangte, die er für eine Halbinsel Ostasiens hielt, soll er geäußert haben, daß er dieses Land für das schönste halte, das die Sonne bescheine, das menschliche Augen je erblickt haben, daß Cubanacan, wie die Eingeborenen es nannten, das irdische Paradies sei.
Dieses Urteil ist wohl etwas überschwenglich, und hätte Columbus mehr von der Neuen Welt gesehen, die er entdeckte, wäre es ihm vergönnt gewesen, andere Teile der Erde kennenzulernen, die uns heute leicht zugänglich sind, so hätte er vielleicht seine Meinung geändert; immerhin ist es nicht zweifelhaft, daß Cuba zu den schönsten Ländern der Erde gehört und in manchen Teilen wirklich paradiesisch ist. Gerade diese letzteren aber sind schwer zu erreichen, befinden sich in den Gebirgsgegenden, von denen selbst jetzt noch große Strecken völlig unerforscht, von europäischen Reisenden nie betreten sind. Dieser letztere Umstand mag bei der scheinbaren Kleinheit Cubas überraschen, denn, da die Maßstäbe der Karten unserer Atlanten sehr ungleich sind, so sind wir Europäer über die Größenverhältnisse der fernen Außenwelt häufig in völlig irrigen Vorstellungen befangen, die erst durch genauen Vergleich und durch Heranziehung statistischer Daten beseitigt werden können. Die scheinbar so kleine schmale eidechsenförmige Antilleninsel Cuba, von der wir uns nur schwer vorstellen können, daß sie in irgend einem Teile noch nicht völlig bekannt sei, erstreckt sich in Wahrheit über elf Längengrade, mißt vom Kap Antonio bis zum Kap Maifi an 1200 km Länge, hat zusammen mit der Nebeninsel de Pinos ein Areal von beinahe 119000 qkm und ist somit so groß wie ganz Süddeutschland oder wie ein Viertel des spanischen Mutterlandes. Nun ist das Eiland im Vergleich zu seiner außerordentlichen Länge zwar sehr schmal, denn seine Breite beträgt an einigen zu Landengen eingeschnürten [456] Stellen nicht mehr als 40 km, an den am meisten ausgedehnten nicht mehr als 120 km, so daß kein Ort von dem Meere weiter als höchstens 60 km entfernt ist, aber das Innere entbehrt guter Verkehrswege und ist zum Teil von undurchdringlichem tropischen Urwald bedeckt, der das Reisen erschwert. Auch die Bevölkerung ist, obgleich sie sich in den letzten vier Jahrzehnten außerordentlich vermehrt hat und zur Zeit auf 1600000 Seelen zu beziffern ist, im Verhältnis zum Areal doch sehr klein. Es sind überwiegend nur Kaufleute und Schiffer, die das Land besuchen und gelegentlich über die Küstenstriche hinaus Touren ins Innere unternehmen; die Herren des Landes, die Spanier, sind ohnehin bequem und ziemlich gleichgültig gegen landschaftliche Schönheiten, erschlaffen überdies rasch unter dem Einfluß des Tropenklimas, neigen auch wenig zu anstrengenden Forschungsreisen. Fremde Geographen aber sind im Laufe dieses Jahrhunderts kaum nach Cuba gekommen, weil die häufigen Aufstände und die Unsicherheit in Friedenszeiten nicht gerade zu langem Aufenthalt daselbst anregten. So ist es gekommen, daß diese herrliche Insel uns heute vielleicht gerade in ihren schönsten Teilen noch unbekannt ist. Das in Kultur genommene Land dürfte kaum zwei Drittel des Gesamtareals umfassen, abgesehen von dem unfruchtbaren Boden und den ausgedehnten Sümpfen und Lagunen, die sich tief ins Innere erstrecken und anderseits die Seeküste weithin schwer bestimmbar machen.
Der fruchtbare Boden, das feuchte gleichmäßige Seeklima sind unschätzbare Voraussetzungen nicht nur für die Ergiebigkeit der Insel, sondern auch für die Schönheit und Reichhaltigkeit der Flora, somit der landschaftlichen Reize Cubas. Mit Ausnahme des weitausgedehnten breiten östlichen Teiles der Insel, der aus Porphyr, Basalt, selbst Granit und anderen festen Gesteinmassen besteht und reich an metallischen Bodenschätzen, namentlich an Kupfer, ist, bildet Korallenkalk in den verschiedensten Graden der Zersetzung den Hauptbestandteil des Bodens der übrigen Insel, und zahlreiche Erdbeben haben dazu beigetragen, den grotten- und höhlenreichen Untergrund für die Kulturarbeit des Menschen geeigneter zu machen. Gleichzeitig hat die ungemein große Gewalt der tropischen Atmosphärilien, der Tropenregen, der Stürme und Orkane, der starken Temperaturwechsel, die mit diesen Erscheinungen verbunden sind, ihre zersetzende Wirkung von oben her ausgeübt und eine Humusschicht gebildet, in der so ziemlich alle Pflanzen der subtropischen und der tropischen Zonen in vorzüglichster Güte gedeihen.
Die Fruchtbarkeit des Bodens ist so groß, die Natur ist so verschwenderisch, daß es kaum der nachhelfenden Hand des Menschen und der Anwendung kräftiger Dungmittel bedarf, um reichlichen Bodenertrag zu erzielen. 3350 Pflanzenarten, darunter 30 verschiedene Gattungen von Palmen, hat man bisher auf Cuba gezählt, und ein gründliches Studium der dortigen Flora würde diese Masse wahrscheinlich noch beträchtlich steigern.
Fehlt es der Insel an schiffbaren Flüssen, denn nur der Rio Cauto im Osten ist bis tief in das Innere hinein mit Kähnen befahrbar, so ist sie doch ungemein wasserreich und dieser Umstand erhöht ihre Fruchtbarkeit wie ihre Schönheit, während er gleichzeitig freilich den Verkehr beträchtlich erschwert. Denn die meisten der zahllosen Bäche und Flüsse Cubas, welche die durch den höhlenreichen Boden bedingte Eigenart besitzen, daß sie oft auf weite Strecken von der Oberfläche verschwinden und zuweilen überhaupt nicht mehr zum Vorschein kommen, sondern in unbekannten unterirdischen Betten dem Meere zustreben, haben den Charakter von Berggewässern, schwellen bei Regengüssen stark an, treten über ihre Ufer hinaus, bilden Kaskaden und sind bei der Rauheit des Bodens und ihrem starken Gefälle ebensoschwer zu überschreiten Wie das tropische Gebüsch um sie herum mit Mühe zu durchdringen ist. Das Machete, das breite Faschinenmesser, ist ein unentbehrliches Gerät für jeden, der auf das Land hinausreitet, wie es anderseits auch die Hauptwaffe der Eingeborenen ist, wenn sie von neuem und immer wieder von neuem den Versuch machen, wie gerade jetzt, das unerträgliche Joch abzuschütteln, das das Mutterland Spanien ihnen auferlegt hat. Sind die klimatischen Verhältnisse überhaupt dem raschen Wachstume und dem Wuchern aller Pflanzen sehr förderlich, so tragen dazu ganz besonders die ungeheueren Niederschläge bei, welche in der Regenzeit vom Mai bis Oktober fallen und bei ihrer elementaren Gewalt zugleich alle Verkehrswege, die nicht ungewöhnlich fest und sicher hergestellt sind, binnen kurzem zerstören, in Wasserläufe verwandeln, unbenutzbar machen und unter einer dichten Vegetationsdecke zum Teil verschwinden lassen. Bei der reichen Küstenentwicklung – ist doch die Küstenlinie mit allen ihren zahllosen Einbuchtungen auf 3500 km berechnet worden – wirkt auch selbst das Seewasser bei hohem Wellengange und unter dem Einfluß der verheerenden Wirbelstürme jener Gegenden zerstörend auf die Kulturthätigkeit der Menschen ein und erweitert die Ciénagas, die Sümpfe und Lagunen, die sich an der Küste hinziehen. Und dies geschieht, obgleich die Küste gegen das offene Meer auf viele Hunderte von Kilometern hin von Korallenbänken, Felsenriffen, Klippen und Untiefen gegen die erste Wucht der Wogen und gegen ihre vernichtende Gewalt geschützt ist. An tausend Inseln und Riffe umgeben Cuba und bilden [457] zwischen sich unterseeische Gärten, die aus jenen Wundergebilden bestehen, die wir in unseren Aquarien anstaunen und die wir eher zum Pflanzen- als zum Tierreich zu zählen geneigt sind.
Dieser äußere Wall von Inseln und Riffen, den Cayos oder Kays, erschwert die Annäherung an die Insel zur See, macht die Küstenschiffahrt überaus gefährlich und hat auch seine strategische Bedeutung in den zahlreichen Aufständen dieses Jahrhunderts gehabt; denn erleichterte er einerseits den ortskundigen Lotsen und Fischern das Landen von Waffen und Leuten, welche von Ferne hergebracht wurden, um die Sache der Eingeborenen zu unterstützen, so war er anderseits den verfolgenden Spaniern gefährlich, welche sich mit ihren tiefgehenden Kriegsschiffen, Kanonenbooten und Barkassen nicht zu nahe heranwagen durften.
Die Schilderungen, welche die Eingeborenen von den zur Zeit den Ausländern ganz unzugänglichen Gebirgsgegenden des Südostens der Insel machen, deren weitausgedehnter Gebirgsstock der Sierra Maestra sich an manchen Stellen bis zur Höhe von 2000 und 2500 m erhebt, lassen bedauern, daß man diese Landschaftsbilder nicht sehen kann. Denn sie müssen danach sich sehr wohl mit denen der Urwälder Brasiliens und Centralamerikas messen können und dabei noch vor diesen den Reiz der Nähe des Meeres und der Durchblicke auf dasselbe voraushaben. Auch in den Provinzen Puerto Principe, Santa Clara und Pinar del Rio steigt der Boden zu beträchtlicher Höhe an, und auch diese Gebirgsmassen sollen des Schönen in unendlicher Fülle besitzen; doch gerade diese Provinzen sind jetzt die Hauptschauplätze des Krieges, den die Einheimischen gegen die Herrschaft der Spanier führen. Hier spielen sich die Guerillakämpfe ab, für welche die Manigua, das Tropendickicht, so sehr geeignet ist, das unter dem Einfluß der starken Niederschläge überall da rasch entsteht, wo der Boden nicht sorgfältig bebaut ist. Die genaueste Ortskenntnis ist erforderlich, um sich in diesem Busch zurechtzufinden, und die Natur ist somit den Eingeborenen in ihrem Kampfe gegen die Spanier dienlich, vor denen sie auch den Vorzug haben, ausgezeichnete Reiter zu sein.
Der Mangel an fahrbaren Landstraßen macht nämlich außerhalb der Städte und ihrer nächsten Umgebung das Reiten zum einzigen Verkehrsmittel, wodurch die Landbewohner von Kindesbeinen an daran gewöhnt sind, im Sattel sich heimisch zu fühlen, so daß sie beim Reiten mit ihren ausdauernden kleinen Pferden völlig verwachsen erscheinen. Letztere müssen auch als Lasttiere dienen, wo noch keine Eisenbahnen vorhanden, wo die Wege so grundlos sind, daß selbst die leicht beweglichen zweirädrigen Karren nicht verkehren können, wo Bäche und Flüsse zu passieren sind, was bei dem außerordentlichen Wasserreichtum der Insel sehr häufig der Fall ist. Karawanen sind erforderlich, um die Produkte des Landes aus den entlegeneren Gegenden nach den Stapelplätzen an den Küsten und die importierten Handelswaren von den Hafenstädten in die kleinen Ortschaften zu schaffen. Denn das Eisenbahnnetz ist trotz der großen Mittel, die im Laufe der verflossenen Jahrzehnte für seinen Ausbau ausgeworfen worden sind, noch völlig unzureichend, und es dürften zur Zeit kaum 2000 km Schienenwege im Betrieb sein.
Gute Heerstraßen, welche die für die Niederschläge der Regenzeit erforderliche Widerstandskraft besitzen, sind ebenfalls nur in geringer Zahl und Ausdehnung vorhanden, selbst viele der strategischen Wegbauten, der Trochas, welche während des letzten abgeschlossenen Aufstandes von 1868 bis 1878 angelegt wurden, sind inzwischen verfallen und müssen nun mit großen Kosten wiederhergestellt werden. Der Hauptverkehr erfolgt daher zur See und die Küstenschiffahrt ist dementsprechend hoch entwickelt.
Die Bevölkerung Cubas ist zwar nicht so buntscheckig wie die mancher anderer Länder Amerikas, immerhin setzt sie sich aus mehreren verschiedenartigen Elementen zusammen, deren Mischung zahlreiche Abstufungen in der Hautfarbe und im Charakter erzeugt hat.
Von der ursprünglichen Indianerbevölkernng ist auf der Insel so gut wie nichts übrig geblieben, denn sie wurde im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts vollständig ausgerottet, und nur wenige Familien erhielten sich darüber hinaus, mehr oder minder gemischt mit spanischen Elementen, in den Bergländern des Ostens. Man will zum Teil in den Guajiros, in den Blancos de tierra, den Weißen der Landdistrikte, Nachkommen dieser indianischen [458] Mischlinge erblicken, doch wird diese Behauptung von manchen anthropologischen Autoritäten bestritten; ja, man geht sogar soweit, die ganze weiße Landbevölkerung als Guajiros zu bezeichnen. In Wirklichkeit ist die Zahl der echten typisch unterscheidbaren Guajiros im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Insel sehr klein und sie zeichnen sich durch gewisse Charaktereigenschaften doch ganz wesentlich von der großen Masse der Kreolen aus. Straffes Haar und gewisse Gesichtslinien weisen auf indianischen Ursprung hin, ebenso die Schärfe ihrer Sinne, die sie im Kriege für den Kundschafterdienst ganz besonders befähigt. An Leidenschaftlichkeit, an fanatischer Vaterlands- und Freiheitsliebe übertreffen sie noch die Kreolen, und in den Aufständen dieses Jahrhunderts haben sie daher immer eine wichtige Rolle gespielt, durch ihren Todesmut, ihre Opferwilligkeit anfeuernd auf die übrigen Freiheitskämpfer gewirkt und nicht wenig dazu beigetragen, die Kriege in die Länge zu ziehen.
Den Hauptbestandteil der cubanischen Bevölkerung bilden die Kreolen, deren Zahl mehr als 900 000 beträgt; es sind Weiße, die nur unter dem langen Einfluß der Tropensonne gebräunt sind und überwiegend von spanischen, zum kleineren Teil von französischen und anderen europäischen Einwanderern abstammen. Außerordentlich reich begabt, würden sie bei tüchtiger Ausbildung sehr Bedeutendes zu leisten im Stande sein. Das Schulwesen ist jedoch von jeher auf Cuba völlig vernachlässigt worden und ist es auch jetzt noch derart, daß 76 Prozent der Bevölkerung des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind. Die erschlaffende Wirkung des Klimas trägt das ihrige dazu bei, die Neigung der Kreolen zur Unthätigkeit zu befördern. Ihre Apathie weicht jedoch leicht der größten Leidenschaftlichkeit. Der stete Druck, unter dem sie gelebt haben und leben, hat sie unterwürfig gegen ihre Herren, hochmütig gegen ihre Untergebenen, außerdem reizbar, empfindlich und argwöhnisch gemacht. Feurige Patrioten und freiheitsliebend, sind sie stets mit voller Kraft und Beharrlichkeit für die Erringung ihrer Unabhängigkeit eingetreten. Ihre hohen natürlichen Geistesgaben bekunden sich – bei dem Mangel an Bildung – im allgemeinen nur in ihrem Witz, ihrer Schlagfertigkeit, ihrer Gedankenschärfe; zu ernsten Studien haben sie aus dem gleichen Grunde der mangelhaften Bildung kein Interesse und daher auch wenig Befähigung; dafür lieben sie Musik, Tanz, äußeren Glanz und verwenden große Sorgfalt auf ihre äußere Erscheinung. Wenngleich nicht so schön wie manche ihrer südamerikanischen Schwestern, namentlich die Chileninnen, sind die kubanischen Kreolinnen doch noch berückender als jene, weil sie die Hebung ihrer natürlichen Reize durch ihre Kleidung und Toilettenkünste noch mehr als jene zum Hauptgegenstand ihrer Beschäftigung machen, stets lebensfroh und heiter, dabei aber auch geistreich sind. Da sie die Bewegung jedoch aufs äußerste scheuen, werden sie sehr frühzeitig korpulent und altern rasch.
Das farbige Element, welches sich auf nahezu 500000 Seelen beziffert, weicht in seinem Charakter beträchtlich von dem der Vereinigten Staaten wie des übrigen Westindiens und der central- und südamerikanischen Nachbarländer ab. Die Negersklaven sind auf Cuba im Durchschnitt zu allen Zeiten ziemlich milde behandelt worden, sie haben mehr Freiheiten genossen als die des übrigen Amerikas; sie haben daher auch stets mehr Anteil an dem Schicksal ihrer Herren und somit auch des Landes genommen, das ihnen, ihren Vorfahren und Nachkommen Heimat geworden ist; sie haben aus diesem Grunde auch nach Aufhebung der Sklaverei mehr Interesse an dem öffentlichen und politischen Leben gezeigt und die Freiheitsbestrebungen der Kreolen kräftig unterstützt.
Die Aufhebung der Sklaverei hatte die Einführung asiatischer Arbeiter, chinesischer und indischer Kulis, zur Folge, die sich bei der letzten Volkszählung von 1887 auf ungefähr 44000 Individuen bezifferten. Sie verschwinden jedoch in der Masse und spielen keine politische Rolle.
Den Kreolen gegenüber steht nun das eingewanderte und vorübergehend auf Cuba ansässige spanische Volkselement, das kraft der Kolonialgesetze das Herrenrecht über die Insel und ihre Bevölkerung genießt und dasselbe auch in ergiebigster Weise zu allen Zeiten ausgeübt hat und heute noch ausübt. Der Umstand, daß der Großgrundbesitz, das Kapital, der Großhandel infolge der staatlichen Bevorzugung der Spanier vollständig in den Besitz der letzteren übergegangen sind, daß die Verwaltung ganz ausschließlich in ihren Händen liegt und daß die Eingebornen stets von der Regierung ihrer eignen Insel ferngehalten worden sind, hat jenen Zwiespalt zwischen den Spaniern und den Cubanern erzeugt, der die Ursache aller der Aufstandsversuche gewesen ist, die im Laufe dieses Jahrhunderts auf der großen Antilleninsel stattgefunden haben. Tödlicher Haß gegen ihre Bedrücker erfüllt die ganze Masse der einheimischen Bevölkerung, und weil die letztere, so weit sie nur immer vermag, die Aufrührer im Kampfe gegen die Spanier unterstützt, weil sie ihnen immer und überall, wo sie es nur kann, Vorschub und Hilfe leistet, so haben die Bürgerkriege und Aufstände auf Cuba auch immer eine so lange Dauer gehabt; deshalb hat der letzte derselben volle zehn Jahre, von 1868 bis 1878, gedauert und deshalb zieht sich auch der am 24. Februar 1895 ausgebrochene jetzt so in die Länge.
Was die Cubaner früher verlangten: politische Gleichberechtigung mit den Spaniern, Teilnahme an der Verwaltung ihres eigenen Landes, war eine billige und leicht zu bewilligende Forderung. Die Nichtgewährung derselben hat den Gedanken der Befreiung Cubas von Spanien, der Erlangung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Insel allmählich entstehen lassen und nunmehr zum Kriegsruf der Kreolen gemacht.
Die Zahl der großen volkreichen Ortschaften Cubas ist äußerst beschränkt; die Masse der Bevölkerung verteilt sich über das ganze ausgedehnte Land, dessen Bebauung die Haupteinnahmequelle der Insel bildet. Tabak, Zuckerrohr, neuerdings auch der Kaffeestrauch [459] sind die Pflanzen, denen die meiste Pflege gewidmet wird, und die hierdurch bedingte Plantagenwirtschaft hat das Entstehen vieler großer Orte verhindert. Die geringfügige Industrie der Insel – die Cigarren- und Cigarettenfabrikation einerseits, die Zuckerfabrikation anderseits – ist nicht imstande gewesen, eine andere Bevölkerungsverteilung herbeizuführen. Die alte Hauptstadt der Insel: Santiago de Cuba, die neue: La Habana, und die Hafenstädte Matanzas, Cienfuegos, daneben die beiden größten Ortschaften des Innern: Puerto Principe und Santa Clara dürfen als die großen Städte der Insel bezeichnet werden. Habana (die Aussprache ist Havanna) übertrifft die übrigen alle an Bevölkerung, denn es zählt an 200000 Seelen, während Matanzas und Santiago de Cuba an 30000, Cienfuegos an 22000 Einwohner haben mögen; ersteres steht den übrigen dagegen an landschaftlicher Schönheit nach. Teils am Meere, teils an dem tiefeingebuchteten großen Hafen gelegen, der als der größte der Neuen Welt gilt, bildet Habana ein großes flaches Häusermeer, über das sich nur die Forts del Morro, de la Punta, die Kastelle del Principe und de Atares erheben; erst in beträchtlicher Entfernung von der in der Ebene gelegenen Stadt steigt der Boden zu einer niederen Hügelkette an. Die Nachbarschaft ist gut bebaut, vermag dagegen nicht durch landschaftliche Reize anziehend zu wirken. Die letztern beschränken sich auf den Eindruck der schönen Promenaden des Prado, des Tacon, sowie der Gartenanlagen der großen Plätze des Marsfeldes, des Waffenplatzes und anderer. Im übrigen hat die Stadt mit ihren überwiegend engen und mit Sonnendächern versehenen, schlechtgepflasterten Straßen viel Aehnlichkeit mit den Provinzialstädten Spaniens. Gegenwärtig, unter dem Einfluß des Krieges, der sich selbst bis in die Nähe der Hauptstadt ausgebreitet hat, macht sich die gedrückte Stimmung aber auch in den Handelsstraßen wie auf den Promenaden in empfindlichster Weise bemerkbar. Während letztere sonst in den Nachmittagsstunden von der ganzen vornehmen Welt Habanas belebt waren, während die Herren zu Roß, die Damen in den eigenartigen mit übermäßig langen Deichselstangen versehenen, mit Silber reich verzierten Volantes in mehreren Reihen Revue passierten, sind die Korsostraßen jetzt vereinsamt. In der Opispostraße, in deren reichen Läden die schönen Kreolinnen sonst ihre Einkäufe machten, herrscht die Ruhe des Feiertags; die Theater sind leer, die öffentlichen Lokale, in denen man sonst die interessanten habanesischen Tänze und die reizvolle danza criolla sehen konnte, sind zum Teil geschlossen.
Die Liebe für Musik, Gesang und Tanz ist jedoch allen Cubanern angeboren und sie ist zu groß, als daß sie, namentlich im Volke, durch die ernsten Verhältnisse der Gegenwart erstickt werden könnte. Wo nur auf einer Guitarre die ersten Takte einer der berühmten alten spanischen Tänze: des Fandango, des Zapateado, der Malagueña oder vollends die der beliebten amerikanischen Cachucha und der einheimischen Habanera erklingen, da versammelt sich daher auch heute auf dem schattigen Hof eines Privathauses oder in dem Saal eines Volksrestaurants rasch ein großer Kreis von jungen Leuten, um, nach der Art der Vorfahren, wie es auf dem Bilde S. 452 und 453 dargestellt ist, sich dem frohen Genuß des Lebens für Augenblicke hinzugeben und die Tänze auszuführen, deren fascinierender berauschender Wirkung sich kein Einheimischer entziehen kann und die, solange sie sich in den Grenzen des Anstandes bewegen, durch ihre Anmut auch auf jeden fremden Zuschauer stets einen tiefen Eindruck machen.
Selbst die Kirchen, die 1724 erbaute große Kathedrale, in der sich die Ueberreste des Columbus befinden und in der ein gutes Reliefbild des Entdeckers der Neuen Welt angebracht ist, sowie die hübsche kleine Columbuskapelle, die neben dem Baum errichtet ist, unter dem die erste Messe auf Cuba gelesen worden sein soll, werden nur schwach besucht. Reges Leben herrscht in Habana zur Zeit nur in dem Palast des Generalgouverneurs, in der Umgebung desselben und auf den Bahnhöfen, auf denen ein beständiger Truppenverkehr stattfindet. Besonders interessant ist das Straßenleben in den frühen Morgenstunden, wenn die Landleute mit ihren Waren zur Stadt kommen, die ganz auf die Versorgung seitens der Nachbarschaft angewiesen ist. Da die Milch bei dem Transport sauer werden würde, so werden die Kühe selbst nach der Stadt getrieben, um dort nach Bedarf gemolken zu werden. Eier, Fleisch, Brot und alle für den Haushalt erforderlichen Vorräte werden feil geboten, so namentlich auch das Trinkwasser, das bei der großen Mäßigkeit der Cubaner eine wichtige Rolle spielt. In gleicher Weise wird das Futter für die Pferde herbeigeschafft, das untere Bild auf S. 457 zeigt, in welcher Weise dies geschieht. Die armen Lasttiere verschwinden oft unter der ungeheuren Masse von Marktwaren, Gemüse, Geflügel, Zuckerrohr und Futtergräsern, mit denen sie überbürdet werden. Und alle diese Waren werden unter den charakteristischen lauten Rufen seitens ihrer Verkäufer angepriesen.
Landschaftlich schöner als Habana ist, wie gesagt, Santiago de Cuba, die Hauptstadt der östlichsten Provinz gleichen Namens, gelegen. Wie die meisten Buchten Cubas ist auch die Santiagos von flaschenkürbisartiger Gestalt. Ein schmaler, durch das ebenfalls del Morro benannte Fort gedeckter, sich dann allmählich verbreiternder Kanal führt vom Meere aus in die tiefe weite Bucht, in deren nordöstlicher Ecke sich die hübsche kleine Stadt befindet, welche der Sitz der Provinzialbehörden und die zweite Hauptstadt der Insel ist. Am Fuße der Vorberge des ausgedehnten Berglandes der Sierra Maestra gelegen, bietet ihre Umgebung den Blicken des Beschauers ein prachtvolles Bild. Gegen Norden geschützt, hat sie ein ungleich wärmeres Klima als Habana, das den aus Nordamerika herüberwehenden Stürmen und Luftströmungen ausgesetzt ist, und die üppigste Tropenvegetation verleiht dem terrassenförmig ansteigenden Lande einen besonderen Reiz. Das in der Bucht bei Ebbe noch wahrnehmbare Wrack eines der Schiffe der unüberwindlichen Flotte Philipps II., des Santo Domingo, erinnert unmittelbar an die große Vergangenheit Spaniens, dessen riesiger Kolonialbesitz in Amerika, außer Puerto Rico, bis auf diese Perle der Antillen zusammengeschwunden ist, die es mit Aufgebot aller seiner Kräfte für sich zu erhalten bestrebt ist.
Die Bekämpfung der Fettleibigkeit.
Nur wenige Heilmethoden, galten sie nur annähernd häufigen und wichtigen Krankheitsformen, haben sich eingeführt oder sind zu Grabe getragen worden, ohne im Publikum Erregung hervorzurufen. Der Reiz und die Macht der Neuheit ist es im Verein mit den durch die Erfahrung festgelegten Mängeln der früheren Methoden, die selbstverständlich jeder neuen noch abgehen, was die Gemüter in erster Instanz erregt und – seien wir offen – auch die Mehrzahl der Aerzte von heutzutage mit sich fortreißt. Allein nur selten pflegt unsere schnelllebige, kritikvolle Zeit lange das wahre Resultat uns vorzuenthalten. Gar bald hat die Massenarbeit, der Bienenfleiß entschieden, ob uns wirkliche Segnungen zu teil geworden oder eine neue schmerzliche Enttäuschung beschieden gewesen, die uns schnell auf den Rückweg zur bewährteren alten Methode geleitet. Oder es kommt ein Kompromiß zustande: die Vorzüge des neuen Verfahrens verquicken sich mit jenen des früheren zu höherer Vollkommenheit.
Solche Erwägungen treffen so recht für die neueste Gestaltung des Kampfes gegen die Fettleibigkeit zu. In das festgefügte Bollwerk des bisherigen diätetisch-hygieinischen Kurverfahrens ist – fast über Nacht – eine vordem unbekannte Macht eingebrochen, die Schilddrüsenfütterung, und sie hat die Frage nach der Art der Wandlung der Entfettungskuren aktuell gemacht. Noch kennt niemand die Antwort, obwohl es bereits an Parteiungen in ärztlichen wie in Laienkreisen nicht fehlt, welche durch mehr oder weniger bestimmte Stellungnahme das Ziel weit hinter sich gelassen haben.
Unter solchen Umständen wird es vielleicht willkommen sein, wenn eine unbefangene Erörterung des heutigen Standes der einschlägigen Lehre darlegt, in welchem Stadium die Lösung der beregten Frage sich augenblicklich befindet. Gern entspreche ich deshalb der Aufforderung der Redaktion der „Gartenlaube“, das Thema in gemeinverständlicher Form ihren Lesern vorzuführen. Ich vermag das nicht, ohne in gedrängter Darlegung dessen zu gedenken, was ärztliche Erfahrung bis zur Proklamation der neuen Kur auf unserm Gebiete als wahre Errungenschaft gezeitigt hat.
Vorher noch eine kurze Begriffsbestimmung unserer Krankheit. Man sollte es bei der sich jedem Auge aufdrängenden Signatur der Fettleibigkeit nicht glauben, wie wenig hier das Urteil des Publikums dem ärztlichen oft entspricht. Wir haben ungezählte kraftvolle, muskelstarke Klienten beraten, die sich dem Schicksal, das ihnen eine beneidenswerte Harmonie der Körperformen ohne Gesundheitsstörung verliehen, wenig dankbar erwiesen und – meist beeinflußt durch unzweckmäßige Lektüre – der hypochondrischen Wahnidee, an Fettsucht zu leiden, zum Opfer gefallen waren. Nicht selten trug auch eine uns unerklärliche Eitelkeit die Schuld. Den Gegensatz bildeten in starker Minderzahl solche wirklich Fettleibige, welche die Störungen ihres Wohlbefindens auf alles andere, nur nicht auf ihre krankhafte Korpulenz bezogen. Der ärztliche Standpunkt erkennt nur die abnorme, die krankhafte Fettanbildung im Körper als „Fettleibigkeit“ an, unbekümmert um Rücksichten des individuellen „ästhetischen“ Geschmacks. Es muß also das dauernde Mißverhältnis zwischen Fettverbrauch und Fettproduktion bereits zu Gesundheitsstörungen geführt haben. Selbstverständlich sind hier die Grenzen, auch für den Arzt, nicht immer leicht zu ziehen und um so schwerer, je weniger scharf sich der Begriff der Krankheit von jenem des physiologischen Verhaltens abtrennen läßt. Besondere Berücksichtigung verdienen unseres Erachtens endlich jene wirklich leidenden Patienten, welche ihre Beschwerden mit Unrecht auf ihren guten Ernährungszustand beziehen, während der Arzt ganz andere Quellen ausfindig macht. So haben wir bei Dutzenden, welche ungebührlich lange Zeit als lediglich fettkrank galten, als wahre Ursachen der Krankheitssymptome, zum Teil gegen eigenes ursprüngliches Erwarten, schwere Zuckerkrankheit, Brightsche Nierenentartung, Herzklappenfehler, umfängliche Geschwulstbildungen an inneren Organen u. dergl. feststellen können. In solchen Fällen hört Grübeln über Fettleibigkeit auf, auch dann, wenn ein gewisser ursächlicher Zusammenhang derselben mit dem Grundleiden sich nicht ableugnen läßt. Und nun zur Sache, zur rationellen Behandlung der wahren Fettleibigkeit, wie sie ärztliches Mühen bis zur Neuzeit als fast klassische Methode geschaffen und anerkannt hat! Sie ist, wie schon erwähnt, keine medikamentöse, sondern eine diätetische und hygieinische; sie entspricht vorwiegend, wie der ärztliche Sprachgebrauch sich ausdrückt, der ursächlichen Anzeige, d. h. dem durch die Ursachen der Krankheit bestimmten Heilplan. Schon dieser Umstand sichert ihren rationellen Charakter.
Obenan steht selbstverständlich, da die vornehmste Ursache in einer im Verhältnis zum Verbrauch zu reichlichen Einnahme von Nährmitteln gegeben ist, die Beschränkung der Nahrungszufuhr. Aufgabe des Arztes ist es, diese Einschränkung so einzurichten, daß sein Patient dabei eine lästige oder gar bedenkliche Schwächung nicht erfährt und auch keine allzugroßen Qualen aus Anlaß der Nichtstillung seines Appetits erduldet. Hier vereitelt oft genug die menschliche Schwäche die ärztlichen Bemühungen. Die unbezähmbare Gewalt der Verführung, welche die Lockungen der Tafel ausüben, schlägt einen beängstigend großen Prozentsatz der Menschen in ihren Bann und bereitet ihnen ein vorzeitiges, oft genug qualvolles Ende. So war es seit langen Zeiten, so wird es sein und in Zukunft bleiben. „Ich kann mich nicht beherrschen.“ Wie oft ist dieses Geständnis an unser Ohr geschlagen. Mit dieser unbändigen, selbst durch die schlimmsten Erfahrungen nicht zu beschwichtigenden Leidenschaft vermochte unser großer Goethe vor mehr als hundert Jahren nur den „unwiderstehlichen Reiz zum politischen Diskurs“ zu vergleichen. Fast noch schlimmer steht es mit denen, welche den Arzt aus Unkenntnis oder geflissentlich über ihre Haltung zu Speise und Trank täuschen. Unvergeßlich ist mir eine Konsultation, in welcher eine weither zugereiste kolossale Dame auf meine Frage, ob sie zu den starken Esserinnen zähle, treuherzig „Wie ein Vögelchen!“ antwortete, während der Ehegatte mir ins andere Ohr ein überzeugungstreues „Herr Doktor, sie – frißt!“ leise zuraunte. Die hochnotpeinliche Untersuchung ergab, daß die Patientin zwar nicht mit Bewußtsein gelogen, ihr Mann aber unzweifelhaft die Wahrheit gesagt hatte. In einem anderen, eine Dame betreffenden Falle wurden beim Herzählen der Bestandteile der alltäglichen Kost reichlich drei Viertel des wahren Wertes unterschlagen, diesmal nicht mit gutem Gewissen.
Es giebt aber in der That, und ich will es gleich hier anfügen, nicht wenige Fettleibige im Sinne unserer Definition, welche wirklich wenig, recht wenig essen, welche sich auch in Hinsicht der Wahl der Speisen mit rührender Gewissenhaftigkeit an die gleich zu erörternden Vorschriften halten und trotzdem weder ihr Fett noch ihre Beschwerden loswerden. Man kann hier geradezu von einer richtigen, oft genug ererbten „Fettsucht“ sprechen. Solch bedauernswerte, nicht selten schon in der Jugend als Riesenkinder imponierende Individuen sind – Verzeihung für den Vergleich! – die Möpse unter den Menschen im Gegensatz zu den Windhunden, welche durch keine Steigerung oder „rationelle“ Gestaltung ihrer Diät ihre trotz sonstiger Gesundheit hochgradige Magerkeit zu bekämpfen vermögen. Also Rasseneigentümlichkeit, an deren brutaler Herrschaft auch die ärztliche Kunst zu Schanden wird.
Nicht so vollkommen einig, wie über die schon durch schlichte Logik geforderte Notwendigkeit der Herabsetzung der Menge der Nahrung, sind die medizinischen Sachverständigen über das Erfordernis bestimmter Veränderungen in der Zusammensetzung der Speisen, obwohl die Physiologen, insbesondere Prof. Voit, gerade hier mit ihren Forschungen höchst wertvolle Grundlagen geschaffen haben. Wir wissen, daß von den fünf auf die Dauer unentbehrlichen Nährstoffen Eiweiß, Fett, Kohlehydraten, d. i. Stärke und Zucker, Salzen, Wasser die drei erstgenannten die Quellen des in unserem Körper abgelagerten Fettes sind. Besonders verfemt sind in dieser Beziehung die Kohlehydrate, weil sie die eigentümliche Rolle spielen, das aus der Nahrung gebildete Fett vor weiterem Zerfall zu schützen. Stärke und Zucker konservieren also das Fett in unserem Körper. Daher das heutzutage so allgemeine ärztliche Verbot größerer Mengen süßer oder mehlreicher Speisen und die oft schlimmen Folgen einer unseligerweise auf Brot, Kartoffeln, insbesondere aber Kuchen und süße Mehlspeisen gerichteten Leidenschaft. Hier fällt mir u. a. eine überaus stattliche Persönlichkeit, leider abermals eine
[461][462] Dame[2], ein, welche als Nachbarin an der wohlbesetzten Tafel einer süditalienischen Villeggiatur mit schlecht angebrachter Enthaltsamkeit auf die Fleischgänge verzichtete, um stets mit kaum geschwächtem und sicher nicht schlechtem Appetit sich an den süßen Nachspeisen schadlos zu halten. Ihr Umfang wuchs und wuchs trotz redlicher Bemühung, ihm durch Spaziergänge zu steuern, bis eine mitleidsvolle Bemerkung ihr das Unbegreifliche aufklärte.
Also thunlichste Einschränkung von Zucker und Stärke, wohingegen relativ große Eiweißmengen der Entfettung keinen besonderen Abbruch thun! Darin stimmen so ziemlich alle Autoren überein. Anders die Ansichten über die Frage nach der Zulässigkeit des Fettes selbst in der Nahrung. Während die zu entschiedener Berühmtheit gelangte und fraglos recht wirksame Bantingkur das Fett als Nahrungsbestandteil noch in höherem Grade als die Kohlehydrate verbietet, ein Regime, das bis in die neueste Zeit bewährte Spezialisten, u. a. die Prof. Oertel und Kisch, vertreten, will die neuere Ebsteinsche Methode von der Entziehung des Fettes nicht viel wissen. Im Gegenteil! Und so weit ich aus eigener Anschauung die praktischen Resultate übersehe, kann man in der That in Bezug auf Butter, Milch und fette Saucen etwas liberaler als Banting sein, ohne – ganz im allgemeinen – eine wesentliche Einbuße in der Wirkung zu riskieren. Nicht wenige mit trefflichem Appetit ausgestattete Opfer unsrer Krankheit werden die Möglichkeit, ihren Hunger durch fettreichere Nahrung besser stillen zu dürfen, mit innigem Dank begrüßen.
Aber auch die Eiweißzufuhr darf nicht über ein gewisses Maß gesteigert werden. Wir legen auf diese leider nicht immer mit dem genügenden Nachdruck betonte Warnung ein großes Gewicht! Das beliebte „Essen Sie Fleisch und Eier, so viel Sie wollen“ kann Böses stiften und hat bei Völlern schon viel Unheil angerichtet. Ein Kollege, der Fett, Stärke und Zucker für einige Monate so gut wie ganz gemieden, aber unglaubliche Mengen Fleisches vertilgte, ging, obzwar er sonst nach keiner Richtung hin gegen die ärztlichen Vorschriften verstieß, aus der „Kur“ wesentlich – wohlbeleibter hervor. Auch weiß ich von einer Anzahl eigener Klienten, welche wahrhaft erschreckend üppige Berliner Diners bei möglichster Enthaltsamkeit von Mehligem, Süßem und Fettem ungestraft mitmachen zu können geglaubt, daß sie am Ende der Wintercampagne verschiedene Kilos ihrem Fettpolster zugelegt hatten.
Ganz kurz kann ich mich über die Rolle fassen, welche die Getränke als Bestandteile der Entfettungskuren spielen. Die berüchtigten Schmeerbäuche der Restaurateure, Brauer, der treuesten Teilnehmer an studentischen Gelagen und landesüblichen Biertischen erweisen genugsam den bedenklichen Einfluß, welchen der Alkohol als Förderer der Korpulenz übt. Beim Bier mag immerhin der Gehalt von Kohlehydraten, vielleicht auch die Menge der Flüssigkeit außerdem Eigenwirkungen ausprägen. Verlangt doch das Oertelsche und Schweningersche System eine bedeutende Einschränkung der Flüssigkeitsmenge als solcher, zumal während der Mahlzeiten. Es fehlt freilich anderseits nicht an gewichtigen Stimmen, welche gegen die Wasserentziehungskuren bei Fettleibigen Bedenken haben, ja sogar reichlichem Genuß alkoholfreier Getränke das Wort reden. Hier liegen noch ungelöste Widersprüche; denn beide Parteien verfügen über ihre Erfolge. Unter allen Umständen erscheint uns aber der wohlbegründete Ausspruch von Prof. Immermann beherzigenswert, daß eine Durstkur schließlich auf das Gleiche wie eine schwächende Hungerkur hinauskommt.
Ich vermag das Kapitel der diätetischen Behandlung der krankhaften Korpulenz nicht zu schließen, ohne der mitunter maßlosen Uebertreibungen in der ärztlichen Verordnung zu gedenken. Sie haben nicht selten Schlimmeres im Gefolge als die Excesse der Kranken selbst. Wer sich der nötigen Mäßigung im Essen und Trinken überhaupt befleißigt, fährt bei kleinen Uebertretnngen auch in Bezug auf das „absolut Verbotene“ besser als der Völler im Erlaubten. Durch wachsende Erfahrung belehrt, haben wir immer mehr die rigorös einseitigen und reichliche Abwechslung ausschließenden Speiseregulative fürchten und meiden gelernt, wahrlich nicht zum Schaden der von uns Beratenen.
Eine kaum minder wichtige Stellung als die Diätetik nimmt unter den entfettenden Maßnahmen die körperliche Bewegung, d. i. die Muskelarbeit, ein. Daß sie in hohem Maße geeignet ist, Fett zu zersetzen, zu zerstören, darf nicht mehr als zweifelhaft gelten. Auch hier erfüllen wir eine „ursächliche Anzeige“. Drastisch genug wird sie illustriert durch das zweifelhafte Glück, das Mutter Natur zahlreichen Gelähmten und Herzkranken nach vorangegangener Magerkeit durch Gewährung der vordem so schmerzlich ersehnten Leibesfülle spendet. Wer von den Körpergewichtsverlustzahlen Kenntnis nimmt, welche Märsche, kraftvolle gewerbliche Hantierungen, Turnübungen, Reiten, Rudern zu liefern vermögen, der neueren Sporte des Bergsteigens und Radfahrens nicht zu vergessen, versteht es ohne weiteres, daß das „Oerteln“ und „Schweningern“ auf den Faktor der Muskelarbeit besonderen Wert legt. Schon die rastlose Ausübung eines „anstrengenden“ Berufs vermag Erkleckliches zu leisten. Ich kenne Kollegen, deren vorwiegend in den höheren Stockwerken der Berliner Häuser bethätigte Praxis an sich beträchtliche Entfettungswerte alljährlich zu Wege bringt, die leider im Seebade wieder größtenteils kompensiert werden. Ein bekannter Berliner Tanzlehrer verliert jedesmal in der Arbeitssaison 131/2 Kilogramm, welche die Sommerruhe wieder getreulich einbringt. Daß an den mitunter enormen Verlusten an Körpergewicht, welche namentlich der Alpen- und Radfahrsport zu Wege bringt, die Schweißabsonderung wesentlichen Anteil hat, darf nicht geleugnet werden. Aber lediglich um Entwässerungsmethoden, wie sie beispielsweise die noch vielfach gegen unser Leiden empfohlenen Dampfbäder und ähnliche Prozeduren darstellen, handelt es sich hier nimmermehr.
Endlich noch ein Wort über die Bedeutung der Badekuren bei Fettleibigkeit. Daß nicht wenige Kurorte, obenan Marienbad und Karlsbad, glänzende Erfolge aufweisen, selbst da, wo daheim kein Mittel angeschlagen – wer wollte es leugnen? Aber die im Publikum noch immer festgewurzelte Anschauung, daß eigenartige, „specifische“ Wirkungen den chemischen Bestandteilen der Quellen zukommen, trifft, was die Fettleibigkeit anlangt, nicht zu. Denkende und vorurteilsfreie Badeärzte räumen es selbst offen ein, daß die mitunter erstaunlichen Resultate eine Folge mannigfacher Angriffe darstellen, welche vereint auf den Fettreichtum des Körpers einwirken. Fettverminderung durch eine geeignete Diät im Sinne unsrer vorstehenden Erörterungen, durch Muskelarbeit („Terrainkuren“), durch Steigerung der Wasserausscheidung durch Darm und Nieren („alkalisch-salinische“ bezw. Glaubersalzquellen) und manches andere kommt da in Betracht. Ob daneben noch ein gewisses unbekanntes Etwas, an dessen Existenz noch hier und da zäh festgehalten wird, eine Rolle spielt, wird sich voraussichtlich im Laufe der nächsten Jahrzehnte weder beweisen noch widerlegen lassen.
Gegenüber den im Vorstehenden erörterten verhältnismäßig festgefügten Systemen hat zu keiner Zeit eine medizinische Behandlung im engeren Sinne des Worts, das ist eine medikamentöse Therapie der Fettleibigkeit, festen Fuß gefaßt. Selbst die mit gewissen rationellen Grundlagen ausgestatteten Jod- und Pilokarpinkuren – bei letzteren wird durch Einspritzung des Arzneikörpers unter die Haut eine lebhafte Entwässerung des Körpers auf dem Wege der Schweißabsonderung und des Speichelflusses erzielt – sind im wesentlichen verlassen worden. Waren doch beide Medikamente Gifte, deren alltägliche Einverleibung der Organismus unmöglich für lange Zeit ohne Schaden ertragen konnte.
So blieb die nimmer ruhende Sehnsucht der Träger unseres Leidens nach einem Mittel, das nach Art eines relativ unschädlichen Medikamentes die Entfettung besorgte, ohne die lästigen Beigaben besonderer Diätbeschränkung, körperlicher Anstrengung und teurer Badereisen, unbefriedigt – bis die „neue Aera“ der Schilddrüsenfütterung anbrach.
Bei der weitgehenden Erregung der Gemüter über die Entdeckung, welcher gediegenste wissenschaftliche Grundlagen nicht abzusprechen sind, lohnt es sich wohl, mit einigen Worten der auf ein kurzes aber kraftvolles Leben zurückblickenden Entwicklung der Lehre zu gedenken. Gilt sie doch mit Recht als das wichtigste Glied in der Reihe der modernen sogenannten Gewebsfastkuren, bezw. der mit Organextrakten geübten Heilmethoden.[3]
[463] Den Ausgang bildete eine eigentümliche, in unserem deutschen Vaterlande verhältnismäßig seltene Krankheit, das „Myxoedem“, ein schleichendes Siechtum, dessen Opfer vor allem durch zwei Erscheinungen auffallen: eine, zwar nicht wie der Name besagt, schleimigwässrige, sondern vielmehr an derben Speck erinnernde Verdickung und Schwellung der Haut des Körpers, zumal des Gesichts, und bis zur Stupidität, ja selbst zum Kretinismus gesteigerte geistige Stumpfheit. Von besonderem Interesse ist nun die Thatsache, daß dieses Leiden durch eine intensive Erkrankung der Schilddrüse, der „Thyreoidea“, veranlaßt ist, also jener Drüse, welche vor dem Kehlkopf und der oberen Luftröhre lagert und deren krankhafte Vergrößerung den „Kropf“ bildet. Regelmäßig zeigt sich nun bei den Myxoedemkranken die Schilddrüse verkleinert bis geschwunden, und es ist wohl keinem Zweifel unterlegen, daß sie entgegen früheren Anschauungen ein für den Haushalt unseres Organismus notwendiges wertvolles Organ darstellt. Wie wir uns ihre Funktionen zu denken haben, soll uns als ungemein schwierige Frage, welche die verschiedensten Beantwortungen gefunden, nicht weiter beschäftigen. Genug, der Ausfall ihrer Funktionen bedingt die Krankheitserscheinungen des Myxoedems und es beansprucht der Umstand wohl das ungeteilte Interesse der Fachleute wie gebildeten Laien, daß beim Menschen nach operativer Entfernung der Schilddrüse eine dem Myxoedem relativ vollständig entsprechende Krankheit sich entwickelt. Bei dieser befruchtenden, durch die Chirurgen, insbesondere Professor Kocher, vor etwa einem Jahrzehnt gemachten Entdeckung der Uebereinstimmung des operativen Entkropfungssiechtums mit dem selbst entstandenen Myxoedem setzen die grundlegenden Untersuchungen der Schilddrüsenbehandlung des Myxoedems ein. Physiologen, Kliniker und Aerzte wetteiferten in gleich zahlreichen wie belangvollen, die letzten sechs Jahre unserer Litteratur füllenden Bestrebungen,beide Krankheiten bei Mensch und Tier durch die künstliche Zuführung gesunder Schilddrüsen oder ihrer wirksamen Bestandteile zu beeinflussen. Und siehe da, es gelang! Die Tiere, welche man ihrer Schilddrüse beraubte, erkrankten nicht, wenn man die Schilddrüse anderer Tiere in ihre Bauchhöhle einbrachte, und zahlreiche Myxoedemkranke wurden wesentlich gebessert, ja geheilt durch Füttern mit Schaf- und Kalbsschilddrüsen oder Einspritzung von Extrakten derselben unter die Haut, resp. Darreichung trockener Auszugsformen. Ein berauschender Triumph brach aus, zumal in England, dem Lande des Myxoedems, das jetzt sein „new and wonderful remedy“, sein „neues, wunderbares Heilmittel“, hatte. Fehlte es auch nicht an Mißerfolgen, schien sich auch hier dem aufmerksamen Späher nach unliebsamen Nebenwirkungen der hinkende Bote in die glänzende Versammlung der Lobpreiser drängen zu wollen – die Thatsache, daß die Einverleibung der Schilddrüse geeignet ist, mit Erfolg die körperliche und geistige Schwäche der Myxoedematösen und nicht minder die plumpe Anschwellung des Körpers und sonstige Krankheitssymptome unter namhaftem Gewichtsverlust zu bekämpfen, ist eine unleugbare Thatsache.
Was lag näher als der Gedanke, es könne unsere „abmagernde“ Schilddrüse vielleicht auch imstande sein, gleich der eigentümlichen fettähnlichen, die Haut der Myxoedemkranken durchsetzenden Substanz, das wahre Fett der Fettleibigen zum Schwund zu bringen. Dem Gedanken, der freilich nicht mit der Wahrscheinlichkeit rechnete, daß die Fettleibigkeit nichts mit der Schilddrüse zu thun hat, folgte der Versuch, dem Versuche der Erfolg auf dem Fuße. Amerikanische Aerzte berichteten zuerst vor drei Jahren über stattliche Gewichtsverluste. Besonderes Aufsehen in Deutschland veranlaßte dann ein Jahr später Professor Leichtenstern durch die Veröffentlichung seiner Resultate an 27 Fettleibigen. Nicht weniger als 24, also nahezu 90 Prozent, erfuhren eine Entfettung, welche während einer mehrwöchigen Kur bis zu 9,5 Kilo, in der Woche bis zu 5 Kilo betrug! Dabei ging der eine Teilerscheinung der Thyreoidwirkung darstellende Gewichtsverlust ohne „entfernt beängstigende“ Zustände vor sich. Das Ideal aller Entfettungskuren, d. i. die Abmagerung des Körpers ohne Angriff auf seinen Eiweißbestand, schien insofern erreicht, als die Erfolge sich im wesentlichen durch Entziehung von Fett und Wasser – die harntreibende bis zu 6 Litern Tagesquantum liefernde Eigenschaft der Schilddrüse war durch eine Reihe von Forschern festgestellt – erklärten. Mit diesem Nachweis großartiger Erfolge einer zielbewußten Heilmethode bei einer unserer häufigsten und wichtigsten Krankheiten hatte sich die Schilddrüsenbehandlung zu einem der bedeutsamsten Ereignisse auf medizinischem Gebiet gestaltet. Noch in frischem Gedächtnisse stehen mir die überschwenglichen Aeußerungen zahlreicher Klienten in meinem Sprechzimmer, welche mit unentwegter Ueberzeugung allen „früheren“ Entfettungsmethoden nach berühmten Mustern den schleunigen Untergang weissagten.
So weit sind wir nun aber noch nicht gekommen. Es hat sich manches geändert. So fand man – und meine eigenen Beobachtungen führten zu gleichen Resultaten – daß die renitenten Fälle gar nicht spärlich gesät waren, ja, daß so mancher Patient enttäuscht aus der Kur ging, um einige Pfunde – schwerer. Gewiß erklärt sich ein Teil solcher Mißerfolge aus den Extravaganzen in Speise und Trank, welche die Hilfsbedürftigen sich nunmehr gestatten zu können glaubten. Allein ich habe eine wenn auch nicht belangvolle Gewichtszunahme auch bei solchen feststellen können, die sicher bei ihrer gewohnten mäßigen Kost geblieben waren. Also jedenfalls kein sichtlicher Erfolg. Auch scheint mir, daß man bereits in der Aufstellung bestimmter Kategorien geeigneter Fälle zu weit gegangen. Einstweilen habe ich ebensowenig wie Professor Ewald finden können, daß gerade die wahren Fettsüchtigen im Sinne unserer Definition, die also ihr Konstitutionsfett sich keineswegs durch unzweckmäßige Nahrung angemästet haben, oder blutarme Fettleibige oder gar solche mit Schilddrüsenaffektionen besonders auf die Kur mit Abmagerung geantwortet hätten.
Auch die Hoffnung, daß die Schilddrüsenbehandlung den Eiweißbestand unseres Körpers unversehrt lasse, haben spätere Versuchsansteller nicht bestätigen können. Wenigstens lernte man Fälle mit erheblichen Stoffwechselschwankungen kennen, bei denen die durch das Mittel mächtig angeregten Verbrennungsprozesse sich auch am Eiweiß vergriffen. Also eine Steigerung des Gesamtstoffwechsels! Prof. von Noorden vergleicht die Thyreoidinwirkung bei Fettleibigen mit derjenigen eines Blasebalges, welcher ein vordem langsam glimmendes Feuer zur mächtigen Flamme anfacht.
Weiter hat die Beobachtung eine ganze Reihe von Nebenwirkungen kennen gelehrt, welche freilich – ich glaube das voranschicken zu sollen – in ihren besonders unangenehmen und bedenklichen Formen als Folgen des vom Arzte unkontrollierten Excesses gelten müssen, meinem Dafürhalten nach also im wesentlichen vermeidbar sind. Die häufigsten Klagen mir gegenüber bezogen sich auf leicht bis arg belästigende Symptome der reizbaren Schwäche des Nervensystems in der Form von allgemeinen mit verschieden lokalisierten ziehenden schmerzhaften Empfindungen einhergehender Zerschlagenheit des Körpers, Schwindel, Zittern, Schlaflosigkeit und Herzbeschwerden, insbesondere von Herzklopfen, Herzangst, jagendem oder aussetzendem Puls. Meist betrafen solche Beschwerden, über die so gut wie alle erfahrenen Beobachter berichten, Nervöse und Herzleidende; allein sie haben auch nicht bei Nerven- und Herzgesunden gefehlt. Hierzu kommt die von verschiedenen Autoren festgestellte gelegentliche, auf Störungen des Stoffhaushaltes deutende Ausscheidung von Eiweiß und Zucker mit dem Nierensekret. Alle diese Nebenerscheinungen pflegen mit dem allerdings oft genug dringend gebotenen Aussetzen der Kur verhältnismäßig schnell zu schwinden. Es begreift sich, daß die Gefahr bedenklicher Nebenwirkungen dem Publikum um so näher gerückt wird, je willfähriger sich die Apotheken und Droguenhandlungen einem Entfettungssport auf dem Wege des Handverkaufs der Schilddrüsenpräparate erweisen. Wer es an seinen eigenen Patienten erlebt, wie es vom „wilden“ Thyreoidingebrauch zum Mißbrauch nur ein kurzer Schritt ist, wird es auch verständlich finden, wenn Prof. Eulenburg seine warnende Stimme vor dem freien Vertrieb der Präparate erhebt und mit Nachdruck fordert, daß sie nicht anders als auf ärztliche Verordnung abgegeben werden. Es verfängt dabei nichts, ob die geschilderten Erscheinungen als mittelbar den durch die Medikation bedingten Stoffwechselstörungen entspringen oder direkte Folgen einer Vergiftung darstellen, und des Ferneren nichts, daß ein Teil der Beschwerden ihren Ursprung einer schlechten Beschaffenheit der Präparate verdankt, ein anderer als Giftwirkung der reinen Substanz, also, um einen nach Analogie des „Morphinismus“ gebildeten, besonders in England beliebten Ausdruck zu wählen, als „Thyreoidismus“ zu gelten hat. In letzterer Beziehung kann von einer scharfen, sicheren Abgrenzung der Symptome noch nicht gut die Rede sein. Daß Ekel, Erbrechen, Magenschmerz, Verdauungsstörungen, Krankheitsgefühl eine Wirkung giftiger Beimengungen, insbesondere zersetzter Eiweißkörper, sogenannter „Ptomaïne“, also eine Art fauliger Blutvergiftung, sein können, erweist das Ausbleiben dieser Erscheinungen da, wo an Stelle etwas zweifelhaft schmeckender oder riechender [464] Substanz ganz frisches Schilddrüsengewebe verwandt wurde. Anderseits wird Herzklopfen, Schwächegefühl in den Beinen, Kopfkongestion, Schlaflosigkeit von den Fabrikanten selbst, welche sich auf die Darstellung völlig ptomaïnfreier, „ungiftiger“ Präparate nicht wenig einbilden, als Folge zu starker Gaben aufgeführt, und, wie ich anerkennen muß, mit Recht. Endlich ist nicht zu bezweifeln, daß gewissen Individuen, männlichen wie weiblichen, eine Ueberempfindlichkeit („Idiosynkrasie“) gegen Schilddrüsenpräparate überhaupt, sei es das „Thyreoidin“ oder „Thyraden“, sei es selbst das seit der Entdeckung des Jodgehaltes der Schilddrüse durch Prof. Baumann dargestellte „Thyrojodin“, eigen ist. Und weil das in unberechenbarer Weise der Fall sein, bezw. der Begriff des Mißbrauchs innerhalb weiter, kaum geahnter Grenzen schwanken kann, bin ich immer ängstlicher geworden, ja ich lehne die Verordnungen der Schilddrüsenbehandlung nicht robuster Fettleibiger prinzipiell ab, wenn mir nicht die Garantie geboten wird, daß verläßliche Aerzte die Kur kontrollieren. Stets dringe ich auf kleine Anfangsgaben, zumal bei Herzleidenden.
Nichtsdestoweniger soll der Leser nicht den Eindruck empfangen, als ob bedenkliche Nebenwirkungen an der Tagesordnung wären. Im Gegenteil, sie sind im allgemeinen bei nur annähernder Um- und Vorsicht ziemlich spärlich gesät. Und seien wir ehrlich! Keine der von uns skizzierten „klassischen“ Entfettungskuren darf sich rühmen, unter allen Umständen den Pflegling vor unliebsamen Folgen bewahrt zu haben.
Wir stehen am Schlusse und dürfen den Leser, der uns freundlich gefolgt, auf das eingangs dieser Abhandlung Gesagte verweisen. So groß auch die Zahl der ungelösten Fragen auf diesem Gebiete noch ist, die entfettende Wirkung der Schilddrüsenfütterung ist eine dem Stadium des Versuchs entrückte, in hohem Maße beachtenswerte Thatsache, die von dem Dunkel des Wie? in praktischer Hinsicht kaum berührt wird. Ob es gelingen wird, eine konstante, die „früheren“ berühmten Entfettungskuren entbehrlich machende Wirkungsweise zu sichern, steht dahin. Einstweilen hat das Gewicht der thatsächlichen Beobachtungen die Schwingen der Phantasie vor bedenklichem Flug zu bewahren und dem Arzte den dringenden Rat zu erteilen, über der Schilddrüsenbehandlung die altbewährten Kuren nicht zu vergessen, vielmehr den hilfsbedürftigen Fettleibigen in sorgsamer Prüfung und ohne Voreingenommenheit den wahren Segen, sei es des alten, sei es des neuen Kurses, zu teil werden zu lassen.
Fredy.
Entschuldige mich, bitte, liebe Fanny! Dort geht ein alter Bekannter von mir, wir standen vor einiger Zeit noch in derselben Garnison zusammen!“
„Den Kürassieroffizier meinst Du – da drüben links? Den stattlichen, großen?“
„Eben den! Was den hierher verschlagen haben mag? Nochmals: entschuldige mich! Zu Tisch bin ich bestimmt da! Adieu, Kinder!“
Der so sprach, war ein brünetter, etwas untersetzter Artillerieoffizier. Gewohnheitsmäßig nahm er die Hacken zusammen, legte zwei Finger an den Mützenrand und nickte der Dame, neben der er gesessen, freundlich zu. Sie sah ihm sehr ähnlich; drei niedliche Kinder spielten um sie herum, der älteste Junge ließ seine Sandschippe sinken und sah voll Interesse hinter seinem Onkel her.
„Kennt Onkel Lutz auch Kürassiere?“
„Natürlich!“ gab die Mutter zur Antwort.
„Wie er bloß läuft! Schade, – er hätt’ mich mitnehmen können!“
Wirklich mußte der Artillerist einen tüchtigen Schritt nehmen, um den andern, der schon einen guten Vorsprung hatte, einzuholen. Eben bog der Kürassierlieutenant um eine Gruppe von Bäumen, die eine ziemlich große Waldwiese umstanden, als er hinter sich den Kiessand unter hastigen Schritten knirschen hörte und gleich darauf eine Hand an seiner Schulter fühlte.
„Dreh’ Dich um, ich kenn’ Dich nicht!
Bist Du’s oder bist Du’s nicht?“
rief der brünette Herr atemlos, aber vergnügt, und fuhr dann fort: „Na, Trutzberg, das ist doch wahrhaftig niedlich, Dich hier zu treffen! In diesem Strandnest! Da soll doch gleich … an alles andere hab’ ich eher gedacht, als Dich hier zu finden! Was in aller Welt hast Du hier verloren?“
„Geb’ Dir die Frage zurück!“ sagte Trutzberg in seinem etwas schleppenden Ton. „Red’ Du zunächst und hübsch ausführlich; was machst Du hier?“ Es klang, wie wenn er selbst Zeit gewinnen wollte, während der andere sprach.
„Ich – dabei ist weiter nichts Wunderbares! Oder hast Du vergessen, daß ich hier in Ostpreußen eine Schwester verheiratet habe – ’nen Großkaufmann hat sie geehelicht, und der hat sich hier in diesem Idyll ’ne Villa gebaut, weil ihm und seinem Nachwuchs die See so besonders gut bekommt. Na, und da wollten mich die Leutchen mit dabei haben, und für ’n paar Wochen läßt sich’s schon aushalten, obgleich auf die Dauer – ohne Kameraden – ohne Kasino – na, bißchen öde natürlich! Aber ’mal ‚Familie simpeln‘ muß auch sein, und der Schwager ist eigentlich ’n riesig netter Kerl!“
Trutzberg lächelte etwas ironisch bei diesem Lob; er wußte, daß Lutz von Bredwitz’ Schwester sehr reich geheiratet hatte und daß ihr Mann seine Börse für den Schwager Lieutenant großmütig offen hielt.
„Na ja!“ Bredwitz hatte das Lächeln auf dem Gesicht seines Begleiters bemerkt und nickte etwas verlegen vor sich hin. „Schon mehr wie nett ist er eigentlich; ich hab’ ihm viel zu danken. Schließlich, was soll Philipp der Gute – so nenn’ ich ihn – mit all dem Mammon anfangen?“
„Du sprachst doch von Nachwuchs?“
„Freilich, drei reizende Kinder hat er! Doch die kriegen immer noch mal genug; Papas überseeische Witze werfen ja ’n kolossales Stück Geld ab. Aber nun endlich von Dir! Freut mich kolossal, Dich zu sehen! Was willst Du hier, Edler?“
Hans Henning Edler zu Trutzberg – von den Kameraden häufig kurzweg „Edler“ genannt – sah aus, als ob ihm dies Verhör recht unbehaglich wäre. Ueber seiner geraden Nase bildete sich eine Falte, die Augen blinzelten hochmütig.
„Wie lange bleibst Du noch?“ fragte er kurz.
„Drollige Frage für ’nen Menschen, der vorgestern vom Rhein heraufgekommen ist! Drei Wochen Urlaub – Major der reine Zucker – letzte Parade blendend. Und Du?“
„Was? Ich?“
„Wie lange Du bleibst, natürlich?“
„Ja so! Hängt von – von – diesem und jenem ab! Urlaub gleichfalls drei Wochen!“
„Schön! Also da bleiben wir immer zusammen!“ Bredwitz schob seinen Arm unter den des hochgewachsenen Gefährten und lachte ihn munter an. „Haben uns ja die Welt zu erzählen!“
Darauf erwiderte Trutzberg zunächst nichts. Seine Augen gingen über den Kameraden weg in die Baumwipfel hinauf, die da im warmen Sommerwind sacht ihre Blätter regten. Er hatte ja Bredwitz gut leiden können, als sie zwei Jahre hindurch am Rhein in derselben Garnison standen, allein jetzt paßte es ihm gar nicht, den gemütlichen Lutz hier zu finden. Mußte denn immer und überall, selbst in diesem obskuren Erdenwinkel, irgend einer kommen und ihm auf die Finger sehen, wenn er etwas unternehmen wollte? Konnte er nichts unbemerkt thun? Freilich abschütteln würde sich Bredwitz nicht lassen, und wie sollte er das auch anfangen, wo ihm derselbe auch nicht das mindeste zuleide gethan hatte? Es würde nichts helfen, er mußte ihn zum Mitwisser machen, denn that er dies nicht, so würde Bredwitz auch ohne das alles sehen und hören, hier, in diesem winzigen Badenest, wo das Unterhaltungsbedürfnis der Fremden von dem Thun und Lassen der lieben Nächsten zehrt.
„Zunächst,“ sagte Bredwitz, „wie ist es? Kommst Du mit mir ein Glas Sherry trinken? Ganz vernünftigen, strebsamen Sherry,
[465][466] auf mein Wort! Hier ist so ’n Gebäudchen, nennt sich ganz stolz Hotel, da ist er zu finden; Philipp der Gute hat die Quelle erschlossen. Also – begleitest Du mich?“
„N–n–ein!“ entgegnete Trutzberg zaudernd. „Kann jetzt nicht! Andermal! Augenblicklich muß – habe ich – such’ ich etwas!“
„Suchst etwas? Hier?“
„Ja!“
„Auf dieser grünen Wiese? Persönliches oder Sächliches?“
„Persönliches!“
„Ich sehe hier weit und breit nichts anderes als ein Kind!“
„Ganz recht!“
„Oder meinst Du die Bonne bei ihm? Wir sind noch nicht nahe genug heran. Falls sie etwa jung und hübsch ist, ließe es sich ganz gut begreifen, wenn –“
„Nichts da! Bleibt ganz aus dem Spiel!“
Bredwitz sah verdutzt zu dem Redner empor, der in seinem gewöhnlichen schleppenden Ton weiter sprach und die Hand am Schnurrbart hatte.
„Erlaub’ mal, Edler, Du mußt Dich in diesen anderthalb Jahren gewaltig verändert haben! Seit wann in aller Welt interessierst Du Dich denn für Kinder?“
Trutzbergs Blick ging geringschätzig über Bredwitz hinweg.
„Kommt Dir keinen Augenblick der erleuchtende Gedanke, daß Kinder auch Mütter haben können?“
„Ah so – natürlich – na, das wär’ mir schon mit der Zeit eingefallen – kam mir bloß so komisch vor, weil Du doch Kinder nie leiden konntest! Sieh mal, sieh mal! Wie ist denn der Vater?“
„Tot!“
Bredwitz’ Augen wurden ganz groß, ihm ging endlich das betreffende Licht auf.
„Witwe also?“
„Witwe!“
„Schönheit?“
„Gar nicht!“
„Und Dein heiliger Ernst?“
„Allerheiligster!“
„Gott bewahr’ mich!“ rief der Artillerist förmlich erschrocken und versank in einiges Nachdenken.
Also heiraten wollte Hans Henning Edler zu Trutzberg – alles Ernstes heiraten! Und es eignete sich kaum jemand aus Bredwitz’ ganzem großen Kameradenkreise so schlecht für die Ehe wie Trutzberg; er hatte eine grundschlechte Meinung von den Frauen, er behandelte sie danach, und sie hingen ihm an, liefen ihm nach, verwöhnten ihn, wo sie wußten und konnten, und dazu lachte er und zuckte die Achseln.
Allerdings – Zeit, höchste Zeit mochte es sein, daß der Edle zu Trutzberg sich endlich „arrangierte“! Wenn Bredwitz es recht bedachte, war dies schon vor anderthalb Jahren in der rheinischen Garnison notwendig gewesen, und er hätte es gern gewußt, wie der damals schon stark verschuldete Kamerad es inzwischen angefangen hatte, sich zu halten. Der Oberst hatte bereits recht deutliche Winke gegeben, im Regiment war allerlei gemunkelt worden, aber Trutzberg that gar nicht dergleichen, er trat sorglos auf wie zuvor. Er verstand zu leben, war ein verwegener Reiter, leidenschaftlicher Jäger, waghalsiger Spieler, und sein Glück bei den Frauen war sprichwörtlich. Ohne nennenswertes Vermögen – was er etwa besessen hatte, war längst dahin ohne reiche Verwandte … wie fing der Mensch es an, zu leben, so zu leben? Seine Versetzung in die entlegene ostpreußische Garnison war freilich ganz plötzlich gekommen … ob die damit zusammenhing? Der „Edle“ liebte es nicht, über sich und seine Empfindungen zu sprechen. Im allgemeinen faßte er das Leben auf wie ein Würfelspiel … ob ihn der große Becher hierhin oder dorthin warf, das mochte ihm ziemlich einerlei sein. Er ließ sich von den Kameraden „wegessen“, zeigte sich dabei als vorzüglicher Gesellschafter, wie immer, wenn er wollte, und verabschiedete sich in seiner sorglosen Art; von Trennungskummer bemerkte niemand die Spur an ihm. Der kleine Bredwitz hatte Trutzberg recht gern gehabt, er hatte sich willig von ihm imponieren lassen und manch liebes Mal in den verflossenen achtzehn Monaten an den „schneidigen“ Kameraden gedacht. Gehört hatte er seitdem nichts mehr von ihm, nicht einmal eine Postkarte hatte der „Edle“ für seine bisherigen Freunde am Rhein übrig gehabt.
Und jetzt war er hier in diesem entlegenen Stranddorf und wollte heiraten! Wie die betreffende Frau wohl sein – wie sie aussehen – und vor allem, wieviel Vermögen sie haben mochte? Sollte es sich wirklich dabei nur um den Versuch handeln, sich zu „arrangieren“?
Während sich Lutz, „das dicke Lützelchen“, wie ihn die Kameraden nannten, solche Gedanken durch den Kopf gehen ließ, waren die zwei Offiziere im langsamen Schleudern über die ziemlich große Waldwiese bis in die Nähe des Kindes gekommen. Dieses, ein etwa sechsjähriger, feingebauter Knabe, in einen hellen, zierlichen Matrosenanzug gekleidet, war eifrig beschäftigt, mit einem kleinen Spaten Pflänzchen aus der Erde zu stechen und sie in einen neben ihm stehenden blau angestrichenen Karren zu legen. Die Bonne, eine junge, nicht sonderlich hübsche Person, saß mit ihrer Häkelei auf einer Bank.
„Ist’s denn ein nettes Kind?“ fragte Bredwitz halblaut.
Hierauf hatte Trutzberg sein gewohntes Achselzucken.
„Nett?“ sagte er endlich gleichfalls leise, „eine schwierige Beigabe ist er und ein notwendiges Uebel dazu – sie betet den Jungen an!“
„Das ist doch kein Unglück!“ gab der andere zurück. „Du mußt eben machen, daß sie Dich noch mehr anbetet, und das dürfte Dir nicht zu schwer werden! Bist Du denn gut Freund mit dem Knirps?“
„Im Gegenteil! Er kann mich nicht ausstehen!“
„Ach was! Das bildest Du Dir wohl nur ein!“
„Ist nicht mein Fall sonst!“ Trutzberg lächelte spöttisch und ging dicht an den Knaben heran. „Guten Tag, Fredy!“ sagte er freundlich.
Der Kleine, der gebückt, ganz vertieft in seine Beschäftigung, dagestanden hatte, fuhr nach Art sehr nervöser Kinder erschrocken zusammen und hob ein feines, blasses Gesichtchen mit großen grauen Augen zu den Ankömmlingen empor. Die Bonne war beim Anblick des schönen Kürassieroffiziers rot geworden und erhob sich in Verwirrung von ihrem Sitze.
„Nimm doch den Hut ab, Fredy, und sag’ guten Tag,“ sagte sie vorwurfsvoll. „Was müssen denn die Herren von Dir denken? Solch’ ein großer Junge wie Du, und weiß noch immer nicht, was sich schickt!“
Fredy ließ den Spaten fallen und zog mit beiden Händen den breitrandigen Strohhut vom Kopf. Sein Mund blieb stumm.
„Soll ich denn keine Hand bekommen?“ fragte Trutzberg und hielt ihm die seine hin.
Ein schüchternes Händchen hob sich verlegen und zögernd.
„Die Rechte, Fredy, die Rechte!“ rief die Bonne eifrig.
„Wie oft hat Mama Dir das gesagt! Die Hand, in der Du den Löffel hältst!“
„Lassen Sie ihn nur, Elise!“ fiel der Kürassier ein. „Das findet sich alles! Wir werden noch die besten Freunde. Sag’ mal diesem fremden Herrn hier, wer ich bin, Fredy!“
„Herr Lieutenant Freiherr von Trutzberg!“ sagte das Kind leise.
„Schön! Aber wie hat Dir Mama gesagt, daß Du mich nennen sollst? Weißt Du noch? Neulich, wie wir auf dem Spaziergaug nach der Düne zusammen waren! Besinn’ Dich hübsch!“
„Onkel – Onkel Hans,“ half Elise nach.
Fredy schüttelte den Kopf. „Weiß nicht mehr!“
„Aber Fredy! Mit Deinem guten Gedächtnis! Wo Du sonst alles behältst, was man Dir einmal vorspricht!“
Die Bonne sah erzürnt und verlegen aus, daß ihr Zögling gerade hier, dem von ihr so sehr bewunderten Kavalier gegenüber, so wenig Ehre einlegte.
„Wenn Du meinen Namen nicht mehr weißt, den Dir Deine Mama so hübsch vorgesprochen hat, dann besinnst Du Dich am Ende auch nicht mehr auf das, was ich Dir mitbringen wollte – wie?“
Das Kind drehte langsam seinen Matrosenhut in den Händen hin und her und schwieg.
Trutzberg zog ein Päckchen aus seiner Tasche und wickelte eine grün schillernde große Eidechse heraus. Sie war aus Metall, hatte bewegliche Glieder, glitzernde Augen und spazierte, sobald man an einer kleinen Feder drückte, zierlich auf dem Erdboden hin und her.
„Sie gefiel Dir ja so gut im Schaufenster, und Du wolltest sie so gern haben. Nimm sie, ich hab’ sie für Dich gekauft!“
„Fredy – wie sagt man?“ rief Elise beinahe heftig.
[467] „Ich danke!“ Der Kleine machte, den Hut in der Hand, eine tiefe Verbeugung, rührte aber sein neues Spielzeug nicht an.
„Das ist ja ein reizendes Ding, das muß ich meinem Neffen auch schenken! Wo hast Du das gekauft?“ rief Bredwitz lebhaft.
„Hier in der Strandstraße, gleich rechts in solcher kleinen bunten Spielzeugbude!“
„Wollen doch mal sehen, ob ich sie zu behandeln verstehe!“
Mit einiger Umständlichkeit ließ sich „das dicke Lützelchen“ neben der Eidechse auf ein Knie nieder. „Zeig’ mir, Fredy, wie’s gemacht wird!“
Fredy hob seine dunkel umschatteten Augen und ließ sie ein Weilchen prüfend auf dem fremden Gesicht ruhen. Dann lächelte er ein wenig, faßte die Eidechse behutsam mit zwei Fingern und drückte geschickt an der Feder.
„Famos!“ rief Bredwitz beifällig und versuchte jetzt seinerseits mit Erfolg dasselbe Kunststück. „Siehst Du, das hast Du mir gut beigebracht. Mein kleiner Lutz wird sich freuen, wenn ich ihm dies gelehrige Vieh bringe. Ich hab’ ’nen Neffen nämlich, so alt wie Du, heißt auch Lutz, ebenso wie ich! Sprich mal nach: Onkel Lutz von Bredwitz!“
„Onkel Lutz von Bredwitz!“ sagte Fredy willig.
„Bravo! Vielleicht könnt Ihr beiden Jungens mal zusammen spielen. Was meinst Du, Fredy, soll ich ,Lutz den Kleinen’ mal vorläufig von Dir grüßen?“
„Bitte, ja – grüß ihn!“
„Na also adieu denn! Auf gute Freundschaft! Hand her, Kamerad! Siehst Du, wie schön Du die Rechte geben kannst! Was willst Du denn mit all den Pflanzen?“
„Die – die kommen in meinen Garten. Da sind gar keine Wiesenblumen drin, und dies sind welche!“
„Grüß’ Deine Mama von mir!“ sagte Trutzberg und sein Ton hatte etwas Gezwungenes. „Wenn das Wetter schön bleibt, treffen wir heute im Wald zusammen. Wirst Du das bestellen?“
Fredy nickte.
„Adieu, Elise!“
„Empfehle mich, Herr Baron. Fredy, mach’ Deine Verbeugung!“
„Edler, ein bequemer Stiefsohn wird das nicht für Dich!“ brach Bredwitz das Schweigen, als sie beide außer Gehörweite waren.
„Das soll Gott wissen! Glaubst Du mir’s jetzt, daß mich der Schlingel nicht leiden kann?“
„Beinahe sieht’s so aus! Ob er in Dir den künftigen Stiefvater wittert?“
Trutzberg hob die Schultern. „Zu Dir hat er sofort Zutrauen gefaßt!“ sagte er dann.
„Ja, sieh mal, ich bin auch kein Kinderfeind – eher das Gegenteil!“ entgegnete Lutz treuherzig. „Ich kann die kleinen Kreaturen alle zusammen gut leiden, und ich möchte glauben, so dumm wie sie noch sind, sie fühlen es doch heraus. Ich hab’ nun auch Uebung von meiner Schwester her – das Gesindel ist rein wie versessen auf mich, ich muß mit ihnen spielen und toben, daß mir manchmal ganz wirblig davon wird. Wenn ich mal heirate – na, damit hat’s noch gute Wege! – ohne Kinder wär’ das nichts – Stück fünf, sechs, käm’ mir gar nicht drauf an! Wenn Du diesen kleinen Kerl, den Fredy, gern haben könntest, Edler –“
„Wie soll ich das anfangen?“
„Scheint mir keineswegs so schwer. Bißchen scheu, bißchen Muttersöhnchen –“
„Eben!“ fiel ihm der andere ins Wort und faßte seinen blonden Schnurrbart. „Wenn mir eine Art am meisten zuwider ist, dann ist es die! Wär’ das noch wenigstens ein flotter, dreister Bengel, den man aufs Pferd nehmen und mit zehn Jahren ins Kadettenkorps stecken könnte, so ein Junge, der sich vor dem Teufel nicht fürchtet und auf zarte, Gefühle pfeift … dann könnte sich’s eher machen! Aber solch eine Treibhauspflanze, achtig Prozent mehr Mädel als Bube – empfindlich, wie aus Mondschein gewoben …“ Trutzberg stieß während des Gehens verächtlich mit seinem Fuß die kleinen, dürren Aeste fort, die hier und da im Wege lagen.
„Was ist denn der Vater gewesen?“
„Ach – Landmann, hatte aber nebenbei allerlei gelehrte Passionen, ein Erz-Stubenhocker, Nörgler, Grübler von Profession – und so wird der Junge werden. Keinen Schimmer einer militärischen Ader, ich glaube, er stürb’ die zweite Woche im Kadettenkorps vor Bangen und Heimweh!“
„Und die Mutter?“
„Ach!“ machte der Kürassier ungeduldig. „Die wäre soweit, ohne den Jungen, ganz liebenswert. Du wirst sie ja sehen.… Aber sie trennt sich nie von dem Kinde, nie, sag’ ich Dir! Du sollst die beiden beieinander sehen, ’s ist das sentimentalste, süßlichste Verhältnis, das man sich überhaupt vorstellen kann.“
„Ja, meinst Du denn, daß diese – na, nennen wir’s beim rechten Namen – daß diese Abneigung von dem Jungen Dir gegenüber bei der Mutter schwer ins Gewicht fällt?“
„Wenn ich das nicht dächte, würd’ es mir da wohl gerade einfallen, dem verzogenen Prinzen die Cour zu machen?“
„Seid Ihr oft zusammen?“
„Täglich! Und ich hätte die besten Chancen, wie ich Dir schon sagte – ach! lächerlich! Daß das für mich ein Hindernis sein soll!“
„Du wirst mir doch bald erlauben, ihre Bekanntschaft zu machen?“
„Gern! Gleich heute. Du kannst den Jungen übernehmen – ich übernehme die Mutter!“
„Na, schön also! Wann geht es los mit Deiner Waldpartie?“
„Halb fünf etwa! Nur ein kleiner intimer Kreis, Versammlungsort das Waldhaus!“
„Wenn ich Lutz den Jüngeren als Spielkameraden für Fredy mitbrächte … ?“
„Sollte mir lieb sein! Also auf Wiedersehen!“
„Wiedersehen, Edler!“
(Fortsetzung folgt.)
Ein 3000jähriger Grenzstein. Ein interessantes Beispiel dafür, wie gut die alten Orientalen es verstanden, ihren Urkunden und Verträgen, selbst wenn sie nichts weniger als Staatsangelegenheiten betrafen, eine fast ewige Dauer zu verleihen, bildet ein großer in Babylonien aufgefundener Grenzstein aus Basalt, der in einem der Pariser Museen, dem „Cabinet des Médailles“, aufbewahrt wird. Seine ausführliche Keilschrift giebt sowohl über das betreffende Grundstück als seine Besitzer und ihre Gebräuche bei Schenkungen und Besitzübertragungen allerlei Auskunft. Das Feld, dessen Lage und Größe auf dem Stein genau verzeichnet ist, bildete nämlich die Morgengabe eines alten Bürgers von Kar-Nabu am Tigris für seine Tochter und seinen Schwiegersohn. „Sirusur,“ heißt es in der entzifferten Inschrift, „Kilnamandus Sohn, schenkte es für alle zukünftigen Tage der Dur Sarginaiti, seiner Tochter, der Braut Tab-asap-Marduks, und dem Tab-asap-Marduk, Sohn des Ina-e-saggil-irbu, welcher dieses schrieb, um ununterbrochen die Erinnerung an diese Schenkung zu verewigen, und auf diesem Stein den Willen der großen Götter erwähnte.“ – Schwerlich hätte der Vater des glücklichen Bräutigams, der so eifrig darauf bedacht war, die vorgegangene Besitzverändernng schleunigst zur Kenntnis der ganzen Stadt zu bringen, wohl gedacht, daß sich die Gelehrten über seinen Stein noch die Köpfe zerbrechen würden, nachdem das alte Babylonische Reich schon seit 2500 Jahren zerfallen ist. Wie sehr man übrigens darauf dachte, durch religiöse Bedenken den Eigennutz anderer von seinem Eigentum fernzuhalten, lehrt die Fortsetzung der Inschrift. Es folgen Verwünschungen gegen jeden, der die Marksteine des Feldes verrückt, dasselbe für sich beansprucht oder irgend etwas an seinem Umfang verändert: „Möge Ninip,“ so lautet eine der offenbar von alters her üblichen Formeln, „der Sohn des Zenith, der Sohn Els des Erhabenen, seine Länder, Grundstücke und Grenzen wegnehmen! Möge Bin, der Wächter des Himmels und der Erde, der Sohn des Krieges, Anu, sein Feld überschwemmen!“ Bei einem Verkauf würde die Summe ebenfalls genau angegeben worden sein und die Inschrift auch noch den Schwur der Parteien, sich genau an den Vertrag zu halten, in sich geschlossen haben. Bw.
Schwerer Dienst. (Zu dem Bilde auf S. 449.) „Wehrstand“ und „Nährstand“ sind auf unserem ergötzlichen Bilde in eine ganz neue und eigenartige Beziehung gebracht, und man wird zugestehen müssen, daß der so viel gescholtene „Militarismus“ dabei gar keine üble Rolle spielt. Wenn der Krieg unleugbar selbst gutgeartete Menschen rauher macht und ihr feineres Empfinden abstumpft durch die gräßlichen Vorgänge, die er notwendigerweise im Gefolge hat, so läßt sich das von dem friedlichen Waffendienste kaum sagen. Vielmehr erhält der oft plumpe und schwerfällige Bursche vom Lande durch die militärische Uebung und das Beispiel der älteren Kameraden feinere Manieren und einen gewissen „Schliff“, so daß man ihn bald kaum wiedererkennt. Wenn er nun gar mit dem Dienst als „Bursche“ betraut wird, so ist es meist ganz erstaunlich, welche Fülle von Gelegenheit er erhält, seine Geschicklichkeit durch die verschiedensten Dienstleistungen zu verfeinern. Was wird ihm da nicht alles zugetraut und anvertraut! In der Küche kann er es als gelegentlicher Vertreter der anderweit beschäftigten Köchin bis zum
[468] Fachmann in der höheren Kochkunst bringen, in der Kinderstube und im Garten sogar zum Stellvertreter der Amme. Das ist für unsern Krieger freilich ein schwerer Dienst. Aber die anstellige Art, wie er dem Kleinen die Flasche reicht, aus der nun dieses mit durstigen Zügen die Milch trinkt, läßt darauf schließen, daß er in allem, was Trinken betrifft, seinen Mann stellt. E. M.
Der Wettin-Obelisk in Dresden. Mitte Juni 1889 wurde in der Residenz des Königreichs Sachsen das achthundertjahrige Jubiläum des angestammten sächsischen Fürstenhauses Wettin in glanzvoller Weise begangen. Die Straßen Dresdens prangten damals im prächtigen Festschmuck, namentlich bildete der Schloßplatz mit den beiden Wettin-Obelisken, einem Werke der Architekten Schilling und Gräbner und des Bildhauers Johannes Schilling, des berühmten Schöpfers des Nationaldenkmals auf dem Niederwald, einen Glanzpunkt des Ausschmucks der Stadt. Da tauchte denn gar bald der Gedanke auf, diese monumental künstlerischen Schmuckbauten in dauerhaftem Material auszuführen und sie der Nachwelt als ein bleibendes Erinnerungszeichen jener denkwürdigen festlichen Tage zu erhalten. Der Rat und die Stadtverordneten waren sofort für diesen Gedanken gewonnen, und alsbald wurde der Beschluß gefaßt, einen Obelisken herzustellen und auf diesen den monumentalen Schmuck beider zu vereinigen. Nunmehr ist das Denkmal vollendet, und seit dem 23. April dieses Jahres – dem Geburtstage König Alberts – prangt dasselbe in seiner Schönheitsfülle und künstlerischen Wirkung als Zierde der Residenzstadt vor dem Prinzenpalais am Taschenberg, zwischen den Zwingerbauten und dem königlichen Residenzschlosse.
Der Obelisk, entworfen von den Architekten Schilling und Gräbner, nimmt eine Grundfläche von 4½ m im Geviert ein und ist nahezu 19 m hoch. Er besteht aus dem etwa 9 m hohen Postament und der sich verjüngenden Spitzsäule, die gegen 10 m mißt. An den Seiten des Postaments sind vier von den Bildhauern Grundig und König ausgeführte Waffengruppen angebracht, welche an verschiedene Epochen der sächsischen Geschichte erinnern. Die Rückseite weist außerdem in goldenen Lettern die Inschrift auf: „Errichtet von der Haupt- und Residenzstadt Dresden“, die Vorderseite: „Zur Erinnerung an die Jubelfeier 800jähriger Herrschaft des Fürstenhauses Wettin 1889“. Zwei sitzende weibliche Kolossalfiguren von mächtiger dekorativer Wirkung (von Professor Schilling modelliert) schmücken das Postament, wo es auf dem Granitsockel aufsteht: die „Gegenwart“ voll Jngendkraft und glückstrahlenden Lebens, gegen das Residenzschloß gewendet und dem König den im Kampfe errungenen Lorbeerkranz entgegenhaltend, und auf der anderen Seite die „Vergangenheit“, den Ruhm des Geschlechts im Buch der Geschichte verzeichnend. Oberhalb des Postaments, wo der Obelisk sich zu verjüngen beginnt, sind auf allen Seiten gewaltige goldene Lorbeerzweige angebracht. Der Körper des Obelisken ist in Kupfer getrieben und die Dekorationsstücke sind in Bronze gegossen. G. Irrgang.
Ritt zur Preisverteilung. (Zu dem Bilde S. 461.) Der Mühlenbauer war auf seine Pferde stets stolz und Recht hatte er schon dazu.
Verwies ihn sein Bedarf auch nur auf die derberen Rassen, die Auswahl, die er traf, war stets die eines Kenners und Liebhabers. Es war eine Freude, die schmucken wohlgepflegten und feurigen Rosse anzusehen. Da kam der Tag, an dem in der Provinzialhauptstadt eine landwirtschaftliche Ausstellung stattfinden und auch eine Schau über Bauernpferde abgehalten werden sollte. Sind doch in unserer Zeit die landwirtschaftlichen Vereine wie die Regierungen gleich bemüht, die Zucht und Pflege der Pferde auf dem Lande in jeder Weise zu heben, und Ausstellungen mit Preisverteilung gehören zu den bewährtesten Mitteln dieser Bestrebungen.
Die drei besten seiner stattlichen Gäule bringt nun der Mühlenbauer zur Preisbewerbung, und während er auf dem Rappen reitet, prüft er noch einmal die „Kondition“ seiner Lieblinge. Der Schimmel bewährt sich heute ausgezeichnet und wir teilen gern die Hoffnung des Besitzers, daß er den ersten Preis erhalten werde. *
Die Erdpyramiden bei Bozen. (Zu dem Bilde S. 465.) Wenn wir eine geneigte Fläche sandigen oder kiesigen Bodens betrachten, während Regen auf dieselbe fällt, sehen wir, daß das über die Fläche herabrieselnde Regenwasser sich seine bestimmten Wege sucht. Es schwemmt die lockersten kleinsten Bestandteile der Fläche nach abwärts und verschont dagegen jene Punkte, wo größere Steine liegen. Durch öfter wiederkehrende Regen wird schließlich eine solche Kiesfläche mehr und mehr zerschlitzt und zerspalten: nur jene Erhöhungen bleiben zurück, die durch einen größeren Stein wie durch eine Art Haube oder Schild gedeckt sind. In solcher Weise kann sich eine ganze Kiesfläche im Laufe langer Zeiten in jene seltsamen Gebilde verwandeln, die man in der Geologie als Erdpfeiler oder Erdpyramiden bezeichnet. Es sind spitze Kegel aus Kies, neben- und übereinander aufragend, häufig auf ihrer Spitze noch jenen schützenden Stein tragend, dem sie ihre Entstehung verdankten. Ob sich aus einer Kies- oder Erdfläche solche Erdpfeiler bilden können, hängt von mancherlei Bedingungen ab: von der Festigkeit der Erdschichte, von ihrer Neigung, von dem größeren oder geringeren Schutze, den sie durch die auf ihr sich ansiedelnde Pflanzenwelt etwa genießt. Eine gewisse Mischung von thonigen oder lehmigen und sandigen Bodenbestandteilen scheint für diese seltsame Bodenbildung erforderlich zu sein. In Europa finden sich besonders charakteristische Erdpyramiden im südlichen Tirol: bei Bozen, auch unweit des Schlosses Tirol bei Meran. Man kann sie auch während der Fahrt über den Brenner zwischen Innsbruck und Matrei beobachten. Ungleich großartiger finden sich diese Felsgestalten im nordamerikanischen Gebiet von Colorado, am Rio Grande. Unser Bild zeigt jene Erdpyramiden, welche auf dem Wege von Bozen nach Klobenstein zu sehen sind; im Hintergrunde erheben sich die zerklüfteten Kalkschrofen des „Schlern“, noch weiter zurück der gewaltige Langkofel. M. H.
Fröhliche Fahrt. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wem so reines Glück aus den Augen strahlt wie den beiden da, die uns aus dem Friedrich Prölß’schen Bilde entgegen lachen, dem verläuft auch die langweiligste Eisenbahnfahrt in heller Fröhlichkeit.
Wenn’s aber gar den ersten Besuch bei der Ahnl gilt, dem der Loisl mit seinem herzigen Schatz, der Lisei, entgegenfährt, und die gute alte Frau die drei Stunden von ihrem Dorf her bis zur Station nicht scheute, um die Ankommenden gleich hier zu begrüßen, da würzt die fröhliche Fahrt noch extra die gute Aussicht auf den herzlichen Empfang bei der Ankunft.
Der Grubhoferin ist’s immer noch ein ungewohnt Ding, daß die Eisenbahn so hoch ins Gebirg sich verstiegen hat und fast vor der Zugspitz erst Halt macht. Als sie heute morgen sich in aller Frühe auf den Weg begab, sind ihr viel grausige Bilder von Unglücksfällen, die auf der Eisenbahn schon passiert sind, durch den Sinn gegangen. So schaut sie mit ängstlicher Sorge dem Enkel und seiner Braut entgegen. Endlich läuft der Zug ein und da, noch ehe er hält, beugen sich die Lisei und der Loisl zum Fenster heraus, um nach der Ahnl zu schauen. Potz Blitz, ist das eine Saubere, die sich der Prachtbub da ausgesucht hat! Stolz und Freude überstrahlt nun das alte runzlige Gesicht und ihr treues Herz ist aller Sorge ledig. Gelt, Alte? Den beiden hat die Fahrt hinter dem funkensprühenden Lokomotivungetüm nichts angethan. Und wie gut sie ausschauen und wie fröhlich sie ihr zuwinken! … Willkommen, willkommen! … Das ist ein Fest für die Grubhoferin, und im stillen lobt sie nun die Eisenbahn, die ihr gestatten wird, auch später noch oft den Besuch der lieben braven Kinder zu empfangen … Uns aber, die wir die Zwei, echte Herzensfreude im Blick, mit anschauen dürfen, uns ist’s, als sende uns durch sie die schöne Bergwelt einen Gruß zu, der uns selber einlädt zu fröhlicher Fahrt durch ihre Thäler! Und auch wir segnen im stillen die Eisenbahn, die uns gestattet, in nicht zu langer Zeit wieder einmal dort zwischen den Waldbergen und Firngipfeln Alpenluft zu atmen und uns an der dort waltenden Lebensfrische zu erquicken, welche dem herzigen Madl und dem lebfrischen Burschen auf unserm Bilde so lustig aus den Augen blinkt. J. P.
Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (3. Fortsetzung). S. 449. – Schwerer Dienst. Bild. S. 449. – Die Perle der Antillen. Von Gustav Diercks. S. 455. Mit Abbildungen S. 452 und 453, 456, 457, 458 und 459. – Die Bekämpfung der Fettleibigkeit. Von Prof. Paul Fürbringer in Berlin. S. 460. – Auf dem Ritt zur Preisverteilung. Bild. S. 461. – Fredy. Novelle von Marie Bernhard. S. 464. – Die Erdpyramiden bei Bozen. Bild. S. 465. – Blätter und Blüten: Ein 3000jähriger Grenzstein. S. 467. – Schwerer Dienst. S. 467. (Zu dem Bilde S. 449.) – Der Wettin-Obelisk in Dresden. Von G. Irgang Mit Abbildung. S. 468. – Ritt zur Preisverteilung. S. 468. (Zu dem Bilde S. 461.) – Die Erdpyramiden bei Bozen. S. 468. (Zu dem Bilde S. 465.) – Fröhliche Fahrt. S. 468. (Zu unserer Kunstbeilage.)
[468 a]
Beilage zu No 27. 1896.
Der neue Rheinhafen von Düsseldorf. Düsseldorf, die bekannte Pflegestätte schöner Künste und der Wissenschaften, des Handels und regen Gewerbefleißes im Rheinlande, prangte am 30. Mai im festlichen Schmucke. Fand doch an jenem Tage die feierliche Eröffnung des neuen Rheinhafens statt, der das unzulänglich gewordene alte Werft ersetzt und eine neue kräftige Bürgschaft für das Fortblühen der Stadt bietet. Nach fünfjähriger harter Arbeit wurde das Werk unter einem Kostenaufwande von 9 965 000 Mark vollendet. Der neue Hafen liegt im Südwesten der Stadt. Die Gesamtanlage hat eine längliche Gestalt und besteht aus zwei voneinander völlig getrennten Teilen. Der kleinere dient als Petroleumhafen, der größere zerfällt in verschiedene Becken und umfaßt den Zoll-, Handels- und Holzhafen. Unsere Abbildung zeigt uns den Handelshafen, wie er sich am Festtage der Eröffnung dem Blicke des Beschauers darbot. Rechts am Ufer bemerken wir zunächst einige Lagerhäuser bedeutender Düsseldorfer Firmen und den großen elektrischen Kran. Weiter nach hinten ist das Zollniederlagegebäude sichtbar – ein sehr schöner, mit vielen Türmchen verzierter Bau. Noch weiter im Hintergrunde schiebt sich rechts eine Landzunge vor; es ist dies der Schutzdamm für den Zollhafen, der gleich bei dem Zoll-Niederlagegebäude beginnt. Diese Landzunge bildet mit dem links sich vorschiebenden Schutzdeiche den Eingang zum neuen Hafen. Zuletzt im Hintergrunde wird der Rhein sichtbar, welchen die Häuser der Stadt Düsseldorf umsäumen.
Kafferndorf im nördlichen Transvaal. Seitdem in Südafrika die Goldfelder entdeckt wurden, kann das Land nicht zur Ruhe kommen. Um die kostbaren Gründe werden Kriege geführt; denn die Eingeborenen wollen nicht gutwillig ihr Gebiet den in Scharen herbeiströmenden Goldsuchern überlassen. So hat England in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Feldzügen gegen die Kaffern unternehmen müssen, und gegenwärtig haben sich die erst im Jahre 1894 bezwungenen Matabele wiederum gegen England erhoben. Die Kaffern, zu denen auch die Matabele zählen, sind ein unsteter Volksstamm, der zumeist von Viehzucht und Krieg lebt. Dort, wo die Weißen festen Fuß gefaßt haben, mußten die Kaffern ihre wilden Gewohnheiten ablegen und arbeiten nun als Knechte im Dienste der Ansiedler oder in den Gold- und Diamantenminen. In dem der Civilisation noch nicht erschlossenen Innern haben sie aber ihre Eigenart bewahrt. Selbst im nördlichsten Transvaal am Limpopoflusse kann man noch echte Kafferndörfer sehen. Ein solches veranschaulicht dem Leser die untenstehende Abbildung. Die Hütten zeigen einen bienenkorbähnlichen Bau, sind mit niedrigen Eingängen und einem mächtigen Schilfdach versehen. Jede derselben ist mit einem aus Schilf oder Dorngestrüpp geschickt hergestellten, bis 2 m hohen Zaun umgeben, und eine gleiche Hecke umschließt das gesamte Dorf. In der Mitte sehen wir den großen Gemeindeplatz, auf dem Märkte abgehalten, Kriegszüge vorberaten und Tänze und Festlichkeiten aufgeführt werden. Unsere Abbildung gibt in trefflicher Weise den Charakter der Landschaft in Nordtransvaal wieder. Ein Hochland ist es, das zumeist mit hohem Gras und Schilf bestanden, teilweise auch von Wald bewachsen ist. Ein solcher reicht auf unserem Bilde links dicht an das Dörfchen heran. Im Hintergrunde schließt ein fernes Gebirge die große Ebene, „Veldt“ genannt, ab, aus welcher in ziemlicher Entfernung vom Dorfe, aber doch noch deutlich erkennbar, einige neu gegründete Ansiedelungen aus Europa stammender Goldgräber hervorlugen.
Etwas vom Reiskochen. Wer in Italien oder auch in Amerika Reisgerichte vorgesetzt bekommt, kann den großen Unterschied zwischen diesen und den deutschen Reisspeisen zu Gunsten der ersteren nicht genug hervorheben, unsere Hausmütter sollten deshalb die italienische sowohl wie die amerikanische Kochweise einmal erproben. Zur ersteren wird der Reis gewaschen, mit kaltem Wasser aufgesetzt, eben ans Kochen gebracht und abgegossen, und dies noch zweimal wiederholt. Dann röstet man ihn mit der Butter, die man bei uns erst später zugibt, durch, füllt die Flüssigkeit, in der man ihn kochen will: Milch, Fleischbrühe oder auch nur Wasser mit etwas Liebigs Fleischextrakt, Salz und Gewürze an und kocht ihn drei Minuten stark, setzt ihn an eine heiße Herdstelle fest verdeckt und läßt ihn dort dreißig Minuten stehen. Er ist dann trefflich weich, jedes einzelne Korn aber noch heil. – In Amerika überbrüht man den gewaschenen Reis mit kochendem Wasser, stellt ihn ins Wasserbad eine halbe Stunde, gießt ihn trocken ab, mischt ihn mit Salz und Butter, häuft ihn auf eine feuerfeste Schüssel und stellt ihn noch 20 Minuten verdeckt in einen heißen Ofen. Er ist dann ganz vortrefflich. L. H.
Kaffeeextrakt. Auf einfache und billige Weise läßt sich ein Extrakt herstellen, mit dem man sich zu jeder Zeit, namentlich auf Reisen, eine gute Tasse Kaffee rasch bereiten kann. Man gibt in eine Messingpfanne 60 g Farinzucker, röstet diesen ganz dunkelbraun, gießt dann 1 l Wasser dazu und überbrüht, wenn dieses kochend ist, 100 g gemahlenen Kaffee damit. Ist die Flüssigkeit durch die Maschine gelaufen, so übergießt man den Kaffee noch zweimal damit. Dann wird der Extrakt in Flaschen gefüllt. Bei Bedarf verdünnt man einige Löffelchen davon mit heißer Milch; damit hat man sehr guten Kaffee hergestellt. Der Extrakt hält sich 14 Tage frisch. S. A.
Tomatenmus. Feingeschälte Tomaten (Paradiesäpfel) werden mit wenig Wasser weich gekocht, mit Salz, Pfeffer, ein wenig gestoßenem Zimmet beliebig gewürzt, während des Kochens zu feinem Mus gerührt, mit geriebener Semmel oder Brot zu einem Brei angemacht und mit oder ohne Fleisch verspeist. Kr.
[468 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]
- ↑ Raphael.
- ↑ Die Liebenswürdigkeit der Leserinnen wird mich vor dem Argwohn bewahren, als bezweckte ich Angriffe auf das schöne Geschlecht. Allerdings steuern die Frauen zur großen Schar der Fettleibigen das weitaus überwiegende Kontingent bei. Ein Spaziergang in Marienbad, an den Badeanstalten der Ost- und Nordsee oder des Lidos erweist das sofort. Und trotzdem liegt die Schuld mehr bei den männlichen Kolossen als den weiblichen. Zur Ehrenrettung der Damen hat es bereits Prof. Immermann ausgesprochen, daß der natürliche Scharfsinn des Publikums selten irre geht, wenn es dem fettleibigen Mann ohne weiteres den Ruf eines unmäßigen Lebenswandels anheftet, beim korpulenten Weib mehr an die individuelle Anlage zur Krankheit glaubt. D. Verf.
- ↑ Vergl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1894, S. 654.