Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[309]

Nr. 19.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Zum Jubelfest des Friedens.

Im Jubeljahr des großen Krieges,
Gedenkend mancher heißen Schlacht,
Hoch priesen wir die Frucht des Sieges,
Des Reiches Herrlichkeit und Macht;
Wir schmückten mit dem Eichenkranze
Manch Haupt – und manches Heldengrab;
Nun denkt des Tags im Maienglanze,
Der uns den Frieden wiedergab!

O welch ein Tag! Die Glocken klangen
Von Turm zu Turm im Jubelchor;
Auf Höhen und in Herzen schwangen
Die Freudenfeuer sich empor.
Nichts galt vor dieses Tages Segen
Bekenntnis und Partei: vereint
Dem Frieden zogen wir entgegen,
Wie einst zur Friedenswehr dem Feind.

In einem Frühlingsschimmer blühte
Das Land vom Watzmann bis zum Belt;
von einem Dankgefühl erglühte
Die neugeeinte deutsche Welt.
So schritt, umwogt von Jubelrufen,
Verklärt vom milden Maienschein,
Auf blütenübersäten Stufen
Ins junge Reich der Frieden ein.

Und selbst in Maienschöne ragend
Schritt er, hochhäuptig, stahlbewehrt,
Den Siegespreis in Händen tragend,
Doch griffbereit das scharfe Schwert.
Das war kein Friede wie vor Zeiten,
Der träge durch die Lande schleicht
Und den Gewinn von hartem Streiten
Mit Federzügen wieder streicht.

Kein Friede, der des Volks Gemüter
In thatenloser Ruh’ erschlafft,
Nein, der des Sieges höchste Güter
Vermehrt und wahrt mit Heldenkraft!
So schirmt seit fünfundzwanzig Lenzen,
So schirm’ er Deutschland fort und fort,
Gepanzert unter Blütenkränzen,
Der Wohlfahrt und Gesittung Hort!

Und nun zum Jubelfest vereine
Dich, deutsches Volk, zum Dankgebet;
Sieh, wie im goldnen Maienscheine
Dein Land in Frieden blühend steht.
Kein Wort des Uebermutes schände
Der Friedensglocken frommen Ruf:
Erhebt in Andacht Herz und Hände
Zu ihm, der Sieg und Frieden schuf!
 Gustav Herold.

[310]

Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (18. Fortsetzung.)


In Burgheim hatte die Vermählung Elsas äußerlich nur wenig geändert. Im oberen Stock des Hauses, der für gewöhnlich nicht benutzt wurde, hatte man, da es sich ja nur um einen vorübergehenden Aufenthalt für den Sommer handelte, einige Zimmer für das neue Ehepaar eingerichtet, und zur persönlichen Bedienung des Professors Helmreich war eine erprobte Pflegerin angenommen worden. Der Professor war freilich durchaus nicht einverstanden damit. Er hatte in seinem grenzenlosen Egoismus geglaubt, daß er nach wie vor unbeschränkt über seine Enkelin verfügen werde und sie rücksichtslos wie bisher mit seinen Launen quälen könne, aber Sonneck machte jetzt ebenso ruhig als entschieden die Rechte des Gatten geltend. Er hatte Elsa ein für allemal von der Pflege befreit, die unter diesen Umständen eine doppelt schwere war, sie durfte hinfort nur auf Stunden bei dem Großvater sein und dann war Lothar gewöhnlich zugegen und hielt die Rücksichtslosigkeit Helmreichs in Schranken. Mehr als einmal hatte er bei dessen gewohnten Ausfällen seiner Frau den Arm geboten und sie aus dem Zimmer geführt. Der Professor war im höchsten Grade beleidigt und erbittert darüber, er murrte und grollte den ganzen Tag und machte seiner Umgebung das Leben unendlich schwer; aber wo es sich um seine junge Gattin handelte, blieb Sonneck unbeugsam, wenn er auch sonst die weitestgehende Schonung gegen den Kranken übte. Er wußte ja so gut wie Elsa, daß es zu Ende ging. Helmreich war längst schon an den Lehnstuhl gebannt und seine Kräfte sanken rasch. Nach dem Ausspruche Bertrams handelte es sich nur noch um Wochen, wenn nicht irgend ein Zufall, eine heftige Erregung, die bei der ungemeinen Reizbarkeit des Professors oft aus einem Nichts entstand, das Ende schon früher herbeiführte.

Unter diesen Umständen fand man in Kronsberg, wo das hinreichend bekannt war, die Zurückgezogenheit des Herrn und der Frau von Sonneck begreiflich und geboten. Wenn Lothar seinen vielfachen Beziehungen auch nicht ganz fern bleiben konnte, so fand ein näherer Verkehr doch nur mit Lady Marwood und mit der Bertramschen Familie statt, selbstverständlich auch mit Ehrwald, der noch in Kronsberg zurückgehalten wurde. Es war jetzt entschieden, daß er vorläufig nicht in den Kolonialdienst treten, sondern sich an die Spitze einer neuen Expedition stellen sollte, um tief im Innern Afrikas neue und bisher noch unbekannte Gebiete zu erschließen, aber die Vorbereitungen dazu und die Verhandlungen darüber forderten einstweilen noch seine Gegenwart in Deutschland.

Die Strahlen der späten Nachmittagssonne fielen in den Garten von Burgheim, der trotz seiner Düsterheit heute ganz durchleuchtet war von dem goldigen Schein. Unter einer der hohen Tannen stand ein Tisch, der mit Tagebüchern, Notizen und Skizzen bedeckt war, und daneben lag ein angefangenes Manuskript. Sonneck hatte bereits die Vorarbeiten zu dem geplanten großen Werke begonnen, in dem er all seine Erfahrungen und Erlebnisse auf afrikanischem Boden niederlegen wollte.

Für den Augenblick aber ruhte die Arbeit, Lothar saß in einen Gartenstuhl zurückgelehnt, eines der Tagebücher in der Hand, aus dem er seiner jungen Frau vorgelesen hatte, und knüpfte nun eine längere Erzählung daran. Er war ein ruhiger aber vortrefflicher Erzähler, wenn er auch nicht die feurige hinreißende Art seines Freundes Ehrwald hatte, der seine Zuhörer das alles miterleben ließ und sie wie in atemlosem Bann hielt, so lange er sprach. Sonneck dagegen zeichnete in klaren, festen Zügen Bild auf Bild, indem er kein Auge von Elsa verwandte, die auf einem niedrigen Schemelchen an seiner Seite, fast zu seinen Füßen saß. Es war ein anmutiges Bild, aber ein Fremder würde geglaubt haben, Vater und Tochter zu sehen, für ein Ehepaar hätte er die beiden schwerlich gehalten.

Die junge Frau in dem hellen luftigen Sommerkleide war freilich eine ganz andere Erscheinung als das stille ernste Mädchen, um das Sonneck geworben hatte. Wie eine Knospe, die, noch gefangen in ihrer grünen Hülle, die einstige Schönheit nur ahnen läßt und sich dann über Nacht zur duftenden Rose erschließt, so war Elsa von Sonneck in den wenigen Monaten aufgeblüht. Die Züge hatten Leben gewonnen, die Augen schimmerten in tiefem, feuchtem Glanz, als habe ein Sonnenstrahl das ganze Wesen des jungen Weibes durchleuchtet und es geweckt aus einem langen Traum. Als sie so dasaß, die Hände um die Knie geschlungen, im gespannten Lauschen zu dem Gatten aufblickend, da hatte sie wieder ganz den Ausdruck, wie er in jenem Kinderköpfchen lag, das Lothar einst gezeichnet und das nun auf seinem Schreibtische drinnen stand.

„Nun aber genug für heute!“ schloß er seine Erzählung. „Wirst Du denn nie müde zuzuhören? Einst lag Dir das alles so fern und fremd, daß ich fast daran verzweifelte, Dein Interesse dafür zu erwecken, und jetzt habe ich in meiner kleinen Frau das erste und dankbarste Publikum für meine Lebenserinnerungen.“

„O, Du hast so viel, so unendlich viel erlebt!“ sagte Elsa mit kindlicher Bewunderung. „Ich könnte Tag und Nacht zuhören, wenn Du mir von dem Sonnenlande da drüben erzählst.“

„Nun, Du bist doch auch ‚da drüben‘ gewesen,“ scherzte Lothar. „Du hast das freilich alles nur mit den Augen eines Kindes geschaut und jahrelang war es Dir ganz entschwunden, bis ich die Erinnerung wieder weckte. Aber ich bereue das beinahe, denn jetzt träumst Du unaufhörlich davon und Deine Gedanken, die von Rechts wegen bei mir sein sollten, fliegen immer nur hinaus in die Weite.“

„In die Weite!“ wiederholte die junge Frau leise, während sich ihre Augen träumerisch in die Ferne verloren. „Ja, sie muß schön sein, die weite große Welt, und wenn Du davon sprichst, dann ist es mir immer, als müßte ich hinausfliegen über all die Berggipfel, über das Meer, immer weiter in die endlose Ferne. Als müßte ich dort etwas suchen und finden. Was – das weiß ich nicht, irgend etwas Großes, Herrliches –“

„Wie es im Märchen steht!“ ergänzte Sonneck lächelnd. „Gerade wie Reinhart! Der schwärmte auch so, als er das erste Mal mit mir den afrikanischen Boden betrat, der wollte es sich erjagen, sein großes, grenzenloses Glück. Erreicht hat er es nicht, aber er ist trotz all der Phantastereien doch ein echter Mann der Wirklichkeit geworden, mit einem eisernen Willen. Nein, mein Kind, da in der Ferne liegt das Glück nicht, aber ich kenne einen, der es gefunden hat – hier in der Heimat.“

„Lothar!“

„Willst Du das nicht hören? Und Du kennst doch den einen so genau wie ich. Als ich damals nach Europa zurückkehrte, krank, allein, mit dem vernichtenden Bewußtsein, daß es mit meinem Wirken zu Ende sei, da glaubte ich, die Heimat würde nur noch ein Grab für mich übrig haben, und sie gab mir das höchste Glück, gab mir Dich, meine Elsa. Sie sei tausendfach dafür gesegnet!“ Es wehte eine unendliche Zärtlichkeit aus den Worten, die junge Frau antwortete nicht, aber sie beugte sich nieder und drückte ihre Lippen auf die Hand ihres Mannes, doch er entzog sie ihr mit einer raschen, beinahe unwilligen Bewegung.

„Elsa, ich bitte Dich!“

„Darf ich das nicht?“ fragte sie unbefangen. „Ich thue es doch so gern.“

„Aber mich beschämt es. Einem Vater küßt man die Hand, dem Gatten nicht. Du thust mir weh mit dieser kindlichen Ehrfurcht, die mich immer wieder an das erinnert, was ich so gern vergessen möchte, daß beinahe vierzig Jahre zwischen uns liegen, daß Du Deine Jugend einem Manne gegeben hast, der an der Schwelle des Alters steht. Kann er Dich denn glücklich machen?“

„Du bist so gut!“ sagte Elsa in überströmender Dankbarkeit, „so unendlich gütig und liebevoll, und ich habe nie Liebe erfahren seit mein armer Vater starb. Du weißt ja, der Großvater – doch ich muß jetzt wohl zu ihm, es ist Zeit.“

„Noch nicht,“ widersprach Lothar. „Willst Du mir nicht einmal eine halbe Stunde gönnen?“

„Wir sitzen ja bereits seit zwei Stunden hier.“

Sonneck zog die Uhr hervor und warf einen höchst erstaunten Blick darauf. „Wahrhaftig! Nun dann noch ein paar Minuten!“

„Ich fürchte nur, der Großvater erwartet mich um diese Stunde,“ sagte die junge Frau zögernd. „Er ist heut’ noch viel reizbarer und erregter als sonst. Wir müssen es beide büßen, wenn ich nicht pünktlich bin.“

[311] Lothars Stirn umwölkte sich und er unterdrückte einen Seufzer.

„Jawohl und vor allem Du, mein armes Lieb! Es scheint oft, als wolle er sich förmlich dafür rächen, daß ich Dich größtenteils seiner Macht entziehe. Es ist ja eine schwere Pflicht, die Du noch zu leisten hast, und ich kann sie Dir nicht abnehmen; aber wenn die müden Augen da drinnen sich geschlossen haben, ihm und uns zur Erlösung, dann führe ich Dich in unser eigenes Heim und dann soll meine Liebe Dich für alles entschädigen, was Du jetzt noch zu tragen hast, meine Elsa, mein süßes, geliebtes Weib!“

Er zog sie an sich und drückte einen Kuß auf ihre Stirn; es lag etwas so unendlich Zartes in seiner Zärtlichkeit und seinen Liebkosungen, daß es selbst die scheue Zurückhaltung der jungen Frau überwand. Sie lehnte leise das Haupt an seine Schulter, doch plötzlich ging es wie ein Beben durch ihren ganzen Körper, und mit einer fast angstvollen Bewegung schmiegte sie sich fester an den Gatten, der sie befremdet ansah.

„Was hast Du? Was ist Dir?“

„O nichts! Ich meine nur – ich muß doch jetzt zum Großvater.“

„Freilich – nun so geh!“ sagte Lothar, indem er sie aus den Armen ließ und sich erhob. Dabei sah er auf und ließ dann einen Ausruf der Ueberraschung hören.

„Reinhart, Du bist da? Was stehst Du denn so fern und stumm wie ein Fremder?“

Es war in der That Ehrwald, der drüben aus den Tannen hervorgetreten war und wohl schon einige Minuten lang dort gestanden haben mochte, jetzt kam er langsam näher.

„Ich wollte nicht stören. Guten Tag, Lothar – ich habe Ihnen einige Zeilen von Lady Marwood zu bringen, gnädige Frau. Ich komme eben von ihr.“ Er reichte dem Freunde die Hand und übergab der jungen Frau ein Briefchen, sie nahm es mit einigen Dankesworten, sagte aber dann mit einer gewissen Hast: „Sie müssen mich entschuldigen, Herr Ehrwald, ich wollte eben zu meinem Großvater, er ist heut’ besonders angegriffen und da darf ich ihn nicht warten lassen.“

Damit wandte sie sich nach dem Hause, Sonnecks Augen folgten ihr mit einem leuchtenden glücklichen Ausdruck, während Reinhart halblaut fragte: „Steht es schlimmer mit dem Professor?“

„Nein, der Zustand ist so ziemlich unverändert, aber die Kräfte sinken immer mehr und seine Stimmung ist meist unerträglich für die Umgebung. – Doch was bringst Du mir?“

„Nicht viel, ich habe Nachrichten aus Berlin erhalten. Jetzt möchte man wieder anknüpfen und mir nachträglich die geforderte Selbständigkeit zugestehen, jetzt, wo es zu spät ist und ich mich hier gebunden habe.“

„Sie sehen also ein, was sie an Dir verlieren,“ meinte Lothar. „Ich riet Dir ja zum Abwarten, aber Du warst gleich Feuer und Flamme, als der Fürst hier den Plan faßte, die Expedition auszurüsten, und sagtest ihm sofort die Führerschaft zu.“

„Und ich bereue das keinen Augenblick. Ich tauge nicht für den Kolonialdienst, wenigstens jetzt noch nicht. Ich muß noch einmal die Freiheit kosten und mich als Herr und Herrscher fühlen bei meiner Truppe, wo ich niemand zu gehorchen habe. Ich muß wieder hinaus in Kampf und Gefahr und mich mit all den feindlichen Mächten herumschlagen, die ich so oft schon gezwungen habe. Ich muß, Lothar! Du ahnst nicht, wie notwendig mir das gerade jetzt ist.“

„Hast Du immer noch nicht ausgestürmt?“ fragte Sonneck mit leisem Kopfschütteln. „Gleichviel, für die nächsten Jahre ist die Entscheidung nun gefallen und der Kolonialdienst bleibt Dir immer noch für die Zukunft. Wann reisest Du?“

„In vier Wochen, eher wird es nicht möglich sein. Ich ginge freilich lieber heut’ als morgen.“

Die Worte klangen in äußerster Ungeduld, und mit einer beinahe ungestümen Bewegung warf sich Reinhart in einen der Gartenstühle und musterte flüchtig den Tisch mit den Papieren.

„Da liegt ja ein angefangenes Manuskript. Bist Du schon bei der Arbeit?“

„Es ist nur die Einleitung, die Arbeit selbst werde ich wohl erst im Winter beginnen können. Ich habe das ganze überreiche Material noch zu sichten und zu ordnen und das kann Monate dauern.“

„Eine mühevolle Arbeit! Ich hätte kaum die Geduld dazu.“

„Für mich ist sie nicht mühevoll,“ sagte Lothar lächelnd. „Elsa hat sich zu meinem Sekretär gemacht und zeigt dabei einen Eifer und ein Interesse, wie ich es nicht für möglich gehalten habe. Ja, Reinhart, diesmal hast Du doch schärfer und tiefer gesehen als ich: Du behauptetest ja schon vor Monaten, ihr ganzes Wesen läge wie in einem Bann, aus dem man sie erwecken müsse. Du hattest recht! Und es war so süß, dies Erwachen, dies Sichlosringen von den Fesseln einer tyrannischen Erziehung, dies Aufblühen zu einem neuen Dasein – ich staune es oft wie ein Wunder an.“

Ehrwald hatte eins der Tagebücher ergriffen, die auf dem Tische lagen, und blätterte darin. Er sah nicht auf, als er jetzt langsam fragte: „Du bist sehr glücklich, Lothar?“

„Fragst Du das im Ernst?“ Lothars tiefe Augen leuchteten wieder wie vorhin in jener innigen Glückseligkeit. „Manchmal ist es mir, als müsse ich dem Schatten dankbar sein, den die Krankheit und die Verbitterung Helmreichs über uns wirft. Ich kenne ja den alten Spruch und fürchte die Götter, wenn sie allzu günstig sind, und mir haben sie fast zu viel, mir haben sie alles gegeben!“

„So preise sie dafür!“ sagte Ehrwald beinahe herb, indem er das Buch auf den Tisch warf und aufstand. Er lehnte sich mit verschränkten Armen an den Baum und merkte es gar nicht, daß eine minutenlange Pause eintrat und Sonneck ihn schweigend und forschend beobachtete, er sah stumm und düster in die Ferne hinaus.

„Reinhart!“

Der Gerufene schreckte empor wie aus einem Traume.

„Was sagtest Du? Verzeih’, ich habe es nicht gehört.“

„Ich sagte nichts, aber ich dachte soeben, daß es sehr egoistisch von mir ist, Dir hier von meinem Glücke vorzuschwärmen, während Du armer Junge, ich weiß ja längst, wie es um Dich steht!“

„Du weißt –?“ fuhr Reinhart auf, es lag etwas wie Entsetzen in dem Blick, mit dem er den Freund anschaute.

„Hast Du wirklich geglaubt, mir das verbergen zu können, mir, der Dich so genau kennt wie niemand auf der Welt? Ich habe es gesehen, wie es in Dir wühlt und kämpft. Leugne nicht, Reinhart, Du bist ein anderer geworden, seit Du in Kronsberg bist.“

Ehrwald machte keinen Versuch, zu leugnen, aber er war totenbleich geworden und seine Hand krampfte sich um die Lehne des Sessels, als wollte er sie zerbrechen. Wie ein Schuldbewußter stand er da, während Sonneck fortfuhr: „Ich wollte mich nicht in Dein Vertrauen drängen, aber es that mir wehe, daß Du es mir versagtest – zum erstenmal! Sind wir denn nicht mehr die alten Freunde?“

„Ja, wir sind es!“ sagte Reinhart tonlos aber fest.

„Nun denn, so fordere ich mein Freundesrecht. Sei endlich offen gegen mich – wie stehst Du mit Zenaide?“

„Mit – Zenaide?“ Es rang sich wie ein befreiender Atemzug aus der Brust des Mannes empor. „So – das meintest Du?“

„Was denn sonst? Du hast sie einst geliebt. Damals freilich standen Dein glühender Freiheitsdrang, Dein Ehrgeiz im Vordergrunde, und als nun vollends Dein Stolz ins Spiel kam, gabst Du sie auf. Jetzt ist das wieder aufgeflammt, jetzt bist Du ganz beherrscht von dieser Leidenschaft, die Dich förmlich verzehrt. Dies Wiedersehen ist verhängnisvoll geworden für Dich und auch für sie. Denkst Du, ich weiß es nicht, welche Macht Bertram zu Hilfe gerufen hat? Womit er es erreichte, daß Zenaide sich so vollständig aus der Gesellschaft zurückzog, daß sie jetzt mit einer beinahe rührenden Fügsamkeit jeder Verordnung folgt? Du bist eben allmächtig bei ihr, aber – was soll daraus werden?“

„Ich weiß nicht! Quäle mich nicht, Lothar!“ stieß Reinhart plötzlich mit wilder Heftigkeit hervor. „Laß dies Gespräch – frage mich nicht – ich kann Dir nichts sagen!“

Er sah in der That aus, als ob er eine Folter ausstehe, Sonneck legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm.

„Nun, so höre wenigstens, was ich Dir zu sagen habe, es geht Dich und Zenaide gleich nahe an. – Ihr Gemahl ist hier, nur wenige Stunden entfernt.“

„Lord Marwood?“

„Ja, mit seinem Sohne. Ich erfuhr es heute morgen, wo ich einen überraschenden Besuch erhielt. Du erinnerst Dich wohl noch des Lieutenants Hartley, der im Osmarschen Hause verkehrte?“

„Marwoods nächster Freund – gewiß!“

„Er nahm später den Abschied, kehrte nach England zurück und vermählte sich. Seine Frau stammt aus Deutschland und sie bringen gewöhnlich den Sommer in Malsburg zu, das Mistreß Hartley von ihrem Vater erbte. Dort ist jetzt auch Marwood als

[312]
Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0312.jpg

Copyright 1893 by Franz Hanfstaengl in München.
Adagio.
Nach dem Gemälde von B. Pinell.

[313] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [314] Gast seines Freundes und dieser kam jedenfalls in seinem Auftrage, wenn er auch nur einen Besuch vorschützte. Es sollte vermutlich sondiert werden.“

„Und zu welchem Zwecke? Eine Versöhnung vielleicht?“

„Nein, im Gegenteil, Marwood will die Scheidung, die unter diesen Umständen freilich nur noch eine gesetzliche Form ist. Zenaide trägt noch den Namen ihres Gemahls, getrennt haben sie sich ja längst und ihr vom Vater ererbter Reichtum macht sie völlig unabhängig. Für sie wäre es ein Glück, wenn die Kette vollends gebrochen würde, aber Marwood stellt eine grausame Bedingung: sie soll jedem Anspruch auf das Kind entsagen, auch für die Zukunft – das ist der Preis ihrer Freiheit!“

„Und das wagt er, einer Mutter zuzumuten?“ rief Ehrwald empört.

„Er glaubt eben, ihr jetzt die Wahl stellen zu können,“ sagte Sonneck bedeutsam. „Ich fürchte, es hat drüben in Malsburg etwas von den Klatschereien verlautet, die hier im Umlauf sind. Zenaide ist sehr unvorsichtig der Welt gegenüber. Als sie sich aus dem Strudel des Gesellschaftslebens zurückzog, erfuhr man freilich, daß es auf strengen ärztlichen Befehl geschah. Bertram sorgte dafür; aber Du wurdest nach wie vor empfangen, wo man allen anderen die Thür verschloß, und das ist natürlich sehr bemerkt worden. Man spricht über Euch beide nur zu viel und ich hätte Dir schon längst einen Wink gegeben, wenn nicht – doch da kommt Elsa zurück! – Schon jetzt?“

Er hatte allerdings Grund zur Verwunderung. Helmreich pflegte sonst die junge Frau nicht so rasch freizugeben, diesmal aber kam sie mit einem Auftrage von ihm. Er wollte Lothar sprechen, es sei ein Brief von seinem Verleger gekommen, der erledigt werden müsse. Es lag ganz in der rücksichtslosen Art des Professors, auch über den Gatten seiner Enkelin ohne weiteres zu verfügen, obgleich er von Elsa erfahren, daß Lothar Besuch von seinem Freunde hatte. Aber man war es in Burgheim gewohnt, dem Leidenden in solchen Dingen stets nachzugeben, und Sonneck erhob sich sofort. „Es handelt sich um das letzte große Werk Helmreichs, das eben abgeschlossen ist,“ sagte er erklärend zu Ehrwald. „Das Schreiben ist ihm kaum mehr möglich, und da habe ich die Korrespondenz mit dem Verleger übernommen. – Nein, Reinhart, Du darfst noch nicht aufbrechen, Elsa bleibt ja hier und ich komme gewiß bald zurück.“

Ehrwald hatte in der That Miene gemacht, aufzubrechen, und fügte sich mit einigem Zögern der Bitte; er nahm seinen Platz wieder ein, während Lothar zu dem Professor ging. Elsa machte sich mit dem Ordnen der Bücher und Papiere zu schaffen und einige Minuten lang herrschte völliges Schweigen. Dann fragte die junge Frau: „Also Sie wollen uns nun doch bald verlassen?“

„In vier Wochen, gnädige Frau,“ lautete die einsilbige Antwort.

„Lothar wird Sie sehr vermissen. Ich sehe es schon jetzt, wie unendlich schwer ihm die Trennung wird.“

„Doch wohl nicht so schwer wie mir. Lothar hat vollen Ersatz, ich – ziehe allein hinaus in die Weite. Nun, ich habe sie ja jetzt wiedergesehen, die alte Heimat. Da wird mich das Heimweh wohl künftig in Ruhe lassen!“

„Die Heimat ist sehr stolz auf ihren berühmten Sohn,“ warf Elsa hin. „Sie erhalten oft genug Beweise davon!“

„O ja!“ Um Ehrwalds Lippen zuckte ein Ausdruck herber Verachtung. „Die guten Kronsberger geben mir meine Berühmtheit Tag für Tag zu kosten. Sie haben mir eine Deputation über den Hals geschickt, eine Adresse votiert, es fehlt nur noch, daß sie mir bei Lebzeiten ein Denkmal setzen. Einst galt ich ihnen als der ausgemachteste Taugenichts auf Gottes weitem Erdboden – so ändern sich die Zeiten!“

Die Worte sollten scherzhaft klingen, allein es lag eine tiefe Bitterkeit darin. Die Augen der jungen Frau streiften wie mit einer Frage sein Antlitz.

„Sie verschwiegen es so lange, daß Burgheim Ihre Heimat ist,“ sagte sie. „Ich hatte keine Ahnung davon –“

„Als ich jenen nächtlichen Einbruch unternahm,“ ergänzte Reinhart, da sie innehielt. „Ich wurde freilich dabei ertappt, Wotan empfing mich äußerst grimmig und seine Herrin – o bitte, gnädige Frau, keine Entschuldigung! Sie waren nur in Ihrem Recht. Wer nachts wie ein Dieb über die Mauern in fremde Gärten steigt, darf sich nicht wundern, wenn er als Verdächtiger behandelt wird. Aber Sie wissen ja jetzt, was mich herzog. Es war doch immer mein Vaterhaus, von dem ich mich freilich losgerissen hatte. Lothar wird Ihnen das wohl längst erzählt haben.“

„Lothar hat mir nur einiges angedeutet, er glaubte wohl, zum Schweigen verpflichtet zu sein.“

„Da giebt es nicht viel zu verschweigen,“ sagte Ehrwald mit einem Achselzucken, „die Sache war ja Stadtgespräch. Sie haben nie viel in Kronsberg verkehrt, gnädige Frau, sonst hätten Sie wohl früher schon verschiedene Schauergeschichten von dem ‚tollen Reinhart‘ gehört. Ich galt meinen lieben Landsleuten, wenn nicht für den Satan selbst, so doch für seinen nahen Verwandten und sie ließen mich das entgelten. Sie haben mich so lange gehetzt und gequält, verleumdet und verlästert, bis ich schließlich auf und davon ging. Doch das wird Sie schwerlich interessieren.“

„Doch, es interessiert mich.“

„Wirklich?“ Sein Auge traf aufflammend das ihrige, das sich senkte vor diesem Blick, während sie leise hinzufügte: „Sie sind ja Lothars nächster Freund.“

„Ja so, um Lothars willen!“ Er fiel wieder in den kühlen, beinahe spöttischen Ton zurück, in dem er bisher gesprochen. „Nun, die Geschichte ist bald erzählt, sie handelt von einem wilden, unbändigen Knaben, der keinem Zügel gehorchen wollte. Wenn man in voller Freiheit aufwächst, bei einem Vater, der den einzigen Jungen vergöttert, bei einer schwachen, zärtlichen Mutter, da wird man nicht zahm und ich hatte überhaupt nie Anlage dazu, aber glücklich bin ich gewesen in jener goldenen Knabenzeit! Doch die Herrlichkeit nahm bald ein Ende! Als ich zwölf Jahr alt war, starb mein Vater und ich kam unter die Zuchtrute meines Herrn Vormundes, eines Verwandten, der in Kronsberg lebte, und dem bald noch eine andere Autorität zur Seite stand. Meine Mutter reichte ihm die Hand und so wurde er mein Stiefvater. Er hatte es sich nun leider in den Kopf gesetzt, mich zu ‚bändigen‘, und da gab es denn natürlich Kämpfe ohne Ende.“

Elsa hatte den Kopf in die Hand gestützt und hörte schweigend zu, das klang so seltsam an ihre eigenen Kindheitserinnerungen an. Auch sie war ja im Sonnenschein der Liebe aufgewachsen und dann unter die ‚Zuchtrute‘ des alten Mannes geraten, der ihre ganze Jugend vernichtet hatte mit seiner lieblosen Strenge und Härte. Das hatte also schon einmal hier in Burgheim gespielt, freilich mit anderem Ausgange!

„Zwischen mir und meinem Stiefvater war von Anfang an offener Krieg,“ fuhr Ehrwald fort. „Waffenstillstand gab es nur, wenn ich fern vom Hause war, denn ich ließ mich eben nicht bändigen. Meine Mutter hatte nie einen eigenen Willen gehabt und stand gänzlich unter dem Einfluß ihres zweiten Gatten; sie hielt mich auch nur für den Zügellosen, den schon halb Verlornen. Der Mann, der die Stelle meines Vaters eingenommen, hatte mir auch ihre Liebe geraubt. Als ich von der Universität zurückkehrte, kam die Katastrophe. Ich hatte eingesehen, daß ich für den Aktenstaub der Juristenlaufbahn nicht tauge, und erklärte, ich wolle zur See gehen, nur um hinauszukommen in die weite Welt, die mich nun einmal unwiderstehlich lockte; und da gab es eine Scene auf Leben und Tod. Ich war einundzwanzig Jahre alt und wurde behandelt wie ein ungezogener Schulbube, wurde gescholten, bedroht, und schließlich vergaß sich mein Stiefvater so weit, die Hand gegen mich zu erheben. Da war es aus – ich schlug ihn zu Boden! Wie es eigentlich geschah, das weiß ich nicht, ich sah nur, daß er blutend dalag, daß meine Mutter sich über ihn warf und mir das Wort zuschleuderte, ich sei das Unglück und das Unheil ihres Lebens. Mit dem Segenswunsch ging ich hinaus in die Welt, und als ich die alten Stufen dort damals hinabschritt, da wußte ich, wie einem Mörder zu Mute war!“

„War er – tot?“ fragte Elsa mit stockendem Atem.

„Nein, das hat mir das Schicksal gnädig erspart. Er kam mit einer mehrwöchigen Krankheit davon. Ich hatte mir auf Umwegen Nachricht verschafft, und als ich erst wußte, daß er lebte, da fühlte ich mich auch wieder im Recht, da hatte ich auch wieder die alte Kraft und den alten Mut; sie waren freilich das Einzige, was ich jetzt besaß, aber es war genug.“

Die junge Frau blickte in das dunkle, energische Antlitz des Mannes, wo jeder Zug eiserne Willenskraft verriet.

„Dann folgten ein paar schlimme Jahre,“ hob er wieder an. „Ich mußte den Kampf ums Dasein aufnehmen, und ich habe ihn ja auch durchgefochten, aber ich fühlte doch, daß ich mehr und mehr den festen Boden unter den Füßen verlor bei diesem wilden, [315] unsteten Leben; daß der Strudel mich immer mehr ergriff und mich hinabzuziehen drohte. Vielleicht wäre ich zu Grunde gegangen darin, da führte mir das Schicksal Lothar entgegen. Er reichte mir die Hand, er entriß mich jenem Leben und stellte mich an seine Seite. In den ersten Jahren ist er mir Freund, Vater, Lehrer – ist er mir alles gewesen. Was ich geworden bin, was ich erreicht und errungen habe – ich danke es ihm allein!“

Es sprach eine leidenschaftliche Empfindung aus den Worten und sie hatten den Ton der vollen echten Wahrheit, aber die Stirn Reinharts war so finster dabei, und es war ein seltsam düsterer Blick, mit dem er die junge Gattin seines Freundes streifte. Er erhob sich und trat dicht an ihre Seite.

„Und Sie sind jetzt sein Weib!“ sagte er mit einer Stimme, deren Beben er doch nicht ganz zu beherrschen vermochte. „Machen Sie ihn glücklich. Er verdient es und er liebt Sie über alles!“

„Ich weiß es –“ Elsa verstummte mitten in der Antwort, sie begegnete wieder jenem rätselvollen Blick, der den ihrigen wie mit geheimnisvoll zwingender Gewalt festzuhalten schien, unter dem sie zuerst erwacht war aus dem langen Traum. Ihr Gatte wußte es freilich nicht, wann dies Erwachen gekommen war – damals auf der einsamen Hochgebirgsmatte, als ringsum das graue Nebelmeer wogte, aus dem dann die sonnig leuchtende Welt emporstieg, als die Fata Morgana aufdämmerte, das Märchenreich, mit der Verheißung von dem großen, dem grenzenlosen Glück.

„Elsa!“ tönte plötzlich eine scharfe, heisere Stimme. Die junge Frau zuckte zusammen und Reinhart richtete sich mit einer jähen Bewegung auf. Der schrille Klang kam aus dem Zimmer Helmreichs, das im Erdgeschoß lag. Man hatte seinen Lehnstuhl dicht an das offene Fenster gerollt, um ihm den Genuß der milden Sommerluft und den Einblick in den Garten zu ermöglichen. Dort saß er jetzt und blickte unverwandt zu den beiden unter der Tanne hinüber. „Elsa!“ rief er noch einmal, beinahe drohend.

„Verzeihen Sie, der Großvater ruft mich – ich muß zu ihm,“ sagte Elsa gepreßt und hastig, und mit derselben Hast eilte sie dem Hause zu. Ehrwald preßte die geballte Hand gegen die Schläfe und es klang fast wie ein Stöhnen, als er murmelte: „Und das soll ich noch vier Wochen aushalten. Tag für Tag! Ich bin bald zu Ende mit meiner Kraft und dazu Lothars Ahnungslosigkeit – es ist zum Wahnsinnigwerden!“

Nach einigen Minuten wandte er sich gleichfalls dem Hause zu, er wollte sich sofort von Lothar verabschieden, gleichviel unter welchem Vorwande, aber für heute wenigstens mußte die Folter ein Ende nehmen. Ehrwald hatte den Professor nicht allzuhäufig gesehen, aber er war doch bekannt genug mit ihm, um sich den Eintritt in sein Zimmer zu erlauben, wenn Sonneck dort war. Er schritt rasch über die Terrasse in den Hausflur und wollte die nur angelehnte Thür öffnen, als sein eigener Name, im scharfen hohnvollen Tone ausgesprochen, an sein Ohr schlug. Betroffen blieb er stehen, Elsa schien allein zu sein mit dem Großvater und dieser sprach von ihm. So wenig es sonst Reinharts Art war, zu lauschen, hier fing er doch etwas von dem Gespräche auf und es ging ihn nahe genug an. –

(Fortsetzung folgt.)


Aus dem Arsenal der Tierwelt.

Wenn ein schlecht erzogenes Kind sich einer ihm mißliebigen Person oder eines Gegners durch Spucken zu entledigen sucht, so greift es damit zu einem natürlichen Verteidigungsmittel, dessen sich auch manche Tiere bedienen. Allbekannt ist ja diese Gewohnheit von den Lamas. „Sie lassen,“ sagt Brehm, „den Gegner dicht an sich herankommen, legen die Ohren zurück, nehmen einen sehr ärgerlichen Ausdruck an und speien ihm plötzlich mit Heftigkeit ihren Speichel und die gerade im Munde befindlichen oder ausdrücklich zu diesem Behufe heraufgewürgten Kräuter ins Gesicht.“ Auch bei niederen Tieren, bei den Insekten, wird die Sitte des Anspuckens geübt. Einen geradezu giftigen Geifer schleudern einem manche Laufkäfer oft aus weiter Entfernung entgegen; dieser Saft soll wiederholt heftige Augenentzündungen hervorgerufen haben. In anderen Fällen erfolgt die Ausscheidung eines ätzenden Saftes zur Abwehr von Feinden nicht am vorderen, sondern am hinteren Teile des Körpers. Am vollkommensten ist diese Eigenschaft unter den höheren Tieren beim Stinktier (Mephitis) entwickelt, das dem Angreifer nicht das Kopf- sondern das Schwanzende zukehrt, um ihn mit jener entsetzlichen Flüssigkeit zu bespritzen, gegen die alle Pestgerüche der Welt Nichtigkeiten sein sollen. Unter den Insekten zeigt der Bombardierkäfer (Brachinus) die Erscheinung wohl am auffallendsten. Nimmt man einen solchen Käfer zwischen die Finger, so läßt er mehrmals hintereinander einen blauen, übelriechenden Dunst unter schwachem Knall aus der Hinterleibsspitze entweichen. Wenn ihn der sogenannte Puppenräuber (Calosoma) verfolgt, so eröffnet er auf diesen ein Schnellfeuer, unter dessen Schutze er zu entkommen sucht. Recht wirkungsvoll ist auch die schmierige Flüssigkeit, welche die wegen ihrer schön goldgrünen Flügeldecken allbekannten großen Rosenkäfer (Cetonia), freilich ohne Explosion, aus dem Hinterleibe abscheiden. Wir könnten noch mehrere Beispiele, auch aus anderen Insektenordnungen, hinzufügen, ohne nur der eigentlichen Giftabsonderungen bei den Bienen, Wespen und Ameisen zu gedenken.

Ein „ganz besonderer Saft“ aber, der dem von Mephistopheles gerühmten durchaus entspricht, soll hier noch etwas eingehender behandelt werden.

Jeder weiß, daß ein Marienkäferchen (Coccinella), wenn man es mit der Hand berührt, sich „tot stellt“; es legt die Fühler und Beine unter dem Bauche zusammen, läßt sich auf die Erde fallen und bewahrt kürzere oder längere Zeit eine vollständige Unbeweglichkeit, die geeignet ist, die Feinde, welche nur an eine bewegliche Beute gehen, wie Eidechsen, Frösche etc., irre zu führen. Die gleiche „Kriegslist“ üben ja auch viele andere Insekten; die Gelehrten, welche eine zielbewußte Thätigkeit in diesem Verhalten nicht anerkennen wollen, sind der Ansicht, daß es sich dabei um einen Starrkrampf oder um Hypnose handle. Doch dies nur nebenbei. Das Marienkäferchen hat mit dem „Sichtotstellen“ noch nicht alle ihm zu Gebote stehenden Schutzmaßregeln erschöpft. In dem Augenblick, wo es auf den Boden rollt, sieht man aus seinen Kniegelenken große Tropfen einer etwas zähen, gelb oder rot gefärbten Flüssigkeit austreten. Auch diese Eigenschaft ist allgemein bekannt, aber über die Natur und die Rolle der Ausscheidung herrscht unter den Entomologen keineswegs Uebereinstimmung, obwohl der ausgezeichnete Erforscher des Baues der niederen Tiere, Prof. Leydig, bereits 1859 das Richtige erkannt hatte.

Er zeigte nämlich, daß der aus dem Kniegelenk der Marienkäfer austretende Saft nicht die Ausscheidung einer Drüse, sondern die unveränderte Blutflüssigkeit des Tieres sei, und er wies weiter nach, daß dieselbe Eigenschaft des „Blutschwitzens“ noch einigen ändern Käfern zukommt, namentlich dem sehr bekannten „Maiwurm“ oder Oelkäfer (Meloë), der früher als Heilmittel gegen Gicht, Tollwut, Wassersucht etc. eine große Rolle spielte. Bedenkt man, welch kostbarer Saft das Blut ist, so muß die willkürliche Ausscheidung von verhältnismäßig großen Mengen dieser Lebensflüssigkeit höchst auffallend erscheinen, und es kann darum nicht wunder nehmen, daß die Ansicht Leydigs vielfach angezweifelt wurde. Noch in neuester Zeit haben italienische und französische Gelehrte behauptet, daß jene Ausscheidungen durch Drüsen, die unter der Haut lägen, ausgesondert würden. Die Frage ist daher neuerdings von einem anderen französischen Forscher, L. Cuénot, von neuem geprüft worden, und diese Untersuchungen, deren Ergebnis der Pariser Akademie vorgelegt wurde, haben die vollständige Richtigkeit der Leydigschen Angaben erwiesen. Es handelt sich bei den fraglichen Ausscheidungen in der Tat um echtes Blut, wie man es auch bei Durchschneidung eines Flügels oder eines Fühlers oder durch einen Stich in den Leib des Tieres erhält. Bringt man einen der gelben Tropfen unter das Mikroskop und betrachtet ihn bei starker Vergrößerung, so erkennt man in der Flüssigkeit sogleich die zahlreichen Blutkörperchen, und der Anblick ist in nichts von dem verschieden, den ein Blutstropfen aus dem übrigen Körper darbietet.

Cuénot konnte ebensowenig wie Leydig eine vorgebildete Oeffnung entdecken, aus der das Blut austritt; nach seiner Angabe reißt in dem Augenblicke, wo sich das Tier „tot stellt“, die Haut an einem Punkte geringeren Widerstandes unter dem Drucke der Blutflüssigkeit auf, um sich nach dem Heraustreten des Tropfens, vielleicht infolge von Bildung eines Klümpchens von Blutfaserstoff (Fibrin), wieder zu schließen. Bei gewissen Blattkäfern, wie den Timarchen, tritt das Blut nicht aus den Kniegelenken, sondern aus dem Munde aus.

Daß diese Blutabgabe in der That ein wirksames Schutzmittel darstellt, zeigte Cuénot durch den Versuch, indem er einige dieser Käfer zugleich mit ein paar grauen und grünen, sehr lebhaften Eidechsen, in ein Gefäß brachte; eines der Reptilien griff einen Käfer an und nahm ihn ins Maul; aber dieser ließ sogleich einen großen Blutstropfen aus der Mundgegend austreten, worauf ihn die Eidechse rasch wieder ausspie und sich durch Reiben des Maules gegen den Erdboden von der Flüssigkeit zu befreien suchte. Wenn die Käfer aber, was bei einzelnen schlecht veranlagten Individuen vorkommen soll, kein Blut ausscheiden, so fallen sie ohne Gnade den Eidechsen oder Fröschen zur Beute. Die Marienkäfer werden von Eidechsen und Froschlurchen, die sie aus Unachtsamkeit verschlucken, immer wieder ausgespieen. Die fleischfressenden Insekten, z. B. Laufkäfer, greifen, wenn sie auch noch so ausgehungert sind, niemals Marienkäfer, Maiwürmer oder Timarchen an.

Der Stoff, dem das Blut dieser Insekten seine schützenden Eigenschaften verdankt, ist nicht bei allen derselbe. Das Blut der Marienkäfer hat einen ziemlich starken und sehr unangenehmen Geruch, der übrigens auch dem ganzen Tiere anhaftet. Dasjenige der Timarchen ist geruchlos, besitzt aber einen zusammenziehenden, sehr nachhaltig wirkenden Geschmack; nach den Untersuchungen von de Bono an Timarche promelioides enthält es einen giftigen Stoff, der imstande ist, Fliegen in wenigen Minuten zu vergiften und sogar Meerschweinchen, Hunde und Frösche durch Herzlähmung rasch zu töten. Das Blut des Maiwurms endlich schließt eine große Menge Cantharidin ein, jenes Stoffes, auf dessen Anwesenheit die blasenziehende Wirkung der mit dem Maiwurm nahe verwandten spanischen „Fliege“ (Lytta vesicatoria) beruht. F. M.     


[316]

Anton von Werner.

Von Ludwig Pietsch. Mit einem Selbstporträt A. v. Werners und Abbildungen von C. Stoeving.
Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0316.jpg

Der Treppenflur im Hause A. von Werners.

Die Tage dieses Winters, welche der Erinnerung an die vor 25 Jahren geschehenen, für die Geschicke Deutschlands entscheidenden großen geschichtlichen Ereignisse gewidmet waren, sind auch wichtige Gedenktage im Dasein eines deutschen Künstlers gewesen, der eben jenen Ereignissen den hohen Flug und Glanz seiner Lebensbahn und das Aufsteigen zu der künstlerischen Stellung dankt, die wir ihn heute einnehmen sehen. Anton von Werner, der Direktor der Akademischen Hochschule der bildenden Künste zu Berlin, hat alle Ursache gehabt, das Jubiläum der Belagerung von Paris und des 18. Januars 1871 nicht nur wie jeder andere sein Vaterland liebende Deutsche, sondern noch ganz besonders als Person und Künstler zu feiern. Haben sie ihm doch die großen Gegenstände gegeben, durch deren malerische Behandlung er vor allem seinen Ruhm in der Heimat und im Auslande erwarb, und wurden sie doch die Veranlassung dazu, daß er in jene nahen menschlichen Beziehungen zu den deutschen Herrschern, den glorreichen Führern der deutschen Heere und den Leitern der deutschen Politik trat; Beziehungen, durch die ihm die Wege zu der rasch von ihm erreichten Höhe geöffnet und geebnet worden sind.

An der Wiege ist ihm die Zukunft, die ihn von 1871 ab in Berlin erwartete, jedenfalls nicht gesungen worden. Sein Vater, der einem alten adligen Geschlecht entstammte, das sich schon im Dreißigjährigen Kriege militärisch ausgezeichnet hat, war ein Handwerker in sehr bedrängter Lebenslage. In dessen Hause zu Frankfurt a. d. O. wurde dieser Sohn im Jahre 1843 geboren. Der körperlich zarte und schwächliche Knabe entwickelte sich geistig ungewöhnlich rasch. Seine sich früh schon bekundende Lust am Zeichnen ging mit der lebhaften Lernbegierde in allen Schulfächern Hand in Hand. Mit dreizehn Jahren war er in den Klassen bereits so weit vorgerückt, daß seine Eltern es als kein gar zu frühes Abbrechen seines Bildungsganges ansehen zu können glaubten, wenn sie ihn von der Schule nahmen. Da er nun doch einmal ein Maler werden wollte und sollte, gaben sie ihn zu einem Frankfurter Meister der Stubenmalerei in die Lehre. Die erste Lehrzeit mag dem Knaben mit der anscheinend so gebrechlichen zarten Gestalt hart genug angekommen sein. Besonders die Nötigung, mit den schweren Malleitern zu hantieren, hat ihm sicher viele Not und Plage bereitet. Und doch hat er später eigentlich nie mit Bedauern auf diese Lehrzeit zurückgeblickt, sondern im Gegenteil die Vorteile dankbar anerkannt, welche er dieser Art seines ersten Kunstunterrichtes und der dabei empfangenen technischen Schulung schuldet. Dazu gehören unter anderem die handwerkliche Rüstigkeit und die Geschicklichkeit in der Beherrschung großer Wandflächen wie das Verständnis für das Dekorative in der Malerei. Alles das erwirbt sich jedenfalls viel leichter und sicherer in der Jugend auf diesem Wege als auf dem der akademischen Bildung.

Talent und Ehrgeiz waren diesem Stubenmalerlehrling indes in zu reichem Maß gegeben, als daß er in der Thätigkeit auf solchem bescheidenen Kunstgebiet seine Befriedigung hätte finden können. Er setzte es mit zäher Energie durch, nach Berlin zu gehen und auf der Akademie das höhere künstlerische Studium zu beginnen.

Seine außerordentliche Leichtigkeit im Erfinden und Entwerfen aller Arten von Kompositionen ließ ihn hier unschwer seinen Lebensunterhalt durch Illustrationszeichnen und andere künstlerische Arbeiten finden. In den Zeichen- und Malklassen setzte er Lehrer und Genossen durch seine rapiden Fortschritte in Erstaunen. Seine glückliche Erfindungsgabe bewies er besonders auch in jenen Kompositionen, in welchen Ranken und Arabesken mit figürlichen Darstellungen zu einem phantastisch reizenden Ganzen verflochten sind.

In dieser künstlerischen Gattung galt um die Mitte des Jahrhunderts Adolf Schrödter, der damals, mit seinem Schwager C. F. Lessing, Düsseldorf mit Karlsruhe vertauscht hatte, als der erste Meister unter den Deutschen. Seine humoristischen Randzeichnungen, Frieskompositionen und Einzelblätter hatten auf A. von Werner eine starke Wirkung ausgeübt. Der junge Akademieschüler entwarf Zeichnungen verwandter Art in großer Zahl. Von dem dringenden Wunsch getrieben, zu dem von ihm so verehrten Meister in persönliche Beziehungen zu treten, sandte er diesem im Jahre 1861 eine Auswahl seiner Entwürfe und Studien zur Ansicht, mit der Bitte, ihn sein Urteil darüber wissen zu lassen. Mit der Antwort A. Schrödters, der in diesen Arbeiten das große Talent und bereits merkwürdig gereifte Können des jungen Malers erkannt hatte, war die Aufforderuug an ihn verbunden, seine Studien in Karlsruhe fortzusetzen, wo die großherzogliche Kunstschule die beste Gelegenheit dazu böte. A. von Werner folgte 1862 dieser Einladung, und bald hatte er, von Lessing und Schrödter freundlichst aufgenommen, in der badischen Hauptstadt Wurzel geschlagen. Sein Talent entwickelte sich hier mit überraschender Schnelligkeit. Er zeichnete treffliche Illustrationen zu deutschen Dichterwerken, uralte geschichtliche Genrebilder, große Historien und Schilderungen selbsterlebter Vorgänge, Bildnisse, ornamentale Kompositionen in buntem Wechsel.

Auf den Ausstellungen der sechziger Jahre lenkten immer wieder Werke aller dieser Gattungen die Aufmerksamkeit auf den so mannigfach begabten Künstler. Ich erinnere mich noch deutlich seines „Georg und Lerse im Dachfenster der Burg Jaxthausen“, seiner „Zechenden Landsknechte“ und seines „Götz von Berlichingen vor dem Rat von Heilbronn“. Eine der geistreichsten und fesselndsten unter seinen damaligen Schöpfungen war die Gruppe zweier verwegener Strolche aus dem 17. Jahrhundert, die in „vertraulicher Unterhaltung“ beisammen sitzen. Daran reihen sich noch die heitern und lebensvollen Darstellungen von Scenen aus der eigenen Werkstatt, wie das „Quartett im Maler-Atelier“ und der „Geburtstag im Atelier“. In denselben Jahren 1865 bis 1868 entstanden die großen geschichtlichen Bilder Werners „Luther und Cajetan“ in lebensgroßen Halbfiguren, „Konradin empfängt sein Todesurteil beim Schachspiel“ und die „Entführung Kaiser Heinrichs IV. als Knaben durch Erzbischof Hanno“. Ueberraschend in diesen Werken eines so jugendlichen Künstlers war nicht nur die dramatische Kraft der Komposition, sondern auch die Energie des Ausdrucks der Empfindungen wie die der Farbe und die [317] ungewöhnliche Sicherheit und Tüchtigkeit der Malerei. Wenn in ihnen auch noch immer der Einfluß Lessings unverkennbar war, so gingen sie doch gerade in Bezug auf diese Energie der ganzen Darstellung und farbigen Wirkung über das in der gleichzeitigen Düsseldorfer Geschichtsmalerei Geleistete nicht unwesentlich hinaus.

A. von Werners schöpferische Phantasie aber bethätigte ihren überströmenden Reichtum mehr noch als in diesen abgeschlossenen Gemälden in einer Fülle von Zeichnungen, mit denen er in demselben Jahrzehnt die Dichtungen seines älteren Freundes Joseph Scheffel schmückte.

In Karlsruhe hatten sich beide aneinander geschlossen. Nie hat sich einem Dichter ein verständnisvollerer Illustrator seiner Schöpfungen gesellt. Wie trefflich A. von Werner den eigensten Geist und das Wesen der Dichtungen Scheffels in seinen Zeichnungen widerzuspiegeln verstand, das beweisen deutlich die meisterhaften Illustrationen zu „Frau Aventiure“, „Juniperus“, „Bergpsalmen“, „Gaudeamus“ und vor allem die zum „Trompeter von Säckingen“. Werners Einzel- und Streubilder, Randzeichnungen schmiegen sich im Charakter den Gedanken und Schilderungen des Dichters aufs innigste an. Er ist wie dieser bald derb realistisch und humoristisch, bald phantastisch romantisch. Ueberall zeigt er sich gleich heimisch, in der Welt der Träume und Gespenster, im frühen Mittelalter, in der modernsten Gegenwart, im Norden und Süden, in den Alpen, auf dem Strom und dem Meer, in der Klosterzelle, der altertümlichen Wohnstube des Herrenhauses, in der mittelalterlichen Herberge wie der heutigen Kneipe. So wie sie in A. von Werners Zeichnungen erscheinen, so müssen, meint man, die geschilderten Menschen und Scenen vor des Dichters geistigen Augen gestanden haben.

Die Entwürfe zum „Trompeter von Säckingen“ zeichnete Werner in Italien im Jahre 1869, wohin er sich nach einem Studienaufenthalt in Paris begeben hatte. Weder dieser, noch der in Venedig, Florenz und Rom haben einen merklichen Einfluß auf den Künstler geübt. Er ist auch dort immer sich selbst treu geblieben.

Nach seiner Heimkehr, 1870, rief ihn ein interessanter bedeutender Auftrag nach dem deutschen Norden, nach Kiel. In dem dort von dem Berliner Architekten Martens erbauten neuen Gymnasium übernahm er es, den Saal der Aula mit zwei großen halbrunden Wandgemälden, „Luther auf dem Reichstag zu Worms“ und „Aufruf Friedrich Wilhelms III. an sein Volk“, sowie mit den Einzelgestalten Gutenbergs und Fuggers, des Erasmus und Albrecht Dürers zu schmücken.

Selbstporträt.

Sowohl in Bezug auf die beste Ausnutzung des gegebenen Raumes, auf die Größe und Einfachheit des Stils der Kompositionen, als auf Harmonie und große ruhige Wirkung der vorzüglich zu dem Ton des ganzen Saales gestimmten Farbengebung löste er diese Aufgabe in hervorragender Weise. Kaum hatte er dies Werk aber zum Abschluß gebracht, als ihn ein anderer Auftrag mitten in den inzwischen entflammten Krieg gegen Frankreich, ins Feldlager und ins Hauptquartier nach Versailles führte. Er sollte den großen Schlachtendenker und -lenker, den Grafen Moltke vor Paris für den Kieler Kunstverein malen. Die Empfehlungen des Großherzogs von Baden, aber vor allem seine eigene Persönlichkeit sicherten dem Künstler die freundlichste Aufnahme in beiden Hauptquartieren. In Versailles entwarf er die Komposition zu dem Bilde „Moltke und die deutschen Truppen vor Paris eintreffend“, zeichnete und malte er die Naturstudien dazu. Dort auch sammelte er Studien zu dem feinen Kabinettstück, welches uns den großen Feldherrn allein zeigt, wie er Depeschen und Schriftstücke am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer zu Versailles liest.

Kaum wieder nach Deutschland zu seinen Arbeiten heimgekehrt, wurde er durch eine Einladung des preußischen Kronprinzen nach Versailles zurückgerufen. Er wohnte auf dessen Wunsch dem großen Akt der Proklamation des Deutschen Kaiserreiches in der Spiegelgalerie des Schlosses bei, um später das Bild dieser bedeutungsvollen geschichtlichen Scene wahrheitsgemäß malen zu können.

Nach der Beendigung des Krieges nahm er seinen Wohnsitz in Berlin, wo bald großartige Aufgaben an ihn herantraten. Er schritt zunächst an die Ausführung des originellen symbolisch historischen Velariumbildes, welches zum Schmuck der Lindenpromenade für den Tag des Siegereinzugs in Berlin bestimmt war und die Erhebung des herausgeforderten Deutschlands gegen Frankreich in kühner, wahrhaft poetischer Weise mit mächtiger Wirkung schilderte. Er malte auch den kolossalen farbigen Karton, der in ähnlichem idealistisch-realistischen Mischstil Erhebung, Sieg und Einigung Alldeutschlands und die Errichtung des Kaisertums darstellt und nach welchem das Gemälde in venetianischer Glasmosaik ausgeführt wurde, das den Fuß der Siegessäule auf dem Königsplatz in Berlin umgiebt.

Der Erfolg dieser Arbeiten war außerordentlich; die ganze Stimmung der Zeit kam ihrer künstlerischen Wirkung zu gute. Anton von Werner wurde damals nächst Adolf Menzel der populärste, bei Fürst und Volk gleichbeliebte Meister Berlins. Er sah sich mit Aufträgen jeder Art überhäuft, und seine frische rüstige Kraft zeigte sich jeder Aufgabe gewachsen. Er schuf dekorative Wand- und Deckengemälde für reiche Privathäuser, die prachtvollen poetisch tiefsinnigen, farbenschönen Kartons für den danach in Mosaik ausgeführten, die typischen Phasen des Menschenlebens schildernden Bilderfries an der Fassade des Pringsheimschen Hauses in der Wilhelmstraße in Berlin; er malte verschiedene Familienbildnisse für dortige und Hamburger Bürger, die sich und ihre Angehörigen in den Trachten und Umgebungen vornehmer Geschlechter des 16. Jahrhunderts in Venedig oder einer deutschen Reichsstadt dargestellt zu sehen wünschten. Auf dem einen Familienbilde dieser Gattung mußte sogar Doktor Martin Luther in Person als geehrter Gast des betreffenden Hauses inmitten der Herren, Damen und Kinder desselben erscheinen.

Gleich nach seiner Niederlassung in Berlin hatte A. von Werner sich mit der kunstbegabten Tochter Adolf Schrödters, Malwine, vermählt.

Nun baute er sich sein eignes Heim nach seinen Bedürfnissen und seinem Geschmack auf einem Grundstück der Potsdamer Straße, einem Villenhofe hinter dem an dieser gelegenen Vorderhause. [318] Hier schmückte er ganze Zimmerwände und Decken mit ornamentalen und figürlichen Malereien. Die Wandflächen des Saales zeigen die großen Gestalten des Tizian, des Raffael und eine Reihe von Medaillonbildnissen anderer Meister der Renaissance; die Wände des Schlafgemachs gemalte Füllungen, Puttengruppen, Scenen aus der Geschichte von Amor und Psyche; die des Kinderzimmers neun Grau in Grau gemalte Bilder zu deutschen Volksmärchen. Das große untenstehend abgebildete Atelier im obersten Geschoß erhielt einen charakteristischen Wandschmuck in Waffentrophäen und kriegerischen Abzeichen aller Art; in seinem Studierzimmer (s. S. 319) haben die Büsten seines Freundes Scheffel und die Statuette Moltkes besondere Ehrenplätze.

Wie sein Atelier eine Stätte rastloser erfolgreichster Arbeit wurde, so ward es auch wie die eigentlichen Gesellschaftsräume oft zum Schauplatz edelster Geselligkeit, für welche dem Hausherrn ebenso reiches Talent zur Verfügung steht wie für seine Kunst. Das ganze Haus ward der Sitz reinsten menschlichen Glücks.

Während Anton von Werner die obengenannten Arbeiten und außerdem zahlreiche lebensgroße Einzelbildnisse hervorragender Persönlichkeiten, Buchillustrationen, Aquarelle etc. ausführte, arbeitete er mit eisernem Fleiß auch an der Bewältigung der riesigen Aufgabe, die ihm das Bild der Kaiserproklamation in der Spiegelgalerie zu Versailles stellte. Das 1877 vollendete, durch die deutschen Fürsten dem Kaiser gestiftete Werk ist ein Triumph des Fleißes, der Gewissenhaftigkeit und Geschicklichkeit der Darstellung. Eine höhere poetische Wirkung zu erzielen, welche der Stimmung jenes großen geschichtlichen Momentes völlig entsprochen hätte, wäre unter den dem Meister gestellten Bedingungen kaum möglich gewesen. Wollten und mußten doch nicht nur die um den Kaiser versammelten Fürsten und Prinzen, sondern alle in der Spiegelgalerie zusammengedrängten Persönlichkeiten an Köpfen, Gestalten und Uniformen genau porträtiert sein. Jede Bethätigung der frei schaffenden Phantasie war ihm abgeschnitten. In wie reichem Maß ihm auch diese gegeben ist, bewies er in derselben Zeit besonders glänzend in den symbolischen Darstellungen der vier Fakultäten für die Wände des Treppenhauses in dem 1876 eröffneten neuen Universitätsgebäude zu Kiel. Leider sind diese vortrefflichen farbigen, völlig durchgearbeiteten Entwürfe dort nicht zur Ausführung gelangt.

Das Hausatelier A. von Werners.

Im Jahre 1874 kamen endlich die langberatenen Pläne einer gründlichen Reform der Berliner Kunstakademie, die allmählich anf einer tiefen Stufe des Verfalles angelangt war, zur Verwirklichung. Kein besser dafür geeigneter Mann hätte zur Durchführung der Neuorganisation des Institutes und als Direktor an dessen Spitze berufen werden können als A. v. Werner. Er vereinigte mit seiner großen künstlerischen Begabung in seltenem Maße den durchdringenden praktischen Verstand, das organisatorische Talent und den erforderlichen Geschäftssinn. Dazu kam der Vorzug der Jugend und der unverbrauchten Kraft. In kurzer Zeit gelang es ihm, das Institut sowohl in Bezug auf seinen Ruf wie seine wirkliche Leistungskraft ganz wesentlich zu heben.

Aber wie sehr auch Werners Zeit und Kraft dnrch die Last der geschäftlichen Arbeit in Anspruch genommen wurde, welche dies Amt ihm auferlegte, so hat sie doch nicht vermocht, seine schöpferische malerische Thätigkeit zu lähmen. Eine lange Reihe von großen und kleineren hochbedeutenden Gemälden ist seitdem aus der Werkstatt in seinem Hause und dem ihm in dem Gebäude der Kunstakademie eingerichteten Meisteratelier hervorgegangen. Ihre Mehrzahl bildet die Darstellungen zeitgeschichtlicher öffentlicher Ereignisse, bei deren Schilderung aktenmäßige Genauigkeit vorgeschrieben war, und Vorgänge und Scenen aus dem Kriege von 1870 und 1871. Für andere dekorative Phantasiestücke, wie die sinnigen und geistvollen Wandmalereien im Café Bauer in Berlin, lieferte er die Entwürfe und Farbenskizzen, die von seinen Schülern ausgeführt wurden. Dasselbe gilt von seinem großartigen Panoramagemälde der Schlacht bei Sedan, während er die dazu gehörigen bewundernswerten Dioramabilder fast allein gearbeitet hat.

Ich kann hier nur noch kurz auf einige Schöpfungen des Meisters hinweisen: auf die Wandgemälde im Rathause zu Saarbrücken,

[319]

Das Studierzimmer A. von Werners.

auf das im Berliner Rathause aufgestellte große Bild der Schlußsitzung des Berliner Kongresses von 1878, auf die Wandgemälde „Krönung Friedrichs I. zu Königsberg“ und „Kaiserproklamation zu Versailles“ in der Herrscherhalle des Zeughauses, auf die kleinere Bearbeitung desselben Gegenstandes in dem Staffeleibilde, welches die königliche Familie dem Fürsten Bismarck an seinem 70. Geburtstage verehrte, auf das Wandgemälde jener Königskrönung mit beigesellten allegorischen Gestalten in der alten Kapelle des Königlichen Schlosses und das umfangreiche Oelgemälde „Die Eröffnung des ersten Reichstags unter Kaiser Wilhelm II. durch diesen in Person“. Auch der kleineren, außerordentlich volkstümlich gewordenen Bilder von Episoden aus dem Kriege in Frankreich ist noch zu gedenken, in denen er eine so scharfe glückliche Beobachtungsgabe, einen so hellen durchdringenden Blick für die lebendige Wirklichkeit und so eminente malerische Vorstellungskraft bekundet: „Gefangenentransport in einem französischen Dorf“, „Der Kronprinz an der Leiche des bei Weißenburg gefallenen Generals Douay“, die „Scene aus einem Etappenquartier auf der Straße nach Paris“, „Der Kronprinz in seinem Versailler Quartier, von den Herren seines Stabes und Gefolges umgeben,“ und „Der Kronprinz auf einem Fest im Königlichen Schlosse im Gespräch mit Virchow und anderen Berliner Größen der Wissenschaft und Kunst“.

Eben jetzt hat der Meister ein neues größeres Gemälde vollendet, das mit der gewohnten Treue einen denkwürdigen geschichtlichen Vorgang aus dem letzten Jahrzehnt, die „Beglückwünschung Moltkes an seinem 90. Geburtstage durch Kaiser Wilhelm II.“ schildert. Auch das Original des Seite 317 reproduzierten Selbstporträts A. von Werners stammt aus den letzten Jahren. Es spiegelt des Mannes und Künstlers eigenstes Wesen in lebendigster Wahrheit, seine Geistesklarheit, seine Festigkeit im Beharren, seine allen Hindernissen trotzende Energie im Durchführen des in der Kunst wie im Leben für das Richtige Erkannten. Es bedurfte der Vereinigung solcher Charakter- und Geisteseigenschaften mit seiner großen künstlerischen Begabung und schöpferischen Phantasie, um ihn zu befähigen, seine komplizierte Lebensaufgabe so zu lösen, wie es geschieht. Mit malerischen Arbeiten überhäuft, deren Durchführung anscheinend die ganze unzersplitterte Geisteskraft des Künstlers erfordert, weiß er die Verwaltung und die Geschäfte der von ihm geleiteten Hochschule der bildenden Künste mustergültig zu führen. Er versteht es, den Stunden jedes Tages, wie überwiegend sie auch durch die künstlerische Thätigkeit in Anspruch genommen werden, dennoch die nötige Zeit abzugewinnen, um am Schreibtische und im Konferenzzimmer allen Pflichten seines verantwortlichen Amtes und ebenso auch im Hause wie in der großen Welt denen zu genügen, welche seine hervorragende Stellung in der Gesellschaft und in der deutschen Kunst ihm auferlegt. Der gleichen Gunst, und hohen Wertschätzung, die Kaiser Wilhelm I., Kaiser Friedrich als Kronprinz und Herrscher und dessen Gemahlin dem Manne und dem Künstler jederzeit bewiesen haben, erfreut er sich auch seitens des regierenden Kaisers, wenn auch A. von Werners innerstem Wesen nichts ferner liegt als höfisches Werben und Buhlen um Fürstenhuld und -Gnade.

„Wie sich Verdienst und Glück verketten“ – davon giebt dieses Meisters Lebensgang ein besonders glanzvolles und lehrreiches Beispiel.


[320]

Die Frau Collega.

Novelle von Ernst Lenbach.


Es ist wunderlich, wie die Menschen zu ihrem Spitznamen kommen. Die einen verdanken ihn irgend einer körperlichen Eigenheit, die gefühlsarmen Mitmenschen Gelegenheit zu einem billigen Witz bietet, etwa einem Paar auffallend großer Ohren oder einer allzu entschieden vordringenden Nase. Bei anderen heftet sich der Spitzname an eine Eigentümlichkeit ihres Wesens, die ungefähr auch wie eine Nase aus der Ebene ihrer geistigen Züge vortritt; und auf manche fliegt er wie ein Gummiball zurück in Gestalt einer Anrede, mit der sie ihre Umgebung so lange ärgern, bis man sie nur noch unter diesem Losungswort kennt und fürchtet.

In diesem Falle war die „Frau Collega“. Eigentlich hieß sie Frau Christina Heydrich – sogar Frau Doktor Heydrich, wenn sie das lieber wollte; denn ihr Mann war Doktor der Philosophie und Oberlehrer an dem berühmten Gymnasium einer kleinen westdeutschen Stadt gewesen. Da sie aber die Gewohnheit hatte, jeden Herrn, der eine Brille auf der Nase und einen Pack Aufsatzhefte unter dem Arm trug, kurzweg als „Herr Collega“ und jede mit einem solchen Herrn verehelichte Dame als „Frau Collega“ anzureden, so blieb der Name an ihr selber hängen, ebenso treu wie der Plaid von schottischem gevierteten Tuch, mit dem sie nun schon seit einem Menschenalter allen Wandlungen der Mode trotzte.

Unter diesem Namen und mit diesem Plaid war sie eine gefürchtete Person für viele. Wenn sie just um die Zeit des Schulschlusses am Gymnasium vorüberging, so befleißigte sich die herausströmende Jugend eines so höflichen und angemessenen Benehmens, als scheute sie die Hand der grauhaarigen großen Frau mehr denn sämtliche Paragraphen der Schulordnung. Selbst der Herr Direktor konnte außer Fassung geraten, wenn ihn die Frau Collega unversehens mit den Worten begrüßte: „Nun, Herr Collega – Herr Direktor, wollte ich sagen – Ihre Aelteste hat sich ja eine recht hübsche neue Bluse zugelegt – knallrot, nicht wahr? Schade, daß das Mädchen so blaß ist. Sie müssen wirklich einmal darauf achten, daß sie mehr ißt und weniger Klavier spielt!“ Und wenn sie beim Geflügelhändler den ersten Gänseeinkauf der jüngsten Frau Gymnasiallehrer mit den Worten unterbrach: „Nein, liebe junge Frau Collega, das Tier bekommen Sie in diesem Leben nicht weich! – Was fällt Ihnen denn ein, Herr Trillering, der jungen Frau so einen gerupften Methusalem aufschwatzen zu wollen? Man darf die Unerfahrenheit nicht ausnutzen!“ so war es der jungen Frau nicht zu verargen, wenn sie die freundliche Helferin im Grunde ihrer Seele für eine „ungebildete Person“ erklärte. In diesem Urteil stimmte übrigens der gesamte weibliche hohe Rat des Städtchens überein, trotz aller oft erprobten Hilfsbereitschaft der „ungebildeten Person“. Denn allerdings war die Frau Collega eine Autorität in der Kinderpflege und besaß einen unerschöpflichen Schatz von Kochrezepten und Hausmitteln, aber sie pflegte ihre Rezepte und Ratschläge mit allerlei moralischen Nutzanwendungen zu verbrämen, und es war nicht ratsam, ihren scharfen grauen Augen mit einem schlechten Hausfrauengewissen zu nahen.

Die Frau Collega wohnte noch immer draußen vor der Stadt in dem kleinen Hause mit dem großen Garten, in dem sie vor etlichen vierzig Jahren Hochzeit gefeiert hatte und vor zehn Jahren Witwe geworden war. Neben dem Hause lag eine prächtige Villa, die zum Besitze der Fürsten Rosenstein-Waldau gehörte und seit langem nur von einem alten Kastellan bewohnt wurde. Eine ziemlich verwilderte Schlehdornhecke schied die Gärten. Jenseit dieser Hecke blühten zwischen breiten Kieswegen kostbare Blumen, diesseits zog die Frau Collega ihren Salat, ihre Levkojen und Heliotrop und vor allem ihre Hühner. Das war ihr Stolz. Wenn sie von ihren Erfolgen in der Hühnerzucht sprach, konnte sie poetisch, ja ein wenig ruhmredig werden. Es war ein Glück, daß sie schon die „Frau Collega“ war, sonst hätten sie ihre guten Freunde und Freundinnen vielleicht zur „Hühnertante“ ernannt. Aber das Urteil der Welt war ihr nirgendwo so gleichgültig, als wenn es ihre Liebhaberei traf. „Ein selbstgelegtes frisches Ei ist so gut wie ein Stück Kalbsbraten,“ sagte sie, „und wenn eines nicht mehr legt, giebt es immer noch eine gute Suppe. Sie können doch Hühnersuppe kochen, liebe junge Frau Collega? Denken Sie nur, wenn Ihr Mann einmal krank wird, wie der Herr Collega Schneider, der jetzt bei mir oben auf dem ersten Stock wohnt. Dem habe ich mit meiner Suppe wieder auf die Beine geholfen.“

Es wohnte immer einer von den unverheirateten jungen Lehrern bei der Frau Collega. Sie hatten es gut bei ihr, und wenn einer es überhaupt die ersten vier Wochen bei ihr aushielt, so blieb er auch möglichst lange und lernte manches, was in keinem Kolleg und keinem Seminar gelernt wird und doch einem Bildner der Jugend von Nutzen sein kann.

Eines Tages im Vorfrühling begann eine große Neuigkeit ihren Schatten auf das Gymnasium und auch auf die Villa neben der Frau Collega zu werfen. Die Villa bevölkerte sich mit Handwerkern und Dienern, es wurden Möbel angefahren, viel mehr, als nach Ansicht der Frau Collega in einen halbwegs vernünftigen Haushalt gehörten, und im Konferenzzimmer des Gymnasiums versammelte der Direktor, begleitet von einem eleganten schwarzgekleideten Herrn, die Lehrer, um die Bedingungen festzustellen, unter denen unbeschadet der beiderseitigen Würde ein Prinz Rosenstein-Waldau, Durchlaucht, der Quarta des Gymnasiums angehören dürfe.

Kurz nach Ostern kam die Frau Fürstin mit ihrem Söhnchen angereist, empfing und erwiderte den Besuch des Direktors und reiste wieder ab. Der junge Prinz blieb in der Villa zurück, unter der Obhut des eleganten schwarzgekleideten jungen Herrn, und das neue Schuljahr begann, mit dreihundertsechzig gewöhnlichen und einem durchlauchtigsten Schüler.

Die Frau Collega hatte unterdes außer den Fortschritten ihrer Hühner noch verschiedenes andere beobachtet, und es war einiges darunter, was ihr nicht gefiel.

„Also das ist Ihre junge Durchlaucht, Herr Collega,“ sagte sie etliche Tage nach dem Beginn des Schuljahres zu ihrem dermaligen Mietsherrn und deutete ungeniert zum Fenster hinaus in den Nachbargarten, wo ein schmal aufgeschossener, blasser Knabe neben dem schwarzgekleideten Herrn gemessen auf und ab wandelte. „Komisch! Und das neben ihm ist ja wohl sein Gouverneur, der Herr Doktor Weichselreis? Den kenne ich noch von früher, sein Vater war ja Küster in dem Dorfe, wo mein Bruder Tierarzt war. Damals war er ein nichtsnutziger, durchtriebener Schlingel, ein bischen schleicherisch; ich habe ihm einmal ein paar Tüchtige um die Ohren gegeben, als er meines Bruders altem Schimmel eine Distel an den Schwanz binden wollte, und es schickte sich eigentlich, daß er mir jetzt einen Anstandsbesuch machte, von wegen alter Freundschaft und neuer Nachbarschaft. Und so was ist jetzt Prinzenerzieher! Man soll nicht sagen, was aus einem Kücken werden kann. Und die Frau Fürstin habe ich auch von Ansehen gekannt, als sie’s noch nicht war. Damals wohnte sie ja eine Zeit lang hier mit ihrer Mutter, es war eine Hauptmannswitwe und hieß Schneider, gerade wie Sie, Herr Collega. Es waren ganz ordentliche Leute, und ich habe es dem Mädchen von Herzen gegönnt, daß es eine so gute Partie machte. Was nämlich die Zuthaten angeht; denn mit dem alten Fürsten Theodor, ihrem Gemahl, war nicht viel Staat zu machen – in einer von den eisernen Rüstungen seiner Vorfahren, die mir mein Mann auf unserer letzten Reise in Schloß Waldau gezeigt hat, hätte er bequem logieren können. Na, und nun sehen Sie sich einmal das arme Kind da unten an! Blaues Blut soll es ja wohl haben, aber ich fürchte, es hat überhaupt zu wenig Blut, und was helfen ihm alle seine Ahnen, wenn es keine Waden kriegt! Wie sind Sie denn mit dem Jungen zufrieden, Herr Collega, Sie haben ihn ja auch in der Arbeit?“

Der Kollege Schneider errötete etwas verlegen, denn es waren ihm verschiedene Bemerkungen eingefallen, mit denen man sich in der Konferenz über die merkwürdige Nachbarschaft der Frau Collega und des prinzlichen Hofhalts ausgelassen hatte. „Nun,“ sagte er, „bis jetzt hält sich der Prinz ganz brav. Etwas schüchtern mündlich – er ist eben noch nicht an die Klasse gewöhnt. Seine häuslichen Aufgaben erledigt er sehr löblich.“

„Das ist ein Wunder,“ bemerkte die Frau Collega, „denn es ist unglaublich, was das Kind alles schon zu thun hat, um seiner Ahnen würdig zu bleiben. Na, wie ich gestern sah, darf er ja auch ab und zu Besuch von etlichen Kameraden empfangen. Da suchen Sie ihm doch ja ein paar recht rauhbeinige aus, die in

[321]

Nordseelotse, an Bord eines einkommenden Klippers gehend.
Nach einem Gemälde von Hans Bohrdt.

[322] gereiztem Zustande ordentlich um sich schlagen. Das sah ja gestern aus, als ob die Jungen zum Mitspielen ‚befohlen‘ wären.“

„Die Einladungen werden von Doktor Weichselreis geregelt,“ erwiderte der junge Kollege und sah nach der Uhr.

„So?“ versetzte die Frau Collega. „Na, das freut mich, denn dann hat er sich doch wenigstens in einem vergriffen. Der eine, den ich gestern dabei sah, der Junge vom Schneidermeister Hirsemann am Markt, der ist nicht so. Ich habe ihn vorigen Herbst von meinem Reineclaudenbaum dahinten heruntergeholt, und seitdem sind wir gute Freunde, denn es gehört etwas dazu, ohne Leiter auf den Baum zu kommen!“

Der Kollege Schneider schaute nochmals nach der Uhr und erinnerte sich, daß es die höchste Zeit für ihn sei. Die Frau Collega ging in den Garten zu ihren Hühnern, und wenn ihr neuer Freund, der Quartaner Hans Hirsemann, ihr in diesem Augenblicke auf verbotenen Wegen im Garten begegnet wäre, so würde ihm doch das Herz in die Hosen gefallen sein; denn sie sah unheimlich kampflustig aus.

Etliche Tage darauf widerfuhr der Frau Collega eine merkwürdige Ungeschicklichkeit: sie scheuchte ein neben der Hecke kratzendes Huhn so verkehrt, daß es, anstatt in den Hof, gackernd durch ein Loch in der Hecke in den Nebengarten flatterte, wo der junge Prinz eben mit einem Buche auf einer Bank saß.

„He, Junge, sei so gut und jag’ mir mal das Huhn herüber!“ rief die Frau Collega.

Der Knabe streifte die alte Frau mit einem sonderbar unkindlichen Blick und sagte: „Ich bin der Prinz Alfons Theodor von Rosenstein-Waldau!“

„Ei sieh ’mal,“ meinte die Frau Collega, „hast Du einen schönen Namen! Ich habe einen Jungen gekannt, der hieß einfach Hans Müller und ging barfuß, aber ein Huhn hätte er immer noch scheuchen können, wenn ihn eine alte Dame darum gebeten hätte.“

Der Knabe errötete heftig und fing an, das Huhn zu bedrohen, so daß es ängstlich und ratlos herumgackelte.

„Aber du lieber Himmel, Junge, wo hast Du denn mit Hühnern umgehen gelernt?“ rief die Frau Collega. „Jetzt scheuch’ es einmal ordentlich auf das Loch hier zu, und ich rufe tuk tuk dazu. Siehst Du, so macht man das. Und jetzt haben wir es, siehst Du wohl, mein Sohn!“

Der Knabe guckte neugierig über die Hecke. „Sie haben aber viele Hühner,“ sagte er. „Legen sie nun alle auch Eier?“

„Die kleinen da natürlich noch nicht,“ erklärte die Frau Collega und begann, hingerissen von dem Gegenstande, ihm ihre Hühner der Reihe nach vorzustellen.

Mitten in ihrem Vortrag wurde sie aber unterbrochen durch das Erscheinen eines Lakaien, der nach einem verwunderten Blick auf das sonderbare Paar meldete: „Durchlaucht, es ist angespannt.“

Daraufhin wandte sich der Knabe noch einmal zu der Frau Collega und verabschiedete sich von ihr mit einer so erwachsenen Verbeugung, daß ihr vor Entsetzen das Wort im Munde stecken blieb.

Am nächsten Sonnabend waren wieder einige Schulgenossen bei der kleinen Durchlaucht „zum Spielen befohlen“, wie es die Frau Collega bezeichnete. Hans Hirsemann war auch dabei. Als er am Sonntagmorgen aus der Kirche kam, rief ihn die Frau Collega an und sagte: „Na hör’ mal, mein Junge, hat denn Dein Vater für Dich den langen Rock mit den gelben Knöpfen schon fertig?“

„Was für einen Rock?“ fragte Hans Hirsemann angenehm überrascht.

„Ach, ich dachte nur so,“ meinte die Frau Collega. „Weißt Du, ich habe euch da gestern wieder zugesehen, wie ihr euch bei euerm Prinzen benahmt, und da dachte ich, ihr bekämt nun auch nächstens solche Röcke wie der Bediente, der euch den Kaffee brachte.“

Hans Hirsemann sah sie groß an und wurde sehr rot, dann zog er sich langsam zurück, und die Frau Collega wandelte nach Hause mit der vollen Befriedigung eines Menschen, der sich seinen freien Sonntagnachmittag redlich verdient hat.

Am nächsten Sonnabend fiel die Gesellschaft bei ihrem kleinen Nachbarn aus, dafür aber empfing ihr Mietsherr den Besuch des Doktors Weichselreis. Der elegante junge Gelehrte kam, wie er sagte, „in einer diskreten, um nicht zu sagen peinlichen Angelegenheit“, und er verbrauchte erstaunlich viel Komplimente, Händereiben und Lächeln, bis er mit dieser Angelegenheit herausrückte. „Ihre Frau Wirtin, Herr Doktor, ist ja ohne Zweifel eine – hm – eine sehr achtunggebietende alte Dame. Ja! Aber ich weiß doch nicht, ob sie die geeignete Persönlichkeit wäre, um auf meinen durchlauchtigen Zögling im Sinne Ihrer Durchlaucht der Frau Fürstin zu wirken … Ja … Ich denke da nicht bloß an einen gewissen, durch die Nachbarschaft ermöglichten Verkehr über die Hecke sozusagen, der ja leider wohl nur durch eine entsprechende einsichtsvolle Zurückhaltung der würdigen Dame ganz zu beseitigen wäre … Aber auch sonst … Es sind da leider Störungen in dem so wünschenswerten geselligen Umgang des Prinzen mit seinen Altersgenossen eingetreten … Die Knaben stellen Ansprüche, welche diesen Verkehr in der That ungehörig modificieren würden … um den Kern der Sache hervorzuheben: sie verkennen ganz, daß in diesem Verkehr immerhin eine gesellschaftliche Bevorzugung für sie liegt … Es sind darüber Erörterungen unter den Knaben gewesen, durch welche die naturgemäß isolierte Stellung des Prinzen innerhalb der Klasse mit der Zeit etwas Peinliches bekommen könnte … und ich habe Grund, anzunehmen, daß auch hier eine Beeinflussung der betreffenden Knaben, beziehungsweise ihrer Eltern durch Ihre an sich gewiß so sehr achtungswerte Wirtin mitspielt … Könnten Sie, mein hochverehrter Herr Doktor, denn nicht im Sinne einer Verhinderung weiterer derartiger Zwischenfälle auf die Dame wirken? Ich habe leider nicht die Ehre, mit ihr bekannt zu sein …“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und die Frau Collega erschien in der Küchenschürze, einen Teller dampfender Pfannküchlein in der Hand.

„Ach,“ sagte sie, „da muß ich um Entschuldigung bitten. Ich dachte, Sie seien ausgegangen, Herr Collega, und wollte Sie bei Ihrer Rückkehr mit einer Probe von meinen Kuchen überraschen. Und nun erlebe ich ja selber eine Ueberraschung! Der Herr Doktor Weichselreis, nicht wahr? Wollten mir gewiß auch einen Besuch machen, um die alte Freundschaft zu erneuern?

Aber wie Sie sehen, ich bin eben beschäftigt. Wollen Sie nicht auch einmal versuchen, Herr Doktor Weichselreis? Ich backe sie noch nach demselben Rezept wie damals im Dorfe, wo Sie mir die drei vom Teller gestohlen hatten, den ich vors Küchenfenster gestellt, und wo ich Ihnen zwei Ohrfeigen gab, einmal fürs Stehlen und dann fürs Lügenwollen. O, ich weiß noch genau, was für ein durchtriebener Schlingel Sie damals waren. Und nun sind Sie so ein feiner Herr geworden und steuern ja wohl direkt auf den Hofrat los! Da sieht man doch: man soll keinen jungen Hund ins Wasser werfen, man kann nie wissen, was aus ihm werden kann. Na, wollen Sie meine Kuchen nicht ’mal probieren?“

Doktor Weichselreis lächelte ungemein künstlich. „In der That, gnädige Frau,“ stotterte er – – „sehr verbunden – aber ich will wirklich nicht länger stören, Herr Doktor! Ihr Diener, gnädige Frau!“

„Wissen Sie, Frau Collega,“ sagte der Kollege Schneider, nachdem er den Besuch hinausgeleitet hatte, „er hat mir eigentlich etwas an Sie aufgetragen, ich weiß nur nicht recht, ob ich’s bestellen soll –“

„Dann lassen Sie ’s nur ruhig, Herr Collega,“ antwortete die alte Dame. „Benutzen Sie lieber den freien Nachmittag zu einem Brief an Ihre liebe kleine Braut und vergessen Sie den Gruß von mir nicht.“

Doktor Weichselreis ließ sich nicht wieder sehen. Aber am nächsten Montag stellten sich jenseit der Hecke etliche Maurer ein, um die schadhafte Gartenscheide durch eine nette kleine Schutzmauer gegen Hühner und Menschen zu verstärken. Die Frau Collega sah ihnen vom Fenster aus mit vielem Behagen zu, und Doktor Weichselreis that dasselbe von der Villa aus, während er über den Entwurf des ersten Bandes seiner „Geschichte des fürstlichen Hauses Rosenstein“ nachdachte.

Am Mittwoch nachmittag war das Mäuerchen fertig. Die Arbeiter zogen mit höflichen Grüßen an dem kleinen Prinzen, der ihnen eine Weile neugierig zugesehen hatte, vorüber, um in der nächsten Kneipe das Werk zu begießen, und ließen ihr Handwerkszeug zurück.

„Das soll eine Mauer gegen Hühner sein?“ sagte die Frau Collega verächtlich und guckte über die Hecke. „Nicht gegen meine! Da fliegt ja ein Kücken drüber.“

„Sollen wir sie noch etwas höher machen?“ fragte der Prinz eifrig und griff nach einer Kelle. „Da liegen noch Steine.“

„Meinetwegen, mein Junge – aber sag ’mal, wie nennen Dich Deine Lehrer?“

„In der Schule werde ich Alfons gerufen,“ berichtete der Prinz.

[323] „Schön,“ meinte die Frau Collega, „der Zuname wäre auch zu lang. Also, Alfons, mauere Du ’mal ruhig weiter! Weißt Du denn auch, wer ich bin?“

Der Knabe lächelte verlegen. „Wenn Sie gestatten – man nennt Sie nur immer die Frau Collega.“

„Das genügt auch,“ erwiderte sie. „Aber hör’ ’mal, Alfons, wer mauert denn so? Halb auf halb mußt Du die Steine legen, nicht einen auf den andern. Und ordentlich Mörtel dazwischen. Schau her, so!“

Während sie zusammen arbeiteten, sagte der Prinz: „Ich habe eben an Mama geschrieben.“

„Wo ist denn Deine Mama?“

„In Wien.“

„Warum ist sie denn da?“

„Wegen der Güter in Böhmen,“ antwortete der Prinz. „Wir müssen darum mit Onkel Rudolf prozessieren, weil Mama nicht – nicht – ebenbürtig –“ Er verstummte und errötete sehr.

„Herr Gott!“ dachte die Frau Collega und klopfte heftig auf einen Ziegelstein, „also davon muß das Kind auch schon wissen!“ Laut sagte sie: „Wo ist denn Dein Hofmeister?“

„Der Herr Doktor schreibt eben seinen Bericht an die Mama. Nachher mache ich mit ihm zusammen mein lateinisches Skriptum für die Schule. Heute wird es wohl schnell gehen, denn er hat noch für sich zu arbeiten.“

„So?“ brummte die Frau Collega und horchte in eine Gartenecke, wo eben ein Huhn lebhaft zu gackern anfing.

„Hat das nun ein Ei gelegt?“ fragte der Prinz.

„Das ist je nachdem,“ erklärte die Frau Collega und sah ihn fest an. „Welche thun auch nur so und lassen die anderen das Ei legen. Weißt Du, Alfons, das ist wie mit dem lateinischen Skriptum.“

Als sie eben ausgesprochen, kam der Doktor Weichselreis um die Ecke und blieb beim Anblick der Gruppe sprachlos stehen.

„Guten Abend, Herr Doktor,“ sagte die Frau Collega. „Wir mauern hier zusammen, aber jetzt kann ich Ihnen wohl den Unterricht überlassen.“

Tags darauf vor der Lateinstunde meldete sich Alfons bei dem Lehrer. Er sah so fiebrig und erschöpft aus und seine Stimme klang so heiser, daß der Lehrer erschrak. „Herr Doktor,“ sagte er so laut, daß seine Mitschüler es hören konnten, „mein Gouverneur hat Ihnen heute früh ein Briefchen geschickt, ich hätte wegen Unwohlseins mein Skriptum nicht so gut machen können wie sonst. Das ist aber nicht wahr, wenn ich mich auch jetzt wirklich schlecht fühle. Ich habe mir sonst immer bei allen häuslichen Arbeiten von ihm helfen lassen, und ich wollte das nicht länger und habe es diesmal allein gemacht, und darum wird es wohl sehr schlecht geraten sein. Ich bitte um Verzeihung!“

Bei den letzten Worten fing er bitterlich an zu weinen. Der Lehrer sagte ein paar tröstende Worte, dann ließ er den Prinzen, da sein Wagen noch nicht vorgefahren war, durch zwei Mitschüler nach Hause geleiten, denn der Knabe war sichtlich krank. Die Klasse blickte ihm betreten und teilnahmvoll nach.

„Das ist ja eine verzweifelte Geschichte,“ sagte der Direktor, als ihm der Fall gemeldet wurde. „Uebrigens gedacht haben wir es uns ja alle. Nun, von dem Knaben freut es mich auf jeden Fall. Aber wissen Sie, dahinter steckt wieder die Frau Collega!“

*  *  *

Vierzehn Tage später saß die schöne Fürstin-Witwe von Rosenstein-Waldau in einem Zimmer ihrer Villa der Frau Collega gegenüber. Ihre Wangen, erblaßt und eingefallen in wenigen Tagen namenloser Angst, blühten wieder auf in einer seligen Gewißheit: ihr Kind war gerettet.

Als die Fürstin auf das dringende Telegramm des Doktors Weichselreis herbeigeeilt war, hatte sie an dem Lager des kleinen Kranken eine Wärterin getroffen, wie sie in allen Hospitälern Wiens keine bessere gefunden hätte. Die Frau Collega hatte die Pflege des Kindes mit derselben ruhigen Rücksichtslosigkeit an sich genommen, mit der sie die Hecken und Mauern menschlicher Eitelkeit zu überschreiten pflegte. Die Ansteckungsgefahr war ihr dabei ebenso gleichgültig wie der passive Widerstand des Doktors Weichselreis oder das Lob des alten Stadtphysikus, der ihren Beistand der Fürstin gegenüber als die beste Gewähr für einen günstigen Ausgang pries. Sie hatte sich wahrhaftig nicht geschont in diesen Tagen und Nächten. Nun aber, da ihr Pflegling, wie sie sagte, „nur noch ein paar Hühnersuppen brauchte, um wieder herumzulaufen,“ war sie wieder ganz Frau Collega und schenkte einer Fürstin so wenig etwas wie der jüngsten Lehrersfrau.

„Sehen Sie, Durchlaucht,“ sagte sie, „von den üblichen wilden Vorwürfen, dergleichen Sie sich ab und zu machten, davon sehe ich ab. Das ist so eine Art mütterliche Begleiterscheinung bei jeder Kinderkrankheit. Aber nun haben wir ihn Gott sei Dank so weit, nun lassen Sie uns einmal vernünftig erwägen. Sehen Sie, ich hab’ Sie ja noch gekannt, als Sie zwei Waschkleider hatten und ein gutes halbseidenes zum Ausgehen. Sie waren ein braves Mädchen und sind in Ehren zu Ihrem hohen Rang gekommen, sollen eine gute Gattin gewesen sein, und daß Sie eine gute Mutter sind, weiß ich jetzt. Aber eine kluge Mutter waren Sie nicht. Es ging Ihnen alles zu sehr durcheinander. Die und die königliche Hoheit ist Pate von dem Jungen, soll ihn später voranbringen und will, daß er aufs Gymnasium kommt wie andere Jungen – also los, aufs Gymnasium! Aber da ist nun wieder sein Rang und, entschuldigen Sie, vielleicht auch ein wenig Angst, daß man sonst die bürgerliche Mutter durchmerkt: also allerlei Firlefanz, Hofstaat und Hofmeister. Den Hofmeister lassen wir uns von einem fremden Vertrauensmann aussuchen, denn wir haben keine Erfahrung; und wir lassen ihn gewähren, denn wir müssen nach Wien und was weiß ich wohin, um dem Prinzen noch etliche Güter mehr gegen die Seitenverwandten zu sichern. Ja du lieber Gott, was helfen dem Kind all die Güter! Das braucht eine Mutter! Der Junge steckt in keiner gesunden Haut; der ist wie ein schwaches Kücken, der braucht Wärme – ich meine Liebe; und dazu sind Sie da. Ziehen Sie sich mit ihm auf eins seiner Schlösser zurück, gönnen Sie ihm, was auch ein Bauernjunge hat: Luft, Licht, Bewegung; lassen Sie ihn meinetwegen auf Bäume klettern! Suchen Sie ihm einen Schulmeister aus, es braucht kein Kirchenlicht zu sein, wenn er nur weiß, was Erziehen heißt. Machen Sie ihn zu einem gesunden, fröhlichen, einfachen Menschen, dann kann er hernach noch immer ein Fürst werden, es wird ihm dann nichts mehr schaden. Und dann haben Sie mehr an ihm, als wenn er ein siecher Mensch wäre und könnte sich ganz Böhmen an die Uhrkette hängen.“

Die Fürstin hatte gesenkten Hauptes zugehört. Nun reichte sie der unwirschen Ermahnerin die Hand. „Ich danke Ihnen, Frau Collega,“ sagte sie. „So Gott will, wird Ihr Andenken nicht aussterben in unserem Hause … Sie haben mir mein Kind wiedergegeben … Ich will versuchen, es in Ihrem Sinne zu leiten.“

„Schön!“ sagte die Frau Collega und strich ihr mütterlich über die Hand. „Dann wären wir ja einig – – Nun muß ich aber gehen und ’mal sehen, was meine Hühner anfangen.“



Blätter und Blüten.


Der Verein Frauenheim zu Berlin versendet seinen einundzwanzigsten Jahresbericht, aus dem wir erfreulicherweise entnehmen, daß der Vereinszweck: „achtbaren alleinstehenden Frauen eine dauernde, ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechende Wohnstätte mit allen zur Wahrung der Sittlichkeit und des häuslichen Behagens wünschenswerten Einrichtungen mietweise zu gewähren“, in immer vollkommenerer Weise zur Erfüllung kommt. Vergleicht man die Mietpreise unserer Großstädte mit den schmalen Mitteln so vieler den gebildeten Ständen angehörigen älteren Mädchen und Witwen, so wird man die Gründung solcher Frauenheime als eine große soziale Wohlthat anerkennen müssen. Eine vorsichtige Finanzverwaltung ermöglicht dem Berliner Haus, das sich fortwährend größter Frequenz erfreut, die einzelnen Wohnungen (Zimmer mit Kabinett) zum Preise von 100 bis 180 Mark jährlich zu vermieten, einzelne Zimmer bedeutend billiger. Zur gemeinsamen Benutzung dienen ein Speise- resp. Lesesaal, Badezimmer, Waschküche, Trockenboden, Garten, Bibliothek mit Zeitschriften, doch ist niemand gehalten, von diesen Einrichtungen Gebrauch zu machen. Nur das Mittagessen ist der Hausküche zu entnehmen, da Selbstkochen nicht gestattet ist. Dagegen kann jeder achtbare Erwerb ausgeübt werden im Einklang mit dem Wahlspruch des Vereins: „Friede und Anstand.“ Wie segensreich diese Veranstaltungen für viele sind, geht aus den kurzen Angaben schon hervor. Möchten doch andere große Städte dem Berliner Beispiel nachfolgen! Bn.     

[324] Adagio. (Zu dem Bilde S. 312 und 313.) Ein Lied aus alter Zeit! … Sachte streicht der Bogen über die Saiten und mit dem Erklingen der einfachen Melodie steigt vor des Hörers Seele die Erinnerung auf an ferne glückliche Tage. Wie war dort die Welt so schön! Wie froh wanderte er an der Seite seines jungen Weibes durch den Frühlingswald und horchte zu, wenn sie so recht aus voller Brust ins Weite hinaussang, Lied um Lied, wie es ihr aus der Seele quoll, jubelnd und sehnsüchtig, aber alle von dem Zauber ihrer süßen Stimme erfüllt, unvergeßlich für alle Zeit! Ihr Leben war ein kurzes, hohes Glück, nun liegt sie schon lange unter Blumen draußen in dem stillen Grund, und dem Einsamen blieb die Erinnerung zurück. Er hat sich aus der herben Trauer aufgerafft und in angestrengter Arbeit ein wertvolles Leben geführt, an seiner Seite erwuchs das Vermächtnis der Dahingegangenen, ein ernstes seelenvolles Mädchen, die den Vater mit zärtlicher Liebe umfaßt. Sein Tageslauf läßt ihm keine Zeit zum Wünschen und Sehnen. Aber wenn die Dämmerung hereinbricht und er still in seiner Ecke sitzend dem Violinspiel der Tochter zuhört, da kommt die Erinnerung mit Macht über ihn, und er träumt sich beim Klang der alten Lieder in die alte Zeit zurück …

So erzählt uns der Maler des stimmungsvollen Bildes, dessen schlichte Wahrheit den Beschauer eigentümlich ergreift und fesselt.

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Priorlinde an der Kluse bei Dahl a. d. Volme. Der südliche Teil Westfalens, unter dem Namen Sauerland (Süderland) bekannt, war bis vor wenig Jahren weiteren Kreisen ziemlich fremd. Dem verdienstvollen Vorgehen des Herrn Dr. Kneebusch in Dortmund, nämlich durch Herausgabe seines Buches „Führer durchs Sauerland“, ist es in erster Linie zu verdanken, daß den Touristen eine Gegend aufgeschlossen wurde, die sowohl reich an landschaftlichen Schönheiten als an historischen Erinnerungen ist und von einem biederen und intelligenten Menschenschlag bewohnt wird. Zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend gehört auch ein uralter Baum. Wenige Kilometer oberhalb des im Volmethale idyllisch gelegenen Dörfchens Dahl, an der Station Priorei-Breckerfeld (Strecke Hagen-Brügge) steht an einem Bergabhange vor einem Bauernhaus, „die Kluse“ genannt, eine alte Linde, deren eigenartiges Wachstum beistehende Abbildung zum Teil erkennen läßt. Der Stamm, der einen Umfang von fast 6 m hat, streckt in einer Höhe von nahezu 2 m seine 11 Hauptäste fast wagerecht, teilweise nach unten gebogen rund 4 m aus und biegt sie dann senkrecht aufwärts, wie ein riesiger Kandelaber. Der Stamm ist nicht rund, sondern es scheint, als seien die Wurzeln über der Erde zu einem Stamm verwachsen und die Aeste gleichsam aus den einzelnen Wurzeln weitergebildet. Die Aeste sind ebenfalls nicht rund, sondern seitlich ganz platt, so daß sie bei einem Umfange von etwa 3 m nur einen Durchmesser von 0,30 m haben. In der Mitte dieses Kandelabers, gleichsam als Fortsetzung des alten Stammes, erhebt sich ein neuer Stamm, dessen Schaft am unteren Ende 1,50 m Umfang hat, sich schlank an 20 m bis zur Spitze erhebt und den höchsten Gipfel der Baumkrone bildet.

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Priorlinde an der Kluse bei Dahl
im Sauerland.

Wir haben es hier unstreitig mit einer Klosterlinde zu thun, die, von der Hand sachkundiger Mönche aufgezogen, von diesen als Laube in ihren Mußestunden benutzt worden ist. Die Namen „Priorei“ und „Kluse“ sprechen dafür, daß hier in früheren Zeiten Ordensniederlassungen waren, von deren Gebäuden freilich keine Spur mehr vorhanden ist. In Chroniken wird die Kirche im nahen Dahl schon um 1314 erwähnt; es ist anzunehmen, daß um diese Zeit die Mönche ihren Sitz von der Kluse nach Dahl, als einer günstigeren Lage, verlegt haben. Das Alter der Linde ist daher schwer festzustellen; doch darf man annehmen, daß diese Niederlassung zu einer Zeit gegründet worden ist, als die alten Germanen noch ihren Göttern opferten. An dem Bergabhang nicht weit oberhalb der Linde in einer früher mit Hochwald bewachsenen Schlucht, dem „düstern Dahle“, hat man, in dem Bett eines Baches versenkt, einen Porphyrblock gefunden, auf dem deutlich drei Zeichen eingegraben sind, die man für Runen hält. Der Block hat wahrscheinlich als Opferstein gedient und ist von den Bekehrern in die Schlucht hinabgestürzt worden, wo ihn allmählich das Bett des Baches angeschwemmt hat. Nur dem Zufall, daß man den Stein für den Teil eines Porphyrfelsens hielt, der weitere Ausbeute versprach, ist es zu verdanken, daß dieser stumme Zeuge einer grauen Vorzeit ans Licht des Tages befördert worden ist. Hugo Kruskopf.     

Das umfangreichste Litteraturwerk der Erde dürfte eine Encyklopädie des buddhistischen Gesamtwissens, „Tangym“ genannt, sein, welche seit alten Zeiten in einigen großen Klöstern der Hauptländer des Buddhismus aufbewahrt wird. Dieses riesenhafteste aller Konversationslexika, gegen welches äußerlich unsere großen Encyklopädien höchstens als „Taschenlexika“ zu bezeichnen sind, enthält 225 Bände, von denen ein jeder zwei Fuß hoch und einen halben Fuß dick ist. Nebeneinandergereiht, würden diese Bände einen Raum von etwa 35 Metern zur Aufstellung bedürfen, und da ein jeder mindestens, seinem Format nach, 10 bis 15 Pfund wiegen muß, so kann das ganze Werk wohl ein Gewicht von 30 Centnern erreichen. In den unwegsamen Gebirgsgegenden Tibets sind also, wenn ein Exemplar dieser unschätzbaren Encyklopädie von Ausländern erworben wird, 70 bis 100 Träger zu seinem Transport erforderlich. Bisher ist dieser Fall erst dreimal vorgekommen: eins der veräußerten Exemplare befindet sich im Indischen Amt zu London, das zweite soll die russische Regierung besitzen, und das dritte hat dem Vernehmen nach die Asiatische Gesellschaft von Bengalen vor einigen Jahren in einem tibetanischen Kloster gekauft. Der Erwerbspreis soll sich auf 3000 Rupien (6000 Mark) belaufen haben, ein erstaunlich billiger Preis für ein Werk, welches die Weisheit einer der ältesten Kulturen in sich vereinigt und nur in wenigen Exemplaren auf dem Erdenrund existiert. Die außer den drei erwähnten noch vorhandenen Exemplare des „Tangym“ sind im Besitz einiger alter Klöster von Tibet. Es läßt sich freilich denken, daß ein Werk dieses Umfangs in einer des Buchdrucks unkundigen Kultur nicht in vielen Exemplaren vorhanden sein kann. Bw.     

Nordseelotse, an Bord eines einkommenden Klippers gehend. (Zu dem Bilde S. 321.) Weit draußen in der Nordsee, auf der Höhe von Borkum und Helgoland kreuzt der weiße Lotsenschuner, um auf einkommende Schiffe zu fahnden. Die rote Hamburger Flagge mit Wimpel sowie das auf dem Schunersegel gemalte Wort „Elbe“ kennzeichnen das Fahrzeug als im Dienste für die Elbeinseglung bestimmt. Ein großes Klipper-Vollschiff taucht über dem Horizont empor. Bald zeigt es die Lotsenflagge, woraufhin der Schoner in fliegender Fahrt dem Segler entgegeneilt. Einige hundert Meter voneinander entfernt, drehen beide Fahrzeuge bei. Der Lotse besteigt mit den Bootsleuten die Jolle, und in kurzer Zeit befindet sich letztere, wie es unser Bild zeigt, längseits des schwer in der See stampfenden Vollschiffes. Ein Tau wird vom Bord geworfen und an den Poller der Jolle belegt. Auf der herniedergelassenen Strickleiter steigt der Lotse an Deck, während das Boot zum Schuner zurückrudert. Der Lotse übernimmt das Kommando; die Segel werden vollgebraßt, und, nach beiden Seiten weißen Gischt aufwerfend, eilt der Weltfahrer der Elbmündung zu.


Kleiner Briefkasten.

„Auskunftsbureau“ Johannesburg (Transvaal). Wir bedauern, auf Ihren Vorschlag nicht eingehen zu können.

C. C. in Iowa. Besten Dank für die freundliche Mitteilung. Wir bringen aus derselben zur Kenntnis unserer Leser, daß der alte Patriarch Christian Conrad in Delaware, dessen Bildnis die „Gartenlaube“ in Nr. 50 des vorigen Jahrgangs gebracht hat, im März dieses Jahres im Alter von 116 Jahren sanft entschlafen ist. Gern tragen wir ferner nach, daß die Witwe des Verstorbenen, die ihm vor 63 Jahren angetraut wurde, nunmehr 80 Jahre alt ist und sich einer so guten Gesundheit erfreut, daß sie wie eine Vierzigerin aussieht. Die elf Kinder, die sie ihrem Gatten geschenkt, sind alle noch am Leben. Die Familie Conrad zählt also anscheinend zu den immer seltener werdenden „eisernen Geschlechtern“, in denen die Langlebigkeit als glückliches Erbe sich fortplanzt.


Inhalt: Zum Jubelfest des Friedens. Gedicht von Gustav Herold. Mit Randzeichnung. S. 309. – Fata Morgana. Roman von E. Werner (18. Fortsetzung). S. 310. – Adagio. Bild. S. 312 und 313. – Aus dem Arsenal der Tierwelt. S. 315. – Anton von Werner. Von Ludwig Pietsch. S. 316. Mit einem Selbstporträt A. von Werners und Abbildungen S. 316, 317, 318 und 319. – Die Frau Collega. Novelle von Ernst Lenbach. S. 320. – Nordseelotse, an Bord eines einkommenden Klippers gehend. Bild. S. 321. – Blätter und Blüten: Der Verein Frauenheim. S. 323. – Adagio. S. 324. (Zu dem Bilde S. 312 und 313.) – Deutschlands merkwürdige Bäume: die Priorlinde an der Kluse bei Dahl a. d. Volme. Von Hugo Kruskopf. Mit Abbildung. S. 324. – Das umfangreichste Litteraturwerk der Erde. S. 324. – Nordseelotse, an Bord eines einkommenden Klippers gehend. S. 324. (Zu dem Bilde S. 321.) – Kleiner Briefkasten. S. 324.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[324 a] 0


Die Gartenlaube.

Beilage zu No 19. 1896.


Viktor Tilgner †. Wenige Tage vor der feierlichen Enthüllung seines bedeutendsten Werks, des Mozart-Denkmals, das nun seit dem 21. April eine der schönsten Monumentalzierden von Wien bildet, ist der Bildhauer Viktor Tilgner einem Herzschlag erlegen. Die Verkettung beider Ereignisse hat den Verlust, welchen das Wiener Kunstleben durch diesen Tod erlitten, der österreichischen Kaiserstadt mit erschütternder Wirkung nahe gebracht, und die Trauer um den in Wien selbst aufgewachsenen Künstler war eine außerordentliche und allgemeine. In einer stetig aufsteigenden Linie hatte sich seine Entwickelung vollzogen, die gerade jetzt ihren Höhepunkt erreicht zu haben schien. Am 25. Oktober 1844 in Preßburg als Sohn eines Häuptmanns beim Sappeurcorps geboren, war er in frühem Kindesalter schon mit den Eltern nach Wien gekommen. Er besuchte hier die Realschule, und als der Trieb, Künstler zü werden, sich in ihm regte, fand er seitens der Eltern nur Förderung; er kam auf die Kunstakademie und ward Atelierschüler bei dem Bildhauer Joseph Gasser. Noch als solcher sah er sich an der Ausschmückung des neuen Wiener Opernhauses beteiligt, für das er eine lebensgroße Büste von Bellini schuf. Eine Marmorstatue des Herzogs Leopold VI. von Oesterreich für das Arsenal war sein nächstes Werk. Hatte er bei seinen bisherigen Lehrern neben akademischen Preisen und Lobsprüchen den Tadel erfahren, daß er für einen Bildhäuer zu malerisch in der Anschauung sei, was besonders auch bei seiner viel Aufsehen erregenden Büste der Tragödin Charlotte Wolter der Fall war, so verursachte diese Eigenschaft in der Folge gerade, daß er in Deloye einen für ihn Richtung gebenden Meister fand und für sich und sein Schaffen Makarts Interesse erregte. An Makarts Seite machte er auf Kosten des Wiener Kunstmäcens Baron Leitenberger 1874 eine größere Studienreise durch Italien, und in Makarts Atelier schuf er dann das Modell jenes Brunnens mit der Gruppe eines Tritons und einer Najade, den Kaiser Franz Joseph kaufte und für den Wiener Volksgarten in Bronze ausführen ließ. Auch für die kaiserliche Villa in Ischl, diejenige im Tiergarten bei Wien und ebenda für das Palais Schwarzenberg hat er Monumentalbrunnen geschaffen. Gerade seine Art, die auf dekorative Wirkungen und malerischen Reiz im Plastischen ausging, fand dann auch beim Ausschmuck der großen Wiener Neubauten, wie der Hofmuseen und des neuen Hofburgtheaters, vielfältige zweckentsprechendste Verwendung. Für das letztere schuf er die Nischengruppe „Wiener Hanswurst“ und die Kolossalfiguren der Phädra und des Falstaff. Auch die Rubens-Statue vor dem Wiener Künstlerhause ist von ihm. Besonders fruchtbar war er im Porträtfach. An Denkmälern stammen von Tilgner unter anderen das des Komponisten Hummel in seiner Vaterstadt Preßburg, dasjenige Franz Liszts in Oedenburg, das Werndl-Denkmal in Steyr und das größte und hervorragendste Werk seines Lebens, das nun enthüllte Marmorstandbild Mozarts in Wien, dessen Abbildung die „Gartenlaube“ bereits im Jahrgang 1892, S. 220, gebracht hat. Auch außerhalb Wiens hat es dem genialen Künstler nicht an Ehren gefehlt; auf der Berliner Jubiläumsausstellung 1886 war er der einzige Bildhauer, der die Große goldene Medaille erhielt, und auch in München wurde er ähnlich geehrt. Persönlich war Tilgner von echt wienerischer Liebenswürdigkeit. Das Herzleiden, dem er am 16. April erlag, hatte ihn schon seit längerer Zeit gepeinigt.

Viktor Tilgner.
Nach einer Photographie von V. Angerer in Wien.

Die Bevölkerung Europas. Im Jahre 1885 wurden in Europa 337 526 700 Einwohner gezählt, im Jahre 1895 belief sich aber laut einer statistischen Zusammenstellung die Zahl derselben auf 367 449 500. Somit betrug die Zunahme in diesen 10 Jahren rund 30 Millionen Einwohner. Rußlands Zuwachs bezifferte sich auf 12½ Millionen oder 1,46% im Jahre, während die Bevölkerung Deutschlands um 4½ Millionen oder 0,96% jährlich gestiegen ist. Die verhältnißmäßig größte Zunahme weist die Türkei mit 2,4% im Jahre auf, die geringste Frankreich, wo sich die Bevölkerung nur um 0,17% im Jahre vermehrt hat.

Die neue Oderbrücke in Frankfurt a. O. Frankfurt a. O. ist eine der ältesten deutschen Städte im Osten. In uralter Zeit beherrschte die Siedelung einen der wichtigsten Oderübergänge, durch den der rege Handel nach Polen seinen Weg nahm. Hier sammelten sich die Oderschiffe, hier wurden blühende Messen abgehalten; kein Wunder also, daß in der Stadt schon frühzeitig eine hölzerne Brücke über die Oder geschlagen wurde, die bereits im Jahre 1280 erwähnt wird. Wiederholt vom Hochwasser zerstört und vom Feinde in Kriegszeiten verbrannt, wurde sie erneuert und genügte lange den Ansprüchen des Verkehrs. Die Neuzeit brachte jedoch gesteigerte Anforderungen, und als ein durch Fäulnis zerstörter Teil der Holzbrücke wieder aufgeführt werden sollte, entschloß man sich, lieber eine neue steinerne Brücke zu bauen. Dieselbe wurde nach den Plänen des dortigen Stadtbaurates Malcomeß errichtet und bietet nunmehr nach ihrer Vollendung einen imposanten Anblick. Sie überschreitet den Oderstrom mit acht Flachbogenspannungen zwischen zwei massiv gemauerten Widerlagern und sieben mit Granit verkleideten Strompfeilern. Die Länge der Brücke beträgt 260 m und die Breite etwa 13 m. Die Höhe der mittleren Bogenspannungen ist so bemessen, das selbst beim Eintritt von Hochwasser die Schiffahrt auf der Oder nicht zu stocken braucht. Die Baukosten der Brücke beliefen sich auf 1½ Millionen Mark, wozu der Staat einen Zuschuß von 360 000 Mark gewährte. Auf unserem Bilde sehen wir im Hintergrunde die am linken Stromufer gelegene Stadt, von den Türmen der Reformierten Kirche überragt.

Die neue Oderbrücke zu Frankfurt a. O.
Nach einer Photographie von Oskar Mellenthin in Frankfurt a. O.

[324 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]