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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[429]

Nr. 26.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (2. Fortsetzung.)

Während Karlin’ von ihrem Ausblick langsam durch den Garten zurückkehrte, vernahm sie einen ängstlichen Schrei ihres Kindes. In Sorge begann sie zu laufen, und als sie die Steinbank erreichte, sah sie ein schattenhaftes Tier, wie eine kleine Fledermaus, mit brummendem Sumsen um den Kopf des Kindes flattern. Erschrocken schlug sie mit der Hand und traf. Das Tier fiel zu Boden – ein großer Nachtfalter.

Karlin’ hob das weinende Bürschlein auf ihre Arme und streichelte ihm Haar und Wange. „Geh, Tonerl, bist erschrocken! Geh, so wein’ doch net …. schau, es is ja bloß ein Schmetterling g’wesen! Der thut Dir nix!“

Schmetterling! Dieses Wort schien das Kind zu trösten; es blickte mit nassen Augen umher und streckte die Händchen. „Den Meckerling haben möcht’ ich!“

„Ja, Herzerl! Wart’, den such’ ich Dir gleich! …. Schau, da is er schon!“

Mit zitternden Schwingen kroch der Falter über die Pflastersteine. Karlin’ bückte sich; doch von einer abergläubischen Regung erfaßt, zog sie die Hand zurück – deutlich hatte sie auf dem dicken Leib des Falters die unheimliche Zeichnung erkannt – es war ein Totenkopf. Sie wollte das Tier zertreten, als der Falter mit einem zirpenden Ton sich von der Erde hob; schwirrend stieß er gegen eine Fensterscheibe und verschwand unter den roten Blättern der wilden Reben.

Mit beiden Armen preßte Karlin’ ihr Kind an die Brust und blickte scheu zu den zitternden Blättern auf.

„Komm, Schatzerl, laß Dich schlafen bringen!“

Das Bürschlein begann wieder zu weinen. „Meckerling haben möcht’ ich! Nitti schlafen! Vaterl warten!“

„Geh, sei z’frieden, Tonerl! Der Vater kommt schon! Droben im Betterl darfst warten auf ihn!“

„Thust mir Liederl singen?“

„Ja, lieb’s Herzerl!“ beschwichtigte Karlin’ das Kind.

Sie ging zur Thüre, kehrte wieder um, faßte eine Weinranke und rüttelte an ihr. Surrend schoß der Falter aus dem Laub hervor und schwirrte davon.

„Gott sei Dank!“

Als Karlin’ das Haus betrat, kam eine alte Magd aus der Küche und fragte: „Wie soll ich’s denn mit dem Essen halten, Frau? Von Mittag is alles noch übrig …. der Herr is net heim ’kommen, und Sie haben nix ’gessen. Soll ich die Sachen aufwärmen?“

„Für mich, ja! Aber für ’n Herrn mußt frisch was machen, ’s Aufg’wärmte mag er net.“

„Was soll ich denn richten?“

„Fladlsuppen …. die ißt er gern. Und ein ausg’suchts Stückl Wildbret brätst ihm ab. Und wenn alles fertig is, mußt es halt schön am Feuer halten, damit er sein Essen gleich haben kann, wann er heimkommt. Sonst muß er sich wieder ärgern …. weißt es ja, er wart’t net gern.“

„Ja, ja!“ sagte die Magd und ging in die Küche zurück, während Frau Karlin’ über die Treppe hinaufstieg, auf ihren Armen das Kind, das von versiegendem Schluchzen noch ein bißchen gestoßen wurde.

Adolf Bastian.

[430] Im Flur des oberen Stockes herrschte schon tiefe Dämmerung. Die Blätter des Epheus, der die Wände übersponnen hatte, hingen wie kleine, schwarze Schatten an der weißen Mauer und an den Stangen der schwachen Hirschgeweihe, welche hier im Flur ihren Platz gefunden hatten, weil Purtscheller sie nicht der Ehre würdig hielt, in seiner „guten Stube“ zu prangen.

Frau Karlin’ durchschritt das große Wohnzimmer, und ohne in der Schlafstube Licht zu machen, entkleidete sie unter zärtlichem Geplauder das Kind und wusch ihm das von Thränen nasse Gesichtchen. Und das Büblein lag noch kaum in den Kissen, da mahnte es die Mutter schon an ihr Versprechen: „Liederl singen, Mammi!“

„Ja, Tonerl …. laß Dich nur erst schön zudecken!“

Die junge Frau zog sich einen Stuhl an das Bettlein, und während sie ihre Hand den spielenden Fingern des Kindes überließ, sang sie, was ihr gerade einfiel:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!
Zwitschert Wald aus und ein,
Wo mag mein Schatzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!“

Da mußte sie lächeln. Wie merkwürdig, daß ihr gerade dieses Liedchen, an das sie zehn Jahre und länger nicht mehr gedacht hatte, auf die Lippen kam! Das war wohl nur geschehen, weil sie heute den Mathes wieder gesehen hatte. Denn dieses Liedlein hatten sie immer miteinander gesungen, unter den blühenden Hecken und im dunklen Purtschellerwald da droben, damals, als sie noch Kinder waren – sie, der Mathes und die Vroni!

Es war in der Stube doch so dunkel um sie her, und dennoch sah sie vor ihrem Blick den sonnigen Berghang liegen, über ihm die leuchtenden Felswände und über allem den blauen Himmel. Und im Rauschen der silbernen Gießbäche …. damals waren sie noch nicht in die Tiefe des Berges versunken gewesen …. hörte sie ihr eigenes Stimmchen, hell und lustig wie das Gezwitscher eines Vogels. Und neben ihr saß der Mathes, der zwei Jahre älter war als sie, und schnitzte aus einem Holunderzweig eine Pfeife, um ihr die Weise des Liedchens vorzublasen. Und auf der anderen Seite saß das Vronerl und flocht ihr aus goldenen Butterblumen einen schönen Kranz, den sie aufsetzen mußte – und da hatte der Mathes sie angestaunt und hatte ganz ernst gesagt: „Linerl! Jetzt bist so schön wie’s Muttergotterl in der Kirchen drunt’!“

Langsam strich sich Karlin’ die Härchen hinters Ohr und seufzte. „Kinderzeit! O du schöne Zeit! Wo bist denn hin?“

Nur der Winter war immer hart gewesen! Durch den hohen Schnee der weite Weg in die Schule! Da wäre sie gar oft mit ihren kleinen Füßchen stecken geblieben, wenn ihr der Mathes nicht geholfen und ihr das schwere Ränzlein getragen hätte!

„So ein guter Kerl!“

Aber wenn der Föhn den Berghang vom Schnee gesäubert hatte und unter den Hecken das erste Veilchen blühte, war alle Not des Winters vergessen. Und dann der Sommer und die Ferienzeit! Da waren sie unzertrennlich den ganzen Tag und lachten und tollten, bis am sinkenden Abend der Vater über die Wiesen herüberschrie: „Linerl! Komm!“ …. oder bis vom Häuschen des Simmerauer die Zenz’ gelaufen kam, um ihre beiden kleinen Geschwister heimzuholen.

„Die arme Zenz’!“

Wie elend die zu Grund gegangen war! Hatte ihr Herz an einen leichtsinnigen Menschen gehängt und war gegen den Willen der Eltern mit ihm in die Stadt gezogen. Dort hatte der Lump sie sitzen lassen mit ihren zwei Kindern und gealtert in jungen Jahren, eine Sterbende, war sie ins Dorf zurückgekehrt. Aber das hatte sich später zugetragen damals, in jener schönen Kinderzeit, war die Zenz’ ein sechzehnjähriges, blühendes Mädchen gewesen ….

Tonerl streckte sich in den Kissen und lallte im Halbschlaf: „Bitt’ schön, Mammi, Liederl singen!“

„Ja, mein Schnaberl!“

Karlin’ atmete tief und sang mit leiser Stimme:

„Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schatzerl hab’!
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!“

Sie fühlte, daß der Druck der kleinen Fingerchen, die ihre Hand umschlossen hielten, sich löste. Ruhig ging der Atem des schlummernden Kindes. Eine Weile blieb Karlin’ noch am Bettlein sitzen, dann verließ sie auf den Fußspitzen die Schlafstube und zog lautlos hinter sich die Thüre zu.

Im Wohnzimmer zündete sie über dem Tisch die Hängelampe an.

Wie schön und freundlich dieses Zimmer war – eine richtige Herrenstube! Die Wände bis zu halber Höhe getäfelt, hübsche Möbel aus rötlichem Zirbenholz, ein altdeutsches Sopha und große, mit Leder gepolsterte Lehnstühle: überall Geweihe, ausgestopfte Vögel und Jagdbilder dazwischen, und hinter dem Ofen der mit Jagdgerät und Waffen reich behangene Gewehrrechen.

Karlin’ deckte den Tisch, und als sie damit fertig war, ging sie hinunter, stellte sich unter die Hausthür und spähte über die dämm’rige Straße hinaus, ob ihr Mann nicht käme. Aber die Straße war leer.

Ein weicher Glockenton schwoll durch die dunstige Luft; man läutete den Abendsegen und drüben im Wirtshaus verstummten die verschwommenen Klänge der Geigen und Klarinetten. Karlin’ bekreuzte sich und bewegte die Lippen in stillem Gebet. Dabei ging ihr Blick über den von ziehenden Dünsten schon umschleierten Berghang empor.

So seltsam weich und zerflossen, wie jetzt im Nebel, hatte sie die Glocke immer gehört, wenn sie am Abend dort oben unter der Hausthür saß, als Kind, die Aermchen fröstelnd unter die Schürze eingehuschelt. Und genau so hatte es geklungen, als man ihrem Vater den Weg in den Himmel eingeläutet hatte. Im Steinbruch, beim Sprengen der Felsen, war ihm ein Splitter an die Stirn geflogen. Vier Jahre früher hatte sie schon die Mutter verloren – und damals war sie noch so klein gewesen, daß sie nur staunte, ohne Schmerz zu fühlen, daß sie nicht verstand, was sterben heißt. Doch als man den Vater getragen brachte, als sie ihn liegen sah, stumm und starr, mit der blutigen Stirnwunde, da begriff sie, was der Tod bedeutet. Vom Abend bis zum Morgen waren der Simmerauer, Mutter Katherl und die Zenz’ bei ihr und beteten, während sie weinend in einem Winkel kauerte, und mit ihr der Mathes, der den Arm um ihren Hals geschlungen hielt und ihr mit seinem blauen Tüchlein immer die Thränen von den Wangen wischte.

„Ach, Du lieber Gott!“

Und dann wurde das Häuschen an den Gaßner verkauft. Schulden waren zu bezahlen – denn seit die Mutter gestorben, war dem Vater das Wirtschaften übel geraten und für das neunjährige Kind blieben als ganzes Erbe kaum hundert Mark zurück. Der alte Pfarrer erbarmte sich der mittellosen Waise und gönnte ihr im Stübchen seiner Haushälterin ein Plätzchen. Hier hatte sie zu essen, wurde gekleidet und freundlich gehalten – aber in dem großen, schwermütigen Haus, das so dicke Mauern hatte, wurde aus dem fröhlichen Linerl die stille, ernste Karlin’. Oft stand sie lange Stunden an einem der vergitterten Fenster oder in dem kleinen, von einer hohen Mauer umzogenen Garten und blickte über den sonnigen Berghang empor – und da vermeinte sie manchmal, auf einem hell beleuchteten Wiesengrat den Mathes zu sehen, wie er grüßend in das Thal hinunterjauchzte und gegen den Pfarrhof sein Hütlein schwenkte …

Schritte hallten auf der Straße und Karlin’ hörte die Stimme ihres Mannes.

„Gott sei Dank! Endlich kommt er!“ Sie rief in den Flur zurück: „Nannei! ’s Essen für’n Herrn!“ Dann ging sie durch den Garten hinunter.

Purtschellers Stimme hatte einen Klang, der vermuten ließ, daß der „Herr“ nicht in guter Laune nach Hause kam. Er hielt dem Jagdgehilfen, der ihn begleitete, eine mit Scheltworten gespickte Predigt über irgend einen, der ihn ganz besonders geärgert haben mußte. Wäre Karlin’ nicht mitten auf der Treppe gestanden, er hätte sie in seinem grollenden Eifer übersehen.

„Grüß Dich Gott!“ sagte er und reichte ihr so unwillig die Hand, als wäre sie mitschuldig an seinem Aerger.

„Guten Abend, Toni! Aber so lang’ bist ausblieben! Schau, ich bin schon in Sorg’ g’wesen!“ Das sagte sie ruhig und herzlich, ohne jeden Ton von Vorwurf.

Aber scheltend fuhr er auf: „Natürlich! Beim ersten Schritt ins Haus ’rein geht die Nörglerei schon wieder an! Ich hab’ Dir’s [431] doch hundertmal g’sagt, daß man bei der Jagd ’s Heimkommen net am Schnürl hat wie der Slowak sein’ Affen. Und jedsmal wieder machst mir so eine Metten her, daß man sein’ besten Hamur verliert! Da könnt’ ja der g’mütlichste Mensch aus der Haut fahren!“

„Aber Toni!“ mahnte sie leise. „Wir sind net allein!“

„Ah was! Allein oder net! Ich sag’ nix Unrechts! Was ich sag’, kann jeder hören!“ Er stieß mit dem Ellbogen die Büchse zurück und stieg durch den Garten hinauf, während ihm Karlin’ schweigend folgte. Vor der Hausthür wandte er sich plötzlich zu seiner Frau und sagte mit beschwichtigender Milde: „Aber so schau, Linerl! In aller Fruh bin ich schon am Heimweg g’wesen! Und da kommt mir der Daxen-Schorschl nachg’rennt … Der Tagdieb, der verruckte! … Wo is er denn eigentlich ’blieben?“ Diese Frage war an den Jagdgehilfen gerichtet.

„Droben in der Simmerau is er weg von mir,“ erwiderte der Jäger, „und hat uns nimmer eing’holt.“

„Na, was der für Sachen macht!“ Purtscheller schüttelte den Kopf und wandte sich wieder zu seiner Frau. „Kommt mir nachg’rennt und sagt, er hätt’ den starken Hirsch ausg’macht. Was is mir denn übrig ’blieben? Hab’ ich halt die drei Stund’ wieder ’naufsteigen müssen! Beim besten Wind haben wir den Trieb eing’stellt, und richtig is er drin g’wesen, der Hirsch! Aber was der Schorschl heut’ g’habt hat, weiß ich net! Ganz verdreht is er g’wesen. Und dümmer hätt’ er den Hirsch gar nimmer angeh’n können. Als ob er blind g’wesen wär’! Und natürlich, der Hirsch is der G’scheitere g’wesen und is abg’fahren … und ich, der gute Herr Purtscheller, natürlich, ich hab’ mich ärgern können, daß mir’s den Magen schier um’kehrt hat!“ Er seufzte schwer und rief dem Jäger zu: „Gut’ Nacht, Sepp! Jetzt rast’ ich mich ein paar Tage lang aus. Schau halt, daß den Hirschen kriegst!“

„Ja, Herr Purtscheller! Gut’ Nacht!“

Toni trat ins Haus. „Was macht denn mein Prinz?“

„Er schlaft schon, und gut!“

„Schon wieder einmal? So?“ Purtscheller lachte. „In der Fruh, wenn ich fortgeh’, schlaft er … am Abend, wenn ich heimkomm’, schlaft er … ein Vater hat viel von seinem Buben, das muß ich sagen!“ Er wollte über die Treppe hinaufsteigen, doch Karlin’ hielt ihn am Aermel zurück.

„Toni? Hast Dein G’wehr ausg’laden?“

„Aber natürlich! So laß mich doch endlich z’frieden.“

„Geh, ich bitt’ Dich, schau nach!“

„No also, meinetwegen, bloß daß ich ein’ Fried’ hab’!“ Er nahm die Büchse herunter, klappte die Läufe auf und brummte: „Jetzt hab’ ich’s heut’ richtig vergessen g’habt! Natürlich im Aerger halt!“ Während er über die Treppe hinaufstieg, zog er die beiden Patronen aus dem Gewehr und schob sie in die Hosentasche.

Als er die helle, schöne Stube betrat, that er einen tiefen Atemzug. „Aaah! Daherinn is halt g’mütlich … und daheim is gut sein!“

Mit stiller Geschäftigkeit nahm ihm Karlin’ die Büchse und den Rucksack ab, zog ihm den Sammetflaus herunter, knüpfte ihm die Gamaschen auf und stellte ihm die Pantoffel vor die Füße. Purtscheller schien sich wohl zu fühlen in dieser Fürsorge, und die letzte Spur seines Aergers verflog, als er auf dem gedeckten Tisch die Suppe dampfen und in der Glasflasche den roten Tiroler blinken sah. Zärtlich legte er den Arm um Karlin’s Schulter.

„Bist ein guter Kerl! Schaust halt doch auf mich! Und hast mich gern! Gelt? … Geh, lach’ ein bißl!“

Sie lächelte wirklich, und warme Röte stieg ihr in die Wangen.

So gingen sie zum Tisch. Karlin’ gab ihrem Mann die Suppe und er schnalzte mit der Zunge, als er gekostet hatte. „Ein nobels Süpperl!“ Neugierig beugte er sich über den Teller seiner Frau. „Aber was hast denn Du da?“

„Ein bißl was Kalts von Mittag noch.“

Da wurde er völlig böse. „Aber Linerl! So schau doch! Wie oft hab’ ich Dir’s schon g’sagt: das is Sparsamkeit am falschen Fleck! Wie sollst denn gut ausschauen, wenn Dich net gut nähren thust? Und d’ Frau soll’s doch auch net schlechter haben wie der Mann! Du weißt doch, ich bin einer von die Auf’klärten … ich geh’ mit der Zeit!“ Er schob den Teller mit dem kalten Fleisch in die Fensternische. „So, weg da mit dem Schmarren!“ Behäbigen Schrittes holte er einen Teller und ein Weinglas von der Kredenz, füllte den Teller mit Suppe und das Glas mit Rotwein. „So, Schnaberl! Jetzt ißt und trinkst mit mir!“

Karlin’s Wangen brannten. „Vergelt’s Gott, lieber Toni!“ Und wie sie sich freute, daß sie ihm nun auch eine freundliche Nachricht sagen konnte: „Du, Toni, rat’, wen ich heut’ g’sehen hab’!“

„Wen denn?“

„Den Mathes! Der is wieder daheim!“

„Ja, ich weiß schon! Hab’ ihm schon Grüßgott g’sagt droben in der Simmerau.“

„Geh? In der Simmerau bist g’wesen? Hat Dich g’wiß ’s Mitleid für den armen Michel hin’trieben, gelt? Ich bitt’ Dich, sag’, wie schaut’s denn aus mit dem Häusl droben?“

„Mein, schlecht!“ Purtscheller aß so hastig, daß ihm die Suppe vom Schnurrbart tropfte, „’s Häusl sinkt halt schön langsam ein!“

„Jesus Maria!“ Karlin’ legte mit zitternder Hand den Löffel nieder. „Und laßt sich da gar nix nimmer helfen?“

„Na! Da hat’s Helfen ein End! Der Berg lauft halt, bis er drunten is …“ Toni seufzte und fuhr sich mit der Serviette über den Mund, „und mein Wald lauft mit!“

Karlin’s Erbarmen für die Leute in der Simmerau verstummte vor der Sorge um ihren Mann. Sie rückte an seine Seite und legte schüchtern den Arm um seinen Hals. „Geh! Dein schöner Wald!“ Kaum vermochte sie zu sprechen.

„Da verlier’ ich viel Geld, ja!“ Purtscheller füllte seinen Teller wieder und zuckte in stolzer Resignation die Schultern. „Aber was kannst machen! Bei so was muß man zeigen, daß man anders is wie die andern! Da muß man dastehn wie der Baum, darf mit keiner Wimper zucken und muß sagen in aller Ruh’: wie Gott will; jetzt nimmt er, ein andersmal giebt er wieder … Aber geh, laß mich essen!“ Er richtete sich halb auf, so daß Karlin’s Arm, der ihm hinderlich war, von ihm niederglitt. „Und so ein guter Kerl bin ich auch, daß ich mehr an die andern denk’ als an mich selber. Der alte Michel droben erbarmt mich … ich kann Dir’s gar net sagen! Dem gönn’ ich’s, daß der Mathes wieder daheim is! Du! Wie der Bursch’ da droben arbeit’ … so was muß man sehen!“

Karlin’ nickte in zerstreuten Gedanken vor sich hin. „Der Mathes … ja … so is er allweil g’wesen … als kleines Büberl schon!“

„Und wie ich ihm so zug’schaut hab’, is mir gleich ein guter Einfall ’kommen.“

„Geh’?“

„Ja! Ich hab’ gleich zug’riffen! Der Mathes kommt als Knecht zu mir … ein’ besser’n kann ich mir gar nimmer wünschen.“

„Toni! … Ja, Toni, ja, da hast wirklich ein’ guten Einfall g’habt!“ Karlin’ glühte vor Eifer. Sie strich ihrem Manne das Haar aus der Stirn’ und sah so freudig zu ihm auf, als wüßte sie ihn jetzt geborgen vor einer ernsten Gefahr. „Schau, Toni … wenn ich mir nur ’traut hätt’ … aber oft schon hätt’ ich gern ein Wörtl drüber g’redt mit Dir, wie’s zugeht bei uns in der Wirtschaft! Ein Schaffer, wie der Mathes einer is, wär’ lang schon not g’wesen im Purtschellerhof …“ sie stockte, als wäre sie in Sorge, daß dieses Wort ihn verletzt hätte.

Aber er löffelte ruhig seine Suppe. „Ja, ja! Das hab’ ich selber schon g’sagt! … Natürlich, wenn einer so an’bunden is auf alle Seiten wie ich …“

„Gott sei Dank, jetzt kann ich aber aufschnaufen! Toni! Auf den Mathes, auf den kannst Dich verlassen! Der packt den Karren an beim richtigen Rad! Der, Toni, der bringt Dir alles wieder auf guten Weg! Alles! Alles!“ Karlin’ erschrak vor einem Gedanken, der sich plötzlich wie eine schwarze Mauer vor ihre helle Freude stellte. „Aber … o Du lieber Herrgott, Toni … daß ich erst jetzt an so was denk’!“

„Was denn?“

„Wie können denn wir vom Michel den Mathes verlangen?“

„Ah so … wegen droben, meinst?“

„Der arme Michel braucht ja doch sein’ Buben selber so nötig wie ein’ Bissen Brot! Der Mathes kann doch um Gott’swillen jetzt net fort von daheim!“

„Jetzt net! Na! Aber gar so lang dauert die G’schicht’ da droben nimmer!“ Purtscheller schluckte den letzten Löffel Suppe. „Und ich hab’ dem Mathes ein Anbot g’macht … verruckt müßt

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Kolonial-Ausstellung. Spreewaldschänke. Kaiserschiff.
Alt-Berlin. Fischerhaus Alt Berlin.

Alt-Berlin.0 Kolonialausstellung. 0Wasserthurm und Hauptrestaurant.0 Kairo. Neu[er See.]      Wandelgang.       Große Industriehalle (Hauptausstellungsgebäude).
Das Riesenfernrohr. 0Marineschauspiele.   Fischerei-, Sport-, Nahrungs- 0 Kaiserschiff.
 Pavillon der Stadt Berlin. 0 und Genußmittelausstellung.
 Alpenpanorama.  Spree.

Bilder von der Berliner Gewerbe-Ausstellung.
Nach der Natur gezeichnet von Willy Stöwer.

[433] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [434] er sein, wenn er net zugreifen thät’! … Aber was ich fragen will? Is mit der Post nix ’kommen?“

„Jesses ja!“ Karlin’ schob sich hastig hinter dem Tisch hervor. „Ein eing’schriebener Brief.“

„Aber, Linerl! Geh! Den hättst mir doch auf der Stell’ geben sollen … es könnt’ ja was Wichtigs sein, was kein’ Aufschub leidt!“

„Ich bitt’ Dich, Toni, thu’ mir net zürnen! Aber schau, in der Freud’, daß so gut mit mir g’wesen bist, hab’ ich ganz drauf vergessen!“ Sie riß das Thürchen eines Wandschrankes auf und brachte den Brief. „Da is er! Wenn nur für Dich kein’ Sorg’ net drin steht!“

Verwundert betrachtete Purtscheller die dem Couvert aufgedruckte Geschäftsadresse. „Vom Schloßbräu in der Stadt? Was will denn der?“ Wirklich schien es, als ob schon jetzt, bevor er den Brief noch gelesen hatte, eine unbehagliche Sorge in ihm aufstiege. Aber dann lachte er wieder. „Am End’ will er gar mein’ Bräunl kaufen, mit dem ich beim letzten Trabrennen sein’ Amerikanerschimmel g’schlagen hab’?“ sagte er, während er das Couvert öffnete. „Aber na, Brüderl! Fünftausend Mark kannst mir hinlegen, und der Schnabel bleibt Dir noch allweil sauer!“ Lachend begann er zu lesen.

Karlin’ wollte die geleerte Suppenschüssel vom Tisch tragen. Aber da sah sie, daß dunkle Röte über die Züge ihres Mannes flog.

„Toni?“ stammelte sie und setzte die Schüssel nieder, die zwischen ihren zitternden Händen klirrte.

„So ein hinterlistiger Heiduck, so ein verdammter!“ schrie Purtscheller und schmetterte im Jähzorn seine Faust auf die Tischplatte, daß die Teller hüpften.

Seine Frau war bis in die Lippen erblaßt. „Jesus Maria! Toni! Hat Dir einer ein Unrecht zug’fügt?“

Er antwortete nicht, sondern griff an seinen Hals, als wäre ihm der Hemdkragen zu eng geworden.

„Aber Toni! Ich bitt’ Dich um Gott’swillen, so red’ doch!“

„In Ruh’ laß mich!“ Er stürzte ein Glas Wein hinunter, sprang auf, stieß den zerknüllten Brief in die Hosentasche und wanderte durch die Stube. Vor einem Fenster blieb er stehen, starrte hinaus in die sinkende Nacht und nagte an seinem Schnurrbart.

Karlin’ hatte Thränen in den Augen, und es währte eine Weile, bis sie zu sprechen wagte. „Toni?“ sagte sie, ganz leise, als hätte sie Furcht, daß jedes laute Wort seinen Zorn noch reizen könnte. „Ich bitt’ Dich bei allem, was Dir lieb und heilig is, sag’ mir doch, über was Dich kümmern mußt! Schau mich nur an, wie ich mich sorgen thu’ um Dich!“

„Du? Und sorgen?“ schrie er über die Schulter. „In Ruh’ laß mich, hab’ ich Dir g’sagt! Und misch’ Dich net in alles, was Dich nix angeht!“

Zwei Thränen rollten über die Wangen der jungen Frau und ein müdes bitteres Lächeln zuckte um ihre Lippen. Sie wollte schweigen und suchte eine Beschäftigung am Tische. Dann wieder blickte sie in banger Sorge zu ihrem Mann hinüber, trat auf ihn zu und schob ihm die Hand unter den Arm. „Schau, Toni, ich red’ja eh die ganze Zeit her kein Wörtl nimmer … wenn ich gleich oft mein’, es druckt mir ’s Herz ab, daß ich alles bei uns so laufen sehen soll, wie’s lauft …“

„Was lauft denn bei uns? Da droben lauft der Berg! Bei uns lauft gar nix!“

„Sag’ so was net! Bei uns lauft gar viel ins Wasser ’nunter, was Du net merkst … oder net merken willst!“

Purtscheller lachte in höhnendem Zorn. „Ah! Du g’fallst mir aber!“

„Ich kann Dir net sagen, wie hart ich’s trag’, daß ich als Frau im Haus net ’s Recht haben soll, mit g’sunde Arm’ einz’greifen, wo’s notthut, und diemal bei Dir ein Wörtl zum Guten z’reden …“

„So? Meinst vielleicht, daß ich noch ein’ Schulmeister brauch’? Dank’ schön für die Predigt!“ Er schob sie mit dem Ellbogen von sich und schrie ihr ins Gesicht: „So was möcht’ ich mir aber g’hörig verbitten!“

„Ja, Toni, ja, ja … ich sag’ ja doch nix und will Dir nix in Deine G’schäften dreinreden,“ stammelte sie, um ihn zu beschwichtigen, und suchte seine Hand zu fassen, „aber schau, das eine sollst mir doch net verwehren, daß ich Dir als Frau Deine Sorgen tragen hilf’ …“

„Der Purtscheller? Und Sorgen? Zum Lachen!“

„Aber Toni!“ Sie umklammerte seine Hand und wollte sie nicht lassen. „Ich hab’ Dir’s ja doch vom G’sicht abg’lesen …“

„In Ruh’ laß mich!“ Er befreite seine Hand mit so jähem Ruck, daß Karlin’ fast in die Kniee brach. „Und wenn ich mir schon was aufg’laden hab’, so trag’ ich’s selber! Da brauch’ ich Dich net dazu!“

„Schau, Toni, ’s Härteste tragt sich leichter, wenn eins mittragen hilft in Treu’ und Lieb’! Und daß mir’s verheimlichen willst, macht mir ja doppelt Angst! Ich bitt’ Dich, sag’ mir, was in dem Brief steht …“

„Jetzt laß mir aber mein’ Fried’, sag’ ich Dir, oder …“ Vom Hall seiner Stimme zitterten die Fensterscheiben.

„Um Gott’swillen, Toni …“ Karlin’s Worte erstickten fast unter Thränen, „so laß doch in Ruh’ mit Dir reden und thu’ doch net gar so laut! Schau, drin in der Stuben schlaft unser Kind … und drunt’ hören Dich alle Dienstboten! Die tragen’s ja wieder um im ganzen Dorf!“

„Sollen mich umtragen, wie s’ mögen!“ schrie er, während ihm an den Schläfen die Adern zu dicken Schnüren schwollen. „Ich bin’s ja schon g’wöhnt! Fünf Jahr’lang schon! Was schaust mich denn an? Mit Dir hat’s ang’fangt! Ja! Mit Dir! Schau mich nur an! Oder meinst vielleicht, ich schenier’ mich, daß ich Dir’s einmal ins G’sicht sag’? Selbigsmal, wie mir der verrückte Einfall ’kommen is, daß ich am Pfarrer seiner Dienstbotenstub’ ans Fenster klopft’ hab’ … selbigsmal, mein’ ich, selbigsmal hat man dem guten Herrn Purtscheller sein’ Namen ’s erstemal um’tragen in alle Körbln!“

Karlin’ griff an ihre Brust, als wäre ihr dieses Wort wie ein brennender Stich ins Herz gegangen. Und mit verstörten Augen blickte sie zu ihrem Manne auf.

„Toni! … Thu mir doch net so weh!“

Der von Schmerz gebrochene Klang dieser Worte wirkte auf Purtscheller, als hätte ihm seine Frau den größten Schimpf ins Gesicht geschrieen. Er ballte die Fäuste und Schaum trat ihm in die Mundwinkel. „Ich thu Dir was? Ich? So? Ich thu Dir was? Allweil ich bin der Schuldig’! Und was man mir thut … das is alles Wurst! Gelt? Alles Wurst!“

„Aber Toni …“

„Jetzt geht’s mir aber bis an Hals! Ruh’ will ich haben, sag’ ich Dir! Und wenn ich mir im Guten mein’ Fried’ net schaff’, so weiß ich mir z’ helfen!“ Mit zornigem Griff umklammerte er Karlin’s Arm und zerrte sie zur Thüre.

„Heiliger Jesus! … Toni!“

„So!“ Er hatte die Thüre aufgerissen und stieß seine Frau in den dunklen Flur hinaus. „Da! … Jetzt will ich doch sehen, ob ich mein’ Fried’ net hab’!“ Er warf die Thüre zu, daß hinter der Täfelung der Mörtel rieselte. Aufatmend, als hätte sein Jähzorn Erleichterung gefunden, blies er die glühenden Backen auf und fuhr sich mit allen Fingern durch die Haare.

In der Schlafstube war das Kind erwacht und weinte.

Purtscheller hörte das klagende Stimmlein nicht. Er schleuderte die Pantoffel in einen Winkel, fuhr mit den Füßen in die Schuhe und riß den Sammetflaus vom Gewehrrechen. „So ein’ Hausfrieden hab’ ich!“ schalt er vor sich hin. „Ins Wirtshaus muß ich laufen, wenn ich ein paar Minuten Ruh’ haben will! Kreuz Teufel noch einmal! Is das ein Leben!“ Wütend stülpte er den Hut übers Haar und stapfte zur Thür hinaus.

Von der finsteren Bodenstiege klang ihm ersticktes Schluchzen entgegen. Er zögerte und tastete mit der Hand nach dem Treppengeländer, als überkäme ihn ein Schwindel. Dann fuhr er zornig auf: „So was! Und da soll man noch gut bleiben können! Hockt s’ daher auf die Bodenstieg’! … Hörst! Du! Geh ’nein in d’ Stuben!“ Ohne abzuwarten, ob sein Befehl vollzogen wurde, stieg er brummend die Treppe hinunter. Im Hausflur begegnete ihm die alte Magd mit einer Schüssel in den Händen.

„Aber Herr? Wohin denn?“ stotterte sie. „Ich bring’ ja ’s Wildbret!“

„Das kann der Hund fressen! So hat er doch auch ein’ guten Tag! Und da hat er’s besser als ich!“

Purtscheller verließ das Haus und schmetterte hinter sich die schwere Thüre zu. Mit langen Schritten stürmte er durch den Garten und hätte auf der Straße fast die Zäzil niedergerannt, die von ihrem Abendplausch nach Hause kam – freilich, sie hatte es nicht allzu eilig, ihrem Herrn den Weg frei zu geben.

[435] Mit dem Ellbogen schob er sie auf die Seite. „Geh weg da!“

Zäzil schien an solche Behandlung nicht gewöhnt und machte große Augen. Kopfschüttelnd sah sie ihm nach, und dann lachte sie leise vor sich hin. „Ui jegerl! Heut’ hat er sich g’wiß an der Frau wieder ein’ Zahn aus’bissen!“

Mit vorgebeugtem Kopf, die Hände in den Taschen, folgte Purtscheller der vom Nebel umflorten Straße. Einmal zog er den Brief hervor, als möchte er lesen – aber es war zu finster, obgleich der Mond schon durch den Nebel schimmerte. Ein paarmal redete er halblaute Worte vor sich hin, dann wieder blieb er stehen und machte zwei Fäuste.

„Jetzt weiß ich bald nimmer, über wen ich mich mehr giften soll … über den andern oder über mich!“

Er fiel wieder in seinen raschen Schritt und schob den Hut zurück, als wäre ihm schwül.

„Das hat er mir bloß aus Bosheit ’than, weil mein Bräunl sein’ Schimmel g’schlagen hat!“ Und an diesen Gedanken schloß sich ein anderer, der das Quälendste an seiner Sorge zu beschwichtigen schien: „Ach was! Ich hab’ ja ein Vierteljahr lang Zeit! Und wenn der ’s Geld nimmer geben will, so giebt’s ein anderer! … Freilich, da wird’s halt wieder heißen, ein paar Tausender drauflegen!“ Er seufzte, aber sein Schritt wurde ruhig.

Nun hatte er ein Ohr für den Gruß der Leute, die ihm ab und zu auf der stillen Straße begegneten. Und wenn er an Häusern vorüberkam, guckte er in die erleuchteten Fenster, deren Schein mit fahlem Geflimmer im Nebel zerfloß.

Der Weg zum Wirtshaus führte an der Daxen-Schmiede vorüber; alle Fenster waren schwarz, doch am Haus und an der Schmiede stand Thür und Thor geöffnet und in der Tiefe der dunklen Werkstätte glostete das erlöschende Essenfeuer, von dessen Wiederschein der polierte Ambos mit roten Lichtlinien umsäumt war.

Purtscheller trat unter das Thor und rief in das stille Haus hinein: „He, Schorschl!“

Keine Antwort kam.

„Er muß noch net daheim sein! … Möcht’ nur wissen, was er heut’ g’habt hat.“ Mit dieser Frage kehrte Purtscheller auf die Straße zurück. Aber der Gedanke an das unbewachte Haus ließ ihn wieder umkehren. „Na, so ein Mensch wie der Schorschl … Da hört sich aber doch alles auf! Strawanzt auf die Berg’ umeinander … und sein Gauner von G’sell, natürlich, der sitzt heilig wieder im Wirtshaus und sauft … und da lassen sie ’s Haus mit offene Thüren stehn, daß jeder davontragen könnt’, grad’ was er möcht’!“ Unter diesem Selbstgespräche drückte Purtscheller die Hausthüre zu, schloß die beiden Flügel des Werkstattthores, und im Bewußtsein, für den „lüftigen“ Schorschl ein gutes Werk gethan zu haben, ging er seiner Wege.

(Fortsetzung folgt.)


Adolf Bastian.

Zu seinem 70. Geburtstag.
(Mit dem Porträt S. 429.)

In unserem Jahrhundert blühen die Wissenschaften; neue Zweige sprießen an dem alten Baum des Wissens hervor und entwickeln sich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Zu diesen jungen Wissenschaften zählt auch die Völkerkunde oder Ethnologie. Beschreibungen der Sitten und Gewohnheiten fremder Völker hat es zwar stets gegeben; in den Werken ältester Geographen, in den Aufzeichnungen aller Forschungsreisenden bilden sie vielleicht die anziehendsten Abschnitte; bis vor wenigen Jahrzehnten aber blieben diese Beschreibungen zerstreut, man gab sich keine Mühe, sie zu sammeln und zu ordnen, aus den losen Blättern eine Entwicklungsgeschichte des Menschengeschlechtes unter den verschiedenen Himmelsstrichen zusammenzustellen. Heute ist das anders geworden. Die Völkerkunde wird wissenschaftlich betrieben und gewährt jedem, der sich mit ihr befaßt, die tiefsten Einblicke in die mannigfaltigsten Entwicklungsformen der Menschheit, sie wird jeder Rasse und jedem Volke gerecht und lehrt uns alle Kulturstufen von der niedrigsten bis zu der höchsten kennen. Die Völkerkunde hat eine umfangreiche Litteratur gezeitigt und hat großartige Sammlungen, Museen geschaffen, in welchen uns die wunderbaren Leistungen der verschiedensten Völker vor Augen geführt werden. Diese Wissenschaft, die den Menschen als Mitglied einer Volksgemeinschaft und die Völker als Glieder der Menschheit studiert, erfreut sich auch der größten Volkstümlichkeit – kein Wunder, denn von allen Erscheinungen der Natur bleibt für den Menschen der Mensch selbst immer die anziehendste.

Zu den Männern, die im Laufe der letzten Jahrzehnte diese Wissenschaft begründet und in hohem Maße gefördert haben, zählt vor allem der deutsche Forscher Adolf Bastian. In diesen Tagen wird er fern ab von der Heimat, auf neuen Forschungsreisen in Ostasien begriffen, seinen siebzigsten Geburtstag feiern, ein Beispiel seltener Rüstigkeit und Aufopferung für die Wissenschaft.

Adolf Bastian wurde am 26. Juni 1826 zu Bremen geboren. Der Gang seiner Studien verlief nicht programmmäßig, aber der angehende Forscher wurde durch ihn in verschiedene Gebiete des menschlichen Wissens eingeführt und er erwarb sich somit frühzeitig einen weiten Blick, der ihn zur Beurteilung und Würdigung des Lebens, der Gewohnheiten und Sitten fremder Völker besonders fähig machte. Bastian studierte zuerst Jurisprudenz in Heidelberg, dann wandte er sich den Naturwissenschaften und der Medizin zu, setzte in Berlin, Jena, Würzburg und Prag seine Studien fort und erlangte die medizinische und philosophische Doktorwürde.

So vorbereitet trat er im Jahre 1851 als Schiffsarzt seine weltumspannenden Reisen an, die er später auf eigene Kosten fortsetzte. – Zunächst begab sich der junge Gelehrte auf einem Segelschiff nach Sidney und den australischen Goldfeldern, wandte sich dann über die Inselgruppen des Stillen Oceans nach Asien und fuhr nach Neuseeland und Tahiti zurück. Von da ging er nach Südamerika, wo er vor allem auf den Stätten des alten Inkareiches Studien anstellte. Nun strebte der Weltfahrer über Panama und Havanna New York entgegen. Von hier trieb es ihn nicht nach der alten Heimat, er wandte sich wieder westwärts nach Mexiko und von dort ging er nach San Francisko, um wieder den Stillen Ocean zu durchqueren, die Häfen Chinas, Indien, Persien, die alten Kulturstätten des mesopotamischen Reiches, Jerusalem, Smyrna, Konstantinopel, zu besuchen. Nun war Afrika das weitere Ziel seiner Fahrten; Aegypten, Tunis, Aden, Angola, Senegambien und Madeira waren die wichtigsten Ruhepunkte seiner rastlosen Wanderung. In Lissabon betrat er wieder Europas Boden, um über Spanien, Frankreich und England den Norden Europas zu erreichen und über Stockholm, St. Petersburg, Moskau und Warschau in die Heimat zurückzugelangen. Sieben Jahre dauerte diese Weltfahrt, eine großartige Vorbereitung für den künftigen Ethnologen! Neben anderen Schriften erhielt die Welt als die Frucht dieser Reisen das große dreibändige Werk Bastians „Der Mensch in der Geschichte. Zur Begründung einer psychologischen Weltanschauung“. Er zeigte sich in demselben als einen Pfadfinder und Bahnbrecher der Wissenschaft, und bezeichnend für seine Auffassung sind seine eigenen in dem Werke enthaltenen Worte: „Fern von Europa keimten die hier niedergelegten Ideen unter Anschauung der mannigfaltigen Verhältnisse, in welchen die Völker auf dem Erdball zusammenleben. In der Stille der Wüsten, auf einsamen Bergen, in Zügen über weite Meere, in der erhabenen Natur des Südens reiften sie im Laufe der Jahre empor und schlossen sich zusammen in ein harmonisches Bild. Wohlbekannt mit den verschiedenen Zweigen der Litteratur, habe ich mich zunächst bemüht, die in den Schulen aufgenommenen Dogmen möglichst auf der Tafel des Gedächtnisses zu verwischen. Erst wenn das aus einer rein objektiven und so viel thunlich vorurteilsfreien Beobachtung erwachsene Produkt jene bestätigte, von selbst zu ihnen führte, hieß ich sie aufs neue als berechtigtes Glied in die Vorstellungsreihen wieder eintreten.“

Den Forscher litt es aber nicht lange am Schreibtisch in der Heimat. Schon im Jahre 1861 trat er seine zweite Reise an. Das Ziel, das er sich gesteckt hatte, war die Erforschung des so hochinteressanten Buddhismus. Ein günstiges Geschick half ihm dieses Ziel erreichen; denn als er auf Befehl des Königs von Mandalay für sechs Monate interniert wurde, ließ er sich während dieser Gefangenschaft von buddhistischen Priestern und Gelehrten in die Geheimnisse ihrer Religion und Philosophie einweihen. Die Ergebnisse dieser Studien hat er später in dem Werke „Der Buddhismus in seiner Psychologie“ niedergelegt. Er wanderte weiter über China und Japan und kehrte nach fünf Jahren nach Deutschland zurück.

Sein Ruf als Ethnologe war gegründet. Im Jahre 1867 habilitierte er sich als Privatdocent an der Berliner Universität und 1868 wurde ihm mit einer Professur die Verwaltung der Ethnologischen Abteilung der Königlichen Museen übertragen. Ein Jahr darauf gründete er im Verein mit Rudolf Virchow und Robert Hartmann die „Zeitschrift für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“.

Diese seine wissenschaftliche Thätigkeit in der Heimat wurde von Zeit zu Zeit durch neue Reisen unterbrochen. Im Auftrage der „Afrikanischen Gesellschaft“ ging er im Jahre 1873 nach der Loangoküste, um die Station Chinchoxo zu gründen. Später bereiste er Südamerika und Australien. Durch die Gunst des Königs Kalakaua erhielt er unverhoffte Einblicke in die eigenartige heilige Sage der Polynesier. Ferner besuchte er noch den Kaukasus, Armenien, Vorderindien, Tasmanien und Australien und befindet sich augenblicklich auf einer Reise nach China. Seinen Bemühungen ist es schließlich zu danken, daß die preußische Regierung für die Sammlungen aus dem Gebiete der Völkerkunde in der Reichshauptstadt ein würdiges Heim, das in jeder Beziehung mustergültige „Museum für Völkerkunde“, schuf.

Die zahlreichen Werke des berühmten Völkerkundigen sind leider in einem zu schweren Stile geschrieben, um weiteren Kreisen gut verständlich zu sein, aber sie enthalten eine solche Fülle von Thatsachen, einen solchen Reichtum von neuen, eigenartigen aufklärenden Gedanken, daß sie für den Forscher noch lange wahre Lehrbücher und Wegweiser im Vorwärtsschreiten bilden werden. In ihnen ist eine Summe erstaunlichen, fast erdrückenden Wissens enthalten, das nur ein so tiefer und scharfer Geist wie der Bastians zu beherrschen vermag; sie sind auch das unvergängliche Denkmal, das der rastlose Forscher sich selbst errichtet hat. L. S.     


[436]

Sehenswürdigkeiten der Ausstellungen 1896.

Berliner Ausstellung: der Wasserturm und das
Hauptrestaurationsgebäude.

Trotz aller Klagen, die so laut über die zu häufige Wiederholung der Ausstellungen erhoben werden, kehren die Ausstellungen doch alle Jahre wieder. Die schaulustige Menge drängt sich zu ihrem Besuch und die „ausstellungsmüde“ Industrie verfehlt nicht, sie zu beschicken. Es geht nicht anders! Die Ausstellungen sind unentbehrlich geworden. Mögen sie diesen und jenen beunruhigen, ihm Mühe und Kosten bereiten, sie bringen doch einen unschätzbaren Nutzen. Sie sind ja einmal eine Heerschau auf dem Felde friedlicher Arbeit; die höchsten Errungenschaften und die besten Leistungen menschlichen Könnens treten auf ihnen miteinander in Wettbewerb, und auf jenem Plan ist nicht nur der Lorbeerkranz der ruhmreichen Anerkennung, sondern auch vielfach ein klingender Lohn zu erwerben. Neue Erfindungen, Verbesserungen auf allen Gebieten der Industrie und Technik werden da den Besuchern vorgeführt, werden dadurch bekannt und finden leichteren Absatz: Ausstellungen sind ein mächtiges Mittel der Anpreisung, ohne die in unserem Zeitalter ein Geschäft oder Unternehmen nicht gut blühen kann. Außerdem besitzen aber die viel gelästerten Ausstellungen auch ihre ideale Seite. Sie sind periodische Bildungsanstalten im besten Sinne des Wortes und zwar dienen sie nicht allein dem Fachmann, der das Gebotene mit sachkundigem Auge prüft, sondern auch der Allgemeinheit. Millionen Menschen besuchen alljährlich die Ausstellungen und kaum einer verläßt ihre Räume, ohne seinen Wissenskreis erweitert zu haben. Jede gute Ausstellung ist ein lebendiges höchst nützliches Buch, das sich sozusagen selber dem Besucher vorliest, und dieses Buch hat auch den Vorzug, daß es nicht langweilig ist, daß es die augenfällige Belehrung, die es enthält, mit reichhaltiger Unterhaltung verknüpft. Von diesem Standpunkte ist der Besuch jeder Ausstellung jedermann nützlich und man kann nur wünschen, daß die Zahl der Besucher immer mehr steigen möge.

Auch in diesem Jahre öffneten sich von dem Maimonat an die Pforten verschiedener Ausstellungen dem schaulustigen Publikum. Dampf, Gas und Elektrizität setzen auf ihnen die vollkommensten und sinnreichsten Maschinen in Bewegung, aber neben dem rein Technischen und Industriellen kommt noch vieles andere zur Geltung. Die Ausstellungen, wie sie geplant wurden und nun glücklich zustande gekommen sind, stehen auch im Dienste der Wissenschaft; sie werden dem Volke verschiedene Zweige derselben vermitteln, vor allem aber die lehrreichsten Anschauungen über einzelne Abschnitte der Völkerkunde und Völkergeschichte verbreiten!

Innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches übt in diesem Sommer die Berliner Gewerbe-Ausstellung die größte Anziehungskraft aus; sie wurde bereits im Eröffnungsmonat Mai von 1200000 Personen besucht. Ein Vierteljahrhundert ist gerade verflossen seit Berlin zur Kaiserstadt, zur Hauptstadt des Reiches wurde. In dieser Zeit ist es riesig gewachsen und fröhlich emporgeblüht. Als Sitz hoher Behörden, als Pflegestätte der Kunst und Wissenschaft zeichnet sich die Großstadt durch das regste geistige Leben aus und dabei hat sie dem Handel und Wandel gastlich ihre Thore geöffnet: weit und breit ist die Berliner Industrie berühmt. Fürwahr, Berlin ist groß und fleißig genug, um in einer eigenen Ausstellung ein glänzendes Gesamtbild regster Thätigkeit, eine Fülle beachtenswerter Errungenschaften auf den verschiedensten Gebieten menschlichen

Nürnberger Ausstellung: Ausstellung einer Nürnberger Fabrik mechanisch-optischer Lehrmittel und Spielwaren: Modell einer Lokomotive und des Oberbaus einer Eisenbahn.

[437] Wissens und Könnens darzubieten. Wer die in kurzer Zeit aus dem Boden gezauberte Stadt von Hallen, Türmen und Pavillons betritt, dem drängt sich schon beim ersten Blick die Ueberzeugung auf, daß die Berliner etwas wahrhaft Großes zustande gebracht haben. Schon der Ausstellungsplatz ist ungemein günstig gewählt. Er umfaßt über eine Million Quadratmeter und ist somit größer als der Raum aller seitherigen Weltausstellungen in Europa. Dabei ist er landschaftlich schön; denn er schließt auch den Treptower Park ein mit den prächtigsten Wald- und Gartenanlagen und berührt das Ufer der bei Treptow seeartig sich erweiternden Spree.

Nürnberger Ausstellung:
die Nürnberger, Münchener und Kulmbacher Bierhalle.

In dieser reizenden, durch das frische Grün und die Spiegel der Wasserflut geschmückten Landschaft liegen malerisch zerstreut die Ausstellungsbauten. Gewaltig ragt vor allem die Große Industriehalle hervor, die mit den Anbauten eine Fläche von 60000 qm bedeckt. In ihrer Mitte erhebt sich der 30 m breite und 40 m hohe Kuppelraum, den zwei schlanke je 65 m hohe Türme flankieren. Diesem Riesenbau ist im weiten Halbkreise eine Wandelhalle vorgelagert, mit einem stattlichen dreifachen Portal in der Mitte und mit turmgeschmückten Pavillons am Nord- und Südrande. Vor diesem großartigen fast einen halben Kilometer langen Bau spielt ein Springbrunnen, von dem eine an hundert Fuß hohe Wassersäule aufsteigt, die in den dunklen Abendstunden, von innen elektrisch beleuchtet, einen feenhaften Anblick darbietet.

Weiter vorne aber blinkt der Spiegel eines neu geschaffenen Wasserbeckens, von dessen jenseitigem Ufer der riesige Wasserturm dem Beschauer entgegenwinkt. An seinem Fuße ist das Hauptrestaurant angebracht, in dem achttausend Personen gleichzeitig unter Dach bewirtet werden können, ein Riesenrestaurant, das bestimmt ist, die Hauptmasse der Durstigen und Hungrigen zu befriedigen. Für solche, die abgeschiedenere Plätzchen lieben, fehlt es aber in der Ausstellung nicht an traulichen und originellen Winkeln: unter ihnen sei in dieser Ausstellung an der Spree vor allem die „Spreewaldschenke“ erwähnt.

Außer dem Hauptbau dienen noch einzelne Pavillons den Ausstellungszwecken. Auf dem Grün der Anlagen blinkt uns ein tempelartiger Bau entgegen, von dessen Zinnen die Victoria und die Fama, Sieg und Ruhm, auf das bunte Gewimmel der Menschen herabschauen. Er ist jenen Zweigen der Wissenschaft geweiht, die in Berlin eine hohe Entwicklung genommen haben: der Pavillon birgt die Ausstellungsräume für Chemie, wissenschaftliche Instrumente und Photographie. Nicht weit davon, am Ufer der Spree, leuchten im Sonnenglanz die mit grünen Dächern geschmückten höchst malerischen Bauten der "Fischerei-, Sport-, Nahrungs- und Genußmittelausstellung“, während auf der entgegengesetzten Seite in einem ernster gehaltenen Bau alles das vorgeführt wird, was Berlin in so rühmlicher Weise aus dem Gebiete des Unterrichts und Erziehungswesens, der Gesundheitspflege und der Wohlfahrtseinrichtungen geleistet hat.

Stuttgarter Ausstellung: Haupteingang des Gewerbedorfs.
Nach dem Aquarell der Architekten Schmohl und Stähelin in Stuttgart.

Friedenswerke und Arbeitsthaten der jungen Kaiserstadt, Errungenschaften der Neuzeit sind es, die in diesen Räumen unsere Augen fesseln und uns Anerkennung abringen. Von der Höhe des glücklich Erreichten ist es nun lehrreich, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, und da steht im Herzen der Ausstellung ein Städtebild mit Türmen und Mauern, mit winkligen Gäßchen und giebligen Häusern – man hat hier vor die Augen der Besucher Alt-Berlin gezaubert, die schlichte aber kräftige Stadt, wie sie unter den Kurfürsten Wacht hielt an der Mark des Reiches. Ein Stück dieser „Stadt“ ist auch unter unseren Abbildungen vertreten: das Rathaus mit seiner Umgebung und ein Fischerhaus aus längst verklungener Zeit. Der Geschichte Berlins ist auch ein besonderes „Theater Alt-Berlin“ gewidmet; es ist mit allen Hilfsmitteln der fortgeschrittensten Technik der Gegenwart ausgestattet und in der Lage, die glänzendsten Schaustellungen zu veranstalten. In hierzu neu [438] geschaffenen dramatischen Dichtungen führt es dem Besucher die Entwicklung Berlins vom Fischerdorf zur Weltstadt vor.

Es giebt noch eine Gruppe der Ausstellung, die dem Weltstadtcharakter der Kaiserstadt Rechnung trägt und ihre Beziehungen zu den fernsten Ländern illustriert: die deutsche Kolonialausstellung. Da ist eine Menge hochinteressanter Sammlungen aus Afrika und den Südseeinseln zu prachtvollen Gruppen vereint, da sind die Gewinnung der Baumwolle, der Tabakbau und die Cigarrenfabrikation, die Faktoreien von Kamerun und Togo in lehrreichen Modellen veranschaulicht; afrikanische Hütten stehen vor uns, und vor ihnen entwickeln Neger aus unseren Kolonien ein buntes Treiben. Abgesondert von der Kolonialausstellung läßt sich außerdem ein anderes Stück Afrika schauen. Ein imitiertes Kairo mit Tempeln, Pyramiden und täuschend nachgemachten Palmen ladet uns zum Besuch ein. Es ist von einer Riesenkarawane von Menschen und Tieren, die man eigens aus Aegypten kommen ließ, bevölkert. Von anderen Schaustellungen verdienen das Alpenpanorama, das Riesenfernrohr und die Marinespiele Erwähnung. Auf einem kleineren See führen elektrisch betriebene Miniaturnachbildungen unserer großen Panzerschiffe allerlei Marinemanöver aus.

Wie köstlich, wie malerisch muß sich das Bild einer solchen Ausstellung aus der Vogelperspektive ausnehmen! Das Grün der Bäume, der Fluß mit dem Riesenmodell des Kaiserschiffes, belebt von Dampfern und Gondeln, die bunten Türme, die farbigen Dächer der fahnengeschmückten Pavillons und dazwischen der wogende Menschenstrom! Von der Höhe der „Pyramiden von Kairo“ gewinnt man schon einen prächtigen Rundblick über dieses Panorama. Wer aber Lust hat, höher emporzusteigen, der kann sich dem Riesen-Fesselballon anvertrauen; sicher wird er zu einer Höhe von etwa 500 m emporgetragen. Tief unter ihm liegt der Ausstellungsplatz, und über das gewaltige Häusermeer der Kaiserstadt gleitend, umfaßt sein Auge die Gefilde der Mark und schweift darüber hinweg bis in eine Ferne von 150 km.

Was ist doch aus der verrufenen sandigen Mark durch Menschenarbeit und Menschenfleiß geworden! Eine Riesenstadt, die größte Stadt des Deutschen Reiches, ist in ihr erblüht und der Berliner ist nicht nur berühmt durch Wissenschaft und Kunst, durch Handel und Gewerbe, er ist auch weltbekannt durch seinen Gartenbau und seine Baumschulen; es grünt und blüht überall rings um die deutsche Kaiserstadt; Nützliches und Herrliches wird in freudiger Arbeit in ihren Mauern geschaffen. Das führt uns die Ausstellung gar deutlich vor Augen. Der Fortschritt hört aber nimmer auf; neue Zeiten bringen neue Ziele; und so sehen wir auch auf der Berliner Ausstellung neben dem vielen Guten und Vortrefflichen zahllose Keime des noch Besseren und Edleren. Walte Gott, daß, beschirmt von innerem und äußerem Frieden, diese Keime sprießen und reifen mögen, Berlin und Deutschland zum Heil!

Stuttgarter Ausstellung: das Elektrizitätshaus.

Aber nicht nur der Norden, auch der Süden Deutschlands zeigt in diesem Sommer, wie er in den Werken friedlicher Arbeit fortgeschritten ist. Ein emsiges Treiben herrscht am Fuße der altberühmten Burg von Nürnberg. Dort siedelt das bayerische Landesgewerbemuseum nach fünfundzwanzigjährigem nutzreichen Bestehen in ein neues prachtvolles Heim über, und dieses festliche Ereignis hat Bayern benutzt, um eine Bayerische Landesausstellung in Nürnberg zu veranstalten. Das ehemalige Maxfeld, von breitwipfeligen Linden und Kastanien umschattet, hat bereits im Jahre 1882 die erste bayerische Landesausstellung geschaut. Die heutige ist aber keineswegs eine einfache Wiederholung der alten. Soweit es sich um die Industrie handelt, liegt ihr vielmehr ein neuer und origineller Gedanke zu Grunde. Die Ausstellung zerfällt auf diesem Gebiete in acht selbständige Ausstellungen des Königreiches. In jeder dieser Abteilungen können wir also betrachten, wie Industrie und Gewerbe sich abhängig von Boden und Klima, Ueberlieferung und Volkssitte verschiedenartig entwickeln. Und in der That sind diese acht Sonderausstellungen höchst eigenartig ausgefallen; ist doch die Einteilung Bayerns in die acht Provinzen Pfalz und Oberpfalz, Schwaben, Nieder- und Oberbayern, Unter-, Mittel- und Oberfranken keine willkürliche, sondern eine durch geschichtliche Entwicklung bedingte, so daß jede derselben eine besondere Eigenart aufweist. Einen anziehenden Reiz hat ferner die Bayerische Landesausstellung durch die Errichtung von über zwanzig Werkstätten erhalten, die teils durch Elektrizität, teils durch Kleinmotoren betrieben werden. In diesen Räumen gelangt die berühmte, so hochentwickelte Kleinindustrie von Nürnberg, Fürth und Schwabach zur Vorführung; vor den Augen der Besucher werden hier Blech- und Pappspielwaren, allerlei Glaswaren, Emailgeschirr, leonische Drähte und Flitter erzeugt; Drucker und Weber hantieren emsig; eine Prägeanstalt ist in Betrieb und man gewinnt Einblick in die Thätigkeit des Drechslers und das Schaffen in einer Goldschmiedewerkstatt. Sehr anziehend sind auch die Darstellungen der mechanisch-optischen Betriebe. Da entsteht ein reizendes Spielzeug, eine „Zauberdose“, unter den Augen des Besuchers, und man sieht meisterhaft gearbeitete Modelle, Miniatur-Dampfkessel und Miniatur-Lokomotiven und den modellartig ausgeführten Oberbau einer Eisenbahn. Der Elektrizität ist naturgemäß ein weiter Spielraum freigelassen; sie leuchtet und wärmt und treibt die Arbeitsmaschine an; sie verbindet auch die Ausstellung mit der Welt da draußen; werden doch die Aufführungen der Münchener Hofoper telephonisch in die Nürnberger Ausstellungshallen übertragen. In drei großen Hauptgebäuden, die zusammen eine Fläche von über 43000 qm bedecken, ist der Hauptteil der Ausstellung untergebracht; aber auch in Nürnberg fehlt es nicht an Pavillons, die malerisch in dem prächtigen Park zerstreut sind. Da ist die Kunsthalle mit einem Flächenraum von 2300 qm zu erwähnen; da steht das geschmackvolle „Armee-Museum“, in welchem bedeutsame Erinnerungsstücke aus der ruhmreichen Heeres- und Kriegsgeschichte Bayerns, sonst in München aufbewahrt, für die Dauer der Ausstellung dem Publikum gezeigt werden.

Daß auf einer bayerischen Landesausstellung das Bier eine große Rolle spielt, bedarf keiner besonderen Versicherung. Es sind ihm auch, abgesehen von Kosthallen in den einzelnen Kreisabteilungen, drei besondere Hallen errichtet worden; schmucke, mit Türmchen und Kuppeln gezierte, von namhaften Architekten entworfene Bauten, in welchen die Bierstädte München, Nürnberg und Kulmbach um die Palme ringen. Daß dort ein außerordentlich gutes Naß in den Krügen schäumt, darüber sind wohl alle einig, die zum Besuch der Ausstellung aus nah’ und fern gekommen sind. Natürlich ist auch eine besondere Abteilung für Brauereieinrichtungen vorhanden, und wer Lust hat, der kann die Kunst des Bierbrauens an sieben großen Sudwerken studieren. Aber Bayern ist nicht nur durch seinen Gerstensaft durstigen Kehlen wert; zu ihm gehören ja auch die weinfröhliche Pfalz und das rebengesegnete Franken, so hat neben den Tempeln des Gambrinus auch Bacchus, der Weingott, seine schöne Stätte. Wie ein mittelalterlicher Rittersitz steht das trauliche „Weinhaus“ da, in dem das feurige Blut der Reben aus Faß und Glas in die festlich klirrenden Kelche rinnt.

[439] An fünfhundert Stadt- und Landgemeinden haben sich an dieser Ausstellung beteiligt, und ein rühmendes Zeugnis ihres emsigen Gewerbefleißes und kunstsinnigen Schaffens ist das Gesamtbild, das sich unseren Augen auf dem Maxfelde darbietet. Freilich ein nachgebildetes Alt-Nürnberg brauchte diesem lebensvollen Bilde aus der Gegenwart nicht entgegengestellt zu werden. Seine Denkmale stehen ja noch leibhaftig in den Straßen der Stadt; alte unverwelkliche Pracht vermählt sich hier mit dem lebensfrohen Schaffen der Gegenwart und beide zeugen beredt von der unverwüstlichen Kraft deutschen Bürgertums, das Jahrhunderte hindurch dem Reich zur Stütze und Zierde gereichte.

Außer Bayern hat in Süddeutschland auch Württemberg eine Ausstellung veranstaltet. Dieselbe ist am 6. Juni in Stuttgart eröffnet worden; auch hier ist diese Veranstaltung mit der Einweihung eines prachtvollen Neubaues für das Landesgewerbemuseum verknüpft. Die Grenzen der Stuttgarter Ausstellung sind enger gezogen; sie hat sich die Aufgabe gestellt, Erzeugnisse württembergischer Firmen aus sämtlichen Zweigen der Elektrotechnik, sowie die Anwendung der Elektrizität im häuslichen, gewerblichen und öffentlichen Leben vorzuführen – und ferner den gegenwärtigen Stand des württembergischen Kunstgewerbes in hervorragenden Arbeiten desselben darzustellen. Es handelt sich also hier um eine Fachausstellung für Elektrotechnik und Kunstgewerbe, der sich noch in besonderer Abteilung eine Ausstellung für den Gartenbau anschließt. Man hat für die Veranstaltung zum Teil bereits vorhandene würdige Bauten verwenden können. Die kunstgewerbliche Abteilung ist in dem monumentalen Neubau des Landesgewerbemuseums untergebracht worden, während der elektrotechnischen Abteilung die städtische Gewerbehalle überwiesen wurde. An die letztere reihen sich einige neue Ausstellungsbauten, vor allem ein „Elektrizitätshaus“. Es zeigt in seiner Einrichtung die verschiedenen Verwendungen der Elektrizität im Haushalt und macht abends, wenn es in festlicher Beleuchtung erstrahlt, einen besonders wirkungsvollen Eindruck. Erwähnenswert ist ferner die schmucke Anlage eines Gewerbedorfes, in dem sich auch eine Nachbildung von Schillers Geburtshaus in Marbach befindet. Die schönen Anlagen des Stuttgarter Stadtgartens sind mit in das Terrain der Ausstellung einbezogen worden. Dadurch erfreuen sich dieselben eines reizvollen landschaftlichen Schmuckes. Die heitere, rebenumkränzte, von Waldbergen umschlossene Residenzstadt Württembergs braucht überhaupt um landschaftlichen Schmuck nicht verlegen zu sein. Von allen Seiten blicken hier malerische Bergzüge in alle Straßenwinkel herein und Rebenberge bilden auch den Schlußrahmen des Panoramas auf dem Stuttgarter Ausstellungsplatze. Der Zuzug der Fremden wird voraussichtlich im Sommer ein überaus großer werden. Nicht die Ausstellung allein wird ihn hervorrufen; nach Stuttgart werden ja im August sangesfrohe Scharen aus allen Gauen Deutschlands zum Deutschen Sängerbundesfest pilgern, in Stuttgart werden die Generalversammlungen von einer ganzen Reihe wissenschaftlicher und anderer Vereine stattfinden. Nun, die Stadt ist wohlgerüstet für den Empfang so vieler weiser und praktischer und kunstfroher Gäste; die schwäbische Gastfreundschaft wird sich auch diesmal in Ehren bewähren.

Dresdener Ausstellung: die Windmühle bei Alt-Dresden.

Von hier wenden wir uns wieder nordwärts. Am Ufer der Elbe hat Sachsen in seiner Königsstadt Dresden eine höchst eigenartige und zeitgemäße Ausstellung veranstaltet: die Ausstellung des sächsischen Handwerks und Kunstgewerbes. Wer würde nicht den braven tüchtigen Meistern, die hier ihre so verschiedenartigen, nützlichen und schönen Erzeugnisse zur Schau gestellt haben, die wärmste Sympathie entgegenbringen? Fürwahr, es ist ihnen gelungen, sich die volle Anerkennung zu erwerben. Das sächsische Handwerk hat dargethan, daß es der Fürsorge, von welcher diese Veranstaltung getragen wird, wert ist. Auf Schritt und Tritt sehen wir deutliche Beweise von Intelligenz und Geschicklichkeit, von regem Fleiß und eiserner Arbeitskraft. Das Handwerk der Neuzeit ist durchaus nicht tot, wie manche behaupten, es hat verstanden, sich die Fortschritte und Erfindungen auf dem Gebiete der Technik nutzbar zu machen und die von der Kunst gegebenen Vorbilder zu beachten. In vierzehn Abteilungen bringt es auf dieser Ausstellung glänzende Bilder seiner Entwicklung, seiner Vielseitigkeit und Schaffensfreudigkeit; es überzeugt jeden, daß der Aufschwung des deutschen Gewerbes nicht allein der Großindustrie, sondern auch ihm, dem Handwerk, zu danken ist.

Dresdener Ausstellung: der Winkelkrug in Alt-Dresden.

Wundervoll ist die Scenerie des Ausstellungsplatzes an dem königlichen Großen Garten, rings um den Riesenbau des Neuen Ausstellungspalastes, auf den wir bereits gelegentlich der Dresdener Gartenbauausstellung in Nr. 24 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ hingewiesen haben. Ueber Villen und Schlösser, über grüne Baumgruppen und blühende Gefilde des Elbufers schweift das Auge bis zu den Bergen der Sächsischen Schweiz, die sich im blauen Duft verlieren. Inmitten dieser lachenden Landschaft haben die Veranstalter der Ausstellung, wie ihre Gefährten in Berlin, ein Stück längst vergangener Zeiten und ein buntes Bild aus dem Volksleben hineingezaubert. Hat man die Ausstellung durchwandert, so überschreitet man eine altertümliche Brücke und gelangt in einen Wartturm, den man besteigt, um Ausschau zu halten. Da überkommt den Beschauer das Gefühl, als sei er durch einen Zauber um Jahrhunderte zurückversetzt: zu seinen Füßen breitet sich eine alte Stadtanlage aus, die im Charakter früherer Jahrhunderte gehalten ist und dabei so malerisch und echt wie in der Dresdener Galerie die Bilder Canalettos aus Alt-Dresden wirkt. Rings um den Marktplatz gruppieren sich die altertümlichen Bauten. Da steht das turmgekrönte Rathaus, daneben der trauliche malerische „Winkelkrug“, ferner die Zunftherberge, das „Churfürstlich Sächsische General-Erb-Postambt“ mit Posthof und das giebelgeschmückte Gewandhaus. In den angrenzenden Straßen herrscht ein buntes Leben; in Haus und Hof drängt sich Bild an Bild aus dem alten Handwerksleben. Vor Wall und Graben sieht man ein altertümliches Gasthofsgebäude, eine romantische Klosterruine und die lustige Windmühle. Eine weitere Sehenswürdigkeit dieser Ausstellung bildet das „wendische Dörfchen“, eine Dorfanlage, zu der alle Motive in der wendischen Lausitz sorgfältig gesammelt worden sind.

[440] Verlassen wir jedoch die Ufer der Elbe; noch weiter nordwärts müssen wir unsere Leser führen, denn am Gestade der Ostsee, in Kiel, hat sich gleichfalls die Ausstellungslust bethätigt.

Dort hat auch Schleswig-Holstein eine Provinzialausstellung veranstaltet, neben ihr ist aber an der Kieler Bucht und auf deren weitem ruhigen Spiegel der Plan für einen internationalen Wettbewerb eröffnet worden. Hier findet eine Fachausstellung statt, wie sie Deutschland noch nicht geschaut hat – die Internationale Ausstellung für Schifffahrt und Fischerei. Schon die Thatsache, daß sie überhaupt ins Leben gerufen werden konnte, ist in hohem Maße erfreulich; denn sie beweist, daß Deutschland auf dem Gebiete des Seewesens und des Schiffsbaues sich getrost mit anderen Völkern messen kann.

Kieler Ausstellung: Vordersteven von „Ersatz Leipzig“. Im Hintergrund die Marinehalle.

Schiff mit Rammsteven. 

In unmittelbarer Nähe der Stadt Kiel und des Kanaleinganges bei Holtenau liegt auf einem sanft abfallenden Gelände der weite Ausstellungsplatz, in breiter Ausdehnung von den Wellen der Ostsee bespült. Hier können in geschütztester Lage Fahrzeuge aller Art ankern und interessante Darstellungen auf dem Wasser selbst vorgeführt werden. In der That ist die Beteiligung an der Internationalen Schiffahrtsausstellung eine durchaus rege geworden. Die Kaiserliche Marine, welche im Verein mit der Deutschen Seewarte und einigen ständig für sie liefernden Firmen in einer eigenen, großen, über und über mit Flaggen und Wimpeln ausgeschlagenen Halle ausgestellt hat, bietet dem Beschauer einen lehrreichen Ueberblick über die Entwicklung des modernen Kriegsschiffswesens. Sämtliche ehemalige und gegenwärtige Schiffstypen sind in Modellen vertreten. Hochinteressant ist das Stück des Vorderstevens von dem z. Z. im Bau begriffenen Kreuzer „Ersatz Leipzig“. Es ist der unterste Teil des Vorderstevens, der im Kriegsfall als Rammsporn dient und, in einem Guß aus Bronze hergestellt, 12000 kg wiegt. Wandern wir weiter durch die Ausstellung, so fesseln uns neben der trefflichen Gruppe der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ allerlei Seezeichen. Darunter befindet sich auch eine gewaltige Leuchtboje. Sie enthält einen Brennvorrat von 60 cbm komprimierten Fettgases, der genügt, um die starke Flamme der Boje 250 Tage und Nächte brennend zu erhalten.

Nicht minder gelungen ist die Schleswig-Holsteinische Provinzial-Gewerbeausstellung. Meilenweit ins Land hinaus leuchtet die rote Riesenkuppel des Hauptgebäudes dieser Abteilung, das einen Raum von 5000 qm bedeckt. In erfreulicher Eintracht haben hier Land und Stadt die Erzeugnisse ihres Fleißes ausgestellt. Besonders sehenswürdig sind aber die Sonderausstellungen, die Abteilung für Frauenarbeiten, die Landeskunstausstellung und die historische Abteilung. Letztere führt uns in Bild und Wort, in Waffen und Trophäen fünfzig Jahre aus der Geschichte der Herzogtümer Schleswig-Holstein vor; fünfzig Jahre schwerer Kämpfe von 1815 bis 1865, „den Zeitgenossen zur Erinnerung, den jüngeren Geschlechtern zur Belehrung“. Da sehen wir die Verteidiger der verfassungsmäßigen Rechte der Herzogtümer: Dahlmann, den streitbaren Schriftführer der „Ritterschaft“, Uwe Jens Lornsen, den heldenmütigen Rufer im Streite, wir sehen die alte schleswig-holsteinische Armee in lebensgroßen Modellen jeder Waffengattung zu einer Feldwache gruppiert, da schauen wir alle wechselvollen Ereignisse bis zum siegreichen Kriege Preußens und Oesterreichs gegen Dänemark. Die Zeit der Kämpfe ist beendet; wiedervereinigt mit dem Mutterlande erfreut sich Schleswig-Holstein eines tiefen Friedens und, wie die Ausstellung es deutlich bezeugt, einer neuen Blüte. Möge der Segen der Arbeit weiter auf dem herrlichen meerumschlungenen Lande ruhen!

Kieler Ausstellung: Leuchtboje, links davon Spitztonne.
Im Hintergrund Ausstellungsgebäude und Hafen.

Das sind die wichtigsten deutschen Ausstellungen zu Lande und zu Wasser, die uns das Jahr 1896 gebracht hat. Aber auch jenseit unserer Grenzen hat man Ausstellungen ins Leben gerufen, die unser lebhaftes Interesse verdienen.

Ungarn feiert in diesem Jahre ein Erinnerungsfest, wie es nur selten den Völkern beschieden wird. Tausend Jahre sind verflossen, seit die Magyaren unter Arpads Führung an den Ufern der Donau erschienen und hier ihren Staat gründeten. Am 2. Mai wurde eine große Reihe von Festlichkeiten eröffnet, deren Mittelpunkt die Millenniumsausstellung in Budapest bildet. Ungarn hat kein Opfer gescheut, um diese Tausendjahrausstellung zu einer möglichst glänzenden zu gestalten, und in der That ist es den Schöpfern derselben gelungen, selbst weitgehende Erwartungen zu erfüllen; dafür betragen auch die Gesamtkosten der Ausstellung über zehn Millionen Gulden. In einem Riesenpark am Nordostende der Stadt sind auf dem Raume von etwa 530000 Quadratmetern gegen 200 Gebäude aufgeführt worden. Zwei Ziele verfolgt die Tausendjahrausstellung. Sie will zunächst zeigen, was Ungarn war, dem Besucher die zehn Jahrhunderte ungarischer Geschichte vorführen, dann aber ist sie bestrebt, ein genaues Bild der heutigen Kultur in [441] Ungarn zu bieten. Dem ersten Ziel dient die historische Hauptgruppe – dem zweiten die Hauptgruppe der Gegenwart.

Budapester Ausstellung: das siebenbürgisch-sächsische Haus.

Die geschichtliche Ausstellung ist in einem großen Gebäudekomplex untergebracht, der auf der von einem Teiche umgebenen Szechenyi-Insel sich erhebt. In durchaus wirkungsvoller Weise sind hier Bauten im romanischen, gotischen und Renaissancebaustile, wie sie in Ungarn in den Regierungsepochen der Arpaden, der Anjous und Hunyaden, sowie der Habsburger aufeinanderfolgten, zu einem höchst malerischen Ganzen vereinigt. Im Innern dieser Bauten sind nun zahllose Kunstschätze und Altertümer aufgestellt, die aus Ungarns Vergangenheit stammen. Nach geschichtlichen Perioden geordnet, gewähren sie ein anschauliches Bild der Entwicklung, des Ruhmes und der schweren Prüfungen der ungarischen Nation. Nicht nur Ungarn haben hier alles Wertvolle gesammelt, das sie aus alter Väter Zeit besitzen, sondern auch die Museen der angrenzenden Länder, hervorragende ausländische Besitzer von Privatsammlungen stellten ihre auf Ungarns Geschichte bezüglichen Altertümer aus und unter den gekrönten Häuptern ist der wichtigste Aussteller der Kaiser und König Franz Josef.

Die Abteilung der Gegenwart in der Ausstellung trägt im großen und ganzen den Charakter unserer modernen Ausstellungen. Sie hat ihren Industriepalast, Maschinenhallen; sie führt uns das Unterrichtswesen, das wissenschaftliche und künstlerische Leben Ungarns vor; am besten ist wohl die Landwirtschaft vertreten, auf die Ungarns Wohlstand in erster Linie sich gründet. Feldbau und Weinbau, Garten- und Forstkultur, Viehzucht und Milchwirtschaft, Fischerei sowie die Seidenzucht haben ihr Bestes ausgestellt, und von Zeit zu Zeit beleben den Plan Tierausstellungen: dann erscheinen aus allen Gegenden des Königreichs die Züchter mit ihren besten Pferden, ihrem schönsten Hornvieh, mit Schafen und Borstenvieh und im August werden sich die Imker mit den Bienen einstellen.

Im übrigen muß noch hervorgehoben werden, daß auch diese Ausstellung ihre ganz besonderen Sehenswürdigkeiten hat. So bietet sie uns eine Heeresausstellung, wie sie bis jetzt wohl selten zustande gekommen ist, nicht nur eine Ausstellung der geschichtlichen Entwicklung des Heerwesens inmitten der von kriegerischem Sinn belebten ungarischen Nation, sondern auch eine Ausstellung des ungarischen Heerwesens in der Gegenwart. Da sind in gelungenen Modellen alle Waffengattungen, die Infanterie, Kavallerie, Artillerie, das Pionier- und Trainwesen mit voller Ausrüstung bis zur Landwehr und den Kolonnen des Roten Kreuzes in übersichtlicher Anordnung zur Schau gestellt; hochinteressant ist der Marinepavillon und endlich fehlt auch die Luftschifferabteilung nicht, die in ihrem Fesselballon zeitweilig im Stadtwäldchen Auffahrten veranstaltet.

In den Rahmen einer nationalen Ausstellung paßt vorzüglich noch eine andere Sehenswürdigkeit: das ethnographische Millenniumsdorf. Es besteht aus 32 Wohnhäusern mit 25 Nebengebäuden, und jedes derselben hat eine besondere Bauart und eine besondere Ausstattung. Der Phantasie der Künstler sind hier die engsten Schranken gezogen worden; alles, was man sieht, ist die getreueste Wiedergabe der Wirklichkeit, denn in dem Millenniumsdorf wird uns gezeigt, wie einzelne Volksstämme innerhalb Ungarns ihre Wohnhäuser bauen und ausstatten. In der Regel ist das Dorf still und tot, denn in den Häusern werden die Einwohner durch Puppenfiguren in entsprechenden Volkstrachten veranschaulicht. Zu gewissen, festgesetzten Zeiten belebt sich jedoch das Dorf durch wirkliche Landleute. Da werden Volksfeste veranstaltet, da giebt es einen Markt, auf dem man die Erzeugnisse der Volksindustrie feilbietet; es werden Hochzeiten, regelrechte Hochzeiten abgehalten. In diesem bunten Dorfe wirkt besonders anziehend das traute Haus der siebenbürger Sachsen. Deutsche Inschriften erfreuen dort unsere Augen; an der Vorderseite des Hauses der schöne Spruch:

„Der König führt das Schwert,
Der Bauer fuhrt den Pflug;
Wer alle beid’ nicht ehrt,
Ist gewiß nicht klug.“

Und über dem Hofthor steht geschrieben:

„Auch ein kleines Gut macht frohen Mut.“

Genfer Ausstellung: Alpenwiese mit Holzhäusern des Schweizerdorfes. Im Hintergrunde der künstliche Berg.
Nach einer Photographie von Fréd. Boissonnas in Genf.
Mit Genehmigung des Schweizerdorf-Komitees.

Außer diesen für ihre nationale Eigenart stets so entschieden und mutig eintretenden Stammesbrüdern sind noch andere Deutsche Ungarns in dem Dorfe vertreten: die Schwaben aus dem Torontaler Komitat, die Handlovaer Deutschen aus dem Neutraer Komitat und die durch ihren Gewerbefleiß berühmte Bevölkerung von Metzenseifen im Abauj-Tornaer Komitat. Ein buntes Bild bietet die „Nationalitäten-Gasse“, in welcher ruthenische, serbische, rumänische, bulgarische, slowakische und slowenische Häuser zu sehen sind. Am Ende des Dorfes aber neben dem Gemeindehause stehen die primitiven Hütten der ungarischen Rinderhirten (Gulyas), der nomadisierenden Schafhirten und [442] der Csikos oder Roßhirten. Den Beschluß bildet das Zigeunerviertel.

Das Leben und Treiben in der Hauptstadt Ungarns gestaltet sich immer farbenreicher. Ein Fest jagt das andere, Enthüllungen von Denkmälern, Einweihungen von Neubauten für öffentliche Zwecke, an die hundert Kongresse, die hier der Reihe nach stattfinden, sorgen dafür, daß der Tausendjahrjubel nimmer aufhört.

Weniger geräuschvoll gestaltet sich eine andere ausländische Ausstellung. In dem herrlichen Genf haben sich die zweiundzwanzig Kantone der Eidgenossenschaft vereinigt, um in einer Landesausstellung zu zeigen, welche Fortschritte Industrie und Landwirtschaft, Kunst und Wissenschaft, Staats- und Gemeindewesen in der Schweiz gemacht haben. Am Fuße des Mont-Salève, dort, wo die reißende Arve in den Rhonestrom mündet, stehen die vieltürmigen und bunt bekuppelten Bauten der Ausstellung. Dieselbe ist in siebenundvierzig Gruppen eingeteilt, was schon allein den Beweis liefert, wie mannigfaltig der Arbeitsfleiß der Schweizer sich gestaltet hat, wie rastlos, emsig und geschickt man dort in den Thälern hinter den Bergen wirkt und schafft. Wir können hier in unsrer gedrängten Uebersicht auf die zahllosen interessanten Einzelheiten nicht eingehen und müssen uns damit begnügen, daß wir nur einige der Sehenswürdigkeiten hervorheben. Der zugereiste Fremde betrachtet mit großem Interesse das elegante Gebäude, das von den Schweizer Hotelbesitzern eigens für die Hotelindustrie errichtet wurde. Da ist alles mustergültig vom Schlafzimmer bis zum Wirtschaftsraume; und unwillkürlich regt sich in einem der Wunsch, daß man solchen Einrichtungen überall auf Reisen und nicht nur auf Ausstellungen begegnen möge. Würdig ist die altberühmte schweizer Uhrenindustrie vertreten, interessant sind die Einrichtungen für die Milchwirtschaft; aber zwei Gruppen werden vor allem die Neugier der Besucher erwecken und in hohem Maße befriedigen.

Genfer Ausstellung: Wirtschaft aus Bleienbach (links) und Wirtschaft zur Treib (rechts).
Nach einer Photographie von Fréd Boissonnas in Genf.
Mit Genehmigung des Schweizerdorf-Komitees.

Genf ist eine berühmte Stätte der Wissenschaft. Genf ist die Vaterstadt des berühmten Chemikers und Physikers Raoul Pictet, der mit stärkster Kälte und stärkstem Druck arbeitet und die widerspenstigsten Gase flüssig und fest zu machen versteht. Pictet hat nun auf der Ausstellung einen Kältepavillon errichtet, in welchem dem Publikum alle Wunder der Kälteindustrie vorgeführt werden. Man sieht dort die verschiedensten Eismaschinen, die in kürzester Zeit gewaltige Wassermengen in Eisblöcke verwandeln, und selbstverständlich fehlt auch nicht der Pictetsche Kälteapparat, in welchem unglaubliche Kältegrade bis 200° C unter Null erzeugt werden. Der Besucher kann nun mit eigenen Augen schauen, wie man Luft in klare Flüssigkeit verwandelt – eine Flüssigkeit, die bei –213° C siedet! Dort ist auch ein origineller Springbrunnen in Thätigkeit, der Wasserstrahl fällt in ihm auf einen Eisblock nieder der niemals, selbst nicht in den Strahlen der Sonne auftaut, da in seinem Innern eine Kältemischung kreist. Die verschiedensten Verwendungen der Kälte für Industriezwecke werden vorgeführt, Kohlensäure und Acetylengas flüssig gemacht. Schließlich schuf R. Pictet auch eine „Kälterestauration“, in der allerlei Gefrorenes geboten wird – bis zu der Seltenheit eines gefrorenen Cognacs!

Die größte Anziehungskraft unter allen Sehenswürdigkeiten der Genfer Ausstellung übt aber zweifellos das Schweizerdorf aus. Es ist in ähnlicher Weise wie das ungarische Millenniumsdorf zusammengestellt. Jeder der zweiundzwanzig Kantone hat hier seine interessantesten eigenartigsten Häuser errichtet, und aus diesem bunten und originellen Material hat man die Straße eines schweizerischen Städtchens und ein Schweizerdorf zusammengefügt. Ueber ihm aber sind auf einem künstlichen Gebirge hübsche Sennhütten zerstreut, die man in verschiedenen Gegenden abgetragen, nach Genf gebracht und hier wieder aufgestellt hat. Diese prächtige Anlage wirkt um so mehr, als sie wirklich bewohnt ist. Wir sehen hier die kleinen Handwerker hantieren und Industrien ausüben, die für einzelne Hochthäler der Schweiz charakteristisch sind. Auch die Sennen mit ihren Herden sind erschienen. An schönen Tagen werden im Dorfe Alpenfeste mit Schwingen und Ringen abgehalten. Dann wimmelt es von prächtigen, originellen Nationalkostümen, dann erschallen laut Juchzer und Jodeln, dann treten dem Beschauer gar deutlich fröhliche Sitten und Lebensgewohnheiten der Schweizer entgegen.

Sicher wird dieses Dorf selbst dem in der Schweiz bewandertsten Touristen vielfach neue Belehrung bringen und zahlreiche Besucher nach dem schönen Genf an den Ufern des blauen Leman locken. Die Schweizer können aber mit hoher Genugthuung auf das Geschaffene blicken; die Ausstellung beweist auf Schritt und Tritt, daß sie in Wissen und Können durchaus auf der Höhe der Zeit stehen, und aus dieser Ueberzeugung mögen sie den Mut zu weiterem rüstigen Vorwärtsschreiten schöpfen!

Wir beschließen hiermit unsere Rundschau über die wichtigsten Ausstellungen des Jahres 1896. Der Sommer ist gekommen und er lockt Millionen Menschen aus den Städten und Städtchen heraus, die große Flut der Reisenden wogt schon vom Fels zum Meer auf und nieder. Und wer auch nur zur Erholung und zum Vergnügen reist, der versäume ja nicht Halt zu machen vor den Thoren der Ausstellungen, der widme ihnen einige der freien Tage; er wird es nicht bereuen; durch neue Eindrücke belebt, durch das Geschaute reich belehrt, wird er hochbefriedigt heimwärts ziehen.


Der Roman einer Königin.

Historische Novelle von Emil Peschkau.

     (Schluß.)

„Das ist ja reizend hier,“ sagte Roche Talmont fast heiter, als er die helle freundliche Zelle betrat. „Man sieht den blauen Himmel und – wahrhaftig, die Bäume sind ja schon grün geworden! Hier also soll ich wohnen – bis …?“

Er fuhr mit der Hand nach dem Halse und seine Züge blieben so ruhig, als handelte es sich um eine Spielerei. Er hatte sich überhaupt wenig verändert, nur etwas bleicher war er geworden.

Die Wache nickte und verließ dann das Zimmer. Man hörte den schweren Riegel vorfallen, aber nur wenige Minuten vergingen und schon öffnete sich wieder die Thür.

Ein Aufschrei, der den Lauscherinnen das Blut in den Adern gerinnen machte – ein zweiter – und Donna Luisa lag an der Brust des Marquis.

Nach einer Weile löste dieser sanft ihre Arme von seinen Schultern, nahm ihre Hände und sah sie zärtlich an.

„Armes Kind!“ sagte er. „Bist Du es wirklich? Erst glaubte ich zu träumen.“

„Mein Vater ist tot, Philipp,“ stammelte sie, „alle Hindernisse sind beseitigt, ich kam mit einem Brief der Infantin zur Königin.“

Roche Talmont preßte die Lippen zwischen die Zähne, ein leiser Schatten flog über seine Züge.

[443] Dann zog er die Bebende an den Händen fort, setzte sie auf einen Stuhl und rückte einen anderen an ihre Seite. Das schwarze Spitzentuch war auf ihre Schultern geglitten und fiel nun ganz herab. Die Königin erblickte eine zierliche aber vollendet schöne Gestalt.

Roche Talmont strich liebkosend über das schwarze Haar des Mädchens und führte dann ihre Hand an seine Lippen.

„Du weißt alles?“

Und jetzt strömten ihr plötzlich die Thränen aus den Augen, sie neigte sich schluchzend zu ihm, preßte den Kopf in seinen Schoß und umfing ihn mit ihren Armen.

Seine Stirn verdüsterte sich, eine Thräne stahl sich über seine Wange herab in den Bart.

„Hättest Du doch nichts von mir erfahren!“ sagte er mit verschleierter Stimme. „Ich würde gern alle Foltern der Welt ertragen, könnte ich Dich von diesen Schmerz befreien, mein armes Kind. Aber fasse Mut! Noch ist nicht alles verloren. Die Königin kann mich begnadigen.“

Donna Luisa schüttelte krampfhaft den Kopf.

„Hoffe nicht auf dieses grausame Weib! Ich habe zu ihren Füßen gelegen und für Dich gebeten, es war umsonst.“

Roche Talmont seufzte und Donna Luisa erhob sich, als fühlte sie das Bedürfnis, ihn anzublicken.

Er lehnte ihre Wange an seine Brust und streichelte sie, wie man ein Kind beruhigt. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen und seine Stimme klang wieder fest und fröhlich.

„Tragen wir ruhig, was uns bestimmt ist!“ sagte er. „Ich liebe das Leben und ich verlasse es doppelt ungern, weil ich Dich gefunden habe. Auch betrübt es mich, daß ich dieses Dunkel nicht lichten, meine Ehre nicht retten kann. Aber ich fürchte den Tod nicht, ich bin jeden Augenblick bereit, ihn zu empfangen, und ich würde ihm lachend entgegen gehen – hätt’ ich nicht Dich!“

„Ich werde mit Dir sterben, Philipp,“ flüsterte sie fiebernd, „in derselben Stunde.“

„Nein, nein, das nicht! Das wäre ein Verbrechen und würde mich mit schwerer Schuld belasten. Und warum denn auch sterben? Wenn der erste Schmerz vorüber ist, dann wird es doch sein, als wär’ ich bei Dir. Mein Bild wird Dich immer umgeben und nie wird ein Schatten, ein Zufall unsere Liebe trüben, wie es sonst ja so oft geschieht. Der Tod ist kein Sterben für die Liebe, Luisa, und je länger Du lebst, desto länger lebe auch ich, denn meine Seele ist in der Deinen.“

Donna Luisa blickte ihn an und in ihren noch thränennassen Augen leuchtete es auf.

„O Philipp, wenn die Königin Dich so hörte, ob sie Dich dann wohl noch immer für einen Verbrecher hielte?“

„Ich habe ein Verbrechen begangen,“ erwiderte er, „und das Urteil ist zwar sehr streng, aber nicht ungerecht. Ich hätte den Angreifer nur abwehren sollen: aber die Wut erfaßte mich und ich rannte diesem Menschen gleich meinen Degen durch den Leib. Vielleicht wäre die Königin auch eher zur Milde geneigt, wenn es sich nicht um den Abkömmling einer alten schwedischen Adelsfamilie handelte. Man sieht die Fremdenwirtschaft nicht gern und dieser Adel ist gar herrschsüchtig und liebt Christine nicht, er würde sich ihr wahrscheinlich kaum beugen, wenn sie nicht die Tochter Gustav Adolfs wäre. Sie ist zu klug, als daß sie das nicht erkennen sollte, und wenn mich die ganze Strenge des Gesetzes trifft, so bin ich vielleicht nur ein Opfer der Staatsklugheit.“

Donna Luisa schüttelte heftig den Kopf.

„Du bist zu gut, Philipp. Du verteidigst dieses herzlose Weib noch. Aber ich werde Dich an ihr rächen. Ja, ich will leben, aber nur um Deine Ehre zu retten, Du Guter, und die zu strafen, die sich an Dir versündigt haben.“

Roche Talmont führte wieder ihre Hand an seine Lippen.

„Ich glaube, daß wir beide leben werden und daß es mir noch gelingt, alle Rätsel zu lösen. Eine innere Stimme läßt mich noch immer hoffen, daß Christine mich begnadigt. Sie ist nicht herzlos, ich kann es nicht glauben. Ein Weib, das so nach dem Höchsten strebt, kann nicht ohne Herz sein. Sie ist nur irregeleitet durch eine falsche Erziehung, durch ihre Umgebung, durch den Ehrgeiz, die Tochter oder vielmehr der Sohn ihres großen Vaters zu sein. Sie will es den Männern gleich thun und hat noch nicht erkannt, daß es noch etwas Höheres giebt als Mann sein: ein Mensch sein! Sie hat das dunkle Gefühl, daß es herrlich sein muß, die Welt zu erkennen und die Menschen durch den Geist zu beherrschen, aber sie verwechselt Erkenntnis mit Gelehrsamkeit. Es ist ein wunderlicher Gedanke … ich bin nur wenig Jahre älter als sie … aber ich möchte ihr Lehrer sein! Ich möchte sie aus der Bücherluft hinausführen unter das Volk, von den Herbarien weg in den Frühling, ich möchte … sie hätte einen Lehrer haben müssen, der das kann, was ich möchte. Der ihr die Natur enthüllt in der Natur und alles Menschliche aus den Menschen heraus, nicht aus dem Staube der Vergangenheit und den Köpfen einsamer Träumer. Luisa – es ist schade um diese Königin – schade, wie um so viele Keime, die in die Welt gestreut werden und kein Erdreich finden, um aufblühen und Früchte tragen zu können! Du staunst, Luisa, daß ich so spreche? Ja, auch ich finde es erstaunlich, daß man so viel aus dem Leben lernen kann.“

„Ich staune nur darüber,“ unterbrach ihn Donna Luisa, „daß Du Dich so sehr für diese Königin interessierst. Aber sie hat freilich ein so schönes rosiges Gesicht und so schöne blaue Augen, daß man nur schwer an ihr häßliches Gemüt zu glauben vermag.“

In diesem Augenblick wurde der Riegel zurückgeschoben und die beiden sahen nach der Thür. Die Wache erschien, gleich darauf aber traten zwei Diener ein mit Speisekörben und Flaschen. In wenigen Sekunden war der Tisch gedeckt und dann ließ man das Paar wieder allein.

„Das sieht ja recht fröhlich aus,“ sagte Roche Talmont scherzend. „Wir wollen es als das erste Zeichen dafür nehmen, daß die Königin mir ihre Gnade zugewendet hat. Komm, mein Lieb, Du bedarfst der Stärkung!“

Donna Luisa wollte nichts genießen, aber der Marquis schob ihr bald einen Bissen in den Mund, und bald brachte er es durch Bitten und Liebkosungen zuwege, daß sie ein wenig von dem Weine trank. Er zeigte sich so zärtlich um sie bemüht, daß sie nicht widerstehen konnte, und die Heiterkeit, die er entwickelte, verfehlte endlich ihre Wirkung nicht. Es schien, als ob es ihm gelingen sollte, das furchtbare Gespenst zu verscheuchen, das hinter ihm stand, und in dem Herzen des geliebten Mädchens nur das Glück des Augenblicks wachzuhalten. Ihre Blicke hefteten sich schwärmerisch auf das teure Antlitz, das frisch und kühn, kaum um einen Schatten trüber als sonst in die Welt sah, und selbstvergessen lauschte sie den Bildern aus der ersten Zeit ihrer Liebe, die er in neckisch rührendem Tone hervorzuzaubern wußte. Gehorsam aß sie, was er ihr auf den Teller legte, und trank, so oft er sie ermunterte, mit ihm anzustoßen. Allmählich färbten sich ihre Wangen etwas lebhafter und aus den leidvollen Zügen leuchtete es fast wie ein überirdisches Glück. Plötzlich aber, als er nur ein paar Sekunden lang schwieg, kam es wie ein Fieberschauer über sie, sie erblaßte, schob den Tisch mit den Händen so heftig zurück, daß ihr Glas klirrend zu Boden fiel, und dann warf sie sich, in Thränen ausbrechend, zuckend und schluchzend wie eine Rasende anf Roche Talmont, umklammerte ihn mit den Armen und preßte ihren Kopf an seine Brust.

„Sie werden Dich morden, Philipp,“ stöhnte sie, „aber sie sollen auch mich morden, ich sterbe mit Dir! Ich bin Dein Weib und lasse Dich nicht, ich gehe wohin Du gehst. Nein, nein … noch nicht … geh’ noch nicht … bleibe bei mir! Drei Tage hat sie uns geschenkt, noch dürfen wir leben, noch kein Blut, Philipp, er darf noch nicht kommen, der Henker! O mein Gott, küsse mich, Philipp, küsse mich, wir leben ja noch!“

Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände, küßte sie innig, strich liebkosend über ihre Schläfe, ihre Schultern, zog sie auf seinen Schoß und, sagte tröstende Worte, als gälte es, ein krankes Kind zu beruhigen. Sie schmiegte sich voll hingebender Zärtlichkeit an ihn und lauschte ihm wieder. Ihre Züge sänftigten sich bald und nahmen einen müden Ausdruck an, als könnte sie so, die Augen in die seinen versenkt, an seiner Brust entschlummern. Und endlich sagte sie mit eiuem weichen glücklichen Tone: „Jetzt möchte ich sterben, Philipp – so sterben!“

„Du wirst nicht sterben, aber Du wirst schlafen,“ sagte er sanft. „Du bist müde, das alles ist zu viel für Dich. Komm, leg’ Dich zur Ruhe!“

„Alles, was Du willst, Philipp.“

Er nahm sie in seine Arme, hob sie auf wie ein Kind und trug sie nach dem einfachen Lager, das in einer kleinen Nische des Zimmers stand. Dort legte er sie hin, richtete ihr das Kissen bequem und breitete dann die graue Wolldecke über ihre Füße.

Sie lächelte ihn an und ihre Lippen berührten seine Hand.

„Setz’ Dich zu mir, Philipp!“

[444] Er holte einen Stuhl, stellte ihn neben das Bett und nahm an ihrer Seite Platz.

Ihre Hände umklammerten seine Rechte und seine Linke ruhte auf ihrer Schläfe. Bisweilen strich er leise über die schwarzen Löckchen, und sie sah ihn zärtlich an, während ihre Lider sich mehr und mehr senkten.

Endlich war sie entschlafen. Er regte sich nicht, seine Augen ruhten auf ihr. Seine Züge aber wurden ernster und ernster, alle Linien vertieften sich, es schien, als ob er um Jahre älter geworden wäre. So saß er fast eine Stunde lang und fast eine Stunde lang sah die Königin aus ihrem geheimen Versteck regungslos dem stillen Manne ins Antlitz.

Plötzlich fuhr Donna Luisa aus ihrem Schlummer auf. Erschreckt, verwirrt sah sie auf Roche Talmont und dann in dem Gemache umher. Er führte ihre Hand mit einer fast ehrerbietigen Gebärde an die Lippen und sie besann sich. Zugleich aber erschrak sie aufs neue über eine seltsame rötliche Helle, welche plötzlich ins Zimmer drang.

„Was ist das?“ rief sie aufspringend, „Feuer?“

„Die Sonne geht unter,“ erwiderte er nach dem Fenster sehend. „Die Sonne geht unter, Luisa, und wir müssen scheiden bis morgen.“

Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und sah ihn bestürzt an.

„Und ich habe wirklich geschlafen? Ich konnte so lange schlafen?“

„Ja, mein Kind. Es war Dir nötig. Nun hast Du wieder Kraft.“

Sie sah nach dem Fenster und er horchte nach der Thür zu.

„Es scheint wirklich die Sonne zu sein – es wird dunkel –“

„Und ich glaube, man kommt. Leb’ wohl, Luisa … auf morgen …“

Zur selben Zeit, als Donna Luisa das Gemach verließ, erhob sich auch die Königin. Ohne ein Wort zu sprechen ging sie aus ihrem Versteck und Helene de la Gardie folgte ihr. Ein Offizier, der auf Befehl des Kommandanten auf dem Korridor wartete, führte die beiden bis zu dem geheimen Verbindungsgang zwischen Citadelle und Schloß. Hier entließ ihn Christine, und jetzt schien sie selbst das Bedürfnis zu empfinden, ein Wort zu sagen.

„Ich glaube,“ begann sie in etwas erregtem Tone, aber nur halblaut, „die Richter haben zu strenge geurteilt.“

„Roche Talmont ist eines Verbrechens nicht fähig,“ erwiderte Helene mit Nachdruck.

„Freilich spricht er ausgezeichnet,“ fuhr die Königin fort. „Viel besser als Vossius, der doch Doktor der Beredsamkeit ist.“

„Haben Majestät die Liebe nun kennengelernt?“

„Auch ist ein Politiker an ihm verloren gegangen. Er scheint meinen Adel besser beobachtet zu haben als ich selbst. Ich glaube, diese übermütigen, herrschsüchtigen Zwerge haben ihn nur verurteilt, um einen Fremden zu treffen, oder vielmehr ihre Königin.“

„Eure Majestät gehen nun vielleicht doch zu weit.“

„Beruhige Dich! Ich weiß, daß Dein Bruder und noch andere nicht zu dieser Partei gehören.“

„Werden Eure Majestät Roche Talmont begnadigen?“

„Du bist etwas vorwitzig. Ich werde morgen über sein Schicksal entscheiden.“

Als die Königin in das Vorzimmer ihrer Privatgemächer trat, meldete einer der dort Dienst habenden Pagen, daß die Doktoren Meibom und Naude bereits seit zwei Stunden warteten. Majestät hätte sie auf fünf Uhr befohlen.

„Sie mögen wieder gehen,“ antwortete Christine mißmutig. „Ich will heute niemand mehr sprechen …. Halt, noch eins! Die Tafel ist aufgehoben. Es ist für mich allein in meinem Arbeitszimmer zu servieren.“

Der Page ging und Helene de la Gardie wollte der Königin folgen. Aber diese entließ sie ziemlich kurz, weniger freundlich als sonst, mit den Worten: „Auf morgen, Helene!“ Dann verschwand sie in ihrem Arbeitszimmer und Helene zog sich, bestürzt über die Gedanken, die plötzlich mit der Gewalt einer Sturmflut über sie hereinbrausten, zurück.

*               *
*

Am andern Morgen wurde Helene zu ungewöhnlich früher Stunde zur Königin beschieden. Zu ihrer lebhaften Verwunderung fand sie Christine bereits vollständig angekleidet. „Oder sollte sie gar nicht zu Bette gegangen sein?“ dachte sie, als ihr das etwas übernächtige Aussehen ihrer Gebieterin auffiel.

„Helene,“ sagte diese, während sie in den Papieren wühlte, mit denen der Schreibtisch beladen war, „ich brauche Deine Hilfe. Ich bin reich als Königin, aber arm als Frau. In meiner Garderobe habe ich nur Staatskleider und … und Alltagskleider. Ich möchte heute als Frau erscheinen, aber doch nicht in diesen Prunkgewändern. Willst Du mir Dein neues Kleid leihen – das rotseidene, in dem Du mir so gefielst? Wir haben ja die gleiche Gestalt es wird mir passen – und ich glaube, daß ich gut darin aussehen werde.“

„Majestät,“ stammelte Helene, „alles, was ich besitze, gehört natürlich meiner Herrin –“

„Du staunst,“ unterbrach sie die Königin. „Aber die Sache ist sehr einfach. Ich will fortsetzen, was ich gestern begonnen habe. Das Problem der Liebe zu Ende studieren. Da …“ – sie ergriff ein auf ihrem Schreibtisch liegendes Heft – „... gestern schickte mir die Scudéry ihre Abhandlung über die Liebe. Ich las sie noch – las sie vor dem Einschlafen. Wie einfältig das ist! Ich glaube, die Scudéry hat nie etwas anderes gethan, als Bücher geschrieben, und nun will sie über die Liebe schreiben! Geh, Kind, und lasse das Kleid herübertragen! Und dann – nicht wahr, Du bist mir ein wenig behilflich? Du weißt, daß ich die Kammerfrauen hasse.“

„Ich gehe, Majestät,“ sagte Helene, die keine Einwendung mehr wagte.

„Ja – mach’ rasch – und dann laß einen der Pagen eintreten!“

Helene de la Gardie entfernte sich und die Königin nahm ein Blatt Papier, das sie bereits beschrieben hatte, und versiegelte es.

Währenddessen trat der Page in das Zimmer und nun reichte ihm Christine das Blatt.

„An den Kommandanten der Citadelle,“ sagte sie. „Du gehst selbst und meldest Dich, wenn Du zurück bist.“

Als sie wieder allein war, erhob sie sich, trat an das Fenster und sah hinaus auf das junge Grün, das zwischen den schwarzgrauen Mauern und Türmen fröhlich emporsproß. Der energische Zug in dem noch mädchenhaften Antlitz trat stärker hervor und auch die Falte zwischen den Augenbrauen. Ihre Brust hob sich kräftiger, ihre Wangen röteten sich, in den ein wenig tiefliegenden großen stahlblauen Augen zeigte sich der Ausdruck leidenschaftlichen, unbefriedigten Grübelns. So sah sie Helene, als sie wieder eintrat, und die Erregung der Königin schien nur zu wachsen, während die Robe vor ihren Augen ausgebreitet wurde. Sie zog sich dann in ihr Ankleidezimmer zurück und Helene mußte ziemlich lange warten, ehe Christine wieder erschien.

„Es ist ohne jede Hilfe gegangen,“ sagte sie lächelnd. „Oder hast Du noch etwas zu tadeln?“

„Majestät sind wunderschön,“ erwiderte Helene aufrichtig entzückt, während sie um ihre Gebieterin im Kreise herum ging und sie von allen Seiten betrachtete.

Das gedämpfte und doch kräftige Rot der damastartig gewebten Seide kleidete die Königin vorzüglich. Ihr frischer Teint mußte unwillkürlich den Gedanken an „Milch und Blut“ wachrufen und das hellblonde Haar, aus dem nur ein Brillantstern leuchtete, wirkte jetzt noch auffälliger als sonst und schmückte die klare freie Stirn wie eine natürliche Krone. Nach der Sitte damaliger Zeit war das Kleid bis zu den Achseln ausgeschnitten und die Schultern hoben sich blendend von den mit Goldfäden durchsponnenen Spitzen ab, mit denen die miederförmige Taille und die bauschigen Aermel besetzt waren. In derselben Weise war auch der in den Hüften ein wenig verbreiterte, sonst aber glatt herabfallende Rock geputzt, dessen lange Schleppe Christine größer erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war.

Was aber vielleicht mehr noch als die Toilette zu ihrer Verschönerung beitrug, war die Verlegenheit, die sie sichtlich empfand. Nichts erhöht die weiblichen Reize mehr als dieses lächelnde, unbewußte Staunen über das eigene Erblühen, und zu diesem aus Scham und instinktiver Siegesfreude gemischten Gefühl kam bei Christine noch die Ungewohntheit, sich in solch einem Kleide zu bewegen. Die Majestät ihrer Erscheinung litt dadurch ein wenig, aber die Weiblichkeit gewann.

Als die Hofdame die letzte Verbesserung an dem Kunstwerke vorgenommen hatte, meldete sich auch der Page wieder. Er berichtete, daß der Marquis von Roche Talmont, wie die Königin befohlen, um zehn Uhr nach dem Schlosse gebracht werden würde.

[445]

Hol über!

Der Fluß zieht sachte durch das Land;
Der Sommertag ist vorüber;
Ein Mädel ruft vom Uferrand:
Hol über!

Der Fährmann drüben säumt nicht lang;
Er lacht und schaut herüber;
Ihm klingt’s im Ohr wie Saitenklang:
Hol über!
 Max Haushofer.

[446] Christine gab noch einige Befehle, dann entfernte sich der Page. Helene de la Gardie war aus der harmlosen Freude, die ihr das Schmücken ihrer Herrin bereitet hatte, wieder aufgeschreckt worden. Die Gedankenflut stürmte aufs neue heran. Was beabsichtigte die Königin?

„Ich wünsche,“ sagte diese, „daß Du keinerlei Bewegung zeigst – weder Staunen noch Teilnahme. Roche Talmont wird sein Leben nicht verlieren – beruhige Dich! Aber wir wollen uns die Gelegenheit, die kaum je wiederkehrt, nicht entschlüpfen lassen. Wir wollen sehen, was an der Liebe ist. Gestern fühlte ich fast eine Schwäche. Was hat Roche Talmont bewiesen? Er hat schön gesprochen – vorzüglich gesprochen – aber was hat er gethan? Es mag auch sein, daß er den Tod nicht fürchtet, aber er liebt das Leben, mehr als das Leben – das Glück! Er hat sich gestern edler gezeigt als hundert andere Männer. Deshalb fordert er aber auch hundertmal mehr vom Glück als sie. Deshalb hat er auch einen Durst in der Seele, der ihn die letzte Probe nicht bestehen lassen wird. Vielleicht ist er aber auch nur ein Prahlhans und was ihn aufrecht erhält, ist die Hoffnung auf meine Gnade. Er fürchtet den Tod nicht? Bah – er glaubt nicht an ihn. Das ist alles. Und was hat er da über mich geschwatzt? Ich äffte die Männer nach? Nein, Herr Marquis, ich möchte auch kein Wesen euresgleichen sein. Kein Mann, aber auch nicht das Spielzeug eines Mannes! Die Liebe ist den Männern so viel wie ein Glas Wein, ein flüchtiger Genuß, und beim Weibe ist sie Thorheit, Glauben, Aberglauben, ein Wahn, den man ihm eingeimpft hat, um es allen Launen der Herren gefügig zu machen. Komm, Helene – zur Audienz!“

Helene blickte zugleich bewundernd und angstvoll auf die Königin. Christine schien wieder ihre alte Sicherheit gewonnen zu haben, sie war wieder die Tochter Gustav Adolfs … der Sohn Gustav Adolfs. Und doch war noch etwas anderes in ihr, was der Hofdame ein instinktives Bangen einflößte. Sie hob die Hände bittend und stellte sich blaß, mit heftig schlagendem Herzen, ihrer Gebieterin in den Weg.

„Majestät,“ flehte sie, „ich bitte nicht für mich. Ich fühle eine entsetzliche Furcht. Ich weiß nicht zu sagen, was geschehen könnte, aber wenn ich es dürfte, ich hielte Eure Majestät mit all meiner Kraft zurück – nur weil ich mich um diejenige ängstige, der mein ganzes Herz gehört. Eure Majestät hören doch in Sachen, die das Reich angehen, gern auf den Rat Ihres Kanzlers. Jetzt handelt es sich um Dinge, bei denen vielleicht das dunkle Gefühl eines Mädchens recht behält, eines Mädchens wie ich, das nicht viel Verstand hat, aber ein Etwas in der Brust – Majestät, lassen Sie Roche Talmont ziehen und spielen Sie nicht länger mit ihm!“

Die Königin hörte sie lächelnd an.

„Sieh, sieh!“ sagte sie dann. „Ein neuer Doktor der Beredsamkeit! Aber komm jetzt! Du weißt, daß ich immer pünktlich bin und … horch, da schlägt ja schon unsere Stunde. Komm!“

Sie öffnete selbst mit festem Griff die Thür – so rasch, daß draußen die Pagen emporsprangen, als hätte der Blitz eingeschlagen. Helene folgte ihr auf dem Fuße – nicht ohne einen tiefen Seufzer. Es war ein Gang, der ihr vorkam wie ein Gang zum Schafott.

*               *
*

Erst im Audienzzimmer faßte sie wieder Mut. Die stolze Haltung der Königin, der sieghafte Blick ihrer Augen, das überlegene Lächeln, das den kleinen, mädchenhaft schwellenden, aber festen Mund umspielte, beschämte sie. Was konnte denn auch zu fürchten sein? Sie schalt sich thöricht und dachte, daß Christine recht habe, sie ein Kind zu nennen.

Dann, als sie Roche Talmont erblickte, schwanden alle diese Gedanken vor dem fast zärtlichen Interesse, das er ihr einflößte. Es war weniger sein inneres Wesen, das nicht so deutlich zu ihr sprach wie zur Königin, als seine äußere Erscheinung, was sie fesselte. Auch sie hatte gestern unverwandt eine Stunde lang in das schöne männliche Gesicht geblickt, in dem sich Kühnheit und Festigkeit so eigentümlich neben Güte und Heiterkeit der Seele aussprachen, und das durch die melancholischen Schatten, die der Augenblick darüber breitete, nur noch gewann. Die hohe kräftige Gestalt in der einfachen ritterlichen Tracht, die ernste Anmut in seinem Auftreten, seinen Bewegungen machten auch jetzt wieder ihr Herz schneller schlagen. Sie kannte nur Männer, die ihr Achtung einflößten, die aber hölzern, rauh und sogar abstoßend waren, und solche, die von Liebenswürdigkeit überflossen, aber den Eindruck von Jämmerlingen oder Schauspielern machten, sie kannte nur die Kriegergestalten Gustav Adolfs, die Gelehrten der Königin und die Gecken, die wie überall daneben mitliefen. Roche Talmont war der erste Mann, dessen Bild sich tief in ihre Seele grub.

Auch die Königin stand sichtlich unter dem Einflusse seiner Anwesenheit. Der lächelnde, ironisch überlegene Ausdruck ihres Gesichtes schwand, sie wurde ernst und wandte sich ohne Stolz, mit einer gewissen Teilnahme, einem wärmeren Klang der Stimme an ihn.

„Herr Marquis,“ sagte sie, „wie das Unglück auch geschehen sein mag, Ihr habt unter allen Umständen gefehlt. Meine Richter haben den Spruch gefällt, den sie nach dem Gesetze fällen mußten, aber mein Wille steht über dem Gesetze, und es ist mein Wille, Euch die Buße für Euer Vergehen zu erlassen. Allein eine Bedingung ist daran geknüpft. Wenn auch mein Wille über dem Gesetze steht, so ist es doch fern von mir, in meinem Reiche nach Willkür und Laune zu schalten. Was geschieht, geschieht nur, weil ich es will, aber ich will nur das, was ich weise geprüft habe, entsprechend dem geistigen Vermächtnis meines großen Vaters, für das ich ihm dankbarer bin als für die Länder und Völker, die er mir hinterließ. Ich habe Euch erkannt, Herr Marquis, und wenn Ihr Lust habt, in meine Dienste zu treten, dann steht Euch ein Weg offen, der vielleicht bis zu den höchsten Stellen des Reiches führt. Ihr kamt hierher, um Euer Glück zu suchen – nun wohlan, das Glück lächelt Euch! Aber Ihr kennt die Stimmung meines Adels, Ihr kennt die Pflichten der Klugheit, die ich habe. Ihr müßt ein Schwede werden, müßt jede Brücke mit der Heimat abbrechen, müßt eintreten in diesen Adel, Euch durch Bande an ihn knüpfen, die sein Interesse mit dem Euren verbinden, so daß Ihr kein Fremder mehr seid, sondern einer von uns. Es ist ein thörichtes Hirngespinst einiger in ihrem Ehrgeiz gekränkter, in ihrer Herrschsucht verletzter Heißsporne unter meinen Adligen, daß ich geneigt sei, eine Fremdherrschaft aufkommen zu lassen. Die Männer der Wissenschaft, die ich beschütze, haben nicht den geringsten Einfluß auf meine Regierung, in dem Rate meiner Krone sitzen nur Schweden und solche, die es längst geworden sind, wie Ihr es werden sollt. Seid Ihr bereit, Herr Marquis, dem Verhältnisse zu jener Spanierin Donna Luisa de Mendez zu entsagen und Euch unter den Töchtern meines Landes eine Frau zu suchen?“

Roche Talmont hatte die Rede der Königin ruhig, in ehrerbietiger Haltung angehört; bei den letzten Worten aber richtete er sich, als hätte ihn ein Schlag getroffen, wieder ganz auf, seine Augen blitzten und eine leichte Röte flog über seine Wangen und seine Stirn.

„Ich danke Eurer Majestät für Ihre gnädige Gesinnung,“ erwiderte er mit fester Stimme und doch nicht ganz ohne Weichheit. „Ich wäre gern bereit, mit allem, was der Allmächtige mir verliehen, Eurer Majestät zu dienen. Mit meinem Kopfe, mit meinem Arme, mit meinem Blut! Donna Luisa aber ist mir so viel als mein angetrautes Weib und nichts kann mich von ihr trennen als die Gewalt. Ich muß auf die Gnade Eurer Majestät verzichten, wenn diese Bedingung daran geknüpft ist.“

Die Königin sah ihn an und es gelang ihr nicht ganz, ihren Unmut zu verbergen. Ihr Antlitz rötete sich, die Brauen zogen sich zusammen, das feine Spitzentuch in ihrer Rechten wurde zu einem Ball zusammengedrückt.

„Ihr macht sonst gar nicht den Eindruck eines verliebten Narren – Herr Marquis,“ sagte sie mit vor Aufregung zitternder Stimme. „Es mag vielleicht irgendwo eine oder die andere Frau geben, für die man wohl sein Leben in die Schanze schlagen mag. Aber diese – diese Donna Luisa! Was für einen Zaubertrank hat sie Euch gegeben, Herr Marquis, daß Ihr für sie ein Leben hinopfert, das Euch auf den Gipfel menschlichen Glücks führen könnte?“

Roche Talmont antwortete nicht gleich. Er sah die Königin an, und doch war es, als ob sein Blick in eine wunderliche Ferne dränge. Seine Augen wurden feucht und nahmen einen träumerischen Glanz an. Endlich kam ein ganz leises Lächeln auf seine Lippen und er sagte seufzend: „Ich liebe Donna Luisa. Seit wir uns kennen, ist es mir, als sei sie ein Teil von mir. Obwohl wir getrennt waren, war sie doch stets mein, sie hat meine Seele erfüllt, ich lebte in ihr. Eure Majestät mögen andere Frauen schöner finden, besser, [447] gescheiter. Aber es ist nun einmal Donna Luisa, deren Wesen eins mit dem meinigen ist. Wenn ich sie kränkte, würde ich mich kränken, wenn ich sie glücklich mache, mache ich mich glücklich. Ich bin kein Halbgott, sondern nur ein schwacher Mensch, ich fühle die ganze Stärke der Verlockung, ich möchte leben, wirken, schaffen, kein Preis ist zu hoch, daß er mir nicht erreichbar schiene! Aber wenn ich diese Liebe töten wollte, würde ich mich selbst töten, alle diese Freudigkeit in mir, diese Fähigkeit, etwas zu thun. Die Liebe, Euer Majestät, ist ein Verhängnis, wenn auch ein süßes Verhängnis voller Wonnen. Es giebt kein Auflehnen dagegen, und wer es versucht, der vernichtet in sich gerade so viel, als er wert ist.“

Christinens Züge waren immer härter, kälter geworden.

„Bei welchem Philosophen habt Ihr das gelernt, Herr Marquis?“ fragte sie höhnisch.

„Majestät," erwiderte er, „meine Schule war das Leben. Die Versuchung ist oft genug an mich herangetreten, aber jede kleine Sünde hat mich Schmerzen gekostet, die mir zum Lehrer wurden. Der Allmächtige hätte wohl die Frauen stärker geschaffen, hätte er nicht gewußt, daß unsere Liebe ihnen dienen muß.“

Christine hatte sich abgewendet und nun unterbrach sie ihn kalt: „Genug, Herr Marquis. Kehrt in Euer Gefängnis zurück! Ich werde mit meinen Räten das weitere erwägen.“

Dann, ohne noch einen Blick auf ihn zu werfen, machte sie ein paar Schritte nach der Thür.

Aber die Erregung, in der sie sich befand, ließ sie nicht an das ungewohnte Kleid denken. Ihre Füße verwickelten sich in der Schleppe, sie glitt aus und wäre zu Boden gefallen, hätte nicht Roche Talmont, der rasch an ihre Seite gesprungen war, sie aufgefangen. Sein Arm hielt ihren Leib umfaßt, und als sie sich an seiner Brust aufrichtete, fühlte sie seinen Atem auf ihrer Stirn. Und plötzlich waren ihre Wangen, ihre Schultern, ihr Nacken mit Purpurröte übergossen, ihre Brust hob und senkte sich stürmisch, ihre Sinne schienen zu schwinden. Helene de la Gardie eilte ihrer Herrin zu Hilfe; aber als die Königin sie erblickte, fand sie sich schnell wieder. Sie riß sich los, atmete tief auf und sah wirr, wie aus einem Traume erwachend, auf die beiden. Sie sah auch, daß beide todbleich geworden waren, und sie sah es dem Marquis an, daß er sie verstanden hatte – daß er wußte, wie nahe er in diesem Augenblick einem der mächtigsten Throne der Welt gewesen war.

„Ich danke Euch, Herr Marquis,“ wandte sie sich mit bebender Stimme an ihn. „Und dann noch eins. Ich glaube, daß Eure Theorie nicht auf alle paßt. Aber ich will, daß Ihr lebt und frei seid. Kehrt in das Gefängnis zurück und wartet, bis man Euch entläßt!“

Roche Talmont ließ sich auf seine Knie nieder und seine Lippen berührten ihr Gewand.

„Kehrt in Eure Heimat zurück und das Glück sei mit Euch!“ fuhr sie mit gepreßter Stimme fort.

Dann reichte sie ihm ihre Hand zum Kusse — Helene sah sie erbeben und sie sah auch den feuchten Schimmer in den Augen Roche Talmonts. Sie konnte die Bedeutung dieser Minuten und ihre schweren Folgen nicht ganz ermessen, aber die Thränen flossen ihr doch über die Wangen herab, als sie das Audienzzimmer, der Königin folgend, verließ ...

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Von diesem Tage an datiert die auffallende Veränderung in dem Charakter Christinens, die in den Geschichtsbüchern berichtet wird. Sie, die schon als ganz junges Mädchen Staatsmännern wie Oxenstierna, Feldherren wie Torstensson imponiert hatte durch ihren zugleich festen und blendenden Geist, ihr politisches Genie, ihren ernsten Sinn, ihre unermüdliche Arbeitskraft und ihren ruhigen, unerschütterlichen und dabei guten Charakter, wurde plötzlich launenhaft, verschwenderisch, vergnügungssüchtig und so toll in ihren Unternehmungen, daß sie das Staatsschiff ernstlich gefährdete. Im Jahre 1649 ließ sie, wie wir eingangs berichteten, ihren Neffen Karl Gustav zum Thronfolger wählen und bereits 1654 legte sie – erst achtundzwanzig Jahre alt – die Krone nieder. Von Helene de la Gardie begleitet, wandte sie sich nach Italien, nachdem sie öffentlich zur katholischen Kirche übergetreten war. Aber weder der Religionswechsel noch das klassische Land der Kunst gaben ihr die verlorene Ruhe wieder. Sie ging nach Frankreich, wo sie es selbst den Franzosen ein wenig zu toll trieb, versenkte sich dann aufs neue in wissenschaftliche Beschäftigungen und – bewarb sich endlich wieder um eine Krone, nämlich um die polnische, die nach der Abdankung Johann Kasimirs frei geworden war. Ihre letzten Jahre verlebte sie in Rom, wo sie am 19. April 1689 starb.

Das Geheimnis jenes Abenteuers des Marquis von Roche Talmont wurde erst lange Jahre nachher gelüftet. Einige Adelige, die eine rasch unterdrückte Verschwörung gegen die Königin angezettelt hatten, waren durch ein prahlerisches Wort von Roche Talmonts Diener auf den Verdacht gekommen, der Marquis strebe nach der Gunst der Königin. Man suchte den Burschen zu bestechen, dieser nahm auch das Geld, sagte aus, was man von ihm zu hören wünschte, und verschwand dann. Die Verschworenen aber beschlossen, Roche Talmont zu beseitigen, und losten unter sich diejenigen aus, die das „Amt“ zu übernehmen hatten. Der eine von ihnen – Galeas Salvius – war das Opfer seines Auftrags geworden, der andere hatte die Flucht ergriffen.

Roche Talmont und Christine sahen sich nicht mehr wieder, denn als die Königin in ihrem letzten Lebensjahre plötzlich auf den Gedanken geriet, den Marquis aufzusuchen, um zu sehen, ob er glücklich sei, und als man seinen Aufenthalt in Erfahrung gebracht hatte, war sie bereits erkrankt und die Aerzte gestatteten die Reise nicht mehr. Dafür aber erhielt sie noch auf ihrem Sterbelager einen Brief Roche Talmonts, in dem er mitteilte, daß seine liebe Luisa ihn mit fünf Söhnen beschenkt habe und noch immer dankbar der Gnade Ihrer Majestät gedenke. Seinem Leben sei das Glück dauernd hold geblieben und nur einen Schatten gebe es darin – eine Erinnerung, die auf ihm laste, wie ein Weh, das man unschuldig einem Menschenherzen zugefügt ....



Blätter und Blüten.


Thüringer Bären. Wo sind die Zeiten hin, da in Thüringens Wäldern Rudel von Wölfen umherstreiften und der braune Bär seine Tatze gegen den Menschen erhob! Der Sommerfrischler wandert heute ungestört über „Bärenthal“ und „Bärenkopf“, über „Bernsroda“ und „Bärengehege“, über „Bärenwiese“ und „Bärenbach“, Ortschaften, an denen einst die Bären häufig waren, und wenn er den Erlauer Forst im Kreise Schleusingen aufsucht, so kann er dort zwischen der Schüßlerwand und den Wasserlöchern noch die Reste eines regelrechten „Bärenfanges“ sehen. Diese Fangvorrichtung bestand in einem kreisförmig angelegten Graben mit senkrechten Wänden und von solcher Tiefe, daß ein hineingefallener Bär sich nicht wieder herauszuhelfen vermochte. An einer Seite führte in diesen Graben ein in gerader Richtung laufender Graben, der an der Einmündung in den Fanggraben durch eine senkrechte Wand abgeschlossen werden konnte und zum Herausziehen des gefangenen Bären diente. Auf der innerhalb des Kreisgrabens gelegenen Fläche von etwa 2½ Metern Durchmesser war ein Hügel hergestellt, auf dem die Lockspeise angebracht wurde. Der Graben wurde leicht mit Fichtenreisig verdeckt, welches den nach der Lockspeise gehenden Bären nicht zu tragen vermochte, so daß dieser bei dem Betreten des Reisigs durchbrechen und in den Graben stürzen mußte, wo er alsdann getötet wurde.

Meister Petz war früher in Thüringen recht häufig. Wurden doch z. B. in der Stadtwaldung von Allendorf a. d. Werra allein im Jahre 1471 6 Bären getötet, und noch im 17. Jahrhundert erjagte man im albertinischen Sachsen in den Jahren 1611 bis 1665 neben 5093 Wölfen und 305 Luchsen nicht weniger als 324 Bären! Wann ist aber wohl der letzte Bär in Thüringen erlegt worden? Die Antwort ist mit voller Sicherheit nicht mehr zu geben, interessant sind aber die Ausführungen, welche Prof. Dr. Fritz Regel in seinem ausgezeichneten Werke „Thüringen. Ein geographisches Handbuch“ (Jena, Gustav Fischer) in Bezug auf diese Frage mitteilt. Gewöhnlich wird das Jahr 1686 als dasjenige genannt, in welchem Meister Petz zum letztenmal in Thüringens Wäldern seine Tatze gegen den Menschen erhoben habe; damals wurden an zwei Stellen Bären bemerkt, bei Stützhaus unweit Ohrdruf vom gothaischen Oberförster Großgebauer und auf der Bärenheide im Wintersteiner Forst, wo Hans Lefler einen Bären erlegte. Prof. Regel weist jedoch nach, daß Berichte über Bären noch aus dem 18. Jahrhundert vorhanden sind. So [448] gedenkt Dr. J. Schmidt in seiner Schrift „Die Pflege Reichenfels“ der „letzten“ um das Jahr 1730 in der Hart bei Langenwetzendorf unweit Schleiz abgehaltenen Bärenjagd: man stieß hier unvermutet auf ein Lager mit 3 Bären, läutete Sturm und erlegte die Tiere, nachdem der Fürst von Schleiz auf die Alarmsignale herbeigeeilt war. Ferner trat im Jahre 1751 ein Bär bei Katzhütte auf, und der letzte Bär ist höchstwahrscheinlich erst im Jahre 1797 auf Hettstädter Flur bei Kursdorf erlegt worden. Leider ist die Chronik von Kursdorf, welche die Einzelheiten dieses interessanten Ereignisses enthielt, im Jahre 1872 verbrannt. Daß noch vor 100 Jahren Bären in Thüringen vorkommen konnten, erscheint durchaus nicht unmöglich, wenn wir bedenken, daß sie um jene Zeit im Böhmerwald noch so häufig waren, daß von 1760 bis 1800 ein einziger Revierförster in den Waldungen zwischen Rachel und Arber 37 Bären erjagte. Der letzte versprengte Bär zeigte sich dort im Jahre 1856. Heute ist Meister Petz in ganz Deutschland ausgerottet, und nur im bayerischen Alpenlande hält sich vielleicht noch zeitweilig ein Exemplar des großen Raubtieres auf. *     

Aus dem Jubiläumsfestzug der Berliner Kunstakademiker.
Nach einer Originalzeichnung von W. Pape.

Aus dem Jubiläumsfestzug der Berliner Kunstakademiker. Ein glänzender Festzug bewegte sich am 9. Mai durch die Straßen Berlins nach Treptow zur Ausstellung. Er war ein Glied in der Kette der Festlichkeiten, mit welchen die Berliner Akademie der Künste das 200jährige Jubiläum ihrer Gründung verherrlichte. Die Gestalten und Gruppen des Zuges, der durch einen Blumenkorso und eine lange Reihe von Galakutschen eröffnet wurde, führten dem Beschauer die verschiedenen Kunstzweige vor und versetzten ihn zugleich in die Zeiten des Kurfürsten Friedrich III., des Gründers der Akademie. Unsre obenstehende Illustration giebt einige der schönsten allegorischen Gruppen wieder. Links sehen wir die Bildhauerei, in der Mitte thront auf einem Prunkwagen die Malerei, von den Farben umgeben, während rechts der meisterhaft arrangierte Wagen der Architektur veranschaulicht wird. Tiefer unten auf unserem Bilde haben einige charakteristische Gestalten aus der Kurfürstenzeit Platz gefunden. „Alt-Berlin“ auf dem Ausstellungsplatze in Treptow bildete das Ziel des Zuges, dort beschloß ein Künstlerfest den Erinnerungstag.*     

Neue Vorlagen zum Porzellanmalen von A. Göppinger (München, Bassermann). Wir haben die früheren Hefte dieser von sachkundiger Hand zusammengestellten echten Rokokomuster seiner Zeit besprochen und geben gerne unsern Liebhaberkünstlern die Nachricht, daß eine „neue Folge" von höchst brauchbaren Vorlagen nach Meißner Geschirr in vortrefflichem Farbendruck nunmehr erschienen ist. Die beliebten bunten Streublumen und Sträußchen wechseln mit ganz originellen Drachen- und Vogelornamenten, wie sie die Zopfzeit als Nachahmung japanischer und chinesischer Kunst zu gestalten liebte, ab, dann finden sich wieder Landschäftchen und Figurenbilder in dem schönen braunlila Ton der alten Theeservice. Sehr feine Randmuster in Gold geben die Möglichkeit, an den heute überall käuflichen echten Geschirrformen die alte Malerei völlig täuschend darzustellen und sich somit den häuslichen Tisch aufs schönste zu schmücken.

Ein ausführlicher Text unterrichtet die Ungeübten in den notwendigen technischen Handgriffen, sowie im Mischen der Farben, welche bekanntlich durch das Brennen den Ton ändern. Auch Konturtafeln liegen bei, auf denen die Anordnung der Muster für Teller und Platten deutlich zu sehen ist. Möge diese „neue Folge" ebenso lebhaften Anklang finden wie die früheren Hefte dieses gleich schönen wie praktisch brauchbaren und nicht teuern Werkes! Bn.     

Ein trockenes Jahr. Der Schneemangel des vergangenen Winters hat in den Vereinigten Staaten im Frühjahr verhängnisvolle Unterbrechungen in dem Quellzufluß der meisten Ströme nach sich gezogen. In Kentucky waren viele Flußbetten völlig trocken gelegt, ihr Schlamm wurde verhärtet, vom Winde zerkleinert und füllte dann die Thäler in Gestalt von Staubwolken. Der Ohio ist bei Uniontown so tief gesunken, daß ein altes, unter dem Flußbette liegendes Kohlenlager in Angriff genommen worden ist. An vielen Stellen des Ohio, Mississippi und anderer Ströme war das Wasser so flach, daß viele alte Wracks zum Vorschein kamen und die Uferbewohner große gesunkene Frachtmengen daraus bergen konnten. Bei Milton, Kentucky, ist eine große Sandbank bloßgelegt, auf welcher der Schiffbruch vieler Kohlenkähne vor Jahren ein wahres unterseeisches Kohlenlager geschaffen hat. Jetzt pflügen die Leute die Steinkohle in Massen aus dem trockenen Sande heraus. Aehnliche Erscheinungen haben im letzten Frühjahr fast im ganzen Nordwesten, Süden und Osten der Union von sich reden gemacht. Bw.     


Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (2. Fortsetzung). S. 429. – Adolf Bastian. Zu seinem 70. Geburtstag. S. 435. Mit Bildnis. S. 429. – Sehenswürdigkeiten der Ausstellungen 1896. S. 436. Mit Abbildungen S. 432 und 433, 436, 437, 438, 439, 440, 441 und 442. – Der Roman einer Königin. Historische Novelle von Emil Peschkau (Schluß). S. 442. – Hol über! Gedicht von Max Haushofer. Mit Bild. S. 445. – Blätter und Blüten: Thüringer Bären. S. 447. – Aus dem Jubiläumsfestzug der Berliner Kunstakademiker. Mit Abbildung. S. 448. – Neue Vorlagen zum Porzellanmalen. S. 448. – Ein trockenes Jahr. S. 448.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No. 26. 1896.


Jules Simon †. In dem hohen Alter von 82 Jahren ist am 8. Juni in Paris einer der hervorragendsten Staatsmänner Frankreichs gestorben – Jules Simon, der durch den humanen Geist seines sozialpolitischen Wirkens sich auch in Deutschland viele Sympathien erwarb, die auch zum Ausdruck gelangten, als er Frankreich auf der im Jahre 1890 vom Kaiser Wilhelm II. einberufenen Arbeiterschutzkonferenz in Berlin vertrat. Er war am 31. Dezember 1814 in Lorient geboren und hieß eigentlich Jules François Simon Suisse. Seine Eltern waren arm, und so mußte er von der frühesten Jugend an mit Not und Elend kämpfen, hungernd und frierend seine Studien vollenden; aber er arbeitete sich durch und gewann frühzeitig durch Einfluß seines Lehrers Cousin die philosophische Professur an der Sorbonne. Als Napoleon am 2. Dezember 1851 seinen Staatsstreich in Scene setzte, verweigerte ihm Jules Simon den Huldigungseid und verlor infolgedessen seine Stelle. Ueber den daraus sich ergebenden Kämpfen ward er zum politischen Schriftsteller und als solcher einer der ersten, welche die soziale Frage in ihrer sittlichen Bedeutung erfaßten. 1869 wurde er in den Gesetzgebenden Körper gewählt. Als Redner ein glänzender Stilist, zeichnete er sich auch durch Klarheit und Sachlichkeit aus. Treu den liberalen Anschauungen, von wärmsten Sympathien für die Notlage der arbeitenden Klassen beseelt, war er einer der Führer der demokratischen Opposition im zweiten Kaiserreiche. Er gehörte auch zu denjenigen Franzosen, die sich im Jahre 1870 gegen den Krieg mit Deutschland erklärten. Nach dem Sturz des Kaiserreiches war er aber ein eifriges Mitglied der Regierung der nationalen Verteidigung. Unter Thiers war er Minister des öffentlichen Unterrichts und wurde am 16. Dezember 1875 zum lebenslänglichen Senator gewählt. Im Jahre 1876 wirkte er als Präsident eines neuen Kabinetts, in dem er auch das Ministerium des Innern übernahm; sah sich aber bald zum Rücktritt genötigt. Seine maßvolle Denk- und Empfindungsweise gab ihm im politischen Leben der dritten Republik eine ziemlich vereinsamte Stellung, aber die Achtung, die er genoß, war eine allgemeine.

Jules Simon †.

Abreise von Schutztruppen für Deutsch-Südwestafrika. Neuerdings ist wieder ein Verstärkungskommando für die deutsche Schutztruppe in Südwestafrika von Deutschland abgegangen, das aus 15 Offizieren, 2 Aerzten und 402 Soldaten, einschließlich Lazarettgehilfen, besteht. Am 31. Mai schiffte sich das Kommando am Bord des Afrikadampfers „Adolf Woermann“ in Hamburg ein, um die vier Wochen dauernde Fahrt nach dem neuen Bestimmungsorte anzutreten. In den kurzen Stunden vor der Abreise entwickelte sich auf Deck noch ein fröhliches, ungezwungenes Treiben. Eine Anzahl höherer Offiziere, Herren und Damen aus den kolonialfreundlichen Kreisen Hamburgs, hatten sich eingefunden, um von den Männern Abschied zu nehmen, die als Freiwillige zum Schutz deutscher Interessen in die weite Welt hinauswollten. Dann löste „Adolf Woermann“ seine Vertäuungen und stromabwärts ging es unter den Klängen des Volksliedes: „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus.“ Eine zahlreiche Menschenmenge bot den Soldaten am Ufer einen lauten Abschiedsgruß.

Unsere Hauptabbildung führt uns eine Gruppe des Kommandos auf dem Dampfer vor Augen. Die Mannschaften tragen graue Uniform mit blauen Aufschlägen und Gardelitzen. Die Unteroffiziere haben silberne Chargeabzeichen, die Offiziere silberne Litzen. Die Soldaten trugen noch Mützen. Diese werden später gegen die weichen Tropenfilzhüte vertauscht, die an einer Seite aufgeklappt und mit der deutschen Kokarde versehen sind. Von den kleineren Abbildungen zeigt uns die eine einen Soldaten, die andere einen Offizier der Schutztruppe.

Für drei Jahre haben sich die Mannschaften des Kommandos verpflichtet, der deutschen Sache in Afrika zu dienen, deutsche Ansiedler vor den etwaigen Uebergriffen der unruhigen Eingeborenen, der Herero und Hottentotten, zu schützen.

Soldat. Offizier.
Einschiffung von Schutztruppen für Deutsch-Südwestafrika im Hafen von Hamburg.
Nach einer Photographie im Verlag von Otto Meißner in Hamburg.

[448 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]