Die Gartenlaube (1896)/Heft 28
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Nr. 28. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Der laufende Berg.
(4. Fortsetzung.)
Der Morgen graute, als der Daxen-Schorschl aus einem unruhigen, von ganz absonderlichen Träumen gequälten Schlaf erwachte. Mit melancholischem Gesichte setzte er sich auf, und das erste, was er sah, war nicht die unfreundliche, fast kahle Stube um ihn her, mit dem verschlampten, halb zerstörten Gerät und den grauen Dielen, die Gott weiß wie lange kein Wasser und keine Bürste mehr gespürt hatten – nein, das erste, was Schorschl vor Augen schwebte, war ein rundes, von Erregung und Arbeit gerötetes Mädchengesicht, dessen blitzende Augen ihn halb ernst und halb verächtlich musterten und dessen rote Lippen in aller Ruhe zu ihm sagten: „Schorschl! Du bist ein Lump!“
Wütend schlug er mit der Faust auf die Kissen. „Kreuzhimmelsternsakradi! Laßt’s mich denn gar nimmer aus!“
Mit gleichen Füßen sprang er aus dem Bett, kleidete sich brummend an, nahm ein Handtuch über den Arm und ging in den Hof hinunter, um sich am Brunnen zu waschen.
Es war schon lebendig im Dorf und von überall tönte das Geräusch der Arbeit; nur die Daxen-Schmiede lag still und friedlich: da brüllte kein Rind im Stall, da tummelte sich keine singende Magd, die Esse rauchte nicht und an der Werkstätte war das Thor noch geschlossen. Aber das Bild dieses Friedens schien dem Schorschl gar nicht zu gefallen. „Pfui Teufel! Wie schaut’s bei uns aus!“ murrte er vor sich hin, während er Haus und Hof mit scheuem Blick überflog. „Und der ander’ schlaft natürlich noch! Recht hat er! Wie der Meister so der G’sell! … Aber wart, den will ich aufstampern!“ Mit wahrem Ingrimm rannte er ins Haus und zur Gesellenstube. Die Faust auf die Klinke schlagend, stieß er mit einem Fußtritt die Thür auf. „’Raus, Du, d’Arbeit wart’t!“
Schlaftrunken richtete Steffel sich auf und machte zwei Augen, als hätte sich das unerhörteste Wunder ereignet. Den Kopf schüttelnd, kroch er aus den Federn. Er schien Haarweh zu haben – man sah es an der Art, wie er die Brauen zusammenzog.
Als der Gesell nach einer Weile das Thor der Werkstätte aufthat und gähnend in der Esse das Feuer anschürte, stand Schorschl am Brunnen und wusch und rieb, als hätte er den Ruß und Schmutz eines ganzen Jahres von sich abzufegen. Und während er mit dem Handtuch Gesicht und Hände trocknete, spähte er „fuchsteufelswild“ immer wieder über das Gehänge des laufenden Berges hinauf und murmelte ein um das andere Mal: „Wart’ nur, Du! … Wart’ nur!“ Um nur flink genug an die Arbeit zu kommen, nahm er sich gar nicht die Zeit, das Handtuch ins Haus zurückzutragen, sondern warf es über die Brunnenröhre. Doch als er mit langen Schritten zur Werkstätte ging, in
[470] der sich die ersten, müden Hammerschläge des Gesellen hören ließen, mahnte ihn sein knurrender Magen, daß er zuerst für sich und Steffel die Morgensuppc kochen müßte.
In der Küche ging ihm alles hurtig von der Hand, und als die Suppe am Feuer brodelte, lief er in die Stube, um die Teller aufzulegen. Auf der Schwelle blieb er stehen und blickte erschrocken in dem verwahrlosten Raum umher. Jahr und Tag hatte er hier gelebt, das heißt, alltäglich ein paar Minuten zwischen diesen Wänden zugebracht, und niemals hatte ihm diese graue Verwilderung eine Mahlzeit verdorben. Jetzt aber stotterte er: „Kreuz Teufel! Da packt ein’ ja ’s Grausen an! Da kann ja kein ordentlicher Mensch nimmer essen, da herin! Wenn da ein Madl ’reinschaut … ich dank’! Da müßt ich ja Schand und Spott erleben!“
Mit so heißem Eifer, als stünde bereits die gefürchtete Reinlichkeitskommission vor der Thüre, rannte er davon, kam mit einem Schaff voll Wasser zurück und goß es über die Dielen aus. Dann begann er mit Besen und Putzlumpen, mit Seife und Bürste drauf los zu arbeiten, als hätte er zeit seines Lebens nichts anderes getrieben, als Dielen geputzt und Tische und Bänke weißgescheuert. Doch mitten in allem Ernst, mit dem er bei der Arbeit war, überfiel ihn plötzlich eine komische Vorstellung seiner selbst: der „lüftige“ Daxen-Schorschl mit Besen und Bürste! Zuerst mußte er lachen, aber dann wurde er vor Aerger rot bis unter die Haare. „Wenn mich jetzt einer sieht, der lacht sich krank an mir! … Und die da droben?“ Er sah sich um, als könnte er durch die Mauer hinaufsehen nach dem Gehäng des laufenden Berges. „Was die sich alles einbilden möcht’!“ Wütend schleuderte er die Bürste in einen Winkel und wischte an den Hüften die nassen Hände ab.
Aber auf den Dielen stand das Wasser, auf der Tischplatte der graue Seifenschaum – ob Schorschl wollte oder nicht, jetzt mußte er die begonnene Arbeit doch wohl zu Ende bringen und die Stube wieder trocken legen. Brummend holte er die Bürste hinter dem Ofen hervor und fing wieder zu scheuern an. Dabei kamen ihm ernste Gedanken. Und einmal seufzte er vor sich hin: „Keine Schulden halt sollt’ ich net haben … da ging’s ja leicht!“
Er begann in Gedanken einen Ueberschlag zu machen, wie viel er ungefähr nötig hätte, um all seine Schulden zu bezahlen. Was er beim Wirt im Buch und bei der Kellnerin auf der Tafel stehen hatte, das konnte er nur so beiläufig schätzen: „Hundert Markln, mein’ ich … da wird net viel fehlen!“ Und beim Krämer waren es vierundsechzig – das wußte er ganz genau, denn die Krämerin hatte ihn erst vor ein paar Tagen angefordert und ihm den Kredit gekündigt. Dazu noch Schuster und Schneider! Und was er sich da und dort zuweilen ausgeborgt hatte, wenn er mit leerer Tasche vor einer Tanzmusik oder einer lustigen Hochzeit gestanden! Vierhundertfünfzig Mark, alles in allem! Er sann und sann – und da kam immer noch ein Bröcklein dazu. Endlich aber fiel ihm nichts mehr ein. Rund fünfhundert!
Er atmete auf. „Gar so arg is’s ja doch net!“ Im gleichen Augenblick aber fuhr ihm ein kalter Schreck in die Haare – denn draußen auf der Straße sah er einen alten jüdischen Händler vorübergehen, ein gebeugtes, eingeschrumpftes Männchen, in langem abgeschabten Rock, mit einem Kleidersack auf dem Rücken und ein paar Lammsfellen über dem Arm.
„Mar’ und Josef! Der Rufel! Auf den hab’ ich ganz vergessen!“
Bei dem hatte er seit Fasching einen Schuldschein über vierhundert Mark stehen, die an Neujahr zu bezahlen waren.
Also im ganzen neunhundert! Da stiegen dem Daxen-Schorschl doch die „Grausbirnen“ auf, und während er die Holzbank scheuerte, traten ihm kalte Schweißperlen auf die Stirn.
Aber war er denn nicht vor zwei Jahren, als der Daxenschmiede die Gant gedroht hatte, noch weit übler dran gewesen? Und dennoch hatten ihn seine gutherzigen Verwandten aus dem Wasser gezogen! Und jetzt war doch der ehrliche Wille in ihm, ein ordentlicher Mensch zu werden – vielleicht halfen sie ihm ein zweites Mal?
„Probieren muß ich’s! Und heut’ noch! Es laßt mir kein’ Fried’ nimmer!“
Während er scheuerte und bürstete, dachte er sich die Worte aus, mit denen er seinen Verwandten, dem Berghofbauer, dem Zillerlenz und der dicken „Bäckenmahm’“, sein Anliegen vorbringen wollte und dabei erwachte in ihm ein Fünklein von Hoffnung, freilich nur ein ganz schwaches.
Endlich war die Stube trocken und sauber. Aber draußen in der Küche sah es bitter aus – zwei Stunden hatte Schorschl gebürstet und gescheuert und inzwischen war die Suppe eingekocht, so daß in der Tiefe des Topfes nur eine schwarze, übelduftende Kruste lag. Schorschl mußte die Kocherei von vorne beginnen, und als er nach einer halben Stunde den Gesellen endlich zum Frühstück rufen konnte, brummte Steffel: „So? Mir fallt schon der Magen ’nunter! Hab’ eh’ g’meint, daß ich heut’ verhungern muß!“
Beim Eintritt in die frisch gescheuerte Stube machte der Gesell ein verblüfftes Gesicht; und dann brach er in ein Gelächter aus, daß ihm Schorschl vor Wut und Verlegenheit am liebsten eine gesunde Tachtel hinter die Ohren gepflanzt hätte.
„Lach’ net … und iß!“
Der zornige Blick, mit welchem Schorschl diese Aufforderung begleitete, machte den Gesellen stumm.
Schweigend löffelten sie die Brennsuppe aus, in die sie Schwarzbrot einbrockten.
Als Schorschl den Löffel niederlegte, fragte er ernst und bedächtig wie ein alter Meister: „Was is denn für Arbeit da?“
Die Augen des Gesellen wurden immer größer: „Ein’ Leiterwagen muß ich b’schlagen.“
„So? … Der muß fertig sein bis auf ’n Abend!“
„Was? Bis auf ’n Abend? Ich kann doch net hexen?“
„Nachher lern’ ich Dir’s, wenn ich heim komm’! Jetzt hab’ ich ein paar Weg’ z’ machen. Marsch, weiter, an d’ Arbeit!“
Als Steffel bei der Thüre war, fragte Schorschl etwas unsicher, während er den Tisch abräumte: „Is die letzten Tag’ her kein Geld net ein’gangen?“
Der Gesell wurde verlegen. „Ja, ein bißl was. Aber das hab’ ich selber ’braucht … auf Essen und Trinken.“
„Sooo? … Von heut’ an sollst Dein Essen und Trinken in der Ordnung kriegen! Aber ’s Geld wird abg’liefert! Verstehst! … Und jetzt schau, daß Du an d’ Arbeit kommst!“
Kopfschüttelnd, als hätte er nicht recht verstanden, zog Steffel hinter sich die Thüre zu und murmelte sorgenvoll: „Der arme Mensch! … Der is überg’schnappt von gestern auf heut’!“ Dabei schien aber doch auch die Befürchtung in ihm aufzutauchen, als ob seine guten Zeiten jetzt vorüber wären. „G’fallt’s mir nimmer, so geh ich halt!“ dachte er und schüttelte wieder den Kopf.
Drin in der Stube stand Schorschl vor dem offenen Kasten und kraute sich unschlüssig hinter dem Ohr.
„Vielleicht wär’s doch besser, wenn ich’s auf ’n Sonntag verschieben thät’? … Da triff ich die Leut’ g’wisser daheim.“
Trotz dieser Ueberlegung griff er in den Kasten und holte seine neue Lederhose und die Sonntagsjoppe hervor. Aber – aufgeputzt wie zu einer Hochzeit – und Geld borgen? „Das schaut sich net gar gut an!“
In Hemdärmeln, das lederne Schurzfell umgebunden, verließ er das Haus. Wie schmuck er aussah! Der richtige Schmied! Kraftvoll und hoch gewachsen! Nur der Ruß an den Händen fehlte.
Auch den Leuten, die dem Daxen-Schorschl begegneten, schien es so vorzukommen, als ob an seiner Erscheinung irgend etwas nicht in Richtigkeit wäre. Sie blieben stehen und sahen ihm lachend nach, als wäre „Fasnacht“ und als hätte sich der Daxen-Schorschl „vermaschkeriert“. Er merkte das Aufsehen, das er machte, wurde vor Aerger dunkelrot im Gesicht und brummte einen Fluch um den andern vor sich hin. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt – aber er hatte nun einmal den Schuß in den Beinen; die gingen vorwärts, ob er wollte oder nicht.
Und da stand er auch schon vor dem Haus des Zillerlenz.
Zu dem hatte er seinen ersten Weg genommen, weil er auf ihn das meiste Zutrauen setzte; denn vor zwei Jahren hatte der Zillerlenz den größten Brocken für den Schorschl gezahlt, ganze sechshundert Mark. Da würden ihm doch jetzt die dreihundertundfünfzig auch nicht zu viel sein? So hatte sich Schorschl das eingeteilt: dreihundertfünfzig der Zillerlenz, ebensoviel der Berghofbauer und ebensoviel die dicke Bäckenmahm’! Da konnte er seine Schulden bezahlen und behielt auf der Hand noch ein Sümmchen für eine geregelte Wirtschaft während der nächsten Zeit.
[471] „Ja Schorschl! Wie schaust denn aus?“ rief ihn der Vetter lachend an. „Als ob von der Arbeit kämst?“
„Von der Arbeit? Na! Aber zur Arbeit will ich schauen! Und das g’hörig!“
Mit dieser Beteuerung leitete Schorschl sein Anliegen ein, wobei der Vetter immer wieder unter Lachen seine kleinen Späße machte. Je ernster Schorschl redete, desto lustiger wurde der Zillerlenz, und schließlich klopfte er dem langen Burschen lachend auf die Schnlter. „Schau, Schorschl, eher beiß’ ich mir d’ Nasen ab, eh’ ich auf Dich noch ein’ roten Heller verwend’. Kerl, Du bist ja wie der Brunn’ da draußen! Was man da ’nunterwirft, is beim Teufel und kommt meiner Lebtag nimmer ans Licht! Alles, was D’ willst … aber nur kein Geld nimmer!“
Schorschl verlegte sich aufs Bitten, aber der Vetter fertigte ihn mit so lustigen Späßen ab, daß er schließlich selbst mitlachen mußte, obwohl ihm Aerger und Beschämung die Kehle zuschnürten. Und kaum wußte er, wie er zur Thüre hinaus kam.
Als er draußen auf der Straße stand, blies er die heißen Backen auf. Das Fünklein Hoffnung, das noch in ihm glomm, schrumpfte bedenklich zusammen. Jetzt trafen fünfhundert auf den Berghofbauer und ebensoviel auf die dicke Bäckenmahm’. Und die beiden, das wußte er vom letzten Mal, hatten eine zähe Hand, besonders die Mahm! Also zuerst zum Berghofbauer!
Den traf er nicht zu Hause, sondern mußte ihn auf dem Feld aufsuchen, weit drunten im Thal.
Als er zur Kirche kam, überholte ihn der Purtscheller-Toni, der auf dem flotten Gig saß wie ein Fürst auf dem Thron und eine Trainingfahrt mit seinem Traber machte.
„Was, Schorschl, der greift aus!“
Mehr zu sagen hatte Purtscheller nicht Zeit – so flink trabte der siegreiche „Bräunl“ an dem Fußgänger vorüber.
„Der thät den Tausender auch net spüren!“ seufzte Schorschl, während er dem Purtscheller nachblickte und von der Straße in den Fußpfad einlenkte, der zu den Feldern führte.
Er hatte sich den „Dischkurs“ mit dem Berghofbauer durchaus nicht in rosigen Farben ausgemalt. Aber die Sache kam weit schlimmer. Der Bauer schrie, als hätte Schorschl einen Raubanfall auf ihn versucht, und schimpfte so laut, daß es all die Leute auf den benachbarten Feldern hören konnten. Eine Weile ließ sich Schorschl das gefallen, dann aber rührte sich der Zorn in ihm, und mit einem groben Wort drehte er seinem Vetter den Rücken.
Um nicht an den lachenden Leuten vorüber zu müssen, die den Auftritt mit angehört hatten, stapfte er quer durch eine sumpfige Wiese der Straße zu.
Schwer atmend wischte er sich den Schweiß von der Stirne und machte zwei Fäuste. „Die G’schicht wird ein’ Haken haben! Jetzt möcht’ ich brav sein … jetzt lassen s’ mich net! Und jeder giebt mir noch ein’ Tritt dazu! Die Geizkragen übereinander!“
Die Straße war überschwemmt, und bis an die Knöchel mußte Schorschl in dem schlammigen Wasser waten, das mit dumpfem Rauschen aus den unterirdischen Klüften des laufenden Berges hervorströmte. Lange stand er vor solch einem Ausfluß, sah den Erdbrocken nach, die auf dem schießenden Wasser schwammen, und blickte trübselig über das Gehäng empor.
„Arm’s Madl! … Arme Leut’!“
Er streckte die Fäuste, als möchte er einen Felsblock packen und das Loch dort zustopfen, durch das der kleine Wohlstand und das bescheidene Glück so vieler Menschen unaufhaltsam davonrann.
Da fiel ihm die eigene Sorge wieder ein.
„Ich bin aber einer! Kann mir selber net helfen … und denk’ noch an andere Leut’!“
Den Kopf auf der Seite und die Hände hinter dem Rücken, stapfte er aus dem schlammigen Wasser hervor.
Wie ehrlich er sich es auch vorgenommen hatte, ein ordentlicher Kerl zu werden und stramm zu arbeiten … jetzt waren all seine guten Vorsätze nutzlos! Ein paar Monate konnte er sich ja noch durchbringen. Aber dann? Er wußte es: dann würden es seine Gläubiger genau so machen wie damals vor zwei Jahren, würden ihre Forderungen an den Juden verkaufen, und der würde die Daxen-Schmiede wieder auf die Gant bringen. Wer sollte ihm da noch helfen?
Die Bäckenmahm’?
Bekümmert schüttelte Schorschl den Kopf. Ein paar hundert Mark – das wäre vielleicht noch gegangen. Aber aus der dicken Mahm’ einen ganzen Tausender herausfischen?
„Na! Da trau’ ich mich lieber aus dem Bachl da ein’ Walfisch ziehen!“
Mit zerstreuten Blicken sah er in die gleitenden Wellen nieder, während er dem Ufer des schmalen Baches folgte. Zahlreiche Forellen, die aus den überschwemmten und verschlammten Gründen heraufgezogen waren, standen in dem klaren Wasser umher.
„Herrgott! Da könnt’ heut’ einer ein’ guten Fang machen!“
Das hatte er noch kaum gedacht, da erwachte schon der alte Schorschl in ihm und der Fang begann. Er krempelte die Hemdärmel auf und rollte das Schurzfell bis zur Hüfte. Mit sicher gezielten Steinwürfen scheuchte er eine Forelle, bis sie sich im seichten Wasser unter dem Ufer verbarg. Hurtig ließ er sich auf die Kniee nieder – ein gewandter Griff ins Wasser – und lachend hob Schorschl den zappelnden Fisch an die Luft.
„Soll mir’s einer nachmachen!“
Eine halbe Stunde trieb er das so weiter; dann war sein blaues Schnupftuch bis an die Zipfel mit Forellen gefüllt. Er sah sich überall um nach einem, dem er die Fische schenken könnte; doch die Straße war leer.
Da fiel ihm ein, daß Forellen ein Lieblingsgericht der Bäckenmahm’ waren. Wenn er ihr die Fische brächte? Ob sie in der Freude über diese leckere Mahlzeit nicht mit sich reden ließe?
„Probieren wir’s halt!“ seufzte Schorschl. „Mehr als Na sagen kann s’ ja doch net!“
Raschen Ganges erreichte er das Dorf und eilte am Purtschellerhof vorüber, mit geducktem Kopf, weil er auf der Steinbank neben der Hausthür den alten Rufel sitzen sah.
Gleich das nächste Anwesen war das Haus der Bäckenmahm’, ein zweistöckiger Bau, welcher mitten zwischen Apfelbäumen stand, an denen noch die rotbackigen Früchte hingen. Garten und Haus boten ein etwas verwildertes Ansehen. Als der Meister Bäck noch gelebt hatte, war das Haus in schmuckem Stand gewesen. Doch seine Witib konnte schon seit Jahren das Zimmer, das sie im oberen Stockwerk bewohnte, nicht mehr verlassen und hatte das Bäckereigeschäft an einen Gesellen verpachtet, der keine Veranlassung fühlte, sich um das Aussehen des Hauses zu kümmern. Und der Grund, weshalb die Bäckenmahm’ das Zimmer hüten mußte, war ein ganz merkwürdiger. Nicht etwa Krankheit war die Ursache. Im Gegenteil, sie war nur zu gesund. Schon zu Lebzeiten ihres Mannes hatte sie nah’ an drei Centner gewogen und hatte sich immer, wenn sie zur Thüre aus und einging, hart zwischen den Pfosten hindurchzwängen müssen. Einige Zeit nach ihres Mannes Tod passierte ihr das Unglück, daß sie sich mitten in der Stube den Fuß übertrat und eine Sehne verzerrte. Zwei Monate mußte sie liegen – aber statt in dieser Leidenszeit ein wenig abzumagern, legte sie Woche um Woche ihrem Gewicht noch ein paar schwere Pfunde zu und als der Fuß endlich geheilt war, hatte die Bäckenmahm’ an Breite so erschrecklich zugenommen, daß sie nicht mehr zur Thür hinauskonnte. Zwischen Stube und Schlafzimmer wurde ein geräumiger Durchgang ausgebrochen, aber die in den Flur führende Thür blieb wie sie war; auch diese zu erweitern, hätte keinen Zweck gehabt; denn auf die Hoffnung, jemals wieder den schmalen Flurgang und die noch schmälere Treppe passieren zu können, mußte die Bäckenmahm’ für alle Zeit ihres Lebens ohnehin verzichten. Mit seufzender Geduld ertrug sie dieses Kerkerlos, lebte sich schön langsam zwischen ihren vier Wänden ein, ließ sich Essen und Trinken schmecken und wurde bei dem behaglich schleichenden Wohlleben, das sie führte, zeitweise nur von der einen Sorge gequält: wie man sie nach ihrem seligen Ende … „Gott verhüt’s noch lang’!“ … einmal aus dem Hause bringen würde.
Der Weg zwischen dem ungetümen Bett in der Schlafkammer und dem weitarmigen Lehnstuhl in der Wohnstube, dazu manchmal ein Gang an das Fenster, das war die einzige Bewegung, die sie machte.
Und eben jetzt, als Schorschl mit seinem nassen Bündel die Straße einherkam, lag die Bäckenmahm’ im offenen Fenster, mit einem Gesichte so rund und groß wie drei Gesichter auf einmal. Langsam den mühsamen Atem vor sich hinblasend, blickte sie einem Mehlsack nach, den die Bäckergesellen an einem unter dem Dachgiebel angebrachten Kran vor ihrem Fenster in die Höhe zogen, um ihn auf dem Speicher einzulagern.
[472] „Grüß Dich Gott, Schorscherl!“ rief die Mahm’ mit ihrer fetten, asthmatischen Stimme, als sie den Neffen gewahrte. „Kommst net ein bißerl ’rauf zu mir?“
„Ja, Mahm’!“ Der freundliche Gruß hatte den Daxen-Schorschl wie eine gute Vorbedeutung angeheimelt. „Und ich bring’ Dir was! Aber ganz was Fein’s!“
„Geh? Bringen thust mir was? Da bin ich aber neugierig! Tummel Dich, Schorscherl, tummel Dich!“
Schorschl eilte mit langen Sprüngen in das Haus, in dem es appetitlich nach frischem Backwerk duftete; aus der offenen Thür der Backstube quoll noch die Hitze des Ofens. Mit drei Sätzen nahm Schorschl die Treppe, und als er mit Herzklopfen ein paar Sekunden vor der Stubenschwelle zögerte, fühlte er unter seinen Füßen die Dielen schwanken: er wußte, was die Ursache war: drin in der Stube ging die Bäckenmahm’ vom Fenster zum Lehnstuhl – da spürte immer das ganze Haus ihr Gewicht.
Das Hütlein ziehend, trat Schorschl ein, eben als die Mahm’ sich in den Sessel niederließ, so schwer, daß sich das ungeheure Möbel ächzend dehnte. Von der Anstrengung des vier Schritte langen Weges war sie so erschöpft, daß sie kein Wörtlein sprechen konnte, während Schorschl in erzwungener Lustigkeit auf dem Tisch sein Bündel aufknüpfte. Endlich fand sie die Sprache wieder. „Ah, ah, ah!“ staunte sie beim Anblick der Fische, fuhr mit der Zunge über die Lippen und faltete wie in andächtigem Gebet die Hände mit den gespreizten Fingern, die so kugeldick waren, daß sie sich nicht mehr aneinanderlegten. „Dreiundzwanz’g Forellen! Und so viel große dabei! Ah, ah, ah! Das giebt aber grad’ ein schön’s Mittagsmahl ab! Vergeltsgott, Schorscherl! Tausendmal Vergeltsgott!“ Zärtlich streichelte sie seine Hand, und dankbar leuchtend blickten die versunkenen Aeuglein aus dem Fettpolster der großen Hängebacken zu ihm auf. „Jetzt kriegst aber gleich ein Schalerl Kaffee!“
„Aber Mahm’! Ein’ Kaffee! Jetzt, um zehne vormittags! Geh weiter!“
„Kaffee is was gut’s! Kaffee kann der Mensch allweil trinken. Und Kaffee magert ab, ja!“
Trotz seines Sträubens mußte Schorschl die Magd rufen, welche die Forellen davontrug, um nach einiger Zeit mit der dampfenden Kaffeekanne und einem großen Guglhupf wieder zu erscheinen.
Schorschl begann allerlei Anekdoten und lustige Geschichten zu erzählen, um die Mahm’ in noch bessere Laune zu bringen. Das Lachen machte ihr freilich schwere Mühe und Atemnot, aber dennoch lachte sie gerne und war in ihrer Einsamkeit für heitere Gesellschaft dankbar. Immer wieder tätschelte sie Schorschls Hand, wenn sie dabei auch mahnen mußte: „Langsam, Schorscherl, langsam … ich komm’ ja mit ’m Lachen nimmer nach!“
Das ging ein Viertelstündlein so fort, aber dann plötzlich fiel dem Daxen-Schorschl keine Anekdote mehr ein; er wurde ganz stille, strich sich mit schwerer Hand das Haar in die Stirn und seufzte tief.
„Schorscherl?“ fragte die Mahm’ erschrocken. „Was hast denn?“
„Sorgen, liebe Mahm’! Arge Sorgen!“
„Geh, Du armer Kerl! Was is Dir denn passiert?“
„Was soll mir denn passiert sein! Nix und alles. D’ Augen sind mir halt endlich auf’gangen über mich und mein lüftig’s Leben! Schau, einmal muß der Mensch doch g’scheit werden und Verstand annehmen! Jetzt weiß ich’s g’wiß, daß ich die ganzen Jahr’ her wirklich ein richtiger …“ er wollte das Wort verschlucken, das ihm auf die Zunge trat, aber es mußte heraus „… ein richtiger Lump g’wesen bin! Und jetzt laßt’s mir kein’ Fried’ nimmer! Schau, Mahm’, völlig treiben thut’s mich zur Arbeit! Und schaffen will ich Tag und Nacht, daß grad’ die Fetzen umeinander fliegen. Auf Ehr’ und Seligkeit, liebe Mahm’, es hat sich alles g’wend’t in mir … und ’s Gute, mein’ ich, is z’ öberst ’kommen! Jetzt bin ich ein anderer!“ Das alles hatte Schorschl so ehrlich herausgesagt, daß auch ein eingefleischter Zweifler ihm hätte glauben müssen.
„Schorscherl! Mein lieb’s Schorscherl!“ Die gute, dicke Mahm’ war tief gerührt – und hätten Thränen die Eigenschaft, bergauf zu fließen, so wären ihr vor Rührung zwei große Tropfen über die Wangen gekugelt, denn das helle Wasser stand ihr in den versunkenen Augengrübchen. „Mein lieb’s Schorscherl! Na! Na! Daß ich so viel Freud’ an Dir noch erleben soll! Du – und ein braver Mensch!“
„Glaubst mir’s, Mahm?“ fragte Schorschl zwischen Hoffen und Bangen.
„Ja, Schorscherl, ich glaub’ Dir’s! Ja! Und wenn ich einmal ’naufkomm’ in Himmel … der liebe Herrgott verhüt’s noch lang’ … aber gleich sag’ ich’s meiner guten Schwester selig: Annamierl, sag’ ich, freu Dich, Annamierl, Dein Schorscherl is ein braver Mensch worden!“ Kichernd wischte sich die Mahm’ das Wasser aus den Augen. „Komm, Schorscherl, jetzt kriegst aber gleich noch ein Schalerl Kaffee! Geh, schenk’ Dir ein … recht voll, bis zum Randl ’nauf!“
Schorschl that ihr den Willen und schluckte den ganzen Inhalt der Tasse auf einmal.
„Aber gar net begreifen thu’ ich Dich! So ein’ guten Vorsatz hast g’faßt! Ja sag’ mir nur, Schorscherl, mein lieb’s, wie kannst denn jetzt da noch traurig sein? Da sollst ja doch lachen vor lauter Freud’!“
„Lachen! Ja! Freilich könnt’ ich lachen! … Wenn ich keine Schulden net hätt’!“
„Schulden! … Ah ja! … Schulden! … So was halt’ ein’ auf im besten Lauf!“ versicherte die Mahm’ bedächtig. „Schulden! Ja, ja! Die verflixten Schulden!“
„No mein, die müßten halt ’zahlt werden, daß ich ein’ sauberen Weg vor mir hab’!“
„Freilich, die müssen ’zahlt werden! Eh’ können d’ Leut’ kein richtig’s Zutrauen net fassen zu Dir! Die müssen ’zahlt werden! Ein gut’s Anzeichen, daß D’ es einsiehst! Aber sag’, Schorscherl … sag’, wie willst denn das machen?“
Schorschl war um die Antwort verlegen; dann platzte er los: „Wenn ich’s wüßt’, wär’ ich net zu Dir ’kommen!“
„So, so, so, so? … Und wie viel thätst denn brauchen?“
Einen Tausender – das wagte Schorschl nicht herauszusagen. Und schnell überflog er in Gedanken: vielleicht wär’ es billiger zu machen: vor allem mußten die Schulden im Dorf bezahlt werden, wenn er die verlorenen Kunden, die seit Jahr und Tag in den benachbarten Dörfern arbeiten ließen, wieder in seine Schmiede zieben wollte: der Schuldschein beim alten Rufel hatte ja noch Zeit bis Neujahr – dritthalb Monate – inzwischen konnte er arbeiten und verdienen; und für sich selbst brauchte er eigentlich auch nichts auf die Hand zu bekommen – er konnte sich von einem Tag auf den anderen weiterfretten; wenn nur der Gesell das Seinige bekam – er selbst konnte hungern, wenn es nicht anders ging! Nur das Nötigste …
„Es is eigentlich gar net so viel … fünfhundert Markln halt!“
„Fünf … hun …“ Die Mahm’ brachte das Wort nicht zu Ende und schlug vor Schreck die Hände zusammen, daß ihr ganzes Gewicht in zitternde Bewegung kam. „Um Gotteswillen, Schorscherl! Wie willst denn so viel Geld auftreiben?“
„Du, hätt’ ich halt g’meint, Du sollst mir’s geben?“
„Aber, Schorscherl!“ Bei der Mahm’ war aller Schreck verflogen, alle Rührung erloschen. Ganz ruhig sagte sie: „Na, mein Schorscherl, mein lieb’s! Na, da wird nix draus!“
„Mahm’ …?“
„Na, Schorscherl! Na!“
„Mahm’! … Schau, mir is’ ernst!“ Er war bleich und die Lippen zuckten ihm.
„Mir is auch net lustig z’ Mut!“ Schwer seufzend hob sie sich im Lehnstuhl ein bißchen in die Höhe, um bequemer zu sitzen. „Schau, Schorscherl, vor zwei Jahr’ hab’ ich Dir g’holfen und hab’ Dir gesagt: es is ’s erste und ’s letzte Mal! Und was ich g’sagt hab’, is g’sagt!“
Er nahm ihre Hand. „Geh, Mahm’, sei gut zu mir! Mach’ mir ’s Bravwerden net gar so hart! Hilf mir ein bißl! Oder glaubst mir net, daß ich’s ehrlich mein’?“
„Ja, Schorscherl, glauben thu’ ich Dir!“
„Aber Geld magst keins hergeben?“
„Na! … Und jetzt lassen wir die Sach’ in Ruh’! Sorgen vertrag’ ich net … die machen mich fett! Aber ’s Lachen zehrt! Geh, sei lustig, Schorscherl! Verzähl’ mir noch was! Und magst noch ein Schalerl Kaffee? Dich hab’ ich gern, Dir vergunn’ ich’s, ja!“ Mühsam erhob sie sich, beugte sich wackelnd über den Tisch, füllte die Tasse und legte ein großes Stück Guglhupf daneben.
Schorschl schüttelte den Kopf. Wortlos, mit zitternden Händen
[473][474] legte er das nasse Taschentuch, in dem er die Forellen gebracht hatte, fein säuberlich zusammen, griff nach seinem Hut und ging zur Thüre.
„Ja, Schorscherl, was hast denn?“
„Geh, Mahm’, thu mich net auch noch spotten!“ Jetzt stand zur Abwechslung das helle Wasser in seinen Augen.
„Aber Schorscherl!“
„Du bist mir die letzte Hilf’ g’wesen! Die anderen zwei haben mir eh’ schon ein’ Tritt ’geben! No also, jetzt muß ich halt schauen, daß ich mich selber durchbeiß’! Wie’s geht, weiß ich net! Daß D’ mich so in der Bredull sitzen laßt, hätt’ ich mir doch net ’denkt von Dir. Ich trag’ Dir’s net nach … der liebe Herrgott soll Dir’s gut gehen lassen … aber daß ich zu Dir noch ein Schritt in d’ Stuben setz’? Na, Mahm’! Wir zwei haben ausg’schorscherlt miteinander! B’hüt’ Dich Gott!“
„Aber Schorscherl …“
Er hörte nicht mehr. Wütend putzte er sich draußen im Flur mit der Faust die Thränen ab und stolperte über die Treppe hinunter. Auf der Straße stand er ratlos. Der Kopf brummte ihm, daß er kaum einen Gedanken fassen konnte.
Woher jetzt Geld nehmen? Vor allem mußte der Krämer bei zahlt werden – denn bei dem mußte er wieder Kredit haben, wenn er für den Gesellen in aller Ordnung die Mahlzeiten kochen wollte.
„Halt! der Grundhofer!“ Der ließ ja in der Schmiede auf Jahresrechnung arbeiten – bei dem mußtc er seit Neujahr immerhin schon ein Guthaben von fünfzig oder sechzig Mark stehen haben! Wenn er dem ein freundliches Wort gäbe?
„Der zahlt schon!“
Schorschl bekam bei diesem Gedanken einen ganz heiligen Respekt vor einem Menschen, der prompt bezahlt.
Er rannte, daß er in Schweiß geriet. Aber beim Grundhofer erwartete ihn eine Ueberraschung, die ihn vor Zorn und Verlegenheit sprachlos machte.
„Du bist mir ein Feiner!“ schalt der Bauer. „Vor acht Tag’ hast Dein’ Knecht ums Geld g’schickt … den hab’ ich ’zahlt … und jetzt kommst selber und forderst mich ein zweit’s Mal an! Ah! Das wär’ mir aber die richtige Mod’!“
Schorschl stotterte eine Ausrede, die dümmste, die ihm einfiel; denn ohne den Gesellen gehört zu haben, wollte er ihn doch nicht der Unterschlagung beschuldigen.
Daheim aber in der Werkstätte brauchte er nur zu sagen: „Steffel, ich komm’ vom Grundhofer!“ … und er wußte ganz genau, wie sich die Sache verhielt.
Das Gesicht des Gesellen redete deutlich.
„Ja um Gotteswillen, Steffel, was hast denn mit dem vielen Geld ang’fangt?“ jammerte Schorschl, als wäre das Geld bei ihm zeitlebens eine heilig ernste Sache gewesen.
Steffel versuchte der bösen Geschichte eine heitere Wendung zu geben, lachte und zuckte die Achseln, „schön langsam ’braucht hab’ ich’s halt. Du hast es gut … aber mir pumpen s’ ja nix!“
Da verging dem Daxen-Schorschl doch die Geduld: er wurde dunkelrot im Gesicht und schrie: „Jetzt packst Dich aber! Ein’ Lumpen hab’ ich dulden müssen neben meiner, denn ich bin selber einer g’wesen. Für ein’ Spitzbuben is mir mein Haus aber doch ein bißl z’gut!“
„Oho!“ Steffel faßte den Schmiedhammer; aber da kam er übel an.
„Glaubst vielleicht, ich fürcht’ Dich, Du Laubfrosch, Du?“
Mit der Faust schlug Schorschl dem Gesellen den Hammer aus der Hand, dann packte er Steffel an der Brust und schüttelte ihn, daß dem Gesellen die Zähne klapperten. „So! Und jetzt fahr’ ab! Und bist in einer Stund’ mit Deinem Ranzen net draußen zum Haus, so mach’ ich Dir Füß’!“
Ohne noch ein Wort zu erwidern, drückte sich Steffel zur Werkstätte hinaus.
Als Schorschl allein war und sein Zorn verrauchte, überkam ihn eine Niedergeschlagenheit, daß er am liebsten geweint hätte.
Er setzte sich auf den Holzblock des Amboß und drückte das Gesicht in die Hände. Ein Schritt weckte ihn.
Es war der Bauer, dessen Leiterwagen in der Werkstätte auf das Beschläg wartete.
„Wann krieg’ ich denn mein’ Wagen?“
Schorschl erhob sich, um nachzusehen, wie weit der Gesell die Arbeit schon gebracht hätte. „Komm halt am Abend wieder … ich mein’, daß ich ihn fertig bring’.“
„No, da bin ich neugierig! Da mußt Deinem G’sellen aber fleißig helfen!“
„So? Meinst?“
„Ja!“
Der Bauer ging, sah über die Schulter zurück und schüttelte den Kopf.
Man läutete die Elfuhrglocke, als Schorschl die Arbeit begann. In seinem Eifer übersah er den Gesellen, der mit seinem Ranzen zum Haus hinaus und über den Hof spazierte.
Steffel verließ seinen Dienst, ohne dem Meister noch einen letzten Gruß zu sagen. Drüben im Wirtshaus trank er sein „Abschiedsmaßerl“ und erzählte, daß ihm die „Lumpenwirtschaft“ in der Daxenschmiede endlich zu dick geworden und daß er dem Schorschl aufgesagt hätte, um bei einem „repadierlichen“ Meister Arbeit zu suchen.
„Ui jegerl,“ meinte der Wirt mit halbem Erbarmen, „jetzt hat er kein’ G’sellen nimmer, der d’ Arbeit für ihn macht! Da schwimmt er aber bald, der Schorschl!“
Das hörte der alte Rufel, der hinter dem Ofen im dämmrigen Winkel saß und den Gebetriemen um die Hand legte. Er seufzte und wiegte den grauen Kopf zwischen den Schultern.
Dazu tönte es immer von der nahen Schmiede herüber: kling, kling, kling, kling …
Und wenn die Hammerschläge für kurze Weile aussetzten, wirbelte dicker Rauch aus dem Schornstein der Esse.
Zur Mittagszeit schwieg aller Lärm im Dorf und auf der Straße rasselte kein Wagen mehr: nur in der Schmiede wollten die Hammerschläge nicht ruhen: kling, kling, kling, kling …
Als gegen sechs Uhr abends der Bauer um seinen Wagen kam, war die Arbeit schon seit einer Stunde fertig und Schorschl schmiedete ein paar Hufeisen in Vorrat.
„Was is denn mein’ Schuldigkeit?“ fragte der Bauer.
Schorschl stieß die Zange mit dem Eisen in die Glut und zog den Blasbalg. „Z’erst schau Dir d’ Arbeit an, ob z’frieden bist.“
Bedächtig schritt der Bauer rings um den Wagen, untersuchte die Eisenreife der Räder und prüfte das Beschläge der Deichsel. „Sauber is alles g’macht! Respekt! Wenn er mag, Dein G’sell, so versteht er sein Sach!“
„Mein G’sellen hab’ ich davong’jagt heut’ in der Fruh.“
„Was?“ Der Bauer riß Mund und Augen aus. „Und Du allein? … Ja Schorschl! Is denn der heilig’ Geist niederg’flogen über Dich? … No also, was bin ich denn schuldig?“ Er zog sein ledernes Beutelchen hervor.
„Die ganze Zeit her hast drüben im andern Dorf arbeiten lassen … oder net?“
„Ja! Und das hat seine guten Gründ’ g’habt.“
„Freilich! Wenn’s Dir net pressiert hätt’ mit dem Wagen, wärst eh net zu mir ’kommen, gelt?“
„Na!“
„Was hast denn drüben allweil zahlt für ’s Eisen und die ganze Arbeit?“
„Vierundzwanz’g Mark für ein’ Wagen.“
„So zahl’ mir halt zwanzig. Wenn ich d’ Leut’ wieder ’reinzügeln will zu mir, muß ich besser arbeiten wie die andern, und billiger.“
Schmunzelnd suchte der Bauer aus seinem Beutelchen zwei Zehnmarkstücke hervor und legte sie auf den rußigen Werktisch.
„Ich hätt’ schon noch ein bißl Arbeit für Dich!“
„Geh, sei so gut und bring mir’s.“
„Ja, morgen! … Hilfst mir den Wagen ’nausschieben?“
„Natürlich!“
Der Bauer faßte die Deichsel und Schorschl ein Rad. Mit Rasseln und Holpern rollte der Wagen über die Thürschwelle in den Hof hinaus. Draußen hatte der Bauer ein leichtes Ziehen, denn die Straße ging bergab.
Als Schorschl in die Werkstätte zurückkam, wog er die beiden Goldstücke ehrfürchtig auf der Hand und seufzte. „Die müssen fort! Und gleich! Sonst reißt’s mich heut am Abend ins Wirtshaus ’nüber! Ich kenn’ mich!“
Die Faust mit dem Geld in die Hosentasche grabend, lief er zum Krämer hinüber. Es war etwas wie verschämter Stolz in seinem Blick, als er die zwei Goldstücke mit festem Daumendruck auf die Ladenpudel legte und zur Krämerin sagte: „Da! Mehr hab’ ich net! Mit dem andern mußt halt noch ein bißl zuschauen.“
[475] Die Frau wurde vor Überraschung völlig rot im Gesicht. „No, no, no, so gar pressieren thut’s doch net!“ meinte sie beschwichtigend. „Bist mir ja gut! … Sonst nix g’fällig?“
Schorschl zögerte mit der Antwort. „Mehl und Schmalz zum Kochen thät ich freilich brauchen! … Schreibst mir denn noch was auf?“
„Aber ja! Wer zahlt, hat Kredit, weißt! … Und sonst brauchst nix? Kein’ Tabak?“
„Na!“ Das Wort hatte dem Daxen-Schorschl Ueberwindung gekostet. Aber an einem Pfeiflein hing ihm das Herz. Deshalb fügte er etwas kleinlaut bei: „No, meinetwegen! Kannst mir ein Packerl geben! Aber bloß ein einzig’s!“
„Vom guten?“
„Na, vom andern! Der thut’s schon für mich!“
Als Schorschl mit der großen Papierdüte, in die ihm die Krämerin alles eingepackt hatte, über die Straße schritt, bekam er einen gelinden Anfall von Reue. „Wenn ich ihr bloß d’Hälfte ’zahlt hätt’,“ sagte er sich, „eigentlich wär’s fürs erste Mal auch g’nug g’wesen. Und ich hätt’ doch ein bißl was auf der Hand g’habt.“ Aber dann lachte er und schüttelte den Kopf. „Ah was! Gott sei Dank … ’zahlt is ’zahlt!“
In seiner Werkstätte legte er den Pack in eine Fensternische. Es begann wohl schon zu dämmern – aber eine halbe Stunde konnte er immer noch arbeiten – er hatte in den Fäusten ein so merkwürdiges Zucken, das ihm keine Ruhe ließ.
„D’Arbeit muß schier eine Krankheit sein,“ meinte er, „wenn die einmal ein’ anpackt, laßt s’ ein’ nimmer aus!“
Während er bei der Esse stand und den Blasbalg trat, um die eingesunkene Glut wieder zu beleben, verfinsterte sich das Thor, und eine Mädchenstimme klang: „Recht guten Abend!“
Schorschl fuhr auf, als hätte er sich den Ellbogen angestoßen und das Mäuschen geweckt.
Aber auch Vroni, die auf der Schwelle stand, einen Spaten über der linken Schulter und das Beil in der rechten Hand, schien ihren Augen nicht zu trauen und glühte über das ganze Gesicht – oder war das nur der Wiederschein der Essenglut? Denn sie sagte in aller Ruhe: „Ah, da schau! … Du? … Hab’ g’meint, Dein G’sell is bei der Arbeit. An Dich hätt’ ich gar net ’denkt!“
„Sonst wärst am End’ gar net ’rein? Was?“ Schorschls Fuß, der den Blasbalg trat, kam in immer rascheres Tempo.
Vroni schwieg und blickte in den Hof hinaus, als besänne sie sich, ob sie nicht wieder umkehren sollte.
Alle Rechte vorbehalten.
Zwei Seelen.
Zwei Seelen wanderten durchs Erdenland
Den Berg hinauf in trübem Schwermutssinn,
Getrennt durch eine hohe Felsenwand
Schritt eine rechts, die andre links dahin.
Nie an die Brust sich liebevoll gedrückt,
Doch hat ein Engel mild mit sanftem Weh’n,
Mit heißer Lieb’ die Herzen beid’ beglückt.
Die Wege waren dornig, schmal und rauh,
Doch fand die eine gar ein Blümlein blau,
Warf sie’s der andern über’n Felsen zu.
So gingen sie der Tage, Jahre viel
Mit gleicher Last und gleich in Weh und Not,
Und heiter lächelnd grüßte Morgenrot.
Verschwunden war die Mauer, die getrennt,
Ein Blumenteppich breitete sich aus,
Und Jubelklänge grüßten ohne End’,
Aus ihren Augen strahlt es sonnenhell,
Sie drücken an die Brust sich fort und fort,
Von ihren Lippen bricht sich, wie ein Quell,
Die Bahn das lang zurückgedämmte Wort:
Was Andrer Glück, war für uns bitt’re Not.
Nun kosten wir auch Himmelsseligkeit,
Was and're scheidet, einte uns – der Tod.
Im Traum.
Kannst du auch nie das Lied vergessen,
Dem deine Seele einst gelauscht,
So wie das Glück, das, nie besessen,
Nur pfeilschnell dir vorbeigerauscht –
So farbenreich, du fass’st sie kaum,
Das herbste Weh wird weicher, milder
Im gottgesandten, sanften Traum.
Dann steigt sie auf zur Geisterstunde,
Und singt mit süß bethörtem Munde
Das alte unvergess’ne Lied.
Und wie sie singt, hast du vergessen,
Daß dir der Tag nichts hat gebracht,
All jenes Glück – im Traum der Nacht.
Kein Licht, kein Haus.
Muß wieder weiter wandern,
Obgleich der Abend naht.
Die Winde mich umtosen,
Verweht liegt jeder Pfad.
Als es geschaut ein Haus,
Wie wollt’ es ruh’n und träumen
Von seiner Wand’rung aus!
Vergebens war mein Hoffen,
Am trauten Feuerherde
Saß schon ein andrer Mann.
Er lachte, scherzte, koste,
Mit meinem Mägdelein.
Gar märchenhaften Schein.
Die Lichter sind erloschen,
Zum Schlummer alles geht,
Weiß keiner, daß noch draußen
Der zitternd seine Hände
Streckt nun ins Dunkel aus?
Nicht eine Stimme rufet
Ihm zu. – Kein Licht, kein Haus! –
Gerhard Rohlfs.
In seiner Vaterstadt Vegesack ist soeben die Asche eines Mannes zur letzten Ruhe bestattet worden, dem wir, wie kaum einem zweiten, die Entschleierung der Geheimnisse des Dunklen Weltteils zu danken haben. Wir betrauern in Gerhard Rohlfs einen Forscher, der in Bezug auf Kühnheit und Aufopferungsfähigkeit den ausgezeichnetsten Reisenden gleichstand, in Bezug auf Besonnenheit und Umsicht über viele derselben sich weit erhob.
Gerhard Rohlfs wurde am 14. April 1831 als Sohn eines Arztes in der genannten nahe bei Bremen gelegenen Stadt geboren. Seine Gymnasialstudien unterbrach 1849 der Schleswig-Holsteinsche Krieg, in dem er als Freiwilliger sich so auszeichnete, daß er nach der Schlacht von Idstedt zum Offizier befördert wurde. Dann studierte er einige Jahre Medizin auf den Universitäten Heidelberg, Würzburg und Göttingen, bis ihn sein unruhiger Geist zu einer abenteuerlichen Reise durch Oesterreich, Italien und die Schweiz und von da nach Afrika trieb. Pélissier, damals Generalgouverneur von Algerien, hatte den Entschluß gefaßt, um einer gefährlichen Verschwörung der Eingebornen zuvorzukommen und um die französische Herrschaft dauernd zu festigen, das Kabylenland zu erobern. Der junge Rohlfs trat sogleich in die Fremdenlegion ein und erwarb sich in harten Kämpfen den höchsten, einem Fremden erreichbaren Rang eines Sergeanten und mehrere Dekorationen.
Die darauffolgende ruhigere Arbeit des Friedens konnte ihm nicht genügen. Doch gewährte ihm seine Stellung den unschätzbaren Vorteil, die arabische Sprache gründlich zu erlernen und sich in orientalische Sitte und Lebensweise so einzugewöhnen, daß er wagen durfte, selbst unter den fanatischsten Bekennern des Islam als Mohammedaner aufzutreten. Unter dieser Maske begab er sich 1860 nach Marokko. Hier gewannen ihm einige glückliche Kuren schnell die Gunst des Sultans sowie der obersten Beamten, die ihn mit Ehren überhäuften und ihm Gelegenheit gewährten, das Reich nach verschiedenen Richtungen zu durchforschen. Vor allem aber wertvoll war für ihn die Zuneigung des in Wessan im nördlichen Marokko residierenden Großscherifs, der in einem großen Teil von Nordwestafrika die Macht und Verehrung eines „marokkanischen Papstes“ genießt.
Ausgerüstet mit warmen Empfehlungen dieses einflußreichen Mannes, entschloß sich Rohlfs, die noch gänzlich unbekannte marokkanische Sahara zu durchforschen – ein äußerst gefahrvolles Unternehmen, das nur durchgeführt werden konnte, wenn sich der Reisende in allem so hielt, als ob er Araber und Mohammedaner wäre. Er reiste allein, nur von einem Diener begleitet, meist im Anschluß an eine größere Karawane, denn nur solchen ist es möglich, durch das die ganze Gegend beherrschende Raubgesindel hindurchzukommen.
Was eine solche Art des Reisens für „Annehmlichkeiten“ im Gefolge hat, das sagt uns ein Brief des unverdrossenen Forschers. Fortwährend auf nackter Erde schlafen, beständig schmutzige Wäsche tragen, denn ein reines Hemd würde die Aufmerksamkeit zu sehr auf sich ziehen, Hunger und Durst erleiden, das nennt Rohlfs Kleinigkeiten gegen das, was man von dieser im höchsten Grade aufdringlichen und unverschämten, mit allen möglichen Parasiten behafteten Gesellschaft sonst noch zu ertragen hat. Da Fett und Butter stets in behaarten Ziegenfellen aufbewahrt werden, so findet man Haare auch in den Schüsseln der vornehmsten Küche. Selbst die Freundlichkeit seiner Reisegefährten, Maultiertreiber und Kamelwärter, stellte Rohlfs’ Höflichkeit auf die härteste Probe. „Sie wollen höflich sein und ergreifen aus der gemeinsamen Schüssel mit ihrer von Schmutz starrenden Hand einen besonders guten Bissen, den sie Dir vorlegen und den Du hinunterwürgen mußt, willst Du nicht gleich als Christ verschrieen, d. h. getötet werden.“ Dabei war die Kost eine dem Europäer wenig zusagende, auch abgesehen von ihrer Zubereitung; mit Wasser angerichtetes Mehl, Datteln, Fett, Kaffee, Zucker, das war beinahe die einzige Nahrung. Dazu eine unerträgliche Hitze, die fast täglich 40° C im Schatten überstieg, und die Plage räuberischer Berberstämme, welche die Karawane beständig belästigten. Diese Gesellen warfen einander ihre Schandthaten mit einem gewissen Galgenhumor vor. „Käme der Prophet in eigener Person, ihr würdet ihn ausrauben,“ ruft die eine Bande der anderen zu und erhält zur Antwort: „Und ihr würdet unsern Herrgott selbst töten, falls er persönlich unter euch erschiene!“
Kein Wunder, daß unser tapferer Landsmann nicht mit heiler Haut davonkam. Zwischen den Oasen Tafilet und Kenatsa wurde er im Schlaf von seinen Führern räuberisch überfallen und mußte hier, da sein Diener sich durch die Flucht gerettet hatte, mit zerschmettertem Arm und aus mehreren Wunden blutend zwei Tage und zwei Nächte hilflos liegen, in der Nähe von Wasser, aber unfähig, dasselbe zu erreichen, von versengendem Durst geplagt, bis zwei Marabuts, wie man in Nordwestafrika heilige Männer nennt, den als tot Gemeldeten zu bestatten kamen und ihn durch aufopfernde Pflege dem Leben zurückgaben. Denn Rohlfs galt ihnen infolge des Rufs, den er sich durch ärztliche „Wunderthaten“ erworben, als ein Abkömmling des Oheims des Propheten.
So durchzog Rohlfs die ganze Westhälfte der Sahara als erster Europäer von West nach Ost und gelangte endlich über Géryville nach Oran. Diese Reise erregte in hohem Grade die Aufmerksamkeit der europäischen Geographen, darunter namentlich die des einflußreichen Kartographen Petermann in Gotha, und der Bremer Senat bewilligte ihm für die Fortsetzung der Reise ein Stipendium. Nun faßte er den Plan, bis zu dem für Christen schwer zugänglichen Timbuktu durchzudringen, das trotz Barths Aufenthalt daselbst kaum bekannt war.
Aber nachdem er glücklich als „Scherif von Wessan“ durch fanatische Stämme, welche die Ermordung eines Christen für eine Eintrittskarte in das Paradies ansehen, über Tuat und Tidikelt nach Insalah gelangt war, zwangen ihn Nachrichten vom Ausbruch eines Krieges zwischen dem Scheich von Timbuktu und dem Wüstenstamme der Tuareg über Ghadames nach Tripolis zu gehen, wo er am 29. Dezember 1864 anlangte, nachdem er den Weihnachtsabend bei den Höhlenbewohnern im Dschebel Ghurian zugebracht hatte.
Im Februar kam er auf kurze Zeit nach Deutschland, aber schon im März war er wieder in Tripolis. Seinen Lieblingsplan, zum Niger vorzudringen, konnte er allerdings nicht ausführen; Unruhen, die im Innern der westlichen Sahara ausgebrochen waren, machten den Weg allzu unsicher. So faßte Rohlfs denn das Land Wadai ins Auge, ein gefahrvolles Unternehmen, denn dasselbe Wagnis hatte unseren Landsleuten Vogel und von Beurmann das Leben gekostet. Freilich war der alte grausame Sultan gestorben, der sogar Mohammedaner, wenn sie weißer Farbe waren, nicht schonte – aber Rohlfs reiste jetzt als Christ und auch der neue Sultan erwies sich den Fremden wenig geneigt.
Ehe jedoch die eigentliche Forschungsreise angetreten werden konnte, sah sich Rohlfs genötigt, in Mursuk zu verweilen. Er wollte hier die Rückkunft der Boten erwarten, die er nach Wadai geschickt hatte. Dieser südlich von Tripolis gelegene Ort ist ein wichtiger Sklavenmarkt, jährlich werden hier Tausende von Menschen verkauft, auch hat Mursuk eine der am weitesten ins Innere vorgeschobenen türkischen Besatzungen, welche in einer mächtigen
[477][478] Zwingburg einquartiert ist. Rohlfs verwandte seine unfreiwillige Muße dazu, eine handschriftliche Geschichte Fezzans zu übersetzen.
Am 25. März 1866 brach er von Mursuk nach Kuka am Tsadsee auf. Diese vielbegangene, über das salzreiche Bilma führende Karawanenstraße waren vor ihm bereits Denham, Clapperton, Vogel, Beurmann gezogen, keiner von ihnen aber hat uns so gediegene und erschöpfende Nachrichten über Land und Leute gegeben wie Gerhard Rohlfs. Kuka ist die Hauptstadt von Bornu, des wichtigsten und größten, wenn auch nicht stärksten Reiches unter den Staaten des mittleren und östlichen Sudans. Sein Sultan Omar erwies sich ebenso liebenswürdig und gastfrei gegen Rohlfs, wie er sich vorher gegen Barth, Overweg und Vogel gezeigt hatte und wie er sich später gegen Nachtigal benahm; aber in das verschlossene Wadai vermochte Rohlfs ebensowenig einzudringen wie vor ihm Vogel und Beurmann, noch war es ihm möglich, die im Besitz des Herrschers von Wadai befindlichen Aufzeichnungen der ermordeten Reisenden zu erlangen. So sah er sich genötigt, sein Reiseprogramm wesentlich zu ändern und sich nach Westen zu wenden.
Während seines Aufenthalts in Kuka – es mußte hier das Ende der Regenzeit abgewartet werden, die jedes Reisen im Sudan unmöglich macht – war Rohlfs Zeuge des Aufbruchs einer großen Sklavenkarawane nach dem Norden. Viertausend Sklaven waren da vereinigt, um gemeinsam den Schrecken der Wüste entgegenzugehen, vielleicht ihnen zu erliegen oder, wenn sie das Elend überstanden, in fernen Ländern nach langer Dienstzeit dahinzusterben, ohne Aussicht, ihr Geburtsland je wieder zu sehen, die Ihrigen je wieder zu begrüßen.
Das bekannte Werfen der kleinen Wurst nach der großen Speckseite verstehen alle Afrikaner vorzüglich. Auch bei Rohlfs stellten sie sich gleich nach seiner Ankunft mit Geschenken pünktlich ein. Aber sie erwarteten auch eine Gegenleistung, die das Gebotene ganz erheblich an Wert überstieg. Und jedesmal wenn sie etwas brachten, auch als Boten, verlangten sie ein Trinkgeld, womit sie unseren civilisierten Zuständen also recht nahe kamen. Nur daß hier in anderer Münze gezahlt wird. In Kuka verausgabte Rohlfs gleich in den zwei ersten Tagen nach seiner Ankunft auf diese Weise mehr als 18 Dutzend Taschentücher, zwei Dutzend Messer und 5000 Nadeln. „Geschmiert“ muß in Afrika überall werden, um weiterzukommen; vom kleinsten Beamten wie vom höchsten Würdenträger ist nichts zu erreichen ohne Geschenke. Kindern gleich wünschen diese Neger alles zu besitzen, was ihnen gefällt, aber, da sie die Kraft von Männern, oft sehr gefährlichen, haben, vermag man ihnen nicht immer mit einer ruhigen Absage entgegenzutreten.
Der Weg vom Tsadsee zum Binuë und Niger war schon vor Rohlfs von Forschern zurückgelegt worden, aber unser erfahrener Reisender verstand es auch hier, neue, bisher unbegangene Pfade zu wandeln und eine große Menge von weißen Flecken aus der Karte Afrikas zu entfernen. Durch das mächtige Reich Sokoto gelangte er erst auf westlichem, dann auf südlichem Wege an den Binuë. „Wir zogen,“ so schreibt er am 18. März 1867, „schweigend, einer hinter dem anderen, schnell dahin durch einen Saum kolossaler Bäume, die trotz des Mondlichtes so tiefe Schatten warfen, daß wir unter ihrem laubigen Dache tappend, einander anfassend, vorwärts gehen mußten. Plötzlich hatten wir Licht vor uns, vor unseren Füßen dehnte sich die silberne Wasserfläche des Binuë aus, ruhig und majestätisch nach Westen ziehend, um dem Niger den Tribut aus dem Herzen Afrikas zuzuführen.“
Ein Boot der Eingeborenen trug die Reisegesellschaft den Binuë hinunter. An der Mündung desselben in den Niger bei Lokodscha kam Rohlfs so schwach an, daß er sich kaum im Boote aufrichten konnte. Aber der Anblick von zwei europäischen Booten am Ufer gab ihm seine ganze Kraft wieder; mit einem Satze sprang er ans Land, ehe das Fahrzeug anlegen konnte. Nur wer Gleiches durchlebt hat, vermag seine Gefühle ganz zu verstehen. Die beiden hier wohnenden Engländer hatten selbst seit einem Jahre keinen Europäer gesehen; so war die Freude gegenseitig. Nach einem kurzen Aufenthalt in den gastlichen Häusern dieser beiden Herren, der Rohlfs wie ein Traum vorkam, ging es den Niger aufwärts bis zu dem verfallenen Rabba und von da durch die Urwälder von Joruba zu der großen Seestadt Lagos, wo sich Rohlfs wie so viele Reisende vor und nach ihm zur Rückfahrt in die Heimat einschiffte.
Europa war freudig überrascht, als es die Nachricht von Rohlfs’ glücklicher Durchquerung des afrikanischen Kontinents empfing, denn schon waren über Aegypten Gerüchte von seiner Ermordung in Wadai zu uns gedrungen, und man beeilte sich, ihm die Ehren zu erweisen, die er sich durch seine ausgezeichneten Leistungen verdient hatte. Die größten Geographischen Gesellschaften Deutschlands wie des Auslandes verliehen ihm den höchsten Preis, der ihnen zur Verfügung steht, ihre Goldene Medaille. Rohlfs war der Erste, der den afrikanischen Kontinent in südlicher Richtung durchquert, der dritte gebildete Reisende, der den afrikanischen Kontinent überhaupt durchschnitten hatte. Die Ereignisse dieser berühmten Reise hat er in dem zweibändigen Werke „Quer durch Afrika“ geschildert.
Gerhard Rohlfs war ein echter Entdeckungsreisender, der Rast und Ruhe nicht kannte; es duldete ihn nicht lange in dem bequemen heimatlichen Leben. Schon im Jahre 1867 sehen wir ihn in Abessinien, wo er die englische Armee auf ihrem Feldzuge gegen den Kaiser Theodoros begleitete. Darauf wurde Rohlfs von König Wilhelm von Preußen mit der Absendung prachtvoller Geschenke an den Sultan von Bornu betraut, der ja einige deutsche Reisende und zuletzt Rohlfs selbst so freundlich aufgenommen hatte. Rohlfs übergab 1868 diesen Auftrag Dr. Nachtigal, der als Arzt in Tunis wirkte. Nachtigal machte infolgedessen seinen weltberühmten Afrikazug, auf dem er außer Bornu die unzugänglichen Länder Tibesti und Wadai besuchte. Rohlfs zog indessen durch das Hochland von Barka und die Oase des Jupiter Ammon nach Kairo. Hier wußte er durch Vermittelung des preußischen Generalkonsuls von Jasmund den Chedive dafür zu gewinnen, eine systematische Durchforschung der ganzen libyschen Oasenreihe bis Kufra in strengwissenschaftlicher Weise durch Gewährung reicher Mittel zu ermöglichen. In Verbindung mit einem Stab von Gelehrten, darunter Zittel, Jordan, Ascherson, durchforschte Rohlfs in den Jahren 1873 bis 1874 sämtliche ägyptischen Oasen; die Resultate der nach allen Richtungen erschöpfenden Forschungen erschienen später in einem großen Sammelwerk. Nach einer weiteren Reise quer durch den nordamerikanischen Kontinent erhielt er dann 1878 vom Deutschen Kaiser den Auftrag, dem Sultan von Wadai, der Nachtigal so freundlich aufgenommen hatte, reiche Geschenke zu überbringen, wie sie der Sultan von Bornu schon früher empfangen hatte.
Auf der großen wissenschaftlichen Expedition in den Oasen der Libyschen Wüste hatte Rohlfs Kufra nicht erreichen können, obschon das sein ursprünglicher Plan gewesen war. Er beschloß jetzt, seinen Weg über diese Oasengruppe zu nehmen. Aber das Glück war ihm zum erstenmal nicht hold. In Kufra wurde er von Arabern der fanatischen, über ganz Nordafrika verbreiteten mächtigen Snussisekte überfallen, und er konnte sich nur durch eilige Flucht und unter erheblichen Verlusten an seinem Gepäck mit seinem Begleiter Stecker vor dem sicheren Tode retten. Eine Frucht dieser Reise ist das hochinteressante Werk „Kufra“ (Leipzig, 1881).
Mit demselben Stecker ging er 1880 an den Hof des Negus von Abbessinien, um diesem ein Schreiben Kaiser Wilhelms I. zu überbringen. Darauf wurde er zum Generalkonsul für Sansibar ernannt. Aber nicht so glücklich wie Nachtigal, der mehrere Jahre einen gleichen Posten in Tunis bekleidete, gab er diese Stellung bereits nach wenigen Monaten auf, um in sein Heim in Weimar zurückzukehren, das er 1890 mit dem schönen Godesberg am Rhein vertauschte.
Im Genuß der verdienten Muße arbeitete er hier lebendige Darstellungen seiner Erlebnisse aus, die er mit gleichem Erfolg zum Inhalt fesselnder Aufsätze wie packender Vorträge zu machen verstand.
Seine Vorträge, die er in den größeren Städten unseres Vaterlandes hielt, fanden stets zahlreiche und dankbare Zuhörer. Wiederholt hat Rohlfs auch in der „Gartenlaube“ belehrende Artikel, zuletzt über den fanatischen Orden der Snussi und über den Schatz der Sultane von Marokko, veröffentlicht.
In Rüngsdorf bei Godesberg ist er am 3. Juni d. J. gestorben, nachdem er kaum in das 66. Lebensjahr eingetreten war. Bis zu seinem Ende war er ein tapferer Kämpfer, wie vordem in mutiger That, nun in Wort und Schrift, für die Aufklärung des Dunklen Weltteils, dessen bisherige Erforschung zu einem so großen Teil sein Werk ist. In den letzten Jahren, den Jahren unseres kolonialen Aufschwungs, verfolgte er mit warmem Interesse die Entwicklung unserer afrikanischen und australischen Besitzungen. In der Geschichte der Afrikaforschung wird sein Name allezeit mit goldenen Lettern verzeichnet stehen.
[479]
Das Mari und das Sofi.
In der Reihe der Küchenfeen, welche nach und nach Regen und Sonnenschein bei uns im Hause verursachten, sind mir besonders zwei lebhaft im Gedächtnis geblieben, da sie erstens, wie Eisele und Beisele, stets gemeinsam genannt wurden, und sodann, weil ihre Lebensschicksale in tragikomischer Weise miteinander verflochten waren.
Die beiden Wesen hießen Marie und Sophie, wurden aber „das Mari und das Sofi“ genannt, da das Sofi einen westdeutschen Bräutigam besaß und man am Rhein abwärts bekanntlich alle Mädchen „das“ nennt, sogar „das Mari“, was aus psychologisch unerklärten Gründen ganz besonders verdreht klingt.
Das Sofi waltete schon längere Zeit allein in unserer Küche, ehe das Mari dazu kam, und erfreute sich, außer eines Sparkassenbuches, noch, wie eben erwähnt, eines Bräutigams. Dieser war von Natur Pferdeknecht, augenblicklich Füsilier, hieß Niklas und hatte einen kurzgeschornen rothaarigen Kopf.
Jeden Sonntagnachmittag um drei Uhr erschien dieser Romanheld in unserer Küche, den einen Sonntag um das Sofi zu einem sittsamen Spaziergang in irgend einen Kaffeegarten abzuholen und abends um acht wieder abzuliefern – den nächsten Sonntag, um einige Stunden bei seiner Auserwählten zu verleben und ihr taubstumm und freundlich am Küchentisch gegenüber zu sitzen, während sie so viel Strümpfe für ihn strickte, als ob er zum Geschlecht der Tausendfüßler gehört hätte.
Da das Sofi auch nicht redselig war, so konnte es geschehen, daß Niklas um drei Uhr die Worte sprach „Gu’ntag bisamme!“ – sich dann bis um sieben Uhr damit begnügte, von Zeit zu Zeit brüllend zu husten, um sich endlich mit dem Bonmot „Gu’n Obed bisamme“ wieder zu empfehlen.
Weil sich aber beide Verlobte bei diesen rauschenden Vergnügungen königlich zu amüsieren schienen, so konnte ja niemand etwas dagegen einwenden, und die „tollen Sonntage“ des Sofi, wie sie bei uns hießen, wurden Jahr und Tag in gleicher Weise fortgesetzt.
Allem Anschein nach war das bräutliche Verhältnis durchaus zufriedenstellend, und das Sofi wünschte sich bereits, ein Symptom solider Absichten und Aussichten, eine Tischdecke zu Weihnachten. Da machte eine Vergrößerung der Familie es zur Notwendigkeit, daß ein zweites Mädchen angenommen wurde, das drei Tage lang „die Mari“, sehr bald aber auch „das Mari“ hieß. Das Mari, ein zierliches flinkes Frauenzimmerchen, trug nicht wenig zur Belebung des Küchentons bei, und auch die Sonntage gestalteten sich bald wesentlich anders. Das Mari sang mit dem Niklas zweistimmig, daß die Fensterscheiben klirrten, und die Heiterkeit war zeitweilig so groß, daß herrschaftliche Dämpfera us der Wohnstube notwendig erschienen – das taubstumme Idyll war zerstört!
Nach einiger Zeit fand es sich, daß Niklas an den freien Sonntagen des Mari immer verhindert war, zu erscheinen – das Soft saß weinend und strickend einsam am Küchentisch, und das Mari verweigerte jede Auskunft über die Art, wie es ihre Sonntage verlebte.
Der Niklas, den das Sofi zur Rede stellte, wollte auch nicht beichten, sondern fuhr seine Auserwählte in seinem Dialekt an: „Du hascht Jdeee!“ bot auch als liebenswürdiges Beschwichtigungsmittel für eifersüchtige Anwandlungen dem Sofi „Backpfeifen“ an, worauf der Friede äußerlich hergestellt schien.
Nach der festen Ueberzeugung des ganzen Hauses aber war der Niklas als vielseitiger Mann gleichzeitig mit dem Mari und dem Sofi verlobt und stand sich vorzüglich dabei! Denn jeder redete er ein, sie wäre gemeint, und jede fütterte ihn mit dem Besten, was unsere Speisekammer enthielt, wie das redliche Mägde von alters her gehalten haben und wohl auch halten werden, so lange es Füsiliere und Köchinnen giebt.
Daß dieser Zustand auf die Länge nicht haltbar war, wird jedem Menschenkenner ohne weiteres einleuchten. Das gute Einvernehmen zwischen dem Mari und dem Sofi verwandelte sich in ein unaufhörliches Gezänk, die häuslichen Pflichten litten, und eine der beiden Zofen stand immer abends vor der Hausthür und tobte auf den Niklas ein, der denn beschloß, der Sache ein Ende zu machen, und zwar zart und energisch zugleich. –
Es war ein gewitterschwüler Sonntag gewesen, draußen und im Hause. Das Abendessen sollte um sieben Uhr fertig sein und war um halb Neun noch nicht aufgetragen – der Hausherr grollte schon mit den Wolken um die Wette.
Endlich wurde ein Sendbote in die Küche geschickt, um der Ursache dieser ungewöhnlichen Verzögerung nachzuforschen; da lag das arme Sofi mit dem Kopf auf dem Tisch, ließ die Milch überkochen und den Thee ziehen wie ein Lasttier und schluchzte, daß es einen Stein hätte erbarmen können. Auf teilnehmendes Befragen wies es einen Brief des falschen Niklas, worin ihr dieser in nicht mißzuverstehenden Worten den Laufpaß gab und ihr dazu die niederträchtige Mitteilung machte: „Ich habe Dir bloß zum Narren gehabt!“ eine Wendung, die bewies, daß es ihm nicht nur an Herz, sondern auch an Grammatik fehlte.
Alle Tröstungen, selbst die praktische: „Sie kriegen ja noch einen andern!“ wollten nicht verfangen; endlich kamen wir auf den tiefsten Grund des Kummers.
Das Sofi, ein ordnungsliebendes und sparsames Mädchen, holte sein mit großer Genauigkeit geführtes Ausgabenbüchlein und zeigte der teilnehmenden Hausfrau unter geradezu herzbrechendem Schluchzen auf Heller und Pfennig, wie viel sie bei den sonntäglichen Ausflügen in die Kaffeegärten für den Ungetreuen bezahlt hatte. Nebenbei hatte ihr der Niklas noch vier Mark abgeborgt, war ihr also im wahrsten Sinne des Wortes „teuer“ geworden.
Etwas abgekühlt durch diesen wenig romantischen Herzenskummer überließen wir das Sofi der wohlthätigen Einsamkeit ihrer Küche, die aber nicht beschwichtigend wirkte, sondern der Hintergangenen Gelegenheit gab, sich bis zum Platzen voll Haß und Rache gegen das Mari zu saugen – ein unchristliches Gefühl, dem sie in der mehrfach vor sich hin gemurmelten Verheißung: „Komm’ Du nur nach Hause!“ einen vielversprechenden Ausdruck verlieh.
Nach dem so ungebührlich verspäteten Abendessen saß die Familie noch in weihevoller Gemütlichkeit um den Sofatisch, als ein fernes Getöse sich hören ließ und ein unverkennbarer fürchterlicher Zank in der Küche wie ein Unwetter vom leisen Grollen zu lautem Gezänk anschwoll und näher kam.
Die sich überschreienden Stimmen des Mari und des Sofi wurden gehört, während der Niklas, der all dies Herrliche vollendet, vor den zwanzig kratzbereiten Fingern seiner Bräute in wilder Flucht seine Rettung gesucht hatte; die beiden Heldinnen waren, allem Anschein nach, in eine regelrechte Katzbalgerei um das Herz des Treulosen geraten.
Im Verlauf dieses anmutigen Zeitvertreibes gelangten sie aus der Küche in den Hausflur und prallten schließlich unter betäubendem Lärm an die Thür des Wohnzimmers an.
Diese, so rauher Behandlung ungewohnt, gab nach und spie als doppelt geöffnetes Thor die zwei Tigern durchaus nicht unähnlichen Jungfrauen hervor, die, noch immer vierhändig ineinander verkrallt, als recht angenehme Zugabe in das Familienleben stürzten.
Erst die donnernde Erkundigung des Hausherrn, ob sie beide verrückt geworden wären, löste die furchtbare Spannung – die Kombattantinnen ließen sich los, zupften sich die Ponyhaare zurecht und kamen soweit zu Atem, daß sie auf die entsetzte Frage, was ihnen denn eingefallen wäre, die überraschende Erklärung abgaben: „Wir wollten uns doch einmal aussprechen“ – was in dieser Form gewiß nicht zur Nachahmung zu empfehlen ist.
Indessen schien es wirklich geholfen zu haben, denn die beiden bräutlichen Furien zogen sich nach beendeter Schlacht ganz einig in ihre Küche zurück und lasen sich, als Friedenszeichen, bis tief in die Nacht hinein heulend die beiderseitigen Liebesbriefe des Niklas vor, die übrigens nur in der Anrede: „Geliebtes Mari“ und „Geliebtes Sofi“ sich unterschieden, sonst ziemlich mit gleicher Wärme beiden unveränderliche Liebe und Treue schwuren.
Was der Niklas sich bei dieser doppelten Brautschaft gedacht hatte und ob er anfänglich die Absicht in sich beherbergte, später als Türke aufzutreten und sowohl das Sofi wie das Mari zu [480] heiraten, das ist nicht klar geworden. Jedenfalls aber wurde er von den beiden nun wieder versöhnten Rachegöttinnen gestellt und gezwungen, sich endgültig für eine von beiden behufs Heirat zu entscheiden. Ob der Jüngling wirklich nach der frivolen Behauptung des Hausherrn nach der alten Regel: „Kopf oder Schrift“ ein Zweimarkstück über seine Zukunft hatte entscheiden lassen, das bleibe ununtersucht – aber jedenfalls gewann ihn das Mari in diesem Glücksspiel, und der Niklas führte sie als ehrsame Frau Pferdeknecht heim. Daß eine Hochzeitseinladung an das Sofi zu dem festlichen Tage erging, an dem sie doch eigentlich hatte die Hauptperson darstellen sollen, fänden wir vom unparteiischen Standpunkt aus etwas roh und hielten es für selbstverständlich, daß das Sofi das Ansinnen tief empört zurückweisen werde, den ungetreuen Niklas zum Altar zu geleiten.
In der Brust des Sofi kämpften Selbstgefühl und Vergnügungssucht einen heftigen, aber kurzen Kampf – dann siegte die letztere. Das Sofi sagte ihr Kommen zu und kaufte nicht nur sich ein kuallblaues Gewand zu der Feier, sondern sogar eine Petroleumlampe als Hochzeitsgeschenk für das junge Paar. Die Hochzeit verlief, nach dem allgemeinen Urteil, überaus schön und glänzend; das Sofi, mit dem Hausschlüssel bewaffnet, kam erst um vier Uhr des Morgens sehr befriedigt wieder nach Hause und schien keine inneren Seelenkämpfe mehr durchlebt zu haben.
Ihre Großmut belohnte sich in hervorragender Weise, indem sie die Bekanntschaft eines wohlsituierten Ofensetzers machte, der sich als unmittelbarer Nachfolger des Niklas um ihr Herz bewarb und dasselbe auch davontrug, so daß das Sofi in der stolzen Lage war, binnen kurzem auch das Mari und den Niklas zu ihrer Hochzeit einzuladen.
Sie verabschiedete sich von uns mit den aus dem tiefsten Herzen kommenden Worten: „Ich wünsche der Herrschaft, daß sie wieder eine so gute Köchin bekommt, wie ich bin,“ was jedenfalls ein erfreuliches Zeugnis dafür ablegte, daß ihr Selbstgefühl durch die schnöde Hinterlist des ersten Bräutigams keinen tödlichen Stoß erlitten hatte.
Die Bekanntschaft des glücklichen Ofensetzers machten wir übrigens ebenfalls; wir verdanken ihm nebst einem neuen Ofen, den wir aus gemütlichen Rücksichten von ihm setzen ließen, auch noch einen denkwürdigen Ausspruch, den ich zum Schluß der Geschichte von dem Sofi und dem Mari der Öffentlichkeit nicht vorenthalten will.
Der Ofen also, den uns der Gatte des Sofi lieferte, erfreute sich einer besonderen Verzierung in Gestalt einer Sphinx, die aus einem glasierten Rundell sehr wohlwollend auf den Beschauer blickte. Abgesehen davon zeichnete sich aber leider das neue Besitztum dadurch aus, daß uns der Ofensetzer durch eine Rechnung von schwindelnder Höhe den Beweis lieferte, wie wenig bei ihm die freundschaftlichen Beziehungen unserer Familie zu seiner Gattin auf den Geldpunkt Einfluß gewonnen hätten.
Als der Hausherr den biederen Mann mit mildem Ernst darauf aufmerksam machte, daß der Ofen doch sehr teuer sei, erwiderte der junge Ehemann mit großer Ruhe, indem er auf die Sphinx deutete: „Ja, teuer ist er, aber dafür haben Sie auch den Pims!“ eine Bereicherung mythologischer Benennungen, die bei uns nun schon in der dritten Generation zum geflügelten Wort geworden ist, auch nachdem der Ofen und der „Pims“ längst das Zeitliche gesegnet haben.
Das Mari und das Sofi aber leben heute noch, wenn sie nicht inzwischen gestorben sind, was ja sogar in Märchen vorkommt – warum nicht in dieser wahren Geschichte!
Fredy.
Frau Hildegard Bingen war aus dem Warmbad gekommen, hatte gefrühstückt, sich umgekleidet und saß nun in ihrer freundlich ausgestatteten Glasveranda, um einen Brief zu schreiben.
Es wollte nicht recht damit werden. Jetzt sah sie nach der Uhr und wunderte sich, wo ihr kleiner Sohn blieb – es war doch schon seine Stunde und Elise pflegte sonst sehr pünktlich zu sein – nun mußte sie aufstehen und ein paar welke Blättchen aus den Blumen zupfen, die in Vasen und Schalen umherstanden; meist waren es Feld- und Waldblumen, Frau Hildegard hatte eine Vorliebe für diese. Dann wieder folgte sie mit den Augen einem kleinen Rotkehlchen, das auf der Kastanie vor ihrem Hause munter zwitschernd von Zweig zu Zweig hüpfte und dazu sein Köpfchen rechts und links drehte, als erwartete es jemand.
„Schönheit?“ hatte Lutz Bredwitz seinen Kameraden Trutzberg gefragt und dieser mit einem entschiedenen: „Gar nicht!“ darauf geantwortet. Man mußte ihm recht geben, wenn man Frau Bingen anschaute. Sie sah unscheinbar aus und zog sich unscheinbar an, man konnte sie sehr leicht übersehen. Hätte sie eine besonders gewählte, kleidsame Toilette getragen und dadurch die Vorzüge, die die Natur ihr mitgegeben, ins richtige Licht zu setzen gewußt, so hätte man sie beachten können, aber das verstand sie nun einmal nicht, oder sie wollte es nicht verstehen. Das einzige wirklich Hübsche an ihr war die leichte zartgliedrige Gestalt mit den anmutigen Bewegungen und das sinnig und ernst blickende Augenpaar; es lag in ihm derselbe Ausdruck wie in Fredys Augen, die ihre eigene beredte Sprache zu reden und um so lieblicher zu lächeln wußten, je seltener dies geschah. Kein Fremder, der Frau Hildegard Bingen sah, hätte in ihr jemals eine reiche Witwe vermutet; sie sah mit ihrer feinen, schlanken Figur ganz wie ein junges, einfaches Mädchen aus und erschien eben dadurch auch jünger, als sie war; denn sie hatte bereits ihr siebenundzwanzigstes Jahr hinter sich.
Ihr dunkles Haar trug sie einfach gescheitelt und in ein Knötchen genommen, alle bunten, auffallenden Farben wußte sie zu vermeiden, und als einzigen Schmuck trug sie nur eine schöne antik gefaßte Broche von Perlen und Türkisen und die beiden breiten goldenen Trauringe an der rechten Hand.
Sie schob und drehte eben jetzt an diesen Ringen – ganz mechanisch geschah es, sie dachte sich nichts dabei. Wie schwer fiel es ihr, diesen Brief zu schreiben. Ihre Feder hatte erst wenige Zeilen aufs Papier gebracht, und doch war der, an den sie schreiben wollte, ihr bester Freund, genau genommen der einzige, den sie überhaupt besaß. Ein Gutsnachbar ihres verstorbenen Gatten, war er seit dessen Tode ihr treuester Berater und Helfer, ihre rechte Hand, ihre Stütze geworden … Sie hätte nicht gewußt, wie ohne ihn fertig werden! Er hatte ihr den tüchtigen Administrator ausgesucht, der ihr Gut verwaltete, er bestimmte den An- und Verkauf ihrer Wertpapiere, er kümmerte sich um Fredys Erziehung und brachte der Mutter neue, gute Bücher, dem Sohn neues Spielzeug. An kalten und langen Winterabenden, wenn das Kind im Bett lag und die einsame Frau traurig und langsam durch die stillen Zimmer ging, gleich unlustig zum Lesen wie zum Musizieren und doch auf der Flucht vor ihren eigenen Gedanken … dann klingelten seine Schlittenglocken plötzlich in dem verschneiten Hof, und gleich darauf erschien sein gutes Gesicht, von bereiftem Haar und Bart umrahmt, unter der Portière, während seine tiefe Stimme sagte: „Ich komme, Ihnen ein wenig die Einsamkeit vertreiben, Frau Hildegard! Wollen Sie mir eine Tasse Thee geben?“
Dann wurde es gemütlich in dem eben noch so stillen Raum, sie legten beide eigenhändig Holzstücke in den Kamin, und unter dem silbernen Theekessel begann das blaue Flämmchen sein heimliches Liedchen zu singen – das Lied von dem traulichen Leben zu zweien und von der lieben Häuslichkeit, die das Herz zur Ruhe kommen läßt und von allen Genüssen der Welt nicht aufgewogen werden kann. Viel, viel lebten die beiden dann in der Vergangenheit, sie hatten einen stummen Dritten bei sich im Zimmer, der leitete ihr Gespräch und blieb immer der Mittelpunkt. „Alfred sagte das auch“ und „Wissen Sie noch, wie Alfred das liebte?“ und „Alfred würde das keinesfalls gutheißen“ – so ging es hin und her, während über dem Kamin, vom aufzuckenden Flammenschein seltsam belebt, das Brustbild eines ernst und unendlich gütig blickenden Mannes auf die beiden herabsah, die sein Andenken so lebendig unter sich erhielten.
Ach ja – ja! So war das gewesen – und wenn es je zuweilen durch Frau Hildegards Sinn zog, es könnte noch einmal anders werden – anders und doch wieder so ähnlich, nur daß der Schlitten nicht mehr fortzufahren brauchte und das gute Gesicht [481]
immer, immer da war, so oft sie es haben wollte … dann hatte dieser Gedanke nichts Erschreckendes und nichts Neues für sie gehabt. Ihr war ja Muße gegönnt, sich an ihn zu gewöhnen, aber noch hatte sie ihn immer von sich fortgeschoben wie etwas, das da gewiß kommen soll, das aber in unserer Hand liegt, das wir nach Belieben regieren können. „Das hat ja immer noch vollauf Zeit!“ hatte sie sich gesagt, bis sie eines Tages fand, daß diese Rechnung doch nicht recht eigentlich stimmte. Ihr tüchtiger Administrator wollte heiraten und sich selbständig ankaufen, und ihr Sohn kam in das Alter, wo das halb spielende Lernen bei der Mama nicht mehr für ihn genügte, wo er festen Unterricht, vor allem aber eine feste Hand brauchte, die seine Erziehung leitete. Das fühlte sie recht gut: ihre eigene Hand war zu weich, um dies eigenartige Kind richtig zu führen.
Sie liebte den Kleinen mit grenzenloser Zärtlichkeit, liebte ihn mit Zittern und Bangen. Er war zart gewesen von Beginn seines jungen Lebens an, und mehr als einmal hatte sie ihn dem Tode abgerungen. Was da durch ihre Seele gezogen war, wenn sie in hilfloser Angst neben dem Kinderbettchen gekniet und versucht hatte zu beten und nur immer das eine stammeln konnte: „Mein Einziges – Einziges!“ das hatte die große Mutterliebe, die Gott ihr ohnehin ins Herz gelegt, zu einer hohen Leidenschaftlichkeit gesteigert. Darum zeigte sich in ihrem Verkehr mit dem Kinde etwas eigentümlich Heißes und Aufgeregtes – eben das, was Trutzberg seinem Freunde gegenüber mit „süßlich und sentimental“ bezeichnet hatte … Eigenschaften, die Hildegard Bingen sonst wahrlich fern lagen.
Ja, schon um des einzigen geliebten Kindes willen mußte sie raschere Entscheidung treffen. Da hatte aber der Arzt ihr [482] warme Seebäder, ihrem Knaben die stärkende Seeluft verordnet. Sie war hierher gegangen, in dies stille abgeschiedene Stranddörfchen, und hatte sich vorgesetzt, hier den Entschluß, der ihr all diese letzten Jahre vorgeschwebt, endgültig zu fassen, denn zum Herbst brauchte ihr Gut einen neuen Herrscher – da hatte sie der Zufall, das Schicksal in eine schwere, schwere Versuchung geführt. Sie hatte den Kürassierlieutenant Hans Henning von Trutzberg kennengelernt.
Frau Hildegard wußte recht gut, daß ein tief leidenschaftlicher Zug in ihrer Natur lag, und sie gestand sich denselben auch zu – aber, wohlverstanden, nur in ihrem Verhältnis zu ihrem Kinde. Ihrem Gatten gegenüber war diese Leidenschaft kaum zum Wort gekommen. Er war sehr ruhig gewesen, bedeutend älter als sie – ihre ganze Seele hatte ihm gehört und sie war redlich bestrebt gewesen, dem Flug seines Geistes zu folgen, seine Interessen zu den ihrigen zu machen – aber den heißen Quell in ihrem Innern, den hatte nur die Liebe zu dem Kinde, die Angst um das Kind zu entfesseln vermocht.
Und jetzt – und jetzt! Mit einem Schlage war sie dagewesen, ihr ganzes Sein durchrüttelnd – die Leidenschaft für den schönen Reiteroffizier! Ja, Leidenschaft war es, was da beim ersten Sehen, beim ersten Wort von seinen Lippen in ihr aufgelodert war, jäh und plötzlich, so daß ihr Herz ins Stocken kam und es sie überfiel wie ein rascher Schwindel. Sie war keine haltlose Natur, sie nahm ihr Herz fest in den Zügel und sagte sich selbst mit zorniger Energie: „Dies darf – dies soll nicht sein!“ Auch wollte sie sich nicht feig zeigen und fahnenflüchtig werden – fest wollte sie der Gefahr ins Auge sehen, um sicher, sicher dann zu erkennen, daß es überhaupt gar keine Gefahr gewesen, sondern nur eine Blendung, eine Täuschung! Und so mied sie nicht den Verkehr mit dem Mann – eher suchte sie ihn, denn sie wollte Mut beweisen und rasch mit sich fertig werden.
Das nun hatte sich als ein gefährliches Wagstück ausgewiesen, denn ihre Leidenschaft fiel keineswegs bei dem täglichen Verkehr in nichts zusammen – im Gegenteil, sie wuchs und wuchs. Ueber die ruhige Frau kam ein innerliches Zittern, sowie sie nur den Schritt des Mannes vernahm; sie hatte alle Mühe, ihre Aufregung zu verbergen, sobald er in ihre Nähe kam, sein Blick den ihrigen suchte. Ihre Hand wurde kalt in der seinen und lag wie hilflos darin, und wenn seine Lippen diese Hand berührten, flutete es ihr wieder heiß zum Herzen, daß sie zu vergehen meinte. Umsonst, daß sie es sich zurückrief, wie so ganz anders, wie viel reiner und tiefer ihre Liebe zu dem Gatten gewesen war – umsonst, daß sie sich den alten, treuen Freund vorstellte und sich sagte, wie nahe, nahe sie daran gewesen war, mit ihm einen neuen Bund zu schließen, der noch vor wenigen Wochen ihr Herz vollauf befriedigt, ihr die Zukunft in einem hellen, freundlichen Licht gezeigt hätte … es war alles wie ausgelöscht in ihr – nur eines war für sie Leben und Wirklichkeit: Hans Henning von Trutzberg.
Was wußte sie von ihm, seinem Wesen, seinem Charakter! Ein schöner Mann war er, mit ritterlichen Manieren, mit gewandter Unterhaltungsgabe, die aber nie die landläufigen Gebiete überschritt und – sie gestand sich das frei – sich in ziemlich eng gezogenen Grenzen bewegte. Denn in dem Punkt war Hildegard Bingen verwöhnt. Ihr Mann hatte sie nie als eine Frau, die von so und sovielen Dingen nichts verstehen kann und soll, angesehen, er hatte sie als ein ihm vollständig ebenbürtiges Wesen behandelt, ihre vielen Fragen klar und sachgemäß beantwortet, vieles aus eigenem Antrieb ihr mitgeteilt und so, wenn auch ohne System, ihren Geist ganz regelrecht geschult. Sein Freund hatte das alles miterlebt, er hatte von Hildegards Verstand und Kenntnissen eine sehr hohe Meinung, er that, wie der Verstorbene gethan: er besprach alles mit ihr, was in Politik, in Kunst und Wissenschaft irgend sein Interesse erregte, und das war nicht wenig, da er aus allen Kräften bestrebt war, nicht einseitig zu werden, „geistig zu verbauern“, wie er das nannte.
Von alledem nichts bei dem jungen Baron! Dinge, von denen er nichts verstand, wußte er mit einer gewissen hochfahrenden Manier abzuthun, die vielen an dem stolzen Kavalier ohne weiteres imponierte. Sich in Sachen, „die ihn nichts angingen“, zu vertiefen, fiel ihm gar nicht ein, und er fand, daß ihn sehr viele Fragen kalt ließen, um die sich die übrige Menschheit abmühte. Wenn er als Offizier das seinige leistete, sich auf Pferde gründlich verstand, im Ballsaal eine brillante Figur machte und mit den Kameraden auf gutem Fuß stand, so leistete er, nach seiner Ansicht, übergenug, und mit sonstigem „ödem Kram“ sollte ihm keiner kommen.
Das mußte Hildegard bald durchschauen und als Mangel empfinden, aber dennoch – dennoch!!
Daß er ihr huldigte, ihr auf alle Weise seine Ergebenheit bewies, lag zu Tage …. aber er war ein armer, wahrscheinlicherweise stark verschuldeter Offizier, und sie war eine reiche Frau, eine der besten Partien in der ganzen Provinz. War sein Gefühl echt, würde es auch standhalten, wenn sie arm wäre? Wer konnte ihr dafür einstehen?
Und er, der gute Freund, der zartfühlend, wie er war, nie mit Blick und Wort direkt um sie geworben, von dessen tiefem und starkem Gefühl sie aber überzeugt sein durfte – er, der bescheiden gewartet hatte, bis sie selbst es ihm gestatten würde, ihr näher zu treten, und jetzt sich der Erfüllung seines höchsten Wunsches nahe glauben durfte …. wie würde er diese plötzliche Wandlung auffassen?
Dann aber eins noch, das hauptsächlichste: wie durfte sie, die zärtlichste, fürsorglichste Mutter, daran denken, ihrem Knaben einen zweiten Vater zu geben, der ihm offenbar antipathisch war!
Und wenn sie sich tausendmal sagte, das könne nicht so bleiben, das müsse sich später ganz anders gestalten, aus anfänglicher Abneigung sei oft die herzlichste Liebe entstanden, und ein so junges Kind könne unmöglich ein so starkes Empfinden dauernd bewahren –, wenn sie sich tröstete, es sei eine unbewußte kindische Eifersucht, es sei Trotz und Eigensinn und diese Eigenschaften müßten gebrochen werden …. für jetzt blieb die Thatsache bestehen. Der glänzende, gefeierte Offizier mit dem schönen Gesicht und dem stolzen Namen warb um das blasse, unscheinbare Kind, warb beinahe dringender und eifriger als um des Kindes Mutter …… und warb bis jetzt vergebens!! –
– – – Der Knabe war zu jung noch, zu still auch und in sich gekehrt, um sich und anderen – in erster Linie der Mutter – in klaren Worten Rechenschaft davon abzulegen, weshalb er den Offizier nicht mochte. Vielleicht auch hätte er dies nicht gekonnt, wenn er mehr als doppelt so alt gewesen wäre. Vermögen doch selbst ganz reife, gescheite Menschen oft nicht, sich über rasch aufkeimende Sympathien oder Antipathien klar zu werden. Das Kind hatte sich von der ersten Stunde an gegen Hans Henning von Trutzberg kalt und ablehnend gezeigt, und das war trotz häufigen Beisammenseins, trotz guter Worte und reicher Geschenke bis heute so geblieben.Fredy war kein leicht erregbares Kind, das jedem beliebigen Fremden in die Arme flog. Aber es gab Leute, zu denen er beim ersten Wort und Blick Zutrauen faßte – Lutz Bredwitz war einer von ihnen gewesen! – und solche, die sich monatelang um ihn abmühten, ohne auf ihn irgend welchen Einfluß auszuüben. Man konnte den Kleinen eigentlich nicht darum schelten, denn er betrug sich niemals unartig, er setzte nur aller Liebenswürdigkeit einen passiven, beharrlichen Widerstand entgegen. Frau Hildegard wußte nicht recht, wie sie ihr Kind hier fassen sollte. Sie konnte ihm sagen: „Sei höflich und freundlich, ich wünsche es!“ aber sie konnte ihm nicht sagen: „Diesen oder jenen mußt Du lieben, denn ich wünsche es!“
Ach, und es hätte sie so glücklich gemacht, wenn Er, der Sieghafte, der Eine, es auch noch verstanden hätte, sich ihres Kindes Herz zu gewinnen, wie er das ihrige erobert hatte – rasch, im Sturm, auf einen Schlag! Nun, es mußte kommen, ja, es mußte! Aber bis es kam, hieß es für sie: warten, denn sie durfte ihrem einzigen Kinde den Jammer nicht anthun, sein Herz zu knebeln, jetzt, da Fredy ohnehin nicht mehr die erste Rolle in ihrem Leben spielen sollte!
Frau Bingen war mit ihrem Brief noch nicht über die zweite Seite hinausgekommen. Sie las durch, was sie geschrieben, es kam ihr furchtbar konventionell und trocken vor; allerdings handelte es sich augenblicklich nur um eine Geschäftssache: eine Hypothek war ihr gekündigt worden, und sie wünschte den einfachsten, kürzesten Weg zu wissen, um die Sache abzuthun – aber ihr Ton war doch sonst ein anderer, freierer gewesen, heute klang etwas Erzwungenes daraus hervor. Sie seufzte – wie sollte sie das ändern? –
Draußen knirschte der Kies unter dem Rad eines kleinen Sandkarrens – ungleiche, trippelnde Kinderschrittchen näherten sich ....
„Mein Kleines! Fredy!“
[483] Sie ist im Nu die Stufen hinunter und hält die schmächtige, kleine Gestalt in ihren Armen, kniet neben Fredy hin, fühlt seine Hände, sein Gesicht an und küßt ihm die weichen Haare, die Wangen, den Mund.
„Mein Mamachen!“ sagt er mit zärtlicher Betonung und schmiegt sich fester an sie. Er ist es gewohnt, so zärtlich empfangen zu werden. Immer ist es ihr nach jeder solchen Entfernung, als hätte sie ihn tagelang nicht gesehen.
„So lange seid ihr weggeblieben, Elise! Es ist doch wenigstens eine halbe Stunde später!“
Elise zieht die kleine silberne Uhr, ein Geschenk ihrer Herrin.
„Zwanzig Minuten sind’s gerade, gnädige Frau!“
„Aber wie konntet ihr solange fortbleiben? Er ist doch wohl gewesen? Hat ihm sein Frühstück geschmeckt? Hat er alles gegessen?“
„Nicht ganz, er ist immer so schnell satt!“
„Aber, Liebling, ist das nun hübsch? Wer wird denn nicht vernünftig essen?“
„Wenn ich doch nicht mehr kann, Ma’chen?“
„Nun, quälen soll sich mein Kleiner nicht! Aber jetzt rasch: weshalb kamt ihr so spät?“
„Ja, wir hatten Besuch auf der Wiese, gnädige Frau: Herrn Baron von Trutzberg mit einem anderen Herrn!“
Die Hände, die das Kind umfassen, werden mit einem Male schlaff.
„So – hattet ihr? Also wie – und da habt ihr geplaudert – und da war – erzähl’ doch, Fredy!“
Sie fühlt sich verlegen wie ein sechzehnjähriges Mädchen – was muß Elise denken!
Fredy macht sich sanft von seiner Mama los und sagt kein Wort.
„Nun, Liebling, sind wir ganz stumm?“
Ein erzwungenes Lächeln, ein verlegenes Hin- und Herwenden des Köpfchens ist die ganze Antwort.
„Also wird Elise mir erzählen!“
„Ich muß Fredy ein bißchen verklagen, gnädige Frau! Er ist wieder gar nicht freundlich gegen den Herrn Baron gewesen, trotzdem gnädige Frau es ihm doch extra befohlen haben und ich ihn daran erinnerte. Herr von Trutzberg haben ihn wieder so schön beschenkt, mit einer reizenden Eidechse, und Fredy hat nicht mal von selbst Schön Dank gesagt …. ich hab’ ihn dazu mahnen müssen. Mach’ jetzt wenigstens die Bestellung an Mama, die Herr Baron Dir aufgetragen hat.“
„Du sollst heut’ nachmittag in den Wald kommen!“
„Aber Fredy, so hat Herr von Trutzberg doch nicht gesagt! Wenn das Wetter schön wäre, würde er glücklich sein, mit der gnädigen Frau im Wald zusammenzutreffen – das war’s! Und Herr Baron haben sich so gewünscht, daß Fredy ihn Onkel nennt, aber Fredy war nicht dazu zu bewegen!“
„Elise, bitte, drinnen steht noch mein ganzes Frühstücksgerät. Räumen Sie ab, hängen Sie auch mein Morgenkleid weg, aber zuvor nähen Sie oben am Kragen die Spitze fest, sie riß mir ab.“
Elise ging mit einem „Sehr wohl, gnädige Frau.“ Sie kannte das schon. Wenn Frau Hildegard mit Fredy unzufrieden war und ein ernstes Wort mit ihm zu reden wünschte, wurde sie, die Bonne, jedesmal unter irgend einem Vorwand fortgeschickt.
Mutter und Kind waren allein.
Sie sagte zunächst kein Wort, aber ihre sprechenden Augen lagen mit einem traurigen Blick auf ihm und Fredy fühlte und verstand diesen Blick recht gut, trotzdem er that, als sei er völlig damit beschäftigt, seine Pflanzen und Steinchen aus dem Karren zu nehmen und in eine Ecke der Veranda zu legen. Als seine Mama noch immer stumm blieb, kam er langsam an sie heran, lehnte sich gegen sie und ließ den Kopf sinken.
„Hast Du mir nichts zu sagen, Fredy?“ fragte sie sanft.
Er faltete ernsthaft seine kleinen Hände über ihrem Knie.
„Das find’ ich so gemein von der Elise, daß sie mich auch immer bei Dir angiebt!“
„Elise ist dazu da, um auf Dich acht zu geben. Benimm Dich wie ein wohlerzogenes, gutes Kiud, dann hat sie nicht nötig, mir Dinge von Dir zu sagen, die mir weh thun!“
„Weh thun, Mamachen?“
„Ja, Fredy – im Herzen weh thun! Du weißt recht gut, wie das ist!“
„Aber ich will Dir ja gar nicht weh thun!“
„Wenn Du unartig und unfreundlich bist gegen Leute, die ich – von denen ich – die Deine Mama …. Du weißt, Du sollst gegen alle gut und artig sein!“
„Hast Du denn aber den so lieb?“
„Den? Was heißt das? Wen meinst Du?“
„Ach – aber – na – den Baron von Trutzberg!“
„Du sollst ihn anders nennen, er hat es Dir erlaubt, ihn Onkel zu heißen, und ich erlaube es Dir auch! Sprich mir einmal nach: Onkel Hans!“ Sie wurde flammendrot, als sie vor ihrem Kinde den geliebten Namen aussprach.
„Also – Fredy?“
„Der soll gar nicht mein Onkel sein! Onkel Hugo Haßler, das ist mein richtiger Onkel!“
„Warum hast Du Onkel Haßler lieb, Fredy?“
„Na, der spielt doch mit mir und ist nett und – und schenkt mir schöne Sachen –“
„Ist nicht Baron Trutzberg – Onkel Hans meine ich – auch gut zu Dir und schenkt er Dir nicht schöne Sachen? Heute wieder die hübsche Eidechse –“
„Ach, die will ich gar nicht!“
„Aber wenn Onkel Hugo sie Dir geschenkt hätte, dann würdest Du sie wollen, nicht wahr?“
„Ja natürlich! Onkel Hugo, der kann auch immer so schön von meinem Papa erzählen.“
„Weil er ihn gut gekannt hat. Onkel Hans hat Deinen lieben Papa nie gesehen.“
„Ach – der braucht auch gar nicht von ihm zu erzählen!“
„Du bist ein eigensinniges Kind, Fredy, und hast Deine Mama kein bißchen lieb.“
„Doch! Viel mehr als ein bißchen. So lieb wie – wie – die ganze große Welt!“
„Davon merke ich aber nichts! – Wirst Du heute im Walde sehr gut und freundlich sein und von selbst sagen: lieber Onkel Hans?“
„Laß mich dann lieber zu Haus bei Elise!“
„Nein, Du kommst mit! Du bist ja sonst so unglücklich, wenn Deine Mama ohne Dich geht!“
Fredy sann ein Weilchen nach – sein Gesichtchen verklärte sich plötzlich – ihm war ein ausgleichender Einfall gekommen.
„Da war noch ein anderer Herr da, auch ganz fremd, ich hatt’ ihn noch nie gesehen – der kommt heute mit in den Wald und für mich bringt er einen kleinen Jungen mit. Lutz von Bredwitz heißt der; wenn ich zu dem nun Onkel sag’ – ich meine, zu dem anderen Herrn …. ist das nicht gerade so gut?“
„Gar nicht, Fredy! Was hilft mir ein fremder Herr, den ich nicht kenne? Du sollst Deiner Mama gehorsam sein, verstehst Du? Thust Du das nicht, so komme ich heute abend nicht an Dein Bett, Du bekommst keinen Gutenachtkuß und kannst allein beten, ohne Deine Mutter!“
Fredy sah seiner Mama mit großen, starren Augen ins Gesicht, dann zuckte es ihm um die Lippen und er brach in ein bitterliches Weinen aus. Es war die härteste Strafe, wenn seine Mutter ihn nicht zur Gutenacht küßte und nicht mit ihm betete. Er hing an ihr mit zärtlichster Innigkeit, sie war der Mittelpunkt all seiner kindlichen Ideen und Pläne. Selten, sehr selten kam es vor, daß sie ernstlich gegen ihn einschreiten mußte. Sie vermied dies auch, soviel sie irgend konnte, um das Kind nicht zum Weinen kommen zu lassen. Fredy weinte nicht wie andere Kinder – seine Thränen versiegten nicht rasch, sie strömten lange und unaufhaltsam, das stoßweise Schluchzen erschütterte den kleinen, zarten Körper, raubte ihm für später den Appetit und nahm ihm den Schlaf; selbst der Arzt, der gegen alle Verweichlichung der Kinder energisch ankämpfte, hatte Frau Hildegard geraten: „Lassen Sie es lieber nicht dahin kommen, daß der Junge viel weint. Dies krampfartige Schluchzen ist mir nicht so ganz unbedenklich, es kann leicht einmal in einen wirklichen Krampf ausarten und eine schlimme Wirkung auf das Nervensystem ausüben!“
Und jetzt hatte sie – sie selbst diesen Thränenerguß hervorgerufen, weil das Kind sich nicht ihrem Willen fügen, weil es zu dem Mann, den sie liebte, kein Herz fassen konnte!
Es ging ein schneidender Schmerz durch ihre Seele, während sie, gleichfalls die Augen voller Thränen, vor Fredy kniete, sein Gesicht, seine Hände, sein Haar mit ihren Küssen bedeckte und immer von neuem bat: „Nicht weinen, mein süßes Kind, mein Kleiner! Nur nicht mehr weinen – Mama wird nie mehr von Dir verlangen, was Du nicht kannst!“
(Schluß folgt.)
[484]
Blätter und Blüten.
Nenndorfer Volkstrachten. (Zu dem Bilde S. 469.) Von lieblichen und fruchtbaren Gefilden umringt, begrenzt von den sanft aufsteigenden Hügeln des Deistergebirgs, liegt in der ehemaligen kurhessischen Grafschaft Schaumburg, etwa drei Meilen westlich von der schönen Stadt Hannover entfernt, das heilkräftige Bad Nenndorf. Es ist zwar kein Weltbad, das Tausende von Fremden herbeilockt, aber doch in mancher Hinsicht berühmt. Die vier salinischen Schwefelquellen, die auf seinem Boden entspringen, gehören zu den stärksten, die überhaupt bekannt sind, und es darf sich rühmen, die ältesten Schlammbäder Deutschlands zu besitzen. Der heilsame Einfluß der Quellen Nenndorfs war den Einwohnern der Umgegend wohl seit alters her bekannt, aber erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts verstand der Landgraf Wilhelm IX., der spätere Kurfürst Wilhelm I. von Hessen, durch zweckmäßige Vorkehrungen den stillen Ort in ein Bad zu verwandeln. Bereits im Jahre 1887 konnte Nenndorf das hundertjährige Jubiläum seines Bestehens feiern. Vor hundert Jahren wurden auch die herrlichen Parkanlagen geschaffen, deren prachtvolle Eichen, Buchen und Ahornbäume heute das Auge erfreuen.
Dank der Fürsorge der Regiernug wurde das Bad in den letzten Jahren durch neue schöne Bauten vervollständigt und allen Ansprüchen der Neuzeit gemäß ausgestattet. Erwähnenswert ist das Schlammbadehaus, das im Jahre 1892 mit einem Aufwande von nahezu einer halben Million Mark aufgeführt wurde.
Anmutig ist auch die Umgebung Nenndorfs, die Gelegenheit zu schönen Ausflügen bietet. Vor allem sind die freundlichen Dörfer Groß- und Kleinnenndorf mit ihrer biederen treuherzigen Bevölkerung aus uraltem Sachsenstamme hervorzuheben. Sonntag nachmittags, wenn die Kurmusik ihre Weisen ertönen läßt und vor dem Kurhause und unter den Linden der Esplanade die Badegäste lustwandeln, mischen sich auch die Burschen und Mädchen der Dörfer unter die Menge und erfreuen Auge und Herz durch ihr heiteres, frohsinniges Wesen und die leuchtenden Farben ihrer Kleidung. Die Nenndorfer sind nämlich trotz aller Wandlungen der Zeit durchaus nicht neumodisch geworden, sondern haben treu die Sitten und Gewohnheiten ihrer Vorfahren sowie die alte kleidsame Tracht bewahrt. Anthropologen, wie Virchow, haben diese Tracht gerühmt und sie findet auch Gefallen bei den Stadtdamen. Viele Frauen und Mädchen, die zur Kur in Nenndorf weilten, ließen sich in dieser Tracht beim Nenndorfer Photographen aufnehmen. Unsere Abbildungen führen uns Nenndorfer in ihrem Staat vor. Mädchen und Frauen tragen einen roten Rock und ein buntes Mieder, über das ein reich ausgenähtes mit zahllosen Flittern besetztes Tuch geschlungen ist. Eine Bernsteinkette und eine weite Krause zieren den Hals, den Kopf bedeckt eine schwarze mit Bändern und Perlenstickereien geschmückte Mütze; große silberne Ohrringe und eine silberne Spange vor der Brust vervollständigen den Schmuck. Für gewöhnlich tragen die Nenndorfer Schönen bunte leinene Schürzen, Sonntags aber bunte seidene. Einfacher ist die Männertracht. An Wochentagen besteht sie aus einer langen Hose, einer bunten Jacke mit zwei Reihen buntgestickter Knöpfe und der „witten Jacke“ oder einem weißleinenen Ueberrock, dessen Taille dem Träger fast in der Schultergegend sitzt. Als Kopfbedeckung dient für gewöhnlich eine Zipfelmütze (vergl. unser Bild rechts). Sonntags tragen die Männer einen langen schwarzen Tuchrock mit kurzer Taille und zwei Reihen bunter Knöpfe: die Zipfelmütze wird für die Festtage durch eine schwarze Pelzmütze ersetzt.
Wie überall zeigen die Bauern auch in Nenndorf ihren schönsten Staat bei Familienfesten, namentlich bei Hochzeiten. Wer von den Fremden Gelegenheit findet, einen Nenndorfer Hochzeitszug zu sehen, hat daran seine helle Freude. Mit bunten Bändern geschmückte Reiter sprengen auf reich geschirrten Rossen dem Zuge voran. Ihnen folgt der ganz mit Tannenreisig umwundene Brautwagen mit dem Brautpaare und den Kranzjungfrauen. Die Kleider der letzteren (vergl. unser Bild links) sind natürlich besonders kostbar, reicher als für gewöhnlich verziert, und den charakteristischen Schmuck bildet ein etwa 40 cm hoher Kranz, der von roten Perlen, Flittern und kleinen ovalen Spiegeln zusammengefügt ist. Denselben Kramz trägt ein junges Mädchen, wenn es Patin wird. Noch prachtvoller ist die Tracht der Braut. Sie trägt einen schwarzen Tuchrock und ein Mieder, das mit Silber- und Perlenstickereien verziert ist. Den Kopf schmückt der bereits erwähnte Kranz, von dem aber silber- und goldgestickte Bänder ringsum herabflattern, daß sie das Gesicht der Braut fast völlig verdecken. Die Bernsteinkette ist mit einem silbernen Schloß versehen und die silberne Spange vor der Brust besonders reich vergoldet. Der Brautanzug, den der Bräutigam zu schenken pflegt, hat in der Regel einen Wert von 500 bis 600 Mark. Der Bräutigam trägt den bereits beschriebenen landesüblichen Sonntagsanzug.
Nach der Trauung geht es unter allerlei Scherz heimwärts. Vor dem Eintritt ins Haus wirft der Bräutigam ein Weinglas hinter sich; das Zerschellen desselben verheißt Glück. Alsdann beginnt auf der langen „Hausdiele“ ein fröhliches Festmahl, dessen Beschluß ein Tanz bildet.
Mögen die Nenndorfer auch weiterhin den nivellierenden Einflüssen der Kleidermode trotzen und ihre schöne alte Tracht ihren Kindern und Enkeln vererben! R.
Der erste Patient. (Zu dem Bilde S. 473.) So geht es dem Uebermut! Gestern noch beim Fünf-Uhr-Thee hänselten die beiden den jungen Doktor nach Herzenslust über seine viele freie Zeit, heute liegt die eine von ihnen, ein Opfer der vielen süßen Kuchen, als „erster Fall“ unter seinen Händen, und es will ihr nicht einmal gelingen, nachdem das Schrecklichste vorüber und die Lebenskraft wiedergekehrt ist, ihn aus seiner ganz neuen ärztlichen Würde herauszulachen. Er nimmt seinen ersten Fall ernsthaft und wird dem besorgten Gatten ausführlich über seine Ungefährlichkeit berichten. Wenn nur nicht unterdessen ein zweiter, gefährlicherer Fall sich vorbereitet, ein ansteckender, dessen Sitz im Herzen, nicht im Magen ist! Die junge Schwester seitwärts von der Patientin lächelt so befangen, und auch er, der eifrige Pulszähler, scheint das Bewußtsein dieses möglichen Doppelfalles zu haben. Wie interessant oder schwierig dieser verlaufen wird, das entzieht sich unserer Prognose; daß er aber zum Schluß ebenso befriedigend ausgehen dürfte wie der erste, hier dargestellte, darüber besteht wohl kein Zweifel! Bn.
Griechische Idylle. (Zu dem Bilde S. 481.) Eine Felsengrotte im Meer, still und heimlich, in welche ein liebendes Paar aus der bewegteren Flut sich geflüchtet hat, um der Gottheit, welche in diesem Felsengewölbe herrscht und verehrt wird, zu opfern. Der Jüngling schreibt den Namen der Geliebten, Chloë, an die Felswand, um sie dem dauernden Schutz der Gottheit anheim zu geben. Des Mädchens Blick aber folgt der Hand des Geliebten, welche ja nur hinschreibt, was das Herz ihr diktiert. Ruht doch das Ange des Jünglings mehr auf ihr als auf den Schriftzügen, während sie selbst mit gefalteten Händen sich dem Schutz der hier waltenden Gottheit empfiehlt. Und mag das auch ein düsterer ernster Höhlengott sein – Eros, der heitere, sitzt unsichtbar zwischen den Liebenden im Kahn. †
Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (4. Fortsetzung). S. 469. – Nenndorfer Volkstrachten. Bild. S. 469. – Der erste Patient. Bild. S. 473. – Neue Gedichte von Johanna Amdrosius. S. 475. – Gerhard Rohlfs. Von Emil Jung. Mit Bildnis. S. 476. – Ein rücksichtsloser Politiker. Bild. S. 477. – Das Mari und das Sofi. Skizze aus dem häuslichen Leben. Von Hans Arnold. S. 479. – Fredy. Novelle von Marie Bernhard (Fortsetzung). S. 480. – Griechische Idylle. Bild. S. 481. – Blätter und Blüten: Nenndorfer Volkstrachten. S. 484. (Zu dem Bilde S. 469.) – Der erste Patient. S. 484. (Zu dem Bilde S. 473.) Griechische Idylle. S. 484. (Zu dem Bilde S. 481.) – Griechische Idylle. S. 484. (Zu dem Bilde S. 481.)
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Inhalt der Bände: 1. Glück auf! Illustr. von W. Claudius. – 2. Am Altar. Hermann. Illustr. von A. Zick. – 3. Gesprengte Fesseln. Verdächtig. Illustr. von R. Gutschmidt. – 4. Frühlingsboten. Die Blume des Glückes. Illustr. von Erdmann Wagner. – 5. Gebannt und erlöst. Illustr. von C. Zopf. – 6. Ein Held der Feder. Heimatklang. Illustr. von R. Reinicke und Th. Rocholl. – 7. Um hohen Preis. Illustr. von Fritz Bergen. – 8. Vineta. Illustr. von W. Claudius. – 9. Sankt Michael. Illustr. von Fritz Bergen. – 10. Die Alpensee. Illustr. von Oscar Gräf.
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Beilage zu No 28. 1896.
Die Gedächtniskirche für König Ludwig II. von Bayern. Am 13. Juni waren gerade zehn Jahre seit dem Unglückstage verflossen, an welchem der schwergeprüfte König Ludwig II. von Bayern mit seinem Arzte Gudden in den Wellen des Starnberger Sees den Tod fand. Ein schlichtes Denkmal im Parke des königlichen Schlosses Berg bezeichnete seit Jahren die Unglücksstätte. Der Prinzregent Luitpold von Bayern hat inzwischen angeordnet, daß in ihrer Nähe, oberhalb des Denkmals, eine Gedächtniskirche sich erheben solle. An dem Gedenktage, dem 13. Juni, fand an der Baustelle die feierliche Grundsteinlegung statt. Die kirchliche Weihe wurde von dem Stiftsprobst Dr. v. Türk vollzogen, worauf der Prinzregent den Hammerschlag mit den Worten that: „Zur frommen, wehmütigen Erinnerung an den unglücklichen, schwergeprüften, von seinem Volke treu geliebten König Ludwig II.“ Eine von unseren Abbildungen stellt diesen ergreifenden Augenblick der tiefernsten Feier dar. Außerdem führt uns der Zeichner noch ein Bild der Gedächtniskirche vor, wie sie sich nach ihrer Vollendung voraussichtlich den Blicken des Beschauers darbieten wird. Schließlich ist auch noch eine Uferlandschaft des schönen Parkes bildlich wiedergegeben; eine Fahne bezeichnet die Stelle, an welcher der Leichnam des verunglückten Monarchen gefunden wurde; im Hintergrunde ragt über Baumkronen das königliche Schloß Berg hervor.
Als Erwerb für Damen, die nicht über ein Kapital verfügen, ist das Aufzeichnen von Mustern für Leinwandstickerei sehr empfehlenswert. Besonders in kleineren Städten dürfte sich eine gute Einnahme erzielen lassen, wenn eine reiche Auswahl geschmackvoller Aufzeichnungen zur Verfügung steht. Für einigermaßen Geübte ist es nicht schwer, sich in den Besitz einer Stechmaschine und des Mustermaterials (wie es z. B. in den Lipperheideschen Heften so vortrefflich geboten wird) zu setzen sowie die nötige Fertigkeit im Zeichnen zu erwerben. Aber auch den Ungeübten bietet sich jetzt der leichte Erwerb durch das Unternehmen eines Vorzeichnungslagers en gros, welches die Firma H. Vogt, Berlin S.W. Gneisenaustraße 89, neuerdings eröffnet hat. Eine Sammlung von 500 gestochenen und zum Gebrauch fertigen Kopieschablonen liegt zur Versendung bereit, nebst den Wischern und dem Blaupulver zum Aufzeichnen; man braucht also zum Anfang des Geschäftes nichts weiter als ein Zimmer und einen großen Tisch. Die reichhaltige Mustersammlung enthält Decken, Läufer, Handtücher, Kissen, Wandschoner etc. in allen Größen; der Preis der einzelnen Schablone ist ein sehr mäßiger; jeder bestellten Kollektion wird das nötige Blaupulver gratis beigelegt, wie auch der Handstechapparat zum Nachstechen von zerrissenen Mustern. So läßt sich also mit den bescheidensten Mitteln ein Geschäft eröffnen, das bald guten Gewinn abwerfen kann. Selbstverständlich darf eine höher strebende Unternehmerin nicht lange auf die mechanische Nachbildung aus zweiter Hand angewiesen bleiben, sondern muß lernen, die reiche Fülle der im Kunsthandel erschienenen Vorbildsammlungen für ihr Publikum nutzbar zu machen. Aber zum Anfang ohne alles Risiko und zum allmählichen Vertrautwerden mit dem Stoff wie mit der Technik des Uebertragens ist die Vogtsche Versandanstalt, welche seit Oktober v. J. schon eine Reihe derartiger Ateliers eingerichtet hat, gewiß zu empfehlen.
[484 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]