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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 25.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (1. Fortsetzung.)

Während Mathes und Vroni an ihren Pfählen emsig weiter arbeiteten, ließ Michel für eine Weile die Säge sinken und begann mit Purtscheller wieder von der Gefahr zu reden, die seinem Haus von der Höhe und aus der Tiefe drohte. Dann ging Purtscheller zur Hausbank und spähte ins Thal hinunter. „Wahrhaftiger Gott! Vom Kirchturm sieht man kein Blinkerl nimmer!“ Er warf einen besorgten Blick über die weiße Mauer des Hauses, schüttelte ernst den Kopf und machte sich’s auf der Bank gemütlich. Langsam rieb er mit den Händen seine vom Pirschgang müd’ gewordenen Kniee und

Die Entstehung von Beethovens „Mondschein-Sonate“.
Nach dem Gemälde von L. Vogel.

[410] schaute prüfend nach allen Seiten, bis seine Augen an Vroni haften blieben. Je länger er sie betrachtete, desto wärmer schien sein Wohlgefallen an ihrer schmucken Gestalt zu werden. Er spitzte die Lippen, wiegte den Kopf zwischen den Schultern und sagte: „Sapperlott, Michel! Dein Madl! … Alle Achtung!“

Vroni überhörte das Lob, und der Simmerauer nickte hinter dem Sägebock: „Ja! Gelt?“

„Und Ihr lieb’s Frauerl, Herr Purtscheller?“ fragte Mutter Katherl, die den Milchkrug in den Hausflur gestellt hatte. „Wie geht’s denn?“

„Dank’ der Nachfrag’! Den Sommer über hat man z’frieden sein können. Sie hat sich ordentlich wieder ’rausgemacht. Aber so viel still geht s’ allweil umeinander. Da muß ich mich oft drüber ärgern, daß ich’s gar net sagen kann! Ich hab’ halt gern lustige Leut’ um mich. Freilich muß ich mir nachher wieder denken: sie is halt net völlig g’sund. Der Doktor sagt wohl, es fehlt ihr nix. Ein bißl nervios halt, und ein schattig’s G’müt, meint er. Zum Lachen! Schatten! Im Purtschellerhof! Der Doktor is ein Esel und versteht nix! … Ich fürcht’ allweil, sie hat’s ein bißl auf der Brust.“

Mathes taumelte – beim Rammen eines Pfahles hatte er mit der schweren Holzkeule daneben geschlagen und die Wucht des Schwunges riß ihn fast zu Boden.

„Aber! Herr Purtscheller!“ fiel Michel ein und ließ für ein paar Augenblicke die Säge wieder rasten. „Wie können S’ denn an so was denken! Schauen S’, die Frau Karlin’ hat schon als jung’s Madl zu dieselbigen g’hört, die ’s Leben ein bißl ernster fassen …“

„Für was denn?“ murrte Purtscheller. „Mir g’fallt halt einmal ’s Lachen besser! Ich möcht’ eine lustige Frau haben! … Und mir scheint, sie hätt’ allen Grund zum Lustigsein!“

„No ja! Ja! Aber die Menschen sind halt net alle gleich! Den ein’ macht’s Glück lebendig und den andern still! Und gar ein’ groß’ Glück! Denn das muß ich selber sagen: es is ein ganz ein außerg’wöhnlich’s Glück g’wesen, das die Karlin’ g’macht hat.“

Diese Anerkennung schien Purtschellers üble Laune zu besänftigen. „Ja, Michel, da hast’ recht! Ein blutarm’s Madl ohne Familli … und über Nacht die Frau im Purtschellerhof! So was kommt net oft vor! Da hätt’ sich mancher andere b’sonnen an meiner Stell’! Aber sie hat mir halt g’fallen! Ich bin halt verliebt g’wesen! Und wenn ich einmal will, so will ich! Und wenn ich einmal will, so g’schieht’s auch!“

Dieses große Wort machte den Simmerauer schweigsam, und Mutter Katherl betrachtete den willensstarken Purtscheller mit scheuen Augen und dachte sich im stillen: wenn er nur „wollen“ möchte, daß der laufende Berg wieder zum Stehen käm’.

Während dieses Schweigens flog ein Holzsplitter surrend bis zur Hausbank Mathes hatte die eichene Keule mit solcher Wucht auf den Pfahl geschmettert, daß das Ende der dicken Stange zu einem fransigen Besen auseinandergefahren war.

Mutter Katherl löste den Splitter von Purtschellers Sammetjacke und fragte: „Aber ’s Büberl is doch wohlauf?“

„Da könnt’s auch besser ausschauen! Das Bürscherl is ein bißl gar z’ fein geraten! Mein’ Buben … den hab’ ich mir anders ’denkt! Aber freilich, d’ Mutter is schon allweil so ein schwach’s Krisperl g’wesen!“

Da ließ Mathes den Schlägel sinken, wandte das Gesicht über die Schulter und musterte Purtscheller mit funkelndem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. Es schien, als läge ihm ein Wort auf den Lippen, und kein freundliches – aber Vroni trat dazwischen. Sie hatte scheinbar des ganzen Gesprächs nicht geachtet, sich nur um ihre Arbeit gekümmert; dennoch war ihr die Bewegung des Bruders nicht entgangen, und da unterbrach sie die Arbeit, kam hastig auf ihn zugeschritten und lehnte ihm den noch unfertigen Pfahl in den Arm; sein erregtes Gesicht mit mahnendem Blick überhuschend, sagte sie leis: „Thu’ lieber schaffen, Mathes!“

Er nickte, faßte mit beiden Händen den Pfahl und stieß ihn in die Erde. Dann hob er den Schlägel wieder, und Vroni watete zum Hackstock zurück.

Purtscheller saß mit gekreuzten Armen an die sonnige Mauer gelehnt, hielt die Beine gestreckt und betrachtete die Arbeit, die er um sich her geleistet sah. Ueberall ragten die Stümpfe eingerammter Pfähle aus dem Schlamme hervor, und zur Hälfte waren sie schon durch quer aufgesetzte Balken zu einem festen Rost miteinander verbunden.

„Ein guter Einfall!“ sagte Purtscheller mit der Miene eines Sachverständigen. „Wer hat Dir denn das g’raten, Michel?“

„Mein, wer sonst als mein’ Sorg und Kümmernis!“ erwiderte der Alte. „So ein Fachwerk, das den ganzen Platz ums Haus ’rum einfaßt, hab’ ich mir ’denkt, könnt’ doch den Boden ein bißl z’sammenhalten, daß er net überall auseinanderschlupft wie auf die Wiesen droben!“ Er atmete schwer und salbte mit einer Speckschwarte die heiß gewordene Säge. „Vor acht Tag’ schon hab’ ich’s ang’fangt! Aber wär’ mein Mathes net heim ’kommen … wer weiß, ob ich’s fertig ’bracht hätt’! Der Bub’ hat in einer Nacht und heut’ in der Früh mehr vom Fleck ’bracht als ich in der ganzen Woch’.“

„Ja ja, das glaub’ ich!“ Und mit prüfendem Blick sah Purtscheller dem Mathes eine Weile bei der Arbeit zu. „Der schafft ja für drei! So hab’ ich ein’ Menschen meiner Lebtag noch net arbeiten sehen! Herrgott! So ein’ könnt’ ich brauchen im Purtschellerhof! Der möcht’ mir mein’ Sach’ schön sauber in der Ordnung halten, derweil ich meine anderen Verpflichtungen nachgeh’n muß! Die Haderlumpen, meine Knecht’, betrügen mich ja hint’ und vorn! Aber auf ein’, wie der Mathes is, auf so ein könnt’ ich mich verlassen! So ein’ möcht’ ich haben! Meiner Seel’!“ Und da beim Purtscheller, wie er selbst gesagt hatte, jeder Wunsch und Wille auch schon die That war, fragte er gleich: „Was meinst, Mathes? Ich nimm Dich auf der Stell’! Hätt’st net Lust?“

„Mich braucht der Vater!“ antwortete der Bursche ruhig, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

Michel, der bei Purtschellers Frage erschrocken war, atmete erleichtert auf.

„No ja, der Vater! Jetzt!“ Purtscheller kam in Eifer. „Aber der unsinnige Berg da wird doch wieder einmal ein’ Fried’ geben! Und wenn der Winter einfallt, is eh die ärgste G’fahr überstanden. Und da bist wieder frei … .“

„Für den Fall weiß ich mir ein’ Platz …. wie die letzten Jahr’ her …. weit von daheim!“

„Ein’ Platz! Ja! Aber kein’ solchen wie im Purtschellerhof! Dreihundert Mark im Jahr, alles frei, zweimal im Jahr ein neu’s G’wand, und ein Weihnächten, wie’s im ganzen Land kein Graf net giebt! Was meinst?“

Der Simmerauer wurde wieder unruhig, und auch Vroni blickte auf den Bruder, als wäre sie in Sorge, daß dieses Angebot ihn bereden könnte.

Da hallte ein klingender Jauchzer über die Wiesen herunter und undeutlich verstand man, daß dort oben einer mit gezogenen Lauten den Namen Purtscheller schrie.

Alle blickten hinauf, und über der Höhe eines Wiesengrates gewahrten sie einen Menschen, dessen Figürchen sich schwarz vom leuchtenden Himmel abhob. Er fuchtelte mit beiden Armen und schrie wie ein Verrückter.

„Was kann denn das für einer sein?“ fragte Purtscheller und holte das Fernrohr aus dem Rucksack hervor.

Aber Vroni hatte den dort oben schon erkannt. „Der Daxen-Schorschl!“ sagte sie und nahm die Arbeit wieder auf. Mit diesem Namen schien die Sache, welche die anderen noch in Erregung hielt, für sie bereits erledigt zu sein. Doch ihre roten Lippen waren unwillig aufgeworfen, eine Furche stand zwischen ihren Brauen und gar finster blickten ihre braunen Augen. Freilich, wenn sie noch immer an den dort oben dachte, dann war ihr diese halb grollende, halb verächtliche Miene nicht zu verdenken.

Selbst die Freunde des Daxen-Schorschl wußten nicht sonderlich viel Rühmenswertes von ihm zu erzählen – höchstens, daß er eine gute Haut und ein anhänglicher Kerl wäre, dazu ein stramm gewachsener Bursch mit blitzenden Schwarzaugen im Gesicht, aus dem der gezwirbelte Schnurrbart hervorstach gleich einem Paar zu Schutz und Trutz gefällter Lanzenspitzen. Sonst aber schien es beim Daxen-Schorschl mit guten Eigenschaften gar schlimm bestellt. Sein Kardinalfehler, aus welchem all die anderen bösen Dinge hervorwuchsen wie die Schwämme aus einem moderigen Flecklein Erde, war ein grenzenloser Leichtsinn, der dem Faß schon mehr als einmal den Boden ausgeschlagen hatte. Wenn ihn der moralische Katzenjammer anfiel – was übrigens sehr selten geschah – pflegte er mit einem Seufzer zu sagen: „Ich hab’ halt Vater und Mutter [411] z’früh verloren, hätt’ halt noch ein paar Jahr’ lang zu jeder Morgensuppen eine g’sunde Tracht Prügel ’braucht …. vielleicht hätt’s was g’holfen!“ Vielleicht – er selbst war nicht sicher in diesem Glauben.

Aber er hatte doch eigentlich die Prügeljahre schon längst hinter sich, als seine Eltern starben und ihm in bester Lage des Dorfes ein hübsches Haus und die einträgliche Schmiede vererbten. Da war er ein neunzehnjähriger Bursch gewesen, gerade reif für den blauen Rock. Während der Soldatenjahre hielt ihm ein alter Vetter das Geschäft in leidlicher Ordnung, und als Schorschl mit einem großen Schnurrbart aus der Stadt heimkehrte, hatte es ein paar Wochen lang den Anschein, als ob in der Schmiede ein neues, lustiges Arbeitsleben begänne. Nur eins gab den Leuten gleich zu reden: daß Schorschl die beiden Kühe verkaufte und den Stall leer stehen ließ. Seine lachende Verantwortung lautete: „Erstens muß ich meine Schulden in der Stadt drin zahlen … und zweitens, was brauch’ denn ich so eine feine Milli z’trinken? Ich bin mit Bier und Tiroler z’frieden!“

Doch dieses „Schlauderwörtl“ verziehen ihm die Leute wieder, als sie ihn in seiner Schmiede so wuchtig drauflos hämmern hörten, daß es übers ganze Dorf hinausklang, hell wie Glockenschlag. Nur hatte diese erste Arbeitswut nicht lange Dauer. „In der Stadt kriegt man so feine Händ’,“ meinte Schorschl, „da wird einem ’s Arbeiten hart!“ Bald machte er untertags ein „Plauscherl“ beim Nachbar, bald wieder ein „Sprüngerl“ ins Wirtshaus, dann wieder mußte er sich auf den Bergen „auslaufen“. Das geschah immer häufiger, immer seltener traf man den Schorschl in der Schmiede, und schließlich überließ er das ganze Geschäft dem Gesellen und ging seinen wechselnden Launen nach. Er war kein Faulpelz, im Gegenteil, bei Tag und Nacht hatte er alle Hände voll zu thun. Er half beim Flößen und Holzziehen, ohne sich bezahlen zu lassen. Wenn einer zu ihm sagte: „Geh, Schorschl, sei so gut und thu’ das g’schwind!“ – so that er es ihm. In kurzer Zeit bildete er sich zu einem Virtuosen auf der C-Trompete aus und spielte „per Rekrazion“ bei allen Hochzeiten und Tanzmusiken mit. Seine Hauptleidenschaft war das Fischen und Krebsen – da war er unerreichter Meister – und den reichen Fang verschenkte er an die Kinder, die in Scharen herbeiliefen, wenn sie den Daxen-Schorschl am Wasser sahen. Das ging zwei Jahre so fort – dann war die Schmiede auf der Gant.

Die Verwandten sprangen ein und halfen; ein paar Monate gab sich Schorschl alle Mühe, seinen Leichtsinn unterzukriegen, und dann ging das alte Schlenderleben wieder an. „Lüftig wie der Daxen-Schorschl!“ das war ein Sprichwort im Dorf geworden. Die paar geduldigen Leute, die ihm trotz allem noch immer die Stange hielten, führten zu seinem Lobe an: der Schorschl bekneipt sich zwar manchmal ganz gehörig, aber er ist doch kein Trinker und läßt die Hände von den Karten und die Mädeln haben Ruh’ vor ihm! Sonst aber konnte man ihm alles nachsagen, was am Leichtsinn hängt. Und zu den brotlosen Künsten, die er all die Jahre her getrieben, hatte sich in der letzen Zeit noch eine neue gesellt. In seinen Adern rollte kein Jägerblut, er hatte kein Verlangen nach der Büchse, aber er liebte es, bei der Jagd zu „gustieren“. Einen besseren Treiber und Steiger als der Schorschl einer war, gab es in den ganzen Bergen nicht. Und sein höchstes Vergnügen war es, „für die Jaager ein gut’s Stückl ausmachen“ – das heißt, den Standort eines selten starken Wildes auszuforschen. Während drunten im Dorf von Haus zu Haus erzählt wurde, daß die Daxenschmiede schon wieder ins Schwimmen käme und vor der zweiten Gant stünde – rannte Schorschl lachend und seelenvergnügt bei Tag und Nacht auf den höchsten Bergen umher, um für den Purtscheller und seine Jagdgehilfen einen Kronenhirsch oder einen alten Gemsbock auszuspüren.

Und als er jetzt dort oben stand, das Hütlein schwang und jodelte und schrie, kam Purtscheller gleich zu der Vermutung: „G’wiß hat er mir wieder was Gut’s ausg’macht und weiß, daß ich da bin in der Simmerau. Augen hat er ja wie ein Luchs, der Kerl! Is schon möglich, daß er mich g’sehen hat über d’ Wiesen hergehen, derweil er droben g’standen is im G’wänd!“ Purtscheller höhlte die Hände um den Mund und rief gegen die Höhe: „Huuup!“ Dann lachte er. „Hat mich schon g’hört!“

Die Gestalt des Daxen-Schorschl glitt über den steilen Wiesengrat herunter, so hurtig, wie eine ins Rollen geratene braune Scholle. Er wuchs mit jeder Sekunde und man konnte schon gewahren, wie er bei diesem sinnlosen Lauf mit weiten Griffen den Bergstock einsetzte. Sprünge machte er, daß Mutter Katherl ein um das andere Mal erschrocken stotterte: „Jesses, jetzt wirft’s ihn!“

„Thu’ Dich net sorgen, Mutterl,“ brummte Vroni. „Unkraut verdirbt net!“ Dabei bearbeitete sie den Pfahl, den sie gerade auf den Hackstock hielt, so unmutig mit dem blitzenden Beil, als trüge das arme Holz die Schuld, daß dieses Unkraut gewachsen. Ein paarmal schlug sie aber doch daneben – wenn sie so ein ganz klein wenig von der Seite hinauf schielte gegen die Wiesen.

Schorschl war schon so nahe gekommen, daß man deutlich den plumpsenden Aufsprung seiner Füße hören konnte.

„Um Gotteswillen!“ stammelte Michel in seiner ruhelosen Sorge. „Der macht mir am End’ mit seiner Springerei den Berg noch roglig!“

Und Mutter Katherl schrie im gleichen Augenblick: „Mar’ und Josef! Jetzt hat’s ihn g’worfen!“

Schorschl war in einer grauen Staubwolke verschwunden – ein Stück Wiese mußte unter seinen Füßen niedergebrochen sein.

„Hab’ ich’s net g’sagt?“ jammerte der Simmerauer, ließ die Säge fahren und sprang auf das Haus zu, als hätten ihn die Mauern schon zu Hilfe gerufen. Auch Mathes warf erschrocken den Schlägel beiseite, und auf dem Hackstock verstummten plötzlich die Beilhiebe. Nur Purtscheller lachte, daß ihm der Atem fast verging.

Hatte der Schutt den Daxen-Schorschl begraben? Aber nein! Gleich einer wirbelnden Scheibe flog ein Hut aus dem sinkenden Staub heraus, man sah den Bergstock ein paar Räder schlagen und hinter diesen beiden Vorboten kam Schorschl nachgerollt und kollerte unter fruchtlosen Versuchen, auf dem glatten Grasboden einen Halt zu finden, mit wachsender Eile über den steilen Hang herunter.

Da verging auch dem Purtscheller das Lachen – denn die Sache mußte übel ausfallen. Doch während er und die anderen sich noch im ersten Schreck besannen, war Vroni schon über den Saum der vom Erdrutsch gebildeten Böschung emporgerannt und breitete die Arme gerade in dem Augenblick, in dem dieser rollende Klumpen Mensch in das Gezweig der Aepfelbäume niederzustürzen drohte. Sie wankte unter der Wucht, mit welcher Schorschl gegen ihren Körper schlug – doch sie hielt sich auf den Füßen.

Ein langer Silberfaden kam glitzernd durch die Luft geschwommen, haftete an der Schulter des Mädchens und legte sich gaukelnd mit einer zarten Schlinge um den Kopf des Burschen.

Seine Arme hatten Vronis Hüften umklammert, und mit dem vom Sturz verwüsteten Gesicht zu ihr aufblickend, stammelte er, halb noch ohne Atem: „Sakra! Sakra, Madl! An Dir kann man sich aber anhalten!“

Ohne ein Wort zu finden, das Gesicht von Zornröte übergossen, riß sich Vroni von ihm los – der silberne Faden dehnte und dehnte sich, als wollte er die beiden nicht mehr aus seiner schimmernden Schlinge lassen.

Langsam hob sich Schorschl auf die Füße. „Sakra! Sakra!“ Und mit großen Augen blickte er dem Mädchen nach. Er hatte sie doch in den vergangenen Jahren zu hundert Malen gesehen, und dennoch machte er Augen, als sähe er Vroni zum erstenmal. Aber da verging ihm das Schauen – er mußte die Lider schließen, denn vom Sande begannen ihm die Augen zu brennen. So stand er eine Weile und zupfte die Erdkrumen aus seinen Wimpern.

Vroni schwang schon wieder das Beil vor dem Hackstock, und auch Mathes griff nach dem Schlägel, während der Simmerauer scheltend zu seiner Säge zurückkehrte. Mutter Katherl dankte mit zitterndem Stimmlein allen Heiligen des Himmels, daß sie den Hals und die Glieder des Daxen-Schorschl so gnädig behütet hatten und Purtscheller lachte schon wieder, daß ihm das Wasser in die Augen sprang.

Beim Klang dieses Gelächters unterbrach Schorschl sein Zupfen und Reiben. Er lachte mit, und da ihm der Umweg um den Saum der Böschung zu weit war, sprang er über den Verhau herunter, daß vom durchweichten Grund der Schlamm über ihn emporspritzte. „Herrgott! Da giebt’s aber Soßß!“ Sonst hatte er kein Wort, keinen Blick und keinen Gedanken für die Zerstörung, welche rings um das kleine Haus her ihre schleichenden Wege ging. Vor allem mußte er die Nachricht los werden, die er brachte: „Herr Purtscheller! Den starken Hirsch hab’ ich ausg’macht!“ Nun erst verschnaufte er sich.

[412] „Richtig! Ich hab’ mir’s aber gleich ’denkt! Bist ein Mordskerl!“ Purtscheller begleitete dieses Lob mit einem Faustschlag auf Schorschls Rücken. „Wo hast ihn denn g’funden?“

„Droben im Seekar liegt er in die Latschen drin. Wenn S’ mit raufsteigen, den Hirsch treib’ ich Ihnen hin am Stand, nix Schöners giebt’s gar net!“

„Jetzt gleich auf der Stell’?“ Purtscheller besann sich und rückte ärgerlich das Hütchen. „Eigentlich sollt’ ich heim, ein bißl nachschauen, was meine Leut’ auf die Felder machen!“

„Und den Hirsch wollen S’ auslassen! Jetzt, wo er sicher is? Kommen S’ mit, sag’ ich! Der Hirsch is g’schossen bis auf ’n Abend! Da verwett’ ich mein’ Kopf drauf!“

Beim Hackstock verstummten die Beilhiebe. „Wenn Du schon so einer bist,“ rief Vroni nicht sonderlich freundlich über die Schulter, „so halt’ doch wenigstens die andern Leut’ net von der Arbeit ab!“

„Arbeit? No ja!“ sagte Purtscheller beschwichtigend. „Den Hirsch kann ich doch auch net verschenken! So ein Hirsch gilt seine hundert Mark, ’s G’weih gar net g’rechnet. Na, na, da muß ich schon ’nauf!“ Er griff nach Büchse und Bergstock. „Komm, Schorschl!“

„Gleich komm ich. Steigen S’ nur derweil voraus! Ich muß mich ein bißl sauber machen … sonst könnt’ der Hirsch ’s Grausen kriegen, wann er mich sieht!“

Purtscheller lachte, rief dem Simmerauer und der Bäuerin einen freundlichen Gruß zu, warf noch einen musternden Blick des Wohlgefallens auf Vroni und stieg gemächlich über die Böschung hinauf.

Zwei heiß brennende Augen folgten ihm – und als Purtscheller in einer Senkung der Wiese verschwand, atmete Mathes tief auf und hob den Schlägel wieder.

Schorschl wollte zum Brunnen; dabei mußte er am Hackstock vorüber. Ein wenig verlegen blieb er stehen und sagte lachend: „Wärst Du net g’wesen, da könnt’ ich jetzt ein paar g’sunde Löcher im Kopf haben! Ein’ festen Sprung hast g’macht um meinetwegen! Muß Dir doch ein Vergeltsgott sagen!“

Vroni übersah die Hand, welche Schorschl ihr bot, und ließ sich in der Arbeit nicht stören. „Ein Vergeltsgott? Mir? … Das braucht’s net!“

Der trockene Ton schien den Daxen-Schorschl zu belustigen. „So sag’ halt noch dazu: ‚’s is gern g’schehen‘!“

„Gern? … Na!“

„Ui Jegerl! Am End reut’s Dich gar, daß D’ mich den Hals net hast brechen lassen?“

Vroni schwieg, und über den Pfahl weg, auf den sie loshackte, streifte sie den Burschen mit einem finsteren Blick. Freilich, der Daxen-Schorschl bot auch in der Verfassung, in welcher er nach seiner Rutschpartie beim Häuschen des Simmerauer angelangt war, durchaus kein Bild, das einem Mädchenauge sonderlich gefallen konnte: das Gewand beschmutzt, so daß die Farbe kaum mehr kenntlich war, die nackten Knie, Gesicht und Hände grau von Staub, braune Erde im Haar und am zerzausten Schnurrbart; rote Tropfen sickerten von der zerschundenen Wange und all seine Fingernägel waren blutig.

Aber er lachte. „Sakra, Madl! Ein paar Augen kannst machen … net schlecht!“ Und nach einer stummen Weile fügte er etwas kleinlaut bei: „Gar viel Gut’s, mein’ ich, mußt Dir net denken von mir?“

„Da kannst recht haben!“

„Jetzt machst mich aber neugierig! So sag’s halt … was denkst Dir denn von mir?“

„Das is g’schwind g’sagt!“ Vroni ließ das Beil sinken und mit festem Blick richteten sich ihre blitzenden Augen auf den Burschen. „Schorschl! Du bist ein Lump!“

In der ersten Verblüffung machte der Daxen-Schorschl ein furchtbar dummes Gesicht. Dann stieg ihm dunkle Röte in den Kopf … man sah es, obwohl ihm der graue Staub auf Stirn und Wangen lag. Merkwürdig, daß dieses kurze Wort den „lüftigen“ Schorschl so erregen konnte! Er hatte dieses Wörtlein doch schon häufig genug zu hören bekommen, um sich an seinen Klang zu gewöhnen. Aber die anderen, drunten im Dorf, die hatten es immer lachend gesagt: „Na, Schorschl, bist Du ein Lump!“ … und immer hatte er mitgelacht. Jetzt zum erstenmal hatte er dieses Wort auf eine neue Art gehört, ernst, von einer bebenden Stimme gesprochen! Und von so roten Lippen! Er suchte nach einer Antwort. Aber da sagte Vroni: „Geh zum Brunnen und wasch’ Dich! Steht Dir ja ’s Blut im G’sicht und auf die Händ’! Mach’ weiter!“ Ruhig wandte sie ihm den Rücken und schwang das Beil.

Schorschl stand noch eine Weile und betrachtete ratlos seine übel zugerichteten Hände; dann verzog er die Lippen wie ein gescholtenes Kind, das nicht zu mucksen wagt, ging auf den Brunnen zu, wobei er bedächtig die aus dem Schlamm hervorstehenden Balken und Steine benutzte, und schöpfte Wasser aus dem Trog.

Der Hammerhafen auf Bo[rnho]lm bei stürmischer See.
Nach einer Originalzeichn[ung von] Hans Bohrdt.

[413] Während er sich wusch, unter Prusten und Plätschern, kam einer der Gemeinderäte, welche die Kommission begleitet hatten, bergabwärts am Haus vorüber. Als der Simmerauer ihn erblickte, fuhr ihm die jähe Erregung so in die Hände, daß er die Säge verbog. „Leitner! He! Leitner!“ rief er mit halberstickter Stimme den Bauern an, humpelte auf ihn zu und faßte ihn am Joppenzipfel. „Seids denn schon fertig droben? Wo gehst denn hin?“

„Nunter ins Ort muß ich, ’s Mittagsessen b’stellen für die Kammissoni.“

Mutter Katherl trippelte auf einem Balken durch den Schlamm, Vroni verließ den Hackstock, das Beil in der Hand, und Mathes kam, mit dem Schlägel auf der Schulter. So standen sie alle viere um den Bauern her und hingen mit scheuen Augen an seinen Lippen.

„Und …“ Michel brachte die Frage kaum heraus, „was sagen s’ denn … die studierten Herrn?“

Der Bauer machte ein ernstes Gesicht und zuckte die Schultern. „Sagen? Was sollen s’ denn sagen? Helfen können s’ doch net! Und daß wir jetzt wissen, wie ’s Unglück ’kommen is, das macht uns auch net g’scheiter!“ Er fuhr sich mit der Hand über Mund und Nase und winkte gegen die Felswand hinauf. „Wie im Sommer da droben im Seekar der Almsee plötzlich ausg’laufen is, ohne daß man g’sehen hat, wo ’s Wasser hinkommt … das wär’ der Anfang g’wesen, sagen s’, die Herrn, ’s Wasser hätt’ ein’ unterirdischen Durchgang g’funden, und wie der Weg einmal offen war in die Darm’ vom Berg ’nein, is dem Seewasser auch ’s ganze Regen- und Schneewasser die Zeit her nachg’ronnen. Und der ganze Berghang thät’ auf schiefem Letten[1] liegen, sagen s’. Den wascht ’s versunkene Wasser schön langsam aus, und natürlich, wenn das Luderwasser unten drin ein recht ein grausigs Loch ausg’schwemmt hat, so muß der obere Boden nachsinken. Verstehst?“

„Ja, ja!“ Mit zitternden Händen strich sich der Simmerauer das weiße Haar in die Schläfe, während sein Weib und seine Kinder schweigend lauschten. „Ja, ja! … Natürlich! … Der Boden muß nachsinken … wenn unt’ drin ein Loch is!“

„So sagen s’, die Herrn! Aber wer weiß, ob s’ recht haben? Neinschauen in’Boden können s’doch net!“

Eine Weile standen sie alle schweigend. Dann fragte Michel zögernd: „Und sonst sagen s’ gar nix, die Herrn?“

„Na! Nix!“

„Gar nix, wie z’ helfen wär’?“

„Na! Nix! Drunten im Thal sollt’ man halt dem Wasser den Auslauf net verwehren. Sonst könnt’ man gar nix machen! Eh’ net der ganze Letten unten drin schön sauber ausg’schwabt is und die Löcher wieder ausg’füllt sind mit feste Steiner, eh’ hört der Berg ’s Laufen net auf und giebt kein’ Fried’ net. Oder es müßt ’s untrische Wasser wieder in d’ Höh’ steigen an’s Licht! Verstehst?“

„Ja, ja!“ Der Simmerauer wollte an seinem Hemd den Halskragen schließen und nestelte immerzu, ohne zu merken, daß der Knopf abgerissen war. „’s Wasser! Freilich … ’s Wasser müßt’ wieder in d’ Höh’! Da thät’ er ein’ Fried geben, der Berg … wann ’s Wasser wieder ans Licht käm’!“ Er blickte langsam umher, als müßte er schon irgendwo in einem versteckten Winkelchen das steigende Wasser sprudeln sehen. „Und … was alles noch ’nunter muß, eh’ ’s Wasser wieder steigen kann … da haben s’ gar nix g’sagt, die Herrn?“

Langsam kam die Antwort. „Ja! … Da haben s’ schon ein bißl was g’sagt! Der ganze Purtschellerwald, meinen s’, müßt’ noch ’nunter! Und ’s Häusl vom Gaßner, der grad’ ausräumt! Und die ganzen Wiesen zwischen drin. Und …“ Der Bauer stockte, und vier Menschen hielten in banger Sorge den Atem an. „Es wird mir hart, daß ich Dir’s sagen muß, aber … es is doch allweil besser, man weiß, wie man dran is! Das ganze Gratl da, wo Dein Häusl steht, wird wohl noch ’nunter müssen, haben s’ g’sagt, die Herrn.“

„Nunter? So? Nunter müssen?“ wiederholte der Simmerauer mit erloschenem Ton, während seinem Weibe zwei Thränen über die runzligen Wangen kollerten. Mathes und Vroni sahen sich wortlos an.

„Trag’ mir’s net nach, Michel, daß ich Dir so harte Botschaft hab’ bringen müssen! … Derbarmst mich, ja! … Und b’hüt’ Dich Gott!“

„B’hüt’ Dich Gott!“

Der Bauer ging, kehrte wieder um und legte dem Simmerauer die Hand auf die Schulter. „Laß Dir ein’ guten Rat geben, schau! Räum’ aus, Michel … räum’ aus, solang ’s noch Zeit is! Nimm Vernunft an! Und b’hüt’ Dich Gott!“

Sie waren mit dem Leitner ihrer fünfe beisammen gestanden – doch als der Bauer den Hofraum verlassen hatte, waren es wieder fünf, denn der Daxen-Schorschl war mit langsamen Schritten vom Brunnen gekommen. Er hatte das „Saubermachen“ nicht zu Ende gebracht – die nassen Haare klebten ihm an Stirn und Schläfen, trauernd hing ihm der durchweichte Schnurrbart über den Mund und in dicken Tropfen rann ihm das schlammige Wasser von den Händen nieder. Und sein Gesicht war [414] bleich – nur die Wunde rot, die er sich beim Sturz in die Wange gerissen hatte.

Eine Weile wurde kein Laut gesprochen. Mutter Katherl streifte mit hilflosem Blick den Mathes und die Vroni, dann sahen sie alle drei den Vater an. Gern hätten sie ihm den Rat des Leitner wiederholt: „Räum’ aus, Vater … räum’ aus, so lang ’s noch Zeit is!“ Aber sie hatten nicht das Herz, ihm das zu sagen.

Mathes sprach das erste Wort. „Komm, Vater, schaffen wir wieder! Was die Herrn sagen, ich glaub’s net!“

„Ja! Schaffen wir wieder!“ fiel Vroni ein und ging zum Hackstock zurück.

Michel faßte seinen Buben am Hemdärmel. „Mathes?“

„Was, Vater?“

„Das viele Wasser schau an!“ Der Simmerauer deutete auf die Pfützen in Hof und Garten. „Meinst net, es kommt von unt’ auf?“

„Ja, Vater! Könnt’ schon sein!“ Die Stimme des Burschen klang ruhig; doch in Unruhe glitt sein Blick zum Verhau hinüber, aus dessen Flechtwerk lautlos die dünnen Wasserfäden rieselten.

„Wenn’s von unt’ auf käm’ … so ein Glück!“ Der Simmerauer bückte sich und tauchte die Hand in eine der Pfützen, so ehrfürchtig, als stünde ein Weihwasserkessel vor seinen Füßen. „Also … schaffen wir halt wieder!“ Er trat zum Sägebock und suchte mit zitternden Händen das verkrüppelte Eisenband der Säge zu strecken. Dann plötzlich schlug er die Fäuste vors Gesicht und brach in bitterliches Weinen aus.

Vroni war die erste bei ihm. „Aber Vaterl!“ Sie legte ihm den Arm um die Schulter und stellte sich so, daß der Daxen-Schorschl, der noch immer wie angewurzelt stand und die Sprache verloren zu haben schien, die Thränen des alten Mannes nicht sehen sollte.

„Aber Mann! Jesus Maria! Mein lieber Mann!“ stammelte Mutter Katherl und kam gelaufen.

„Nunter? So? Nunter, sagen s’? Nunter wird’s müssen?“ raunte Michel unter Thränen vor sich hin. „Ein rechtschaffener und friedsamer Mensch bin ich g’wesen mein ganz’ Leben lang! Und so sollt’ er mich auszahlen können … der sell da droben?“ Langsam hob er die nassen Augen zum Himmel auf. „Na, Kinder! Na! So was glaub’ ich net von ihm! So was thut er net! Der halt’ fest … der sell da droben! Aber mithelfen müssen wir! Mithelfen! … Komm her, Alte! Mathes, mein Bub’, komm her! Und Du, mein Madl, mein gut’s! Gebts mir die Händ’ drauf, daß wir unser Häusl halten bis zum letzten Schnaufer! Nur net auslassen, sag’ ich! Schaffen, nur allweil schaffen …“

Da klangen über die Wiesen her in drolliger Disharmonie die hellen Stimmchen der beiden Kinder, die sich zum Heimweg ein Liedlein sangen, das sie von Vroni gelernt hatten:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!
Zwitschert Wald aus und ein,
Wo wird mein Schatzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!“

Dem Simmerauer glitt ein Lächeln über die welken Züge. „Wie s’ lustig sind und miteinander singen! Und die zwei guten Hascherln … ’s einzige, was mir ’blieben is von meiner armen Zenz … die sollten ’s Dach verlieren müssen, unter dem s’ ihr Ruhstatt haben? Du, Mathes, bist ein gewachsener Mensch und weißt Dir ein’ Weg in der Welt. Du, Madl, find’st schon ein’, der Dir gut is und der ein Heimatl hat für Dich! Aber wohin denn mit die armen Wuzerln … wenn unser Häusl ’nunter müßt’? Ah na! So was giebt’s net! … Nur net auslassen! … Kommts, Kinder! Fangen wir wieder an! Und laßts nur um Gott’swillen die armen Hascherln nix merken von unserer Sorg’!“

Der Simmerauer wollte zur Säge greifen, aber da legte sich eine Hand auf seine Schulter – und eine würgende Stimme fragte: „Michel? … Kannst mich net brauchen? … Geh, laß mich mithelfen!“

Der Alte schien seinen Augen nicht zu trauen. „Schorschl! … Du?“

„Schau, ich hab’ ja Zeit! Und verlang’ mir nix dafür! In der Früh komm’ ich, auf’n Abend geh’ ich wieder, und ’s Essen bring’ ich mir mit! Schlag’ ein, Michel … und ich fang gleich an!“

In der ersten Freude, einen Helfer gefunden zu haben, wollte der Simmerauer schon die Hand strecken. Aber Vroni zog ihn zurück. „Na, Vater! Wenn wir allein unser Häusl net halten können … der da hilft’s uns g’wiß net halten. Dem lauft ja ’s eigene Haus davon! Was der anrührt, schwimmt ’nunter in’ Bach! Der hat keine guten Händ’! Bleiben wir lieber allein, Vater!“

„Wenn D’ meinst …“ sagte der Simmerauer kleinlaut und warf einen scheuen Blick von Vroni auf Schorschl. Und Mutter Katherl, die einen bösen Auftritt zu befürchten schien, stotterte: „Aber Madl! Wie kannst denn so was reden!“ Doch ihre Sorge war überflüssig, denn der Daxen-Schorschl blieb völlig ruhig; erst nach einer Weile, als die dunkle Röte, die ihm in die Stirn geschossen, schon wieder abzublassen begann, sagte er: „Vroni! … Jetzt hast mir aber ’nein ’griffen! Tief auch noch! … Daß ich für mich selber nix taug’, hab’ ich lang schon glauben müssen. Aber daß ich auch für andere nix mehr wert bin, hätt’ ich mir doch net ’denkt! … No ja, jetzt weiß ich’s! … B’hüt’ Dich Gott!“

Er strich das nasse Haar zurück, schleuderte die letzten Wassertropfen von den Händen und verließ den Hofraum. Als er die Böschung überstiegen hatte und seinen Hut und Bergstock auflas, begegneten ihm die beiden Kinder, die ihr Liedlein zu Ende sangen:

„Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schätzerl hab’,
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!“

Nach einer Weile, als die Kinder mit Lachen und lustigem Kreischen das kleine Haus erreichten, zog der Simmerauer schon wieder emsig die Säge und Mathes drosch mit dem Schlägel auf einen zitternden Pfahl. Nur Vroni stand unthätig, hielt das Beil in schlaffer Hand – und ihr Blick irrte verloren über den Berghang empor.

Die Stimme des Vaters weckte sie aus ihrem Sinnen: „Vronerl? … Was hast denn?“

„… Nix!“

Sie atmete tief auf, griff nach einer Stange und schwang das Beil, daß die Splitter flogen.


3.

Die kühlen Schatten des Abends waren über das Thal gefallen und es begann zu dämmern. Hoch droben, auf den steilen Felswänden und scharf gezahnten Graten, lag noch ein letzter goldiger Schein des versinkenden Tages, doch in der Tiefe spann sich schon ein bläuliches Zwielicht um das welke Laub der Bäume und um die Dächer, aus deren Essen der Rauch sich langsam hervorkräuselte. Von den Wiesen, die der breite Bach mit seinen vielfach verzweigten Seitenbächen durchrann, kamen dünne Nebel gezogen; ihre Schleier vermischten sich mit dem zerfließenden Rauch der Dächer, umwoben den schlank aufragenden Kirchturm mit grauem Dunst und streiften im Gleiten das hohe Dach des Purtschellerhofes, der, auf einer Anhöhe gelegen, alle Häuser des Dorfes stolz überragte.

Ein stattliches Gebäude! Von der Straße führte eine aus roten Steinen säuberlich gemauerte Treppe durch einen Vorgarten zum Wohnhaus hinauf, dessen lange Front den hinter dem Hause liegenden Wirtschaftshof mit seinen Ställen und Scheunen verdeckte. In früheren Zeiten war der Purtschellerhof das richtige Bauernhaus gewesen, mit niederer Thür und kleinen Fenstern, mit verwitterten Holzgalerien und vorstehendem Balkenwerk. Doch als der Purtscheller-Toni nach seines Vaters Tod die Herrschaft übernommen und die Karlin’ heimgeführt hatte, waren ihm die alten traulichen Stuben nicht mehr luftig, hell und schön genug gewesen, um sein junges Glück zu beherbergen und sich auswachsen zu lassen.

Einen ganzen Sommer lang hatte man gebaut und geändert, hatte das Dach gehoben, alle Zimmer des oberen Stockes geräumiger und höher gemacht, ihnen neue Thüren mit geschnitzten Aufsätzen und große Fenster mit gewölbten Spiegelscheiben gegeben. In den verbreiterten Flur wurde eine schöne Treppe eingebaut, und während Toni mit seiner jungen Frau die neuen „Herrenzimmer“ bezog, wurden im unverändert gebliebenen Erdgeschoß die kleinen Stübchen, in denen Tonis Eltern sich wohl gefühlt hatten, dem Gesinde als Wohnräume überlassen.

Im Erdgeschoß die kleinen Fenster und im oberen Stock die großen – das hatte ein übles Ansehen geboten; als hätte man die Hälften zweier Häuser, eines neuen und eines alten, übereinander geschachtelt. Um diesen Schönheitsfehler des Purtschellerhofes auszugleichen, hatte man auch im Erdgeschoß die kleinen Fenster in große verwandelt, freilich nicht in wirkliche, sondern nur in gemalte. Am Fuß der Mauer hatte man Spalierobst, Kletterrosen und [415] wilde Reben angepflanzt, und all die üppig aufgeschossenen Ranken und Zweige, an denen jetzt die welken Blätter in allen Farben spielten, waren dieser täuschenden Malerei noch zu Hilfe gekommen, so daß es wirklich den Anschein hatte, als wäre am Purtschellerhof kein Fehl und Schaden.

Neben der Hausthür war eine steinerne Bank, überdacht von einem Laubengitter, von dessen Latten die losen Ranken des wilden Weins mit roten Blättern wirr herunterhingen. Hier saß Frau Karlin’, das junge Weib des Purtscheller Toni, und vor ihr, auf dem ebenen Backsteinpflaster, trippelte ihr Knabe umher, ein vierjähriges Kind, bleich und schwächlich. Während das Bübchen still und ohne Freude ein hölzernes Pferdchen hinter sich herschleifte und sein Spielzeug, so oft es auch umkippte, geduldig immer wieder auf die mit Rollen versehenen Füße stellte, hatte die Mutter die Hände mit der Häkelarbeit im Schoß liegen und hielt den Kopf wie in tiefer Ermüdung an die Mauer gelehnt. Sie war städtisch gekleidet, weil es ihr Mann so haben wollte – und die schmächtige, zartgegliederte Gestalt hätte die Herkunft aus dem Bauernhaus gar wohl verleugnen können. Sogar weiße Hände hatte sie bekommen, denn der Purtscheller-Toni fand es unter der Würde seiner Frau, daß sie grobe Arbeit that und in der Wirtschaft mithalf. Sie hatte, wie ihr Mann den Leuten zu erzählen liebte, ein Leben, um das jede Gräfin die Purtschellerin beneiden könnte und dennoch fühlte sie an jedem Abend eine Müdigkeit in allen Gliedern, als hätte sie während des ganzen Tages schwer gearbeitet.

Im vergangenen Winter war sie dreiundzwanzig geworden, aber man nahm sie für älter, für eine dreißigjährige. Wohl hatte ihr schmales Gesichtchen noch ganz jene sanfte, rührende Schönheit, die den Stolz des Purtscheller so klein gemacht hatte, daß er sich die Karlin’ aus der Gesindestube des Pfarrers holte. Und wie eine Krone lagen ihr noch immer die vollen braunen Flechten um die Stirn. Aber ein Zug des Leidens war um ihren stillen Mund gegraben, und eine bange, zehrende Schwermut redete aus ihren Augen …

Auf der Straße ging eine Bäuerin vorüber und rief einen Gruß herauf. Die junge Frau erwachte aus ihrem Sinnen und dankte. Langsam strich sie mit der Hand ein Büschelchen Haare von der Schläfe hinters Ohr – das war so eine Gewohnheit von ihr. Dann nahm sie die Häkelarbeit auf, nestelte in der Dämmerung ein paar Maschen – und wieder lehnte sie den Kopf an die Mauer und atmete tief, als empfände sie die Kühle des Abends wie Erquickung.

Wie still und schön dieser Abend war, mit seinem träumerisch ziehenden Nebel, mit dem verglimmenden Licht auf den Bergen! Aus einer ebenerdigen Stube klangen gedämpft die plaudernden Stimmen der Dienstboten, die beim Abendessen saßen. Das Dorf schon in halber Ruhe; nur manchmal ein paar wechselnde Stimmen auf der Straße oder ein lauter Ruf in den Gärten: irgendwo das Knarren eines Scheunenthores, das geschlossen wurde; zuweilen auch der kurze Anschlag eines Hundes, dem ein zweiter Antwort gab; dazu die verworrenen Töne der Dorfmusik, die im Wirtshaus eine Probe hielt – die Sache hatte keinen rechten Klang, es fehlte im Orchester die führende Stimme der C-Trompete, die der Daxen-Schorschl sonst zu blasen pflegte. Und manchmal, wenn der Abendwind ein wenig stärker zog, verschwammen die Geigen- und Klarinettentöne mit dem dumpfen Rauschen des Wassers, das im tiefen Thal aus dem unterhöhlten Berg hervorströmte.

Karlin’ lauschte diesem fernen Rauschen, und seufzend blickte sie über das Gehänge des laufenden Berges empor.

„Die armen Leut’!“

Zu ihrem Mitgefühl gesellte sich eine schmerzliche Erinnerung. Dort oben stand ja auch das Häuschen, in dem sie ein fröhliches Kind gewesen war, als ihre Eltern noch gelebt hatten – es war das Häuschen, das der Gaßner vor vierzehn Jahren gekauft hatte und das er jetzt räumen mußte.

Zwei Thränen stahlen sich über die blassen Wangen der jungen Frau. Da hörte sie ein Klirren vor ihren Füßen – das Bübchen hatte sein Pferdchen umgeworfen und bückte sich, um es wiederaufzurichten.

„Tonerl?“ fragte die Mutter. „Magst denn net schlafen geh’n? Schau, es wird ja schon finster und bald wird der Sandmann an alle Thüren klopfen. Da müssen die braven Kinder im Betterl sein. Geh, komm schlafen, Herzerl!“

Das Kind schüttelte das Köpfchen. „Vaterl warten!“

Karlin’ seufzte und spähte über die dämmerige Straße hinaus. In der Gesindestube wurden Bänke und Stühle gerückt, Schritte polterten und die Dienstboten begannen mit monotonem Gehaspel den Abendsegen zu beten: „Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft …“

Dann kamen die Knechte heraus, mit den Pfeifen im Munde. Sie zogen den Hut, als sie an Frau Karlin’ vorübergingen. Hinter ihnen kam eine dralle, hübsche Dirne, die sich für den Abendplausch in den Nachbarhäusern schmuck aufgeputzt hatte.

„Guten Abend!“ sagte sie, und dabei zuckte ein merkwürdiges Lächeln um ihre vollen Lippen.

„Guten Abend, Zäzil!“ erwiderte die junge Frau; ihre Stimme klang ruhig, doch eine matte Röte stieg ihr in die Wangen; und sie wandte das Gesicht ab, wie um der Dirne nicht nachsehen zu müssen.

Schlendernden Schrittes ging das Mädchen durch den Garten, pflückte eine der spätblühenden Nelken und steckte sie ans Mieder. Immer lächelte sie noch, und als sie über die rote Treppe hinunterstieg, blickte sie verstohlen über die Schulter nach der Steinbank zurück. Kaum hatte sie die Straße betreten, als mit freundlichem Ton ihre Stimme klang: „Jeh! Du! Seit wann bist denn wieder daheim? Recht schön’ guten Abend!“ Sie hatte den Schritt verhalten, als sollte nun ein lustiges Geplauder beginnen. Doch der Bursche, dem ihr zutraulicher Gruß gegolten hatte, sagte ihr kurzen Dank und ließ sie stehen.

Der Klang dieser Männerstimme machte Frau Karlin’ aufblicken und da sah sie auf der Straße einen vorübergehen, der mit Joppe und blauer Soldatenhose bekleidet war und zwei Aexte mit neuen, weißen Holzstielen auf der Schulter trug; er sah gerade vor sich hin und ging seinen ruhigen Schritt – und Frau Karlin’ erkannte ihn erst, als er schon hinter der Hecke verschwinden wollte.

„Der Mathes!“

Sie sprang auf, warf ihre Häkelarbeit auf die Bank und eilte zur Treppe hinunter.

„Mathes!“ rief sie ihm nach.

Aber er schien sie nicht zu hören, beschleunigte seinen Schritt und bog so hastig in das zum Gehänge des laufenden Berges führende Sträßchen ein, als hätte er dringende Eile, nach Hause zu kommen.

Frau Karlin’ legte die Arme über den steinernen Treppenpfeiler und blickte ihm in Gedanken nach.

Fünf Jahre hatte Karlin’ den Mathes nicht gesehen – seit sie die Frau des Purtscheller-Toni geworden war. Wenige Tage vor ihrer Hochzeit hatte er das Dorf verlassen – weil ihm draußen im Unterland eine gute Stelle angeboten wurde, so hatte Vroni ihr damals gesagt. Und jetzt war er nach so langer Zeit wieder heimgekehrt? Gewiß hatte ihn die Sorge, die seine Eltern um ihr Häuschen trugen, in die Heimat zurückgerufen! Und da war es nicht schön von ihm, meinte Karlin’, daß er so an ihrem Haus vorüberging wie ein Fremder. Er hätte doch für ein paar Minuten zusprechen können, um dem Nachbarskinde von einst und der Schulkameradin ein Grüß Gott zu bieten – um ihr zu sagen, wie es da droben stünde, in der Simmerau! Von den Leuten im Dorfe hörte sie ja so wenig. Vor Wochen, als der Berg über Nacht das Laufen angefangen hatte, war freilich im Dorf ein großer Lärm gewesen. Doch schon nach wenigen Tagen, als die Dorfbauern merkten, daß die Bewegung des laufenden Bodens gegen das tiefere Thal zu ging und das Dorf nicht bedrohte, hatte ihre Sorge sich beschwichtigt. Ihre eigenen, teueren Häuser wären ja sicher – nur die billigen Hütten da droben standen in Gefahr. „Lieber Gott, was kann der Mensch viel machen bei so was?“ pflegten die Bauern zu sagen, wenn Frau Karlin’ mit ihnen vom Simmerauer reden wollte, vom Gaßner und von den anderen da droben. „So ein Berg is wie ein unsinnig’s Vieh …. wenn er Hunger hat, will er fressen! Und fragt net, was er frißt! Freilich, so ’was is hart, aber …“ Ein mitleidiges Achselzucken pflegte den weisen Spruch zu schließen.

Die junge Frau stand regungslos, und noch immer blickte sie auf die von Dämmerung umwobenen Büsche, hinter denen Mathes verschwunden war.

„Schau nur, schau, jetzt is der Mathes wieder daheim! Gott sei Dank für den alten Michel! Jetzt kann er ihn brauchen, sein’ Buben! Der hat zwei feste Arm’!“

Sie strich die Härchen von der Schläfe hinters Ohr und atmete auf, als wäre ihr, seit sie den Mathes gesehen hatte, der Gedanke an den armen Simmerauer leichter geworden.

(Fortsetzung folgt.)


[416]

Bornholm.

In Wort und Bild geschildert von Hans Bohrdt.

Wenige Meilen von der deutschen Ostseeküste entfernt liegt die Insel Bornholm, ein Fleckchen Erde voller Schönheit der nordischen Natur. Der Strom der Reisenden ist bisher achtlos an dem Eiland vorbeigezogen. Neuerdings aber haben Maler, welche erfahrungsgemäß schon häufig Pioniere für künftige Badeorte und Touristenplätze gewesen sind, dasselbe gewissermaßen erschlossen, und so dampft alljährlich von Deutschland eine große Zahl Liebhaber nordischer Landschaften nach dem Felsennest, um sich zu überzeugen, daß die Künstler nicht gelogen haben, ja, daß die Natur wie überall, so auch hier, jedes Menschenwerk in Schatten stellt.

Wer nun noch etwas Phantasie und Liebe für Sage und Geschichte zu seinem Reisegepäck zählt, wird mit doppeltem Interesse die zerklüftete Küste Bornholms begrüßen.

Die gute alte Zeit erscheint uns jetzt so golden; über den Gräbern weht versöhnlicher Hauch; die Mauern der Ruinen, die stummen, starren Zeugen der Gewalt und des Unrechts deckt der Epheu mit mildem Grün, und über die bösesten Unthaten hat die Sage ihren geheimnisvollen, verschönernden Schleier geworfen.

Einst lagen zwischen Hammerklippen versteckt die flinken Drachenschiffe, bis ein beutegieriger Wiking seine blutdürstige Rotte von Raufbolden um sich sammelte und Segel setzen ließ zum Raubzuge. Wehe den wehrlosen Städten und Dörfern, welche diesen Unmenschen in die Hände fielen! Als späterhin sich die Schiffahrt in der Ostsee mehr und mehr entwickelte, verlegten sich die Bornholmer auf rationell betriebenen Seeraub. Der Schiffer atmete auf, wenn er die Insel wieder außer Sicht hatte. Die Einführung des Christentums beseitigte zwar den Seeraub nicht, dennoch führten aber die erobernden Dänen geordnetere Zustände herbei, bis die Geistlichkeit und die Fürsten, untereinander uneinig, neues Blutvergießen verursachten. Damals wurde die Feste Hammerhus gebaut, ein für jene Zeit uneinnehmbarer Platz.

Durch List oder Verträge gelangte dieser bald in die Hände der einen oder der anderen Partei, bis die Einführung der Feuerwaffen die Mauern und Türme für die Verteidigung wertlos machte!

Jetzt gehört Bornholm zu den Perlen der dänischen Krone, Landwirtschaft, Viehzucht und Fischfang ernähren die Bevölkerung reichlich. Zur Sommerszeit fährt wöchentlich zweimal ein Dampfer von Stettin nach Bornholm. Es ist dies zwar kein Prachtschiff und manchem Reisenden ist bei der primitiven Einrichtung des Fahrzeuges schon ganz wikingerhaft zu Mute geworden, indessen bringt dasselbe den Reisenden in wenigen Stunden sicher nach Hammerhafen (vergl. Abbildung S. 412 und 413), so daß man die kleinen Unbequemlichkeiten gern übersieht. Steil und wild steigen die Felsen des Hammers, wie die Nordspitze der Insel heißt, aus dem Meere empor. Auf kahler Bergkuppe ragen die starren, verfallenen Mauern der Feste Hammerhus in die Luft. Eine kleine Bucht ist abgeschlossen durch starke Steindämme und bildet so den Hafen, in welchen das Schiff zwischen brandenden Wellen hineingleitet. Am Bollwerk harrt des Reisenden der Empfang durch den Hotelkellner. Maler ziehen jedoch meist die Einsamkeit dem geräuschvollen Hotelleben vor, und so hat sich im nahen Sandvig bei einem Bauern, der sogar für diejenigen Kollegen, denen ein häufiges Knipsen am Photographenkasten Bedürfnis geworden ist, eine Dunkelkammer zur Verfügung stellt, eine ganze Künstlerkolonie gebildet. Von hier aus überfällt das malende Volk die Umgegend. Der Hammer ist aber auch für die malerische Ausbeute wie geschaffen. Die See brandet von allen Seiten gegen das Gewirr von Klippen. In nächster Nähe eilen Segelschiffe und Dampfer gen Westen und Osten. Stille kleine Fischerhäfen bilden einen Ruhepunkt in der umgebenden Bewegung.

Bornholmer Lotse.

Eine kurze Wanderung führt den Reisenden auf den Oereberg. Hier ist der massive Leuchtturm errichtet, welcher dem Schiffer bei Tag und Nacht den Weg weist und ihn bei nebligem Wetter durch die Dampfsirene warnt, den Klippen zu nahe zu kommen. Weiter thalwärts treffen wir auf ein verfallenes Gemäuer aus unbehauenen Granitsteinen. Hier hauste dereinst ein Mönch, welcher nahe bei einer jetzt versumpften Quelle dieses kleine Heiligtum errichtete und die wilden Bewohner taufte. Wenn im Westen die Sonne untergeht und die Mauern der Salomokapelle sich von dem verglühenden Himmel abheben, so überkommt den Menschen mitten in dieser erhabenen Einsamkeit eine Ahnung von der gewaltigen Kraft [417] des Christentums, welche den wehr- und waffenlosen Mann an diese starre Küste trieb, um die Götzenbilder einer wilden, gesetzlosen Rotte zu stürzen und an deren Stelle das Kreuz aufzurichten.

Reste der Salomokapelle.

Die Hammerbucht wird beherrscht von der Festung Hammerhus. Rings abgeschlossen von steilen Felswänden, geschützt durch schweres Mauerwerk, waren die schloßartigen Gebäude jedem Ansturm eines mit den Waffen der damaligen Zeit versehenen Feindes gewachsen. Die dänische Geistlichkeit, welche lange im Besitze dieser Festung war und ebenso gottesfürchtig wie streitbar dieselbe aufs äußerste verteidigte, hatte den Gebäuden den halb kirchlichen, halb weltlichen Anstrich gegeben. Noch heute kann man in den Ruinen die Baulichkeiten nach den verschiedenen Zwecken unterscheiden. Die Kapelle ist durch Gänge mit der Hauptfestung, welche in ihrer Form dem Schlosse von Ritzebüttel und dem Neuwerker Leuchtturm aufs Haar gleicht, verbunden. Wir finden Wirtschaftsgebäude, Kellereien, Burgverließe und Wachtlokale bei den Türmen. Angesichts dieser Ruinen tritt uns das Mittelalter so recht vor Augen. Wie sicher mögen sich die Herren hier oben gefühlt haben, bis die erste Kugel aus einem Feuerrohre die ersten Steine der starken Mauern löste! Dann ging es rasch abwärts mit diesen festen Plätzen. Was die Geschosse nicht zertrümmerten, das nagte die Zeit an den wertlos gewordenen Festungswerken, und so starren heute nur Ruinen gen Himmel, Zeugen einer vergangenen Kulturperiode.

Die Ruinen der Festung Hammerhus.

Der Name „Hammer“ für die Nordspitze Bornholms ist vielleicht nicht ganz glücklich gewählt. Vielmehr ist es hier das Meer, welches gegen die Granitfelsen wie auf einen Amboß hämmert. Welch wunderbare Formen hat das Wasser durch die Jahrtausende hin aus dem Gestein geschaffen! Steigt man die Hammerhusschlucht hinab, so befindet man sich angesichts einiger Klippen, welche aussehen, als ob eine menschliche Hand sie zu Tierkörpern geformt hätte. Da ragt ein riesiger Löwenkopf in die Brandung hinaus, es ist der Felsen rechts auf unsrem Bilde (Seite 418). Behaglich scheint er das aufspritzende Wasser mit dem Maule aufzufangen. Ueber seine Mähne ergießt sich bei stürmischem Wetter die weißschäumende Flut und es sieht aus, als ob das gewaltige Tier sich bei den Sturzbädern so recht wohl fühlte. Neben dieser Klippe ragt eine andere aus dem brandenden Wasser empor, deren Form ein humoristisches Motiv zu Grunde [418] zu liegen scheint. Ein Tierkörper trägt einen Sattel, von dem aus nach entgegengesetzter Richtung hin ein Kamel und ein Giraffenkopf hervorragen. Oftmals sprüht die Brandung hoch empor und es sieht aus, als ob die beiden Tiere gegen die andrängenden Wogen kämpften. Unter- und oberhalb der Hammerhusschlucht haben die Felsen Höhlen gebildet, genannt der nasse und der trockene Ofen. Letzteren kann man bei ruhigem Wetter zu Fuß, ersteren mit einem Boot erreichen.

Klippen in der Hammerhusschlucht.

Der Aufenthalt in diesen seltsam gebildeten Höhlen erregt die Phantasie gewaltig. Das heimliche Rauschen und Gurgeln der eindringenden Meereswellen erzeugt eine wunderbare Musik, welche Meister Böcklin in seinem herrlichen Gemälde „Die Brandung“ uns versinnbildlicht hat: in einer Höhle, an einen Granitfelsen gelehnt, umtost von dem wild brandenden Meere, streicht ein phantastisches Weib über die Saiten einer Harfe. Wir hören das Lied, es ist die uralte Weise, bald zart und sanft klingend, bald rauschend in gewaltigen Accorden, welche das Meer von Anbeginn der Welt ertönen läßt. Bei Tage dringt der Sonnenschein in diese granitnen Höhlen. Die Felswände hallen nur von dem Singen des Meeres wieder, selbst die Besucher werden schweigsam. Nachts aber treiben Necke und Nixen hier ihr unheimliches Wesen, und mancher Fischer, der im Mondenschein bei den Höhlen vorbeistreifte, weiß wunderbare Geschichten zu erzählen.

     Die Heiligtumsklippen.

Die Randsklippen. 

Weiter gen Süden ragt noch ein einzelner Felsen hinaus in das Meer, von welchem herab der Sage nach ein Mönch mit Namen Johannes den Heiden das Christentum gepredigt haben soll. Die Sache ist ziemlich zweifelhaft, da dieses Felsengebilde wohl zum Halten von Reden recht ungeeignet ist und nur den Namen Johns Kapelle seiner Form wegen erhalten hat.

Auf dem Wege nach der Stadt Rönne steht der größte auf der Insel vorhandene Runenstein. Es ist dies eine Gedenktafel aus der Zeit, als die Einwohner schon zum Teil Christen waren, wenngleich sie in ihren Sitten und Gebräuchen noch vielfach am Heidentum festhielten. Auf der glatten Seite des roh gespaltenen Steines befindet sich in keineswegs künstlerischer Ornamentierung ein verschlungenes Band von Runenschriftzeichen, welche nur besagen, daß ein treuer Sohn und Bruder seinen verstorbenen Eltern und Geschwistern diesen Denkstein gesetzt habe.

Die Ostküste der Insel weist sanftere Formen auf. Hier findet man auch Wälder und Haine, welche der Landschaft [419] ein lieblicheres Aussehen geben, als die starre Westküste es bieten kann. In uralter Zeit hat zwischen den Städtchen Sandvig und Gudjem dereinst ein heiliger Hain gestanden. Hier kamen die damaligen Bewohner zusammen, um den Göttern zu opfern. Die Küste fällt steil zum Meere ab, die Klippen haben wundersame Formen und prangen durch die mannigfachen Moose und Flechten, die daran haften, in lebhaften, bunten Farben. Noch heute nennt man diese Felsen die Heiligtumsklippen, eine Erinnerung an die graue Vorzeit.

Ein Nachkomme jenes alten Haines ist noch heute vorhanden. Das lustige, von dem feuchten Seewinde frisch gehaltene Grün prangt an dieser Stelle noch wie vor tausend Jahren. Auch die Quelle, deren Wasser dereinst vermischt mit dem Blute der Opfer die Felsen hinabrieselte, plätschert noch munter von Stein zu Stein dem Meere zu und lacht lustig die vielen Maler und Malerinnen aus, welche fast auf jedem Felsenvorsprung thronen und eifrig versuchen, das heitere Wässerchen wenigstens im Bilde festzuhalten. Oben auf der Höhe ragt an Stelle des alten heidnischen Tempels ein komfortables Hotel über den Wipfeln der Bäume empor. Geopfert wird hier auch noch, aber meist nur Bacchus und Gambrinus.

Der Leuchtturm
auf dem Oereberg.

 Die Steinbrüche.

Noch eine andere wunderbare Felsenbildung trifft der Wanderer an der Ostküste. Mitten auf freiem Felde, an einer Stelle, wo man Naturschönheiten kaum erwarten könnte, öffnet sich nach dem Meere zu ein tiefer Spalt. Ein schmaler Pfad führt hinab, und plötzlich befindet man sich zwischen senkrecht abfallenden Felsen, welche kaum Raum zum Durchschlüpfen bieten. Bei Mondenschein gewähren diese Randsklippen ein Bild, wie man es phantastischer gar nicht ausdenken kann. Von den Städten auf Bornholm ist nicht viel zu berichten. Die Bewohner leben meist verstreut auf ihren Gehöften. Nur Rönne und Allinge haben es zu einer gewissen Bedeutung gebracht. Sandvig, Gudhjem und Svanike, sowie eine Anzahl Fischerhäfen sind mehr malerisch als wichtig. In der Nähe von Hammerhus befinden sich jetzt gewaltige Steinbrüche. Hier tritt der herrlichste Granit zu Tage, welcher, gebrochen und verarbeitet, meist nach Deutschland exportiert wird. Fast der größte Teil der Pflastersteine Berlins kommt jetzt von Hammerhafen.

Die merkwürdigsten Bauten auf Bornholm sind die Rundkirchen. Sie erzählen deutlich von dem Kampfe, den das Christentum mit den wilden Seeräuberhorden auszufechten hatte. Diese Gotteshäuser bestehen in ihrer Grundform nur aus einem einzigen runden Turm. Zur Zeit ihrer Entstehung waren sie noch mit Wall und Graben versehen. Der Eingang, wohl mit Fallthüren versichert, lag hoch über dem Erdboden, so daß die Besatzung gegen die Waffen der damaligen Zeit wohlgeschützt war. Die Mauern, aus roh zusammengefügten Steinen gebaut, hatten keine Fenster, sondern nur Schießscharten, durch welche Pfeile und andere Wurfgeschosse geschleudert werden konnten. Statt des Daches gab es nur eine gleichfalls mit Schießscharten versehene Plattform, von wo herab der Angreifer belästigt werden konnte. In der Umgebung dieser Kirchen hausten damals die kleinen Gemeinden, welche sich bei drohender Gefahr in die befestigten Gotteshäuser zurückzogen und Gut und Leben von dort aus verteidigten. Jetzt hat man die Rundtürme mit Thüren, Fenstern und Anbauten versehen. Ein hohes spitzes Dach hält den Regen ab. Sonntags kommen die Umwohnenden wie dereinst zur Andacht, nur braucht der Altar nicht mehr mit dem Schwerte geschützt zu werden.

Eine Rundkirche.

Die Bevölkerung Bornholms hat sich allgemach von der Seefahrt zurückgezogen, nur noch der Fischer und Lotsen führen ein Leben auf dem blauen Wasser. Kleine, aus den Felsen herausgesprengte, mit Molen versehene Becken genügen zum Schutze der Fischer- und kleineren Handelsfahrzeuge. Nur Allinge, Hammerhafen und Rönne vermögen in ihren Häfen etwas größere Schiffe zu beherbergen. Das Aus- und Einlotsen derselben ist ein oft recht schwieriges Unternehmen und erfordert die erfahrensten Seeleute. Der Bornholmer Lotse trägt den Typus eines echten rechten Seemanns. Von Jugend auf vertraut mit dem Element, kennt er jede Klippe, jeden Stein seiner Heimatsinsel. Er geleitet das ihm anvertraute Fahrzeug durch ein Gewirr von Felsen sicher zu seinem Ankerplatz. Bei einem Wetter, wo man keinen Seehund ins Wasser jagen möchte, dringt er mit seinem Boot durch den wüsten Wogenschwall, um draußen einem vielleicht hilflosen Schiffe den richtigen Weg zu zeigen.

Die meisten Bornholmer sind Landwirte und die blühenden Felder zeugen von der erfolgreichen Thätigkeit ihrer Bebauer. Sie sind etwas scheu und Fremden gegenüber wortkarg, wenn man sie aber näher kennenlernt, so wird man sie auch als Deutscher, trotz ihres dänischen Patriotismus, dessen Spitze sich ja noch heute immer gegen unser Vaterland richtet, lieben und achten lernen.

Bornholm liegt dicht bei unseren Küsten, wer zur Sommerszeit die Ostseebäder aufsucht, möge einmal den Abstecher nach dem alten Seeräubernest machen.


[420]

Einkehr auf der Alm.
Nach dem Gemälde von L. Blume-Siebert.

[421] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[422]

Der Roman einer Königin.

Historische Novelle von Emil Peschkau.


In der Porträtsammlung eines schwedischen Schlosses befindet sich ein weibliches Bildnis von so eigentümlichem Reiz, daß wohl jeder Besucher eine Weile still hält, auch wenn er die Erklärung des begleitenden Kastellans nicht verstehen sollte. Der Reiz des Bildes liegt jedoch nicht allein in dem sonderbar ernsten, klugen und doch süßen blonden Gesichtchen, in dem Gegensatz der auffallend hohen Stirn und der großen, streng blickenden Augen mit dem anmutigen weichen Kinn und dem kleinen Mund, den wie zum Küssen geformten Lippen. Was die Aufmerksamkeit vielleicht noch mehr erregt, ist die seltsame Kleidung des Mädchens, doppelt seltsam, wenn man weiß, daß man eine Königin von Schweden vor sich hat. Diese Kleidung ist weder königlich noch weiblich, und man denkt bei ihrem Anblick unwillkürlich an die Emancipationsbestrebungen moderner Amerikanerinnen. Christine trägt einen Männerrock, der nur etwas länger, als Männer sie gewöhnlich tragen, und vom Gürtel aufwärts ein wenig geöffnet ist, so daß man die weißen Spitzen erblickt, welche die Brust verhüllen. Unter dem Rocke gewahrt man Beinkleider, die sich über den roten mit Pelz besetzten Stiefelchen schließen, und auf dem hellen Haar sitzt eine einfache aber kleidsame Mütze aus demselben edlen Pelzwerk.

Weiß man Bescheid in den Intimitäten der Weltgeschichte, so büßt die Gestalt der jugendlichen Königin zwar an Seltsamkeit nichts ein, aber man ist doch imstande, das Rätsel dieser Tracht zu lösen.

Christine war die Tochter Gustav Adolfs, und als der große König im Jahre 1632 bei Lützen gefallen war, wurde das sechsjährige Mädchen seine Nachfolgerin auf dem Throne. Einstweilen freilich unter der Leitung einer „Regentschaft“, aber schon im Alter von achtzehn Jahren übernahm sie die Regierung selbst. Ihre Erziehung war eine ganz und gar männliche gewesen. Dazu kam, daß sie sehr begabt war, sich frühzeitig mit besonderer Vorliebe den Wissenschaften zuwandte und alles, was den meisten Menschen Vergnügen macht oder ihr Herz bewegt, als eines ernsten Geistes unwürdig verachten lernte.

Als Regentin wollte sie die Tochter Gustav Adolfs sein und ihr übriges Leben gehörte der Wissenschaft.

Mit den höfischen Formen brach sie nach jeder Richtung hin, die einflußreichen Personen ihrer Umgebung waren Gelehrte, die sie aus ganz Europa herbeizog (auch den großen Philosophen Cartesius hatte sie an ihren Hof gerufen), und als die Regentschaft, an ihrer Spitze der Reichskanzler Axel Oxenstierna, mit dem Wunsche an sie herantrat, sie möge Friedrich Wilhelm von Brandenburg (dem späteren „Großen Kurfürsten“) ihre Hand reichen, da war sie in hohem Grade empört, daß man ihr solch eine menschliche Schwäche überhaupt zumuten konnte. Sie erklärte feierlich, nie heiraten zu wollen, und hielt auch daran fest, als man ihr später die Pflichten gegen das Land mahnend vorhielt. Im Jahre 1649, dreiundzwanzig Jahre alt, wiederholte sie nochmals vor dem Reichsrat diese Erklärung, und zugleich zwang sie diesen und die Stände, ihren Vetter Karl Gustav zum Thronfolger mit dem Rechte der Erblichkeit zu wählen.

Das weitere Leben der Königin nahm die seltsamsten Wendungen, für welche man in den geschichtlichen Werken keine Erklärung findet, aus denen aber deutlich hervorleuchtet, daß auch dieses spröde Herz von der Macht der Liebe nicht unberührt geblieben ist.

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*

An einem Frühlingstage des Jahres 1650 wurde Stockholm durch die Nachricht von einem unter seltsamen Umständen erfolgten Morde in Aufregung versetzt.

In der vergangenen Nacht war in einer jener engen steilen Gassen, die von dem „Stortorget“ genannten Marktplatz hinab nach der Schiffbrücke am Salzsee führen – kaum hundert Schritt von der Gartenmauer des königlichen Palastes entfernt, plötzlich Waffenlärm laut geworden; man hörte einen Aufschrei, und als die Wache herbeieilte, zog ein junger Kavalier eben seinen Degen aus der Brust eines Mannes in dunkler ritterlicher Kleidung, der wie tot auf dem Granitgrund der Straße lag. Die Wache sah noch, wie im Dunkel der Nacht ein Dritter verschwand, der die Richtung nach dem Mälarsee zu genommen hatte, verfolgte den Flüchtling jedoch nicht, sondern zog es vor, den Kavalier zu verhaften und Leute herbeizurufen, die dem Verwundeten vielleicht noch helfen konnten. Dieser lebte noch und plötzlich schien es, als ob er sich erheben wollte. Seine blutunterlaufenen Augen richteten sich mit einem grauenhaften Ausdruck ohnmächtiger Wut auf die jugendschöne Erscheinung seines Gegners, dann öffneten sich seine Lippen und man hörte die mühsam hervorgestoßenen Worte: „Glaubt ihm nicht – er hat mich in diesen Hinterhalt gelockt – überfallen – weil ich sein Geheimnis – er ist ein Verbrecher – er fürchtete …“

Dann hörte man nur noch ein dumpfes Gurgeln, ein qualvolles Röcheln, der Kopf des Unglücklichen fiel zurück auf den Stein, es war zu Ende mit ihm.

Einige der inzwischen aus den Nachbarhäusern herbeigeeilten Bürger hatten übrigens den Sterbenden sofort erkannt. „Herr Galeas Salvius“, hörte man sie murmeln, und nun deutete einer auch drohend auf den Kavalier.

„Wieder ein Fremder!“ rief er, und es schien, als wollte man diesem zu Leibe gehen.

Die Wache, die ihm den Degen bereits abgenommen hatte, gebot Ruhe und forderte den Verhafteten auf, seinen Namen zu nennen.

„Ich bin der Marquis Philipp von Roche Talmont,“ sagte er in einem Tone, der wohl Verwunderung, aber keine Aufregung verriet. „Den Herrn Galeas Salvius kannte ich, aber ich begreife weder seine letzten Worte noch diesen Ueberfall. Denn er war es, der mich mit einem Zweiten hier angriff, und zwar hinterrücks, aus jenem Thorbogen. Daß ich so glücklich davonkam, habe ich gewiß nur dem Allmächtigen und meinem guten Gewissen zu verdanken. Ich bin allerdings ein Fremder, liebe Leute, kaum vier Wochen in Stockholm, aber ich wüßte nicht, daß ich auch nur einer Fliege etwas zu leid that. Was den Herrn Galeas Salvius so gegen mich aufzubringen vermochte, verstehe ich nicht, und was mein Geheimnis betrifft … nun ja, ich habe ja ein Geheimnis – etwas wie ein Geheimnis, aber das eines Verbrechers ist es nicht, das könnt Ihr mir glauben!“

Dann forderte er die Wache auf, ihn abzuführen, und das Gemurmel, das sich nun wieder erhob, hatte fast etwas Beifälliges. Sein ruhiges Auftreten, die schlanke kraftvolle sympathische Erscheinung, die eigentümliche männliche Heiterkeit, die trotz der immerhin recht unangenehmen Lage aus seinem Wesen sprach, nahmen für ihn ein. Das frische kühn geschnittene Gesicht mit den hellen Augen und dem kurzen hellbraunen, nach dem Kinn zugespitzten Kavalierbart war den Stockholmern weniger fremd als das dunkle düstere Antlitz des Galeas Salvius, der zwar einem alten schwedischen Geschlechte angehörte, aber den italienischen Typus seiner Mutter, einer Livorneserin, geerbt hatte. Als man den Toten forttrug, folgten fast alle Augen nur bedauernd der elastischen Gestalt des jungen Marquis.

Das traurige Ereignis blieb in der nächsten Zeit um so mehr das Tagesgespräch der Hauptstadt, als der Marquis von Roche Talmont mit seiner Verteidigung wenig Glück hatte. Bei der Angabe seiner Personalien konnte man ihm allerdings keine Lüge nachweisen und was er von dem einzigen Geheimnis preisgab, das er nach seiner Angabe besaß, fand bald Bestätigung. Er hieß in der That Philipp Marquis von Roche Talmont und stammte aus Brüssel. Dort hatte er das Herz der Tochter eines spanischen Granden gewonnen, eines Ministers der Infantin, die in den Niederlanden die Regentschaft führte. Der reiche Spanier zeigte aber durchaus keine Lust, den armen flamändischen Marquis mit der Hand seines Kindes zu beglücken, und eines Tages entführte Roche Talmont seine Geliebte. Das Paar kam jedoch nicht weit und die Folge war, daß Donna Luisa de Mendez ins Kloster gesperrt und Roche Talmont auf Befehl der Infantin des Landes verwiesen wurde.

Unbemittelt wie er war, dachte er daran, sein Glück an irgend einem Hofe zu versuchen, und so kam er endlich nach [423] Stockholm, das damals auf begabte Leute, die es in der Welt vorwärts bringen wollten, große Anziehungskraft ausübte. Die Gelehrten und Schriftsteller, welche die Königin beschützte, die Vossius, Heinsius, Mézeray, Salmasius, Naude, Meibom, Cartesius, erfüllten ja die Welt mit ihren Lobreden auf die „nordische Pallas Athene,“ auf die große Christine, die vorurteilslos, mit bewundernswertem Scharfblick für das Talent jedem die Wege ebnete, der es verdiente. Roche Talmont wußte aber leider wie so viele nichts davon, daß die Königin von Schweden einzig und allein für Gelehrte zugänglich war. Es gelang ihm zwar, ihr vorgestellt zu werden, aber sie hörte ihn teilnahmlos an und wandte ihre Blicke fast verächtlich von ihm weg. Der arme Marquis hatte in seinem Leben allerdings nicht viel anderes geschrieben als Liebesbriefe an Donna Luisa und zudem war sein Aeußeres ganz und gar weltmännisch; was der Königin aus seinen Worten entgegenklang, war zwar nicht ohne Geist, aber es war der verhaßte Geist der Weltleute. So entließ sie ihn ziemlich ungnädig und gab Mézeray, der den Landsmann bei ihr eingeführt hatte, eine Verwarnung.

Roche Talmont sah ein, daß er hier nicht am Platze war, und hätte wahrscheinlich Stockholm sofort wieder verlassen, wäre er nicht in den Kreis von Lebemännern geraten, denen sich der Vetter Christinens, der weltlustige Pfalzgraf Karl Adolf, bisweilen bedenklich näherte. Hier lernte er auch Galeas Salvius kennen, der zwar als Gelehrter wirkte und in einem eigenen Laboratorium nicht ohne Erfolg chemische Studien betrieb, wegen seines weltlichen Lebenswandels aber aus dem Kreise der Königin verbannt worden war. Die Bekanntschaft war nach den Aussagen aller, die darum wußten, nur ganz flüchtig gewesen, so daß der nächtliche Ueberfall, mochte er nun von dem Schweden oder von dem Flamänder ausgegangen sein, gleich rätselhaft blieb.

Sehr verschlimmert wurde die Lage des Marquis jedoch durch einen Umstand, den man anfangs gar nicht beachtet hatte. Man begann sich mit dem Unbekannten zu beschäftigen, der in dem Augenblick entflohen war, als die Wache sich zeigte. Derselbe sollte nach der Aussage Roche Talmonts der Genosse des Galeas Salvius gewesen sein, aber man fand niemand unter den Freunden desselben, den auch nur der geringste Verdacht treffen konnte. Dagegen stellte es sich heraus, daß der Diener des Marquis seit jener Nacht verschwunden war und – verschwunden blieb. Roche Talmont bemühte sich vergebens, dieses Verschwinden zu erklären, das ihn stark belastete. Vor den Richtern sprach überdies gegen ihn sein Charakter als vermögensloser Abenteurer, dem dunkle Pläne wohl zuzutrauen waren.

So trug alles nur dazu bei, das Zeugnis zu unterstützen, das der Getötete in seinen letzten Augenblicken abgelegt hatte.

Nach diesen letzten Worten des Galeas Salvius, so dunkel sie auch sonst blieben, war der Marquis Roche Talmont sein Mörder, er hatte ihn hinterlistig überfallen und ihm die tödliche Wunde beigebracht. Trotzdem zögerte das Hofgericht, dem der Prozeß mit Einwilligung des Gesandten von Spanien überwiesen worden war, auffallend lange mit der Entscheidung. Es schien, als hätte die Persönlichkeit des Marquis auch auf die Richter einen so günstigen Eindruck gemacht, daß sie sich nur schwer zu seiner Verurteilung entschließen konnten. Als die Königin endlich selbst, unwillig über dieses lange Zögern, das Urteil forderte, lautete es auf Tod durch das Beil.

An demselben Tage, an dem dieses Urteil ergangen war, ließ sich Christine herbei, mit ihrer Hofdame, Helene de la Gardie, darüber zu sprechen. Das junge Mädchen war die einzige Person, zu der die Königin etwas wie eine herzliche Zuneigung empfand. Obwohl Helene – nach ihrer eigenen Erklärung – nichts weniger als gelehrt war und obwohl sie in ihrer sanften Weise es oft wagte, die Freuden des Alltagslebens zu verteidigen, genoß sie doch die besondere Gunst Christinens. Diese pflegte ihr sogar bisweilen einen zärtlichen Backenstreich zu geben und sie dann auf die Stirn zu küssen.

„Du bist ein Kind, Helene, Dir kann man’s nicht übelnehmen,“ pflegte sie dabei zu sagen. Die Politiker und Gelehrten genossen eben nur die Verehrung und Bewunderung der Königin, ihnen wollte sie nachstreben. Dem „Kinde“ aber, das nur wenige Jahre jünger war als sie, erschloß sich etwas von dem Gefühlsleben, das sie verachtete und das doch in ihrer Brust schlummerte.

Helene war nicht wenig erstaunt darüber, daß die Königin sichtlich Befriedigung über das Urteil gegen den Marquis zeigte. „Majestät,“ wagte sie zu entgegnen, „wenn nun der arme Marquis doch unschuldig, wenn Herr Galeas Salvius ihn überfiel –“

„Das Urteil ist unter allen Umständen gerecht,“ unterbrach Christine, heftiger, als es sonst ihre Art war. „Ein Raufbold war Galeas Salvius nicht, er war ein Gelehrter – freilich ein Gelehrter, der … Wenn er der Angreifende war, dann hatte er seine Ursache dazu.“

„Und was sollte die Ursache gewesen sein, Majestät?“ fragte Helene.

Die Königin lachte verächtlich und sagte höhnisch: „Die beiden hatten natürlich Liebeshändel! Liebeshändel und immer Liebeshändel! Als ob es nichts Besseres zu thun gäbe! Nun haben sie beide ihren Lohn und sie haben ihn beide verdient.“

Helene sah ihre Herrin verstohlen an und sagte dann schüchtern mit einem leisen Lächeln:

„Majestät sind grausam gegen die Liebe, grausam und ungerecht. Warum hätten die Dichter die Liebe in so leuchtenden Farben als das Höchste des Lebens besungen?“

„Die Dichter suchen nur nach dankbaren Stoffen für ihre eigentümlichen Geistesanlagen. Und die niedrigen Leidenschaften der Alltagsmenschen sind natürlich ein dankbarer Stoff für sie sowohl wie für die Philosophen, die ja auch die Tiere studieren. Aber warum ereiferst Du Dich – so solltest Du …“

„Nein, Majestät ich kenne die Liebe nicht, ich verteidige sie nur, wie Majestät sie verurteilen. Majestät kennen sie ja auch noch nicht. Wenn Sie sie aber eines Tages kennenlernen werden –“

Die Königin lachte auf. „Du bist ein Kind! Aber selbst ein Kind sollte einsehen, daß … wo wäre denn der Mann, der mich zur Liebe bekehren könnte? Auch den geistig hochstehenden Männern ist die Liebe ein Spiel, das Weib, das sich zur Liebe geneigt zeigt, ein Spielzeug. Die Männer brauchen Spielzeuge, und man sucht uns die Augen zu blenden, etwas vorzutäuschen, das nicht existiert, damit wir willig sind, ihnen zu dienen. Ich und die Liebe! Kind, Kind, was fiel Dir da ein! Das könnte ich Dir beinahe übelnehmen. Aber sprechen wir von anderen Dingen! Ich habe mich entschlossen, euch zu zeigen, daß ich keine Pedantin bin und auch gegen eine Lustbarkeit nichts einzuwenden habe, wenn damit etwas Vernünftiges bezweckt oder ein erhabener Gedanke gefördert wird. Nur das Sinnlose empört mich und die gemeine Vergnügungssucht. Ich habe eben die Abhandlung meiner Räte Meibom und Naude über Musik und Tanz der alten Griechen gelesen, ein vortreffliches Werk, das mich entzückt hat. Nun gut – Ihr sollt einen Ball haben, aber wir wollen das alte Hellas lebendig machen! Naude kann einigen Musikern Unterricht in der Handhabung der Tetrachorde erteilen und Meibom wird den Tanz anführen. Nun, Kind, was sagst Du?“

Helene sah ihre Gebieterin mit weitgeöffneten Augen starr an. „Meibom,“ stammelte sie dann, „Meibom – dieser alte Bücherwurm – den Tanz anführen?“

Nun schien die Königin ernstlich böse zu werden. Sie zog die Augenbrauen zusammen, so daß sich die kleine Falte, die sich dort bereits befand, drohend vertiefte, und wahrscheinlich wäre ein Gewitter über das arme Mädchen niedergegangen, hätte nicht in diesem Augenblick der Sekretär der Königin einen Brief des spanischen Gesandten gebracht. Sie las denselben und schüttelte verwundert den Kopf. „Ein Schreiben der Infantin, das mir eine Dame aus Brüssel persönlich überreichen soll – das ist sonderbar. Wie sieht die Dame aus?“

„Jung und schön und sehr traurig. Sie ist ganz schwarz gekleidet.“

„Führt sie in das Audienzzimmer und sagt ihr, daß ich nur noch eine wissenschaftliche Arbeit zu erledigen habe. Ich werde sie dann empfangen.“

Der Sekretär verneigte sich und ging, Christine aber schrieb noch zwei Briefchen an Meibom und Naude … „Sie will zeigen, daß sie nicht neugierig ist,“ dachte Helene de la Gardie. „Aber sie ist es doch – gerade so wie ich.“

Fünf Minuten später betrat die Königin den Audienzsaal.

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[424] Der erste Gedanke Christinens beim Anblick der Fremden war eine Kritik des männlichen Geschlechtes. Daß diese Herren doch alles gleich „schön“ fanden, was weibliche Kleider trug und nicht gerade häßlich war! Wie konnte man dieses unbedeutende Gesichtchen schön nennen! Diese farblosen, von Leidenschaft oder einer andern Krankheit ausgehöhlten Wangen, diese Augen, die an die Bilder katholischer Märtyrerinnen gemahnten! Und wie wenig Geist diese Abgesandte einer Regentin hatte! Mit welch verwirrten Worten sie das Schreiben der Infantin überreichte!

Christine nahm den Brief, erbrach das Siegel und las, während die Fremde noch immer staunend die fast männliche Kleidung der jungen Königin betrachtete und dann, als ob sie plötzlich aus einem Traum erwachte oder jäh von einem neuen Gedanken erfaßt würde, ihre großen dunklen Augen mit fieberischer Spannung auf die Züge Christinens heftete. Diese verriet keinerlei Bewegung und sagte endlich in gleichgültigem Tone: „Ihr seid also Donna Luisa de – de Mendez? Das Mädchen, das sich von dem Marquis von Roche Talmont entführen ließ, demselben Manne, der sich in meiner Hauptstadt eines abscheulichen Verbrechens schuldig gemacht hat?“

Donna Luisa zuckte zusammen und es flog wie Haß über das bleiche Gesicht. „Majestät,“ stammelte sie, „Ihre Hoheit, die Infantin –“

„Ich habe den Brief Ihrer Hoheit gelesen. Es ist ein gutes Zeugnis, das der Herr Marquis da erhält, und die beredten Worte, der fast poetische Stil bringen mich auf die Vermutung, daß Ihr unserer erhabenen Schwester mit Eurer Liebesgeschichte ebenso ihre klugen Augen geblendet wie Eurem greisen Vormund und Eurem wackeren Vater, den Ihr noch auf dem Totenbette mit solchen Nichtigkeiten belästigt habt.“

Bei diesen Worten brach die Spanierin plötzlich in heftiges Schluchzen aus und Helene de la Gardie eilte zu ihr, um sie zu beruhigen.

Die Königin zuckte die Achseln, aber die willkürlich angenommene Härte schwand aus ihren nichts weniger als unsanften Zügen und ihre Stimme klang jetzt milder. „Ich wollte Euch nicht wehe thun,“ sagte sie. „Es ist ja auch nicht jedem gegeben, die Nichtigkeiten des Menschenlebens zu durchschauen und sich über sie zu erheben. Ich habe aus dem Briefe entnommen, daß Euer verdienstvoller Vater gestorben ist und Euch ein nicht unbeträchtliches Vermögen hinterlassen hat. Und nun lauft Ihr diesem armen Marqnis nach und bedenkt nicht, daß er Euch wohl nur Eurer Reichtümer wegen heiraten würde.“

Donna Luisa, die sich wieder etwas gefaßt hatte, schüttelte heftig den Kopf.

„Majestät vergessen,“ stammelte sie, „daß er mit mir in die Welt gehen wollte zu einer Zeit, da ich weniger hatte als er.“

Die Königin zuckte wieder die Achseln.

„Damals wart Ihr ihm ein Spielzeug, das er bald für eine Schönere oder Reichere weggeworfen hätte. Aber lassen wir das! Es wird mir kaum gelingen, Euch von Eurer thörichten Leidenschaft, die Euch die Dinge anders zeigt als sie sind, abzubringen, obwohl ich es gern sähe, weil Ihr mir leid thut. Habt Ihr erfahren, daß das Gericht inzwischen das Urteil gefällt hat?“

Ein Fieberschauer floß über die Gestalt des Mädchens, sie stöhnte und wäre zusammengesunken, hätte nicht der Arm der Hofdame sie umfaßt. Im nächsten Augenblick aber riß sie sich los und stürzte, die Hände ringend, vor die Füße der Königin.

„Gnade!“ schluchzte sie, „Gnade für einen Unschuldigen!“

Christine schwieg. Erst nach einer Weile sagte sie ruhig, ernst und fest, aber ohne Kälte: „Die Richter haben ein gerechtes Urteil gefällt und ich werde daran nichts ändern. Steht auf und bedenkt, daß der Mann, um den Ihr Euch bemüht, einen Menschen getötet hat, und bedenkt auch, daß die Ursache des Zwistes zwischen den beiden keine andere gewesen sein kann als wieder ein Liebeshandel.“

Donna Luisa war der Aufforderung, sich zu erheben, gefolgt, und es schien, als wäre sie plötzlich eine andere geworden. Sie weinte nicht mehr und bebte nicht mehr. Etwas wie Trotz war in ihren Zügen und doch auch etwas Besseres als Trotz, in ihren Äugen lag jetzt noch mehr von einer Märtyrerin als früher.

„Der Allmächtige mag diese Grausamkeit vergeben,“ sagte sie fast ruhig. „Eure Majestät kennen die Liebe nicht, sonst würden Sie an die Treue glauben. Der Marquis von Roche Talmont hat diesen Menschen getötet, weil er sich verteidigen mußte. Ich weiß nicht warum, aber ich nehme es auf meinen Eid, daß er sich um kein anderes Weib bemüht hat. Ist es mir gestattet, meinen Bräutigam zu besuchen?“

Die Königin ergriff die Glocke und ließ einen der wachthabenden Offiziere herbeirufen.

„Geleitet die Donna Luisa de Mendez nach der Citadelle,“ wandte sie sich dann an diesen. „Sagt dem Kommandanten, daß ich ihr erlaube, den Marquis von Roche Talmont in einem der Zimmer der Staatsgefangenen ohne Zeugen zu sprechen so lange es ihr beliebt. Und zwar drei Tage lang von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.“

Dann deutete sie mit einer leichten Handbewegung an, daß Donna Luisa entlassen sei, und diese verneigte sich stumm und folgte dem Offizier …

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Christine begab sich, von Helene de la Gardie begleitet, wieder in ihre Privatgemächer. Sie sprach nichts, aber ihre Züge verrieten, daß ihr Geist lebhaft beschäftigt war. Plötzlich blieb sie stehen und sagte: „Wenn wir den geheimen Gang benutzen, so können wir noch vor der Donna in der Citadelle sein.“

Helene sah sie erstaunt an.

„Was wollen Eure Majestät thun?“

„Wir wollen die Liebe studieren, Kind,“ erwiderte Christine sarkastisch. „Aber mach rasch! Du kannst einen Mantel von mir nehmen. Komm!“

„Majestät,“ wandte Helene nochmals schüchtern ein, aber die Königin warf ihr einen jener Blicke zu, vor dem selbst der Widerspruch eines Oxenstierna und Torstensson verstummte. In solchen Augenblicken erinnerten der Ausdruck ihres Gesichtes, ihre Haltung, das ganze Wesen so merkwürdig an ihren großen Vater, daß alles sich vor ihr beugte. Es war, als ob der unbezwingbare Geist Gustav Adolfs plötzlich lebendig geworden wäre.

Christine trat in ihre Garderobe und nahm einen jener Reitermäntel um, die sie als Ueberkleider zu tragen pflegte. Dann setzte sie ihre Pelzmütze auf, die Hofdame mußte sich ebenfalls zu Mantel und Mütze entschließen, und kaum fünf Minuten später stand die Königin schon vor dem Kommandanten der Citadelle, der über den unangekündigten Besuch nicht wenig erschrocken war.

Sie wiederholte den Auftrag, den sie kurz vorher dem wachthabenden Offizier gegeben hatte, und fragte dann, ob sämtliche Zimmer der Staatsgefangenen mit Beobachtungsluken versehen seien.

Nachdem der Kommandant die Frage bejaht hatte, befahl sie, Roche Talmont in das beste dieser Zimmer zu führen und ihn dann mit Donna Luisa allein zu lassen.

„Auch wünsche ich,“ fuhr sie fort, „daß eine gute Mahlzeit nebst Wein aufgetragen wird, zwei Gedecke … Und jetzt geleitet uns in die Loge, von der aus wir sehen und hören können, was in dem Zimmer vorgeht.“

Der Kommandant verneigte sich stumm, es schien, als ob er keine Worte fände.

Dann führte er die Königin in ein kleines Kabinett und Helene stieß einen Ausruf der Ueberraschung aus, als sie, kaum daß er die Thür des fensterlosen Stübchens geschlossen hatte, durch einige Oeffnungen in einer der Wände das Gefangenenzimmer erblickte.

„Aber hier muß man uns ja sehen, Majestät,“ sagte sie.

„Das ist unmöglich,“ erwiderte der Kommandant. „Die Luken sind in der Ornamentik des Getäfels so geschickt verborgen, daß sie kaum zu entdecken sind. Zudem ist es hier dunkel und wenn der Gefangene selbst eine Luke herausgefunden hätte, er könnte doch nichts von dem bemerken, was in dem Kabinett vorgeht.“

Christine drückte ihre Anerkennung aus und entließ dann den Kommandanten.

Kurze Zeit später sah man, wie die Gefängnisthür geöffnet wurde und der Marquis, von einer Wache begleitet, eintrat.

(Schluß folgt.)


[425]

Der Einzug des Kaisers Nikolaus II. von Rußland in den Kreml.
Nach einer photographischen Aufnahme.

[426]

Die Kaiserkrönung in Moskau.

Von Paul Lindenberg.

Ganz Rußland hallte in der letzten Woche des Mai wieder von dem festfreudigen Klang der Glocken, die in allen Städten, in allen Flecken und Dörfern des gewaltigen Reiches drei Tage hindurch von früh bis spät geläutet wurden, den zahllosen Millionen der Bevölkerung bis zu den unwirtlichsten, kleinsten und entlegensten Ortschaften an der äußersten Grenze Sibiriens verkündend, daß in der alten, ehrwürdigen Zarenstadt an der Moskwa die heilige Krönung an dem Beherrscher des Landes, dem jungen Kaiser Nikolaus, vollzogen worden war. Und endloser Jubel überall, rauschende Feste voll Glanz und Pracht wie großartige Wohlthätigkeitsausübungen, die Kirchen überfüllt von Gläubigen und alle Fenster der Häuser von Kerzenschein erleuchtet – eine tiefe und innerliche Bewegung ging durch das gesamte Volk.

Ganz Moskau war schon vom frühen Morgen an unterwegs, als am 21. Mai Kanonendonner und Glockenklang verkündeten, daß der Tag des Einzuges des Kaisers gekommen sei; aufs herrlichste war die endlos lange Feststraße vom Petrowskypalais, woselbst das kaiserliche Paar die letzten Tage vorher verbracht hatte, bis zum Kremlpalast geschmückt, und Hunderttausende und Aberhunderttausende säumten sie ein, geduldig viele Stunden in „drangvoll fürchterlicher Enge“ ausharrend, bis immer brausender heranschallendes Hurrarufen und tosendes Jubeln das Nahen des Zuges verkündeten. Derselbe war von einem Prunk, einer Feierlichkeit, einer so blendenden Eigenart, wie er noch nie durch Moskau gezogen und wie er durchaus geeignet war, eine Vorstellung von der militärischen Bedeutung des Reiches, wie seiner von den verschiedensten Völkerschaften bewohnten fernen und fernsten Landesteile zu geben, denn neben den Abordnungen der prächtigsten Garderegimenter und den in goldstarrende Gewänder gekleideten Adelsdeputationen ritten in dem Zuge auch die Abgesandten der Rußland unterthänigen asiatischen Länder, malerische, kriegerische Erscheinungen von seltsamem Reiz in fremdartigen Trachten und mit kostbaren, absonderlich geformten Waffen, die noch aus der Zeit der Tatarenkämpfe zu stammen schienen. Aber die Hauptaufmerksamkeit war doch auf den Kaiser und die beiden Kaiserinnen gelenkt, welche den Mittelpunkt des weit über eine Stunde zum Vorbeimarsch gebrauchenden Zuges bildeten und bei deren Erscheinen das Zujauchzen fast von elementarer Wucht war. Der Kaiser ritt ganz allein, auf einem stolzen, schlank gebauten Araberschimmel, er trug die dunkelgrüne Uniform des Ssemjonowschen Leibgarderegiments mit der schwarzen Fellmütze, über seine Brust zog sich das lichtblaue Band des Andreasordens.

Hinter dem Kaiser ritten zunächst die russischen Großfürsten, dann folgten in dichter Schar die fremden Fürstlichkeiten und Prinzen der verschiedensten Nationalität, hundert und mehr an der Zahl, denen sich die Adjutanten und sonstigen militärischen Begleiter in dem farbenfrohen Durcheinander ihrer Uniformen und Rangabzeichen anschlossen. Hierauf nahten die Wagen der beiden Kaiserinnen, derjenige der Kaiserin-Mutter Maria Feodorowna und der der regierenden Kaiserin Alexandra Feodorowna; die Karossen stammen aus der Zeit Ludwigs XV., und ihre goldüberladenen Außenteile waren nicht nur mit kunstreichen Zieraten in Gold und Silber, sondern auch mit anmutigen Malereien von Meisterhand versehen. Acht Schimmel mit wehenden weißen Straußenfederbüschen auf den Köpfen (vgl. die Abbildung S. 428) zogen die von Marstallbeamten zu Fuß und zu Pferde, von Pagen und Leibkosaken begleiteten Kutschen; die rotsammetnen Schabracken der edlen Pferde waren mit goldenen Stickereien besät und die dunkelroten ledernen Riemenzeuge verschwanden völlig unter den silbernen Verzierungen. Die beiden Kaiserinnen hatten silberbrokatene, mit den kostbarsten Stickereien bedeckte Courroben angelegt, dazu die Kakoschnik, einen altrussischen, diademartigen Kopfputz, mit Perlen besetzt und einem lang über den Rücken wallenden weißen Schleier.

Auf den glänzenden Tag des Einzugs folgten fröhliche Festtage, die ihren Höhepunkt am 26. Mai, dem Krönungstage, erreichten. Welch ein fesselndes Bild von phantastisch farbigem Reiz bot schon allein am sonndurchleuchteten Morgen des Tages der innere Kremlhof dar, der einerseits von dem kaiserlichen Palais, anderseits von der Uspenskij-Kathedrale, in welcher die Krönung stattfinden sollte, und den dieser gegenüberliegenden Archangel- und Verkündigungskirchen begrenzt wird. Elegante Tribünen, zum überwiegenden Teil von der vornehmsten Welt Moskaus und St. Petersburgs, sowie aus allen Weltgegenden herbeigeeilten Fremden besetzt, schlossen die übrigen Teile des Hofes ab, der dicht gefüllt war mit russischen Kleinbürgern und Bauern in ihren schlichten dunkeln Gewandungen und den breiten schwarzen Mützen. Durch diese enggedrängten Massen begaben sich auf erhöhten, rotausgeschlagenen, von Truppen besetzten Gängen die höchsten Würdenträger und Offiziere, die fremden Diplomaten und Militärs in ihren ordensbesäten, blitzenden Uniformen, unter denen die sämtlicher Kulturstaaten vertreten waren, und die Abgesandten der Rußland unterthänigen asiatischen Völker, Khiwaner und Bucharer, Tataren und Kirkisen, Ostjaken und Tungusen, in ihren seidenen und sammetenen absonderlichen Prunkgewändern und mit ihren kostbaren, altererbten Waffen, zu ihren Plätzen in der Kirche oder den im Hofe errichteten Diplomatenlogen. Auf diesen Podest mündete auch die vom Kremlpalast in den Hof herab führende Rote Treppe, die ihren Namen diesmal doppelt verdiente, da ihre rötlichen, links von goldenen Löwen flankierten Stufen mit rotem Tuch bedeckt waren; von ihrer obersten Terrasse, auf welche der Ausgang des Palais mündete, bis zu ihrer untersten Stufe und von dieser bis zum Eingangsportal der Uspenskij-Kathedrale bildeten Chevaliergardisten in ihren weißen Uniformen, mit den roten, den großen metallenen Adlerstern zeigenden Suprawesten, Spalier, große, kraftvolle Gestalten, den goldenen Helm mit dem fliegenden silbernen Doppeladler auf dem Haupte, den blanken Pallasch in der Hand.

Diese Treppe hinunter wallte kurz vor der zehnten Morgenstunde feierlich der durch schmetternde Trompetenfanfaren angekündigte kaiserliche Zug, nachdem den gleichen Weg kurz vorher die Mutter des Kaisers genommen. Eröffnet ward dieser Krönungszug durch einen glänzenden Schwarm von Kammerherren und Pagen, denen ungezählte Deputierte folgten, dann mehrere Herolde in altertümlichen, goldbrokatenen Gewandungen und die Krönungsceremonienmeister mit ihren hohen, goldenen, adlergekrönten Stäben, hierauf die in goldstarrende Uniformen gekleideten Träger der kaiserlichen Insignien, die auf goldenen Kissen ruhten, die große, nur aus Diamanten zusammengesetzte, sprühende und glühende Kaiser- und die zierliche Kaiserinnenkrone, das in silberner, edelsteinverzierter Scheide ruhende Reichsschwert, der goldene von drei diamantenen Gürteln umgebene Reichsapfel, das Reichsscepter, die beiden Krönungsmäntel, das Reichssiegel und die entfaltet getragene goldige Reichsfahne mit dem eingestickten schwarzen Reichsadler. Und jetzt hinter einem Zuge Chevaliergardisten und den Oberhofmarschällen der Kaiser und die Kaiserin, von brausendem, immer wieder sich erneuerndem Jubel begrüßt, der fast die ehernen Stimmen der Glocken und die von den Musikcorps gespielten vielfältigen Weisen der Nationalhymne übertönte und anhielt, bis das Kaiserpaar in dem Kirchenportal, an welchem die höchste Geistlichkeit des Reiches seiner harrte, verschwunden war. Der Kaiser trug die dunkelgrüne Uniform des Petersburger Preobrashenskyschen Garderegiments, seine Gemahlin ein silberbrokatenes Gewand mit reichen goldenen Stickereien, über die Brust zog sich das rote Band des Katharinenordens; von der unteren Treppenstufe schritten der Kaiser, ihm nach die Kaiserin, unter einem länglichen, an den Stangen und Quasten von zweiunddreißig Generaladjutanten getragenen goldbrokatenen Baldachin, dessen Bedachung zwischen den goldenen Kronen und Adlern dichte Büschel schwarz-gelb-weißer Straußenfedern schmückten.

Nicht minder malerisch und farbenreich wie dieses Bild hier draußen war das in der Kathedrale selbst, in welcher seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts sämtliche Zaren gekrönt worden sind. Inmitten derselben war das scharlachrot bedeckte Thronpodium errichtet, zu dem zwölf von goldenen Balustraden begrenzte Stufen hinaufführten; oben sah man unter einem größeren purpursammetnen, freihängenden Baldachin die elfenbeingeschnitzten, mit blauen Sammetkissen bedeckten Thronsessel für das kaiserliche Paar, rechts von diesen unter einem kleineren Baldachin denjenigen [427] für die Kaiserin-Mutter. Oben auf dem Podium standen um die kaiserlichen Herrschaften die sämtlichen Fürstlichkeiten und die ersten Vertreter der kaiserlichen Macht, die auch nebst mehreren Offizieren der Chevaliergarde die beiden Seiten der Stufen besetzt hielten, während an letzteren bis zum Allerheiligsten längs des schmalen Ganges die Geistlichen Aufstellung genommen hatten.

Nicht weniger als drei Stunden nahmen die umständlichen, durch die Tradition festgesetzten Krönungsceremonien in Anspruch, von denen hier nur die feierlichsten Augenblicke hervorgehoben seien. Nachdem der Kaiser sich die vom Petersburger Metropoliten gesegnete Krone auf das Haupt gesetzt und den Krönungsmantel umgethan, kniete die Kaiserin vor ihm nieder, und ihr Gemahl setzte ihr die kleine Kaiserinnenkrone auf das Haupt, zog sie zu sich empor und drückte ihr einen Kuß auf die Wange – eine Scene von rührender Innigkeit. Nicht weniger ergreifend war es, als der Kaiser niederkniete und mit bewegter Stimme den Höchsten anflehte, ihn für sein verantwortungsvolles Amt mit Kraft und Gnade zu erfüllen: „Mein Herz lege ich in Deine Hand, damit sie mich lenkt, alles zum Besten der mir anvertrauten Menschen und zu Deiner Verherrlichung zu verrichten, daß ich Dir am Tage des jüngsten Gerichts ohne Scham Rechenschaft über meine Thätigkeit ablegen kann.“ Hierauf fielen sämtliche Anwesende auf die Kniee und beteten für das Wohl des Kaisers, an welchem kurz danach unter Glockenklang und dem von draußen hereintönenden Donner der Geschütze die Salbung vor dem Allerheiligsten durch den Petersburger Metropoliten vorgenommen wurde. Derselbe bestrich unter den Worten: „Das ist das Zeichen des Heiligen Geistes“ mit dem Salböl die Stirn, Augen, Nasenlöcher, Lippen, Brust und Hände des Herrschers und salbte dann auch die Stirn der Kaiserin. War das alles von getragenem Ernst und hoher Feierlichkeit, so berührte rein menschlich die Beglückwünschung des Kaiserpaares durch die nächsten Familienangehörigen und die übrigen Fürstlichkeiten, die meist durch Umarmung und Kuß stattfand und mit welcher die Ceremonie in dieser Kathedrale schloß. Denn von ihr aus begab sich noch das Kaiserpaar zu den bereits erwähnten beiden anderen Kremlkirchen, der Archangel- und der Verkündigungskirche, um den in denselben aufbewahrten Heiligenbildern seine Verehrung zu bezeigen.

Der Kaiser begiebt sich nach der Krönung in die Archangelkirche.
Nach einer photographischen Aufnahme.

Der Weg zu denselben wurde außerhalb des inneren Kremlhofes genommen, wo sich links vor den spalierbildenden Truppen mehrere Tribünen erhoben, rechts aber sich enggescharte Volksmengen drängten, die das Kaiserpaar mit frohlockendem Jubel begrüßten. Militär, Hofbeamte und hohe Geistliche eröffneten den Zug; unser Bild läßt einen der Metropoliten mit zwei leuchtertragenden Diakonen erkennen. Der Kaiser schritt ernsten Angesichts unter dem Thronhimmel, er trug den goldbrokatenen hermelingefütterten Krönungsmantel mit dem Hermelinkragen, der von zwei der ersten Hofbeamten gestützt wurde – einer alten Ueberlieferung gemäß, da sich die früheren Zaren öffentlich nie ohne zwei Bojaren zeigten – während andere die Schleppe hielten; auf dem Haupte des Herrschers thronte die zweiteilige, das west- und oströmische Reich versinnbildlichende Krone, in der rechten Hand hielt er das Scepter, in der linken den Reichsapfel. Ihm folgte unter dem Baldachin die Kaiserin, gleichfalls mit dem Krönungsmantel und der Krone geschmückt, die lieblichen Züge zart gerötet. Nach dem Besuche der beiden Kathedralen kehrte das Kaiserpaar in das Palais zurück; orkanartig, ihr stürmisches Echo bei den sich außerhalb des Kremls stauenden Volksmassen findend, erschollen Hoch- und Hurrarufe, als sich Zar und Zarin auf der obersten Terrasse der Roten Treppe dreimal freundlich verneigten im goldigen Schein der Frühlingssonne, welcher die kronengeschmückten Häupter des Kaisers und der Kaiserin wie mit einer goldgesponnenen Aureole umgab.

Am Abend aber erglühte ganz Moskau, wie am Einzugstage, in einem strahlenden Flammengewande, dessen herrlichstes und stolzestes Schmuckstück der Kreml bildete. Hunderttausende weißer und bunter Flämmchen umrankten seine Zinnen und Mauern, kletterten an den Türmen hinauf und umspannen sie an ihren Galerien, ihren Fenstern, ihren Erkern bis zur höchsten Spitze mit einem glühenden Schleier; als wäre ein Sternenmeer auf sie herniedergefallen, so schimmerten die von unzähligen elektrischen Flammen besäten goldenen Kuppeln des Glockenturms Iwan Welikij und ließen die Kuppeln der benachbarten Kathedralen wie aus flüssigem Erz erscheinen.…

Leider – leider haben diese großartigen Freudenfeste einen ungetrübten Abschluß nicht finden können. Am 30. Mai sollte auf dem Chodynskifelde die herkömmliche Verteilung der Gaben unter das Volk stattfinden; auf Hunderttausende waren dabei die Menschenmassen angewachsen und in dem furchtbaren Gedränge fanden über zweitausend Menschen einen jammervollen Tod. Es möge uns erspart bleiben, diese schreckliche Katastrophe ausführlich zu schildern. Wie ein tiefer Schatten fiel sie auf den sonnigen Festjubel – fürwahr, eine bittere Fügung des Schicksals, das nur zu oft auf Erden die Trauer zur Begleiterin der Freude macht!


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Blätter und Blüten.


Gerhard Rohlfs †. Unmittelbar vor dem Beginn des Drucks dieser Nummer erhalten wir die Trauerkunde von dem am 3. Juni in Rüngsdorf bei Godesberg erfolgten Ableben des hervorragenden deutschen Afrikaforschers Gerhard Rohlfs. Die „Gartenlaube“ verliert in ihm einen hochgeschätzten Mitarbeiter; denn der kühne Reisende, der so viel für die Erforschung des Hinterlandes der nordafrikanischen Staaten geleistet hat, besaß in seltenem Grade die Kunst des gemeinverständlichen anschaulichen Vortrags, und oft ist er, namentlich in früheren Jahren, unserer Einladung gefolgt, den Lesern der „Gartenlaube“ von seinen Reisen und Abenteuern zu erzählen. Wir können heute nur in aller Kürze mit dem Ausdruck unserer Trauer den Verlust verzeichnen, den die deutsche Afrikaforschung durch Rohlfs’ Tod erleidet, werden aber nicht verfehlen, diesem Nachruf eine eingehende Würdigung seiner Verdienste und seiner Persönlichkeit folgen zu lassen, welche ein Bildnis des Verstorbenen begleiten wird.

Beethovens Mondscheinsonate. (Zu dem Bilde S. 409.) Weite Spaziergänge gehörten zu Beethovens Lebensgewohnheiten. Meistens einsam, seltener in Begleitung eines Freundes durchstreifte er Wald und Flur, nachdem er mit heftigen raschen Schritten der Stadt und ihrem Straßenlärm entflohen. Einst erging er sich mit seinem Jugendfreunde und Kapellgenossen Romberg in der Umgebung seiner Vaterstadt Bonn. Es war später Abend geworden, als die beiden auf dem Heimwege an dem Hause eines Schiffsbildhauers vorüberkamen. Musik klang aus den offen stehenden Fenstern. Beethoven blieb stehen und lauschte: die Weisen waren ihm wohlbekannt … es waren seine eigenen … Ein Blick ins Innere des Zimmers zeigte den jungen Musikern ein rührendes Bild: ein schönes Mädchen saß am Klavier und meisterte mit zarten Fingern die Saiten; ihre ganze Gestalt lebte in den Tönen, nur ihre Augen blieben starr und schienen ins Leere zu schauen … das Mädchen, die Tochter des Schiffsbildhauers, war blind. Den Reiz der Außenwelt zu genießen, vermochte sie nicht, um so inniger hatte sie sich dem Zauber der Tonkunst ergeben … Nachdem die Freunde eine Weile gehorcht, machte Beethoven ein Zeichen, einzutreten, und ging voran ins Haus. Als sie die einfache von keinem andern als dem Lichte des aufgehenden Mondes erhellte Stube betraten, sahen sie, daß die schöne Spielerin ein kleines Publikum hatte, ihre alten Eltern, die mit Andacht den Offenbarungen einer wundersam beseelten Kunst lauschten. Das Mädchen unterbrach sich, als es den Tritt der Männer hörte … und ging gar vom Flügel weg, als der eine derselben, der träumerisch blickende Beethoven, sich erbot, etwas vorzutragen. Der junge Meister begann zu spielen, immer kühner und kühner wurde seine Phantasie, immer weiter verlor er sich in jene fernen Regionen, wohin erst eine späte Nachwelt einem Genie zu folgen vermag. Als er sich nach längerer Zeit erhob und ohne Abschied von seinen begeisterten Zuhörern das Zimmer verließ, um seinen heißen Kopf in der erquickenden Nachtluft zu kühlen, hatte er die Themen seiner „Mondschein-Sonate“ gefunden … So die Legende.

Unser Bild stellt die Scene in ergreifender Weise dar: im Mittelpunkte der durch seine eigenen Gedanken weltentrückte Meister – sein Kopf ist äußerst porträtähnlich nach der Kleinschen Maske aus dem Jahre 1812 gezeichnet – am untern Ende des Klaviers Romberg, der sein Haupt auf die Hand stützt; neben diesem der alte Schiffsbildhauer, tief in Zuhören versunken. Dicht am Flügel steht, wie eine Erscheinung, die Gestalt des schönen Mädchens; hinter dem Stuhle, auf dem Beethoven sitzt, die alte Mutter, die mit scheuer Bewunderung das Unerhörte miterlebt … jeder der Zuhörer in anderer Weise ergriffen, aber jeder unterthan der überwältigenden Macht der Musik! –b.–     

Die Kaiserin Alexandra von Rußland beim Einzug in den Kreml.
Nach einer Momentaufnahme gezeichnet von R. Mahn.

Einkehr auf der Alm. (Zu dem Bilde S. 420 und 421.) Heiß war der Heraufstieg für die verwöhnten Stadtleute, so frühzeitig sie auch aus der Pension drunten im Thal aufgebrochen sind, und hübsch lange haben sie dazu gebraucht, denn fünf Stunden in einem fort steigen, das kann man doch gebildeten Menschen nicht zumuten. So gab’s bald da, bald dort ein Rastviertelstündchen und an einer besonders schönen Aussichtsecke ein Frühstück, wobei der Rucksack um die mitgenommene Flasche Wein und sämtliche Fleischbrötchen erleichtert wurde. Er trug sich dadurch nur um so angenehmer und Mittag machen wollte man ja oben auf der Alm. Aber Himmel, was ist das für eine Enttäuschung! … Eine irdene Schüssel voll Dickmilch, kein Brot, keine Butter, kein Käse, von Bier ganz zu geschweigen! Die Damen betrachten nachdenklich die schwärzlichen Blechlöffel; der Herr Künstler, der den Aufstieg zu dieser herrlichen Sennhütte auf dem Gewissen hat, kann sich ebenfalls noch nicht zum ersten Mundvoll entschließen und schäkert mit der hinter ihm stehenden Sennerin. Doch diese lacht übers ganze Gesicht, die spitzbübische Burgei, denn das macht ihr immer einen Hauptspaß, wenn sie so ein paar „Herrische“ vor ihrer einfachen Kost in Beklemmung sieht! – Wer es noch nicht weiß, daß die Bauern im Gebirg über die Stadtleute auch ihre ganz bestimmten Meinungen haben, der kann es hier auf dem hübschen Bild deutlich genug zu sehen bekommen. Bn.     

Gretchen vor der Mater dolorosa. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wie viele Künstler seit Cornelius haben schon danach gerungen, das Weltgedicht „Faust“ in sichtbarer Form nachzuschaffen! Aber noch keinem ist es völlig gelungen, einen Faust oder ein Gretchen so im Bilde darzustellen, wie sie mit allvertrauten Zügen vor dem innern Auge stehen: wir können nur des Künstlers Eigenart in seinen Figuren betrachten. Auch das Gretchen, wie es Makart schuf: das lieblich weiche Gesichtchen von goldenem Haar umflossen, die Augen schmerzvoll zum Altarbild emporgerichtet – entspricht nicht dem Bilde, das sich unsere Phantasie geschaffen. Wir geben es als eine Erinnerung an den ehemals so Hochgefeierten, dessen schönheitsdurstige Künstlerseele sich von aller herben Lebensnot abwandte und den erschütternd tragischen Schmerz nicht anders als durch Anmut gemildert zu empfinden und wiederzugeben vermochte.


manicula Hierzu die Kunstbeilage VII: „Gretchen vor der Mater dolorosa.“ Von Hans Makart.

Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (1. Fortsetzung). S. 409. – Die Entstehung von Beethovens „Mondschein-Sonate“. Bild. S. 409. – Bornholm. In Wort und Bild geschildert von Hans Bohrdt. S. 416. Mit Abbildungen S. 412 und 413, 416, 417 und 419. – Einkehr auf der Alm. Bild. S. 420 und 421. – Der Roman einer Königin. Historische Novelle von Emil Peschkau. S. 422. – Der Einzug des Kaisers Nikolaus II. in den Kreml. Bild. S. 425. – Die Kaiserkrönung in Moskau. Von Paul Lindenberg. S. 426. Mit Abbildungen S. 425, 427 und 428. – Blätter und Blüten: Gerhard Rohls †. S. 428. – Beethovens Mondscheinsonate. S. 428. (Zu dem Bilde S. 409.) – Einkehr auf der Alm. S. 428. (Zu dem Bilde S. 420 und 421.) – Gretchen vor der Mater dolorosa. S. 428. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 75 Pf. bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahres bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No. 25. 1896.


Joachim Heinrich Campes Geburtshaus. In demselben Jahre wie Pestalozzi, dessen Gedächtnis im Januar des laufenden Jahres begangen wurde, ist auch sein ihm vielfach geistesverwandter Mitstreiter auf dem Gebiete pädagogischer Reformen, J. H. Campe, zur Welt gekommen. Am 29. Juni vor 150 Jahren wurde er in Deensen, einem kleinen Dorfe bei Holzminden, geboren. Von Hause aus ein Bauernkind, gleich manchem anderen deutschen Manne, der späterhin ein großer Geist ward, nahm er mit der ganzen Frische eines naiven Gemütes die Zeitströmungen der Aufklärung und des „Philanthropismus“ in sich auf. Er ward einer der bedeutendsten Vertreter des letzteren und war als solcher praktisch thätig in Dessau, Hamburg und Braunschweig. War Basedow Bahnbrecher, Salzmann das edelste Glied dieser Schule der „Menschenfreundlichkeit“, so war Campe deren fruchtbarster Schriftsteller und damit überhaupt der Begründer unserer Jugendlitteratur. Wir alle sind noch mit Columbus, Cortez und Pizarro dahingesegelt über den Ozean in Campes „Entdeckung von Amerika“, um uns, neben Coopers Lederstrumpferzählungen, aus ihr unsere kindlichen Vorstellungen über das Land der roten Rasse zu holen. Und unsere Kinder wissen alle bis auf den letzten kleinen Mann von ihrem „Robinson dem Jüngeren“ zu erzählen, dem Campe geradezu die gesamte Kinderwelt erobert hat; in alle Kultursprachen ist seine Bearbeitung von Daniel de Foes „Robinson“ übersetzt worden, die noch täglich neue Leser findet. Sein schriftstellerischer Erfolg kam Campe auch materiell zu gute. Er gründete die heute noch bestehende „Schulbuchhandlung“ in Braunschweig, die seine Bücher verlegte.

J. H. Campes Geburtshaus im Camphof zu Deensen.
Nach einer Photographie von Otto Liebert in Holzminden.

In einen anderen, ebenso bedeutenden Erfolg teilt sich Campe mit den übrigen Philanthropen; er bestand in der Beseitigung der damaligen finsteren und mechanischen Unterrichtsmethode durch eine naturgemäße und freundliche Art des Unterrichtens: „Die Schulstuben sollen zu heiteren Sitzen der Gesundheit, des Frohsinns und der Liebe gemacht werden.“ Wie Pestalozzi diese segensvolle Reformation für die breiten Massen des Volkes durchführte, so that es der Philanthropismus für die Begüterten, der damit den späteren „Pädagogien“ und „Instituten“ die nun allgemein anerkannten Grundsätze einer humanen Erziehung übermittelte. Die umfassende Sorge für das körperliche und geistige Wohl der Jugend, die warme und begeisterte Menschenliebe, welche zu jedem persönlichen Opfer für den Fortschritt der Menschheit an das Ziel der Glückseligkeit ständig bereit war, der heilige und reine Glaube an die Macht des Guten bildeten das Ideal, welches seine Wirksamkeit allezeit leitete. Eine Abbildnng seines ländlichen Geburtshauses wird heute gewiß vielen willkommen sein. Auf der nebenstehenden Ansicht ist es dasjenige Haus, vor welchem die Personen und Pferde stehen.

Das russische Kaiserpaar bei der Krönung. Im Hauptblatte dieser Nummer finden die Leser eine ausführliche Schilderung der Krönungsfeier in Moskau mit Abbildungen nach Momentaufnahmen, welche den Zaren Nikolaus II. und seine Gemahlin, die frühere Prinzessin Alix von Hessen, in den großen öffentlichen Aufzügen darstellen. Nach Schluß der Redaktion des Hauptblattes sehen wir uns in der Lage, diese Darstellungen durch das untenstehende Bild zu ergänzen, welches das kaiserliche Paar in jener intimen Scene vorführt, durch die die so glanzvolle Zeremonie der Krönung selbst einen Zug wahrer, von Herzen kommender Innigkeit erhalten hat. Es ist jener Augenblick, da der Zar seine vor ihm knieende, von ihm mit der diamantenen Kaiserinkrone geschmückte Gemahlin zu sich emporhebt, um sie auf die Wange zu küssen. Aus dem Kreis der Zeugen der Krönung läßt unser Bild noch die Kaiserin-Mutter Maria Feodorowna, die Witwe des vor zwei Jahren verstorbenen Kaisers Alexander III., erblicken, welche während der Feierlichkeit in der Uspenskij-Kathedrale neben dem jungen Zarenpaare ihren Thronsitz hatte.

Der Zar küßt die eben von ihm gekrönte Zarin.
Nach Skizzen gezeichnet von R. E. Kepler.

Schirmständer. Die zierlichen Fäßchen, in denen das sogen. Apfelkraut versandt wird, kann eine geschickte Hand zu einem Schirmständer umwandeln. Das Fäßchen muß vor allem außen und innen gut gereinigt werden und wird darauf zweimal innen und außen mit schwarzer oder roter Oelfarbe gleichmäßig gestrichen. Dann werden die Reifen extra erst mit schwarzem Eisenlack gestrichen und, wenn dieser getrocknet ist, goldig bronziert. Das Fäßchen wird mit Japanlackfarben nun außen in Schwarz und Gelb oder Rot und Blau nach japanischer Art mit Vögeln, Blumenranken, Arabesken u. dgl. möglichst originell bemalt, worauf man nach dem Trocknen der Malerei den ganzen Ständer noch mit Kopallack überzieht, damit er ein glänzendes Aussehen erhält. Zu beiden Seiten befestigt man mit Schrauben einen bronzenen oder vernickelten Griff, schraubt große, bunt bronzierte Garnrollen als Füße unter das bemalte Fäßchen und setzt einen Blumentopfuntersatz in den Halter, der das abtropfende Regenwasser der Schirme auffängt. He.     
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  1. Lehm.