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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[325]

Nr. 20.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (19. Fortsetzung.)

Helmreichs Leiden hatte in der letzten Zeit rasende Fortschritte gemacht. Der Kranke lag gebrochen im Lehnstuhl, von Kissen gestützt. Er hatte sich sehr verändert in den letzten beiden Monaten und der gänzliche Verfall seiner Züge deutete auf das nahe Ende hin. Nur die Augen allein hatten ihre alte durchdringende Schärfe behalten, es war, als drängte sich die ganze schwindende Lebenskraft nur noch in dem Blick zusammen.

„Du bist allein, Großpapa?“ fragte Elsa überrascht, als sie jetzt, noch sichtlich erregt von dem Zusammentreffen mit Reinhart, ins Zimmer trat. „Ich glaubte, Lothar sei bei Dir. Wo ist er denn?“

„In seiner Wohnung, er schreibt die Antwort auf den Brief, die noch mit der heutigen Post fort muß. Du kümmertest Dich natürlich nicht um mich, hattest ja so angelegentlich zu reden mit dem da draußen!“

„Du hast mich ja selbst fortgeschickt, und Lothar bat mich ausdrücklich, seinem Freunde Gesellschaft zu leisten.“

„Seinem Freunde!“ wiederholte Helmreich mit höhnischer Bitterkeit. „Freilich, er kann ja nicht leben, wenn er den nicht täglich sieht. Er hat schon einmal Unglück gehabt mit einem Busenfreunde und sollte sich diesmal besser vorsehen.“

„Mit welchem Freunde? Wen meinst Du?“

„Deinen Vater meine ich, dem er auch so blind vertraute und der ihn dann hinterging, ihm Wort und Treue brach –“

„Großpapa, laß das!“ fiel die junge Frau erregt ein. „Du


Bestrittene Jagdbeute.
Nach dem Gemälde von F. Jimenez.

[326] weißt, ich ertrage von Dir jede Härte, jede Bitterkeit, aber meinen Vater laß ruhen in seinem Grabe. Sprich nicht in diesem Tone von ihm, ich kann und will das nicht hören.“

„Sieh, wie energisch!“ höhnte der Professor. „Du willst nicht? Hast ja viel Selbständigkeit gelernt bei Deinem Manne. Sonst kanntest Du überhaupt keinen eigenen Willen; aber freilich, wenn man den ganzen Tag lang angebetet wird, dann wird man übermütig. Ich hätte Lothar für vernünftiger gehalten. Ich glaubte Dich einem ernsten Manne zu geben, der über solche Narrheiten längst hinaus ist, und nun verliebt er sich in Dich und treibt eine förmliche Abgötterei mit Dir. Es ist lächerlich!“

Elsa antwortete nicht, sie beugte sich ruhig nieder, um die Decke aufzuheben, die herabgeglitten war, und breitete sie sorgfältig wieder über die Kniee des Kranken; aber gerade ihr Schweigen schien diesen noch mehr zu reizen, er führ in dem gleichen Tone fort: „Der gute Lothar! Da freut er sich über Dein sogenanntes ‚Erwachen‘ und staunt es wie ein Wunder an – fürchten sollte er es! Da erzählt er Dir den ganzen Tag lang von seinen Zügen und Fahrten, rollt die ganze Welt vor Dir auf und weckt die alte unbändige Sehnsucht, die mir in Deinen Kinderjahren schon so viel zu schaffen machte. Ist der Mann denn mit Blindheit geschlagen? Die Elsa, die er aus meiner Hand empfing, hätte er behalten, denn die wußte, was Pflicht und Gehorsam heißt, aber sein ‚angebetetes Weib‘, das er nicht schnell genug freimachen konnte von den Fesseln meiner ‚Tyrannei‘, das wird er verlieren, hat er vielleicht schon verloren und er merkt es nicht einmal!“

„Du bist ungerecht gegen Lothar und mich,“ sagte Elsa ruhig. „Aber Du bist krank, Großpapa –“

„Und deshalb verzeihst Du mir großmütig, nicht wahr? Nimm Dich in acht, die Augen des Kranken sehen schärfer als die der Gesunden, sehen mehr als Dir lieb ist!“ Er faßte plötzlich mit hartem Druck ihre Hand, die sich noch an der Decke zu schaffen machte. „Was hast Du gesprochen mit diesem Ehrwald, vorhin, als er so dicht an Deine Seite trat? Antworte, ich will es wissen!“

„Wir haben von Lothar gesprochen.“

Der Professor ließ ein heiseres Lachen hören. „Wirklich? Spielt er Dir noch Komödie vor? Ich habe ihn von Anfang an nicht leiden können, den Burschen mit den schwarzen Feueraugen, der immer so stolz und gebieterisch dreinschaut, als hätte er der ganzen Welt zu befehlen, aber Dir gefällt er wohl um so besser?“

„Großpapa, laß mich,“ bat die junge Frau beklommen und versuchte sich loszumachen, aber die Hand des Großvaters lag feucht und eiskalt auf der ihrigen und hielt sie gewaltsam fest, während er ihr in drohenden: Tone zuraunte: „Hast Du es noch nicht begriffen oder willst Du es nicht begreifen? Verliebt ist er in Dich! In das Weib seines Freundes!“

Elsa bebte zusammen bei den Worten, die so jäh und erbarmungslos den Schleier von einem Unheil rissen, dessen Nahen sie wohl dunkel und angstvoll gefühlt hatte, das ihr aber nie zum klaren Bewußtsein gekommen war. Entsetzt, keines Wortes mächtig, blickte sie den alten Mann an, dessen unheimlich glühende Augen sich förmlich einbohrten in ihr Antlitz.

„Was wirst Du denn auf einmal so totenbleich?“ fragte er. „Brauchst Dich ja nicht darum zu kümmern, wenn Du weißt, was Ehre und Pflicht heißt. Oder kümmerst Du Dich vielleicht doch darum? Denkst Du, ich habe es nicht gesehen, wie Ihr nebeneinander standet, als ob die ganze Welt um euch versunken wäre, wie er Dir minutenlang ins Auge sah und Du ihm nicht wehrtest? Freilich, wo wäre auch Ehre und Treue zu finden bei dem Bernriedschen Geschlecht! Lothar hat schon einmal das Unheil über meine Schwelle geführt, ohne es zu ahnen, jetzt führt er es in sein eigenes Haus mit dem vielgeliebten Freunde. Damals war es Ludwig Bernried, dieser Schurke, und heut’ –“

Ein Aufschrei der jungen Frau unterbrach ihn, sie riß ihre Hand aus der seinigen und trat mit einer stürmischen Bewegung zurück. „Sage das nicht noch einmal! Nenne meinen Vater nicht mit solchem Namen – oder ich vergesse, daß Du krank bist, daß ich Dich schonen muß – vergesse alles! Ich ertrage das nicht!“

„Willst Du es mir vielleicht verbieten?“ rief Helmreich, aufs äußerste gereizt durch den Widerspruch. „Du weißt ja jetzt vieles, nahezu alles von Deinem Vater – Lothar hat es Dir erzählt – hast auch gerade Ursache, stolz auf ihn zu sein! Nachdem er sich und sein Weib zu Grunde gerichtet hatte, überließ er Dich meiner Barmherzigkeit. Ich, den er bis auf den Tod beleidigt hatte, mußte sein Kind erziehen. Nichts hat er auf Dich vererbt als dies leidenschaftliche Wesen, das sich so rebellisch aufbäumt gegen alles, was Pflicht und Gehorsam heißt. Ich habe es ausrotten wollen bei dem Kinde und habe es doch nur unterdrücken können. Sobald ich die Hand von Dir lasse, bricht es wieder hervor. Es wird noch das Unglück Deines Lebens werden!“

Weder er noch Elsa bemerkten es in der Erregung, daß die Thür sich öffnete, daß Ehrwald auf der Schwelle stand, bereit zum Schutze der jungen Frau; allein sie bedurfte keines Schutzes mehr. Als würfe sie eine lange getragene Last ab, so richtete sie sich jetzt empor und brach mit vollster Heftigkeit aus: „Das Unglück meines Lebens bist Du gewesen – ja Du, Großvater, mit Deiner erbarmungslosen Härte! Als ich zu Dir kam, eine kleine, verlassene Waise, die nichts auf der Welt hatte als Dich allein, da hätte ein jeder andere verziehen und das Kind an sein Herz genommen, wenn er auch die Eltern verstieß – Du hast mich gehaßt um meines Vaters Willen, jawohl, gehaßt! Ich habe es gefühlt vom ersten Augenblicke an, wenn ich es auch erst viel später erkennen lernte. Es hat Dir Freude gemacht, mich zu quälen und alles, was von Kraft und Leben in mir war, zu brechen. Du hättest mich am liebsten zum geistigen Tode verdammt. Ich bin schon einmal hinaus gelaufen in Nacht und Schnee, beinahe in den Tod, nur um Dir zu entfliehen, und jetzt möchte ich Lothar auf den Knieen danken, daß er mich Deiner Macht entrissen hat. Mein armer Vater hat eine Jugendsünde, zu der ihn doch nur die Liebe trieb, so schwer büßen müssen, aber Du hast zehnfach mehr gesündigt an ihm und an mir, Du, der keine Liebe und kein Verzeihen kennt. Und Du willst ihn jetzt noch im Tod beschimpfen, vor seinem Kinde beschimpfen? Versuche das nicht noch einmal, oder ich gehe von Dir und lasse Dich allein in Deiner Sterbestunde!“

Sie stand vor ihm, in glühender, leidenschaftlicher Empörung, und schleuderte ihm drohend all die Anklagen ins Antlitz, und der alte Mann, der seiner ganzen Umgebung ein Tyrann ohnegleichen war, der nicht den geringsten Widerspruch ertrug, er verstummte vor diesem jähen Ausbruch und sank scheu davor zusammen. Er hatte Furcht vor seiner Enkelin, vielleicht auch vor ihrer Aehnlichkeit mit dem toten Vater, die in diesem Augenblick in fast erschreckender Weise hervortrat.

Aber noch einem anderen drängte sich diese Aehnlichkeit auf. So hatten Ludwig Bernrieds Augen geflammt bei jenem Todesritte, als er den Gegner maß, der ihm den Sieg entriß. Ehrwald hatte eintreten wollen, aber er stand wie festgewurzelt an der Schwelle und sein Auge hing mit dem Ausdruck leidenschaftlicher Bewunderung an der jungen Frau. Da hatte eine grausame Erziehung nichts vernichten, sie hatte nur fesseln können und jetzt wurde die letzte Fessel abgeworfen! Das war wieder das schöne wilde Kind, das so lieblich schmeicheln, so maßlos trotzen konnte und es gerade mit diesem Trotz dem jungen Landsmanne angethan hatte, als er es emporhob in seine Arme und den versagten Kuß erzwang!

Das starre, entsetzte Staunen Helmreichs dauerte freilich nur Sekunden, dann kam ihm mit dem Zorn auch die Sprache zurück. Er lachte auf, so heiser und höhnisch wie vorhin.

„Und Du willst Lothars Frau sein? Dich hat der Mann gewählt, der sich nur nach Ruhe sehnt, den Du pflegen sollst in seinem stillen Heim? Wenn er Dich jetzt sähe, es würde ihm klarwerden, was er gethan hat. Zu dem anderen gehörst Du, dem das Feuer auch so aus den Augen sprüht wie Dir jetzt. Der ist Deinesgleichen, er wird Dich an sich ketten mit jener dämonischen Gewalt, die auch Dein Vater hatte, und Du – Du wirst früher oder später thun, was Deine Mutter that, als sie aus meinem Hause floh. Aber ehe es dahin kommt, ehe ich das zum zweitenmal erlebe, eher mochte ich Dich mit eigener Hand –“

Er vollendete nicht, aber seine zuckende Hand griff nach dem schweren Leuchter, der neben ihm auf dem Tische stand, und mit dem letzten fieberhaften Aufflammen der Lebenskraft schleuderte er ihn nach der jungen Frau. Doch in demselben Augenblick stand auch schon Ehrwald da und riß sie zurück. Der Leuchter fiel schmetternd zu Boden, gerade da, wo sie gestanden hatte.

„Sie sind von Sinnen, Herr Professor!“ sagte Reinhart in jenem strengen, gebieterischen Tone, in dem man zu einem Wahnsinnigen spricht, der gebändigt werden soll. „Sie hätten Ihre Enkelin getötet ohne mein Dazwischentreten!“

Dies Dazwischentreten war das Schlimmste, was geschehen konnte, es erregte den Kranken aufs äußerste. In seinen Augen [327] funkelte maßloser Haß, als er kaum verständlich hervorstieß: „Sie – Sie sind es? Fort, hinaus! Was wollen Sie hier?“

„Frau von Sonneck schützen, bis ihr Gatte zur Stelle ist. Kommen Sie, gnädige Frau! Sie sehen es ja, Ihr Großvater ist unzurechnungsfähig.“ Er wollte sie fortführen, aber Elsa machte sich los und eilte mit einem Schreckensrufe zu dem Professor, der plötzlich zurückgesunken war. Sein ganzer Körper wurde von einem Krampfanfall geschüttelt, aber er stieß die Hand seiner Enkelin zurück, als sie ihm Hilfe leisten wollte.

„Fort von mir! Lothar soll kommen. Lothar!“

In diesem Augenblick erschien Sonneck wirklich, die immer lauter werdenden Stimmen hatten ihn herbeigezogen. Er eilte gleichfalls zu Helmreich. „Was ist geschehen? Kam der Anfall so plötzlich? Gieb ihm die Tropfen, Elsa, vielleicht geht es wieder vorüber.“

Aber es ging diesmal nicht vorüber. Der Kranke wurde zwar schon nach wenigen Minuten ruhiger und lag fast regungslos, allein seine Brust hob sich schwer und röchelnd und seine Lippen bewegten sich, als ob er sprechen wollte. Sonneck beugte sich tief zu ihm nieder.

„Wir sind bei Ihnen,“ sagte er beruhigend. „Ich bin’s, Lothar, ich und meine Elsa.“

Da flammte es noch einmal auf wie Hohn und Haß in den Augen des Sterbenden. Seine Stimme hatte keinen Klang mehr, ein hohles, geisterhaftes Geflüster streifte, nur Sonneck vernehmbar, an dessen Ohr hin: „Deine Elsa? Du armer Thor! Hüte Dich vor dem da – vor dem da! Und hüte sie vor ihm – wenn es nicht schon zu spät ist!“

Seine zuckende Hand hob sich und wollte auf Ehrwald weisen, aber sie fiel kraftlos nieder, es war das letzte Aufflackern des Bewußtseins, das jetzt zu erlöschen schien.

„Was sagte er Dir? Hast Du ihn verstanden?“ fragte Elsa angstvoll.

„Nichts, Phantasien eines Sterbenden,“ entgegnete Sonneck halblaut, aber er war bleich geworden bis in die Lippen.

Helmreich sah und fühlte offenbar nicht mehr, daß man sich mit allen möglichen Hilfeleistungen um ihn bemühte. Noch ein kurzer schwerer Kampf, dann erstarrte alles in der eisigen Ruhe des Todes, es war zu Ende.

„Er hat ausgelitten. Wir wollen ihm den Frieden gönnen,“ sagte Lothar, indem er sich emporrichtete; seine Stimme war klanglos und ein eigentümlich schwerer und fragender Blick streifte den Freund und die junge Frau, die stumm und thränenlos vor der Leiche des Großvaters kniete. Es folgte eine lange Pause. Niemand sprach, die unheimliche Stille des Todes herrschte in dem Gemach, endlich trat Reinhart zu seinem Freunde und bot ihm die Haud. „Es ist wohl besser, ich lasse Dich jetzt allein mit Deiner Frau. Auf morgen, Lothar!“

Er neigte sich schweigend vor Elsa und ging. Lothar sah ihm nach, wieder mit jenem seltsam fragenden Blick, dann wandte er sich zu seiner Gattin und hob sie empor.

„Komm, mein armes Kind, weine Dich hier aus!“ sagte er tiefernst und schloß sie in die Arme, während die junge Frau in ein lautes, leidenschaftliches Schluchzen ausbrach.




Jenseit der Bergeskette, die das Kronsberger Thal von allen Seiten einschloß, lag der mächtige Alpensee, dessen Ufer zum Teil die Grenze des Landes bildeten. Man hatte nur vier bis fünf Stunden bis dahin, aber die Landschaft trug einen durchaus anderen Charakter. Weithin dehnte sich die schimmernde Fläche des Sees, dessen jenseitige Ufer kaum sichtbar waren, die Berge traten überall zurück und die freundlichen Ortschaften zu ihren Füßen lagen inmitten von blühenden Wiesen und prächtigen Baumgruppen wie in einem großen Garten da.

Die heitere Schönheit der Landschaft hatte auch viel Freunde gefunden, das zeigten die zahlreichen Ansiedlungen, die sich überall an den Ufern erhoben, bescheidene Landhäuser, von dichtem Grün umrankt, und schloßartige Villen, von Parkanlagen umgeben, und dazwischen all die großen Hotels, die zur Sommerszeit dem auf- und abflutenden Strome der Reisenden Aufnahme gewährten.

Auf der Terrasse eines dieser Hotels saß Lothar Sonneck und blickte hinaus in die Landschaft, die heute im hellen Sonnenglanz ein ungemein reizvolles Bild zeigte; aber er sah offenbar nichts davon, sondern schien ganz in düstere Träumerei verloren. Sein Antlitz war wohl immer ernst gewesen, doch jetzt stand ein grübelnder Zug darin und die Augen hatten jenes Aufleuchten verlernt, das noch vor wenigen Wochen von so viel heimlichem Glücke sprach. Der alte verbitterte Mann, der nun schon seit drei Wochen im Grabe ruhte, hatte noch mit dem letzten Atemzüge Unheil über drei Menschen gebracht.

Da nahte ein leichter Schritt, Sonneck blickte auf und lächelte; seine junge Frau, die jetzt herantrat, bekam nichts von der Düsterheit zu sehen, die eben noch sein Antlitz so schwer beschattete. Elsa trug Trauer um den Großvater und das tiefe Schwarz hob die rosige Frische ihrer Erscheinung nur um so mehr. Sie nahm ihrem Gatten gegenüber Platz und sagte mit einem halbunterdrückten Seufzen: „Ich komme allein – Zenaide ist soeben nach Malsburg gefahren.“

„Also doch! Du hast sie nicht zurückhalten können?“

„Nein, sie hört weder auf Bitten noch auf Vorstellungen und will ein Wiedersehen mit ihrem Kinde erzwingen.“

„Das wird eine schlimme Scene geben!“ sagte Lothar sorgenvoll. „Zenaide ist maßlos leidenschaftlich und unbesonnen. Was für unsinnige Pläne habe ich schon verhindern müssen, seit sie weiß, daß das Kind in ihrer Nähe ist, und sie gab doch immer mir für den Augenblick nach, wenn ich ihr die Unmöglichkeit der Ausführung klar machte.“

„Konntest Du sie nicht wenigstens begleiten?“ warf Elsa ein.

„Das wäre nutzlos gewesen. Marwood hätte es zweifellos als ein unberechtigtes Eindrängen zurückgewiesen, und Zenaide wünschte es ja nicht einmal.“

„Der Lord hat sie aber auch aufs äußerste getrieben,“ sagte die junge Frau erregt. „Zweimal hat sie ihm geschrieben und verlangt, daß er ihr ihren Sohn nur auf einen Tag nach Kronsberg sende – er verweigerte es. Mein Gott, eine Mutter wird doch das Recht haben, ihr Kind zu sehen!“

„Gewiß, aber wenn es einmal so weit gekommen ist wie zwischen den beiden, wer fragt da noch nach dem Rechte! Uebrigens begreife ich Marwoods Weigerung. Er fürchtet, daß, wenn seine Frau das Kind erst einmal in Händen hat, sie es freiwillig nicht wieder zurückgiebt und es auf gewaltsame Maßregeln ankommen läßt. Das fürchte ich auch und deshalb allein entschloß ich mich zu der Reise mit Dir. Ich versuchte durch Hartley das Zugeständnis zu erlangen, daß der Kleine für einige Stunden hierher in das Hotel zu seiner Mutter gesandt würde, wenn ich die Bürgschaft für seine Rückkehr übernähme. Ich ließ Marwood melden, daß Zenaide in unserer Begleitung ist; vergebens, er beharrt auf seiner Weigerung, Hartley selbst brachte mir heute morgen die Nachricht. Da können wir nichts thun als der Sache ihren Lauf lassen – Gott allein weiß, wie sie endigt!“

Es trat eine Pause ein, sie schwiegen beide und blickten auf den sonnenbeglänzten See hinaus. Soeben legte der Dampfer, der vom jenseitigen Ufer kam, in der Nähe des Hotels an und ein Teil der Reisenden stieg ans Land. Die junge Frau war an die Brüstung getreten und schaute gleichgültig auf das Gewühl; auf einmal aber erbleichte sie und ihre Augen richteten sich groß und starr auf einen Punkt. In der nächsten Minute jedoch wandte sie sich zu ihrem Mann und sagte anscheinend ruhig: „Ich habe vergessen zu sagen, daß wir heute allein speisen wollen. Ich werde es wohl bestellen müssen.“

Es war noch eine volle Stunde bis zur Mittagszeit, aber Sonneck machte keinen Versuch, seine Frau zurückzuhalten, wie sonst in Burgheim, wo er jede Minute zählte, die sie fern von ihm war. Er sah ihr nur mit einem langen düsteren Blicke nach, bis sie verschwunden war. Dann stand er rasch auf, als wollte er sich seinen Gedanken entreißen, und musterte zerstreut die Fremden, die der Dampfer gelandet hatte und die eben durch den Garten kamen. Auf einmal aber stutzte er und ließ einen Ausruf der Ueberraschung hören. Was war das? Wie kam Reinhart hierher? Er war ja in der Residenz, um dort persönlich die letzte Rücksprache wegen seiner Expedition zu nehmen, und wollte erst in acht Tagen nach Kronsberg zurückkehren, um Lebewohl zu sagen. Und doch war es seine hohe Gestalt, die all die anderen überragte. Er kam gerade auf das Hotel zu, jetzt bemerkte er auch den Freund auf der Terrasse und eilte mit allen Zeichen der Ueberraschung die Stufen hinauf. „Du bist es Lothar! Ich glaubte Dich in Burgheim. Wie kommst Du hierher?“

„Die Frage gebe ich Dir zurück,“ entgegnete Sonneck ebenso erstaunt. „Was thust Du hier? Ich denke, Du bist in der Residenz.“

[328]

Radierung im Verlage von H. O. Miethke in Wien.
Der stürmische Verlobungstag.
Nach dem Gemälde von E. Kurzbauer.

[329] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [330] „Ich bin heute morgen von dort abgereist und es hat Mühe genug gekostet, mich jetzt schon frei zu machen, aber“ – er brach plötzlich ab und setzte rasch hinzu: „Hast Du Zenaide hierher begleitet?“

„Allerdings. Du weißt es, daß sie hier ist?“

„Ich kam auf ihren Ruf, sie schrieb mir vor einigen Tagen.“

„Um Gotteswillen, welche neue Unvorsichtigkeit!“ rief Lothar erschrocken. „Will sie denn Marwood immer mehr Waffen gegen sich in die Hand geben? Du warst der letzte, an den sie sich wenden durfte, und Du hättest auch nicht kommen dürfen, Reinhart, unter keiner Bedingung!“

Statt aller Antwort zog Reinhart seine Brieftasche hervor und entnahm ihr einen Brief, den er seinem Freunde hinreichte.

„Lies! Und dann sage mir, ob ich da ausweichen oder mit einer Weigerung antworten konnte.“

Sonneck durchflog den Brief und gab ihn dann mit einem Seufzer zurück. „Also deshalb wollte sie anfangs meine Begleitung nicht annehmen, ich mußte sie ihr förmlich aufdrängen! Der Brief klingt allerdings verzweiflungsvoll. Sie ruft Dich, ihren ‚einzigen Freund‘, zu Hilfe? Ich bin es ihr nicht mehr, seit ich mich den Unmöglichkeiten widersetzte, die sie versuchen wollte. Ist Dir bekannt, was sie von Dir fordern wird?“

„Ich errate es nur zu gut, denn sie machte mir schon damals Andeutungen, als ich mich von ihr verabschiedete. Sie will sich um jeden Preis in den Besitz ihres Kindes setzen, es nötigenfalls entführen –“

„Wozu Du doch nimmermehr die Hand bieten wirst?“ fiel Sonneck heftig ein.

„Nein, denn die Folgen würden mit ihrer ganzen Schwere auf Zenaide selbst zurückfallen. Ihr Gemahl hat ja das Gesetz zur Seite und wird es schonungslos brauchen. – Der abenteuerliche Plan konnte nur in dem Kopfe einer Frau entstehen, die fast bis zum Wahnsinn gebracht ist, und das ist Marwoods Werk! Ihr sogar den Anblick des Kindes zu versagen – es ist eine schändliche Grausamkeit!“

„Ich fürchte, es ist eine planmäßige Berechnung. Er will sie zu einem Gewaltschritte treiben, der sie ihm gegenüber in das vollste Unrecht setzt, um dann seinerseits die Bedingungen der Scheidung zu diktiren und sich seinen Sohn zu sichern. Und er wird seinen Zweck erreichen! Schon Deine Nähe kann da ausgebeutet werden; Du weißt es ja, was für Klatschereien über Dich und Zenaide im Umlauf sind.“

„Ja, ich weiß es,“ sagte Ehrwald einsilbig.

Sonnecks Blick ruhte auf ihm, mit einem geheimen, angstvollen Forschen; er hätte alles darum gegeben, wenn Reinhart sich jetzt das Geständnis seiner Liebe zu Zenaide hätte entreißen lassen und ihm die Gewißheit gegeben hätte, daß jene letzten Worte Helmreichs nur eine aberwitzige Einbildung gewesen seien; aber Reinharts Züge blieben unbewegt, es ließ sich nichts darin lesen.

„Es ist nur ein Glück, daß ich hier bin mit Elsa,“ hob Lothar wieder an, er sprach den Namen ganz unvermittelt aus.

„So? Deine Frau hat Dich begleitet?“ fragte Reinhart kühl.

„Ja, und unser Hiersein kann wenigstens den Vorwand für Dein Erscheinen hier geben. Du hast natürlich uns aufgesucht, und wir haben gemeinschaftlich dies Zusammentreffen verabredet! Uebrigens müssen die nächsten Stunden schon irgend eine Entscheidung bringen, denn Zenaide ist trotz aller Abmahnungen nach Malsburg gefahren und man kann sie doch nicht von der Schwelle weisen. – Doch jetzt komm, Reinhart, wir müssen daran denken, Dir ein Zimmer zu sichern, das Hotel ist sehr besetzt.“

Sie schritten dem Hause zu, ernst und schweigend, von der hellen Freude, mit der sie sonst beide jedes Wiedersehen begrüßten, war keine Spur mehr geblieben. Ehrwald ahnte ja nichts von jenem unseligen Argwohn, der in die Seele seines Freundes geworfen war und nun verzehrend fortglimmte; aber es lag zwischen ihnen wie ein kalter Schatten. –000

(Fortsetzung folgt.)




Im Wandel der Zeiten.

Von F. G. Ad. Weiß.

Es ist eine stimmungsvolle Wildnis. Entlang dem vielzerrissenen Ufer eines träge dahinfließenden breiten Gewässers, an dessen Saume hohes Schilf seine grünen Fähnchen im Lufthauche beben läßt, zieht sich im majestätischen Gründüster ein Urwald. Nur spärlich rinnen gleich Goldtropfen einzelne Sonnenstrahlen durch die ein einziges riesiges Gewölbe bildenden Wipfel in das Gewirr der Farrenwedel und saftigen Staudengewächse. Um tote Baumriesen, die der Sturm niedergebrochen hat und über die das Moos seine verfilzte Decke zieht, prangen blaue Glockenblumen auf schwanken Stengeln und duften die weißen Blütensterne der Erdbeere. Die Hochfluten haben tiefe Schluchten weit hinein in den Wald gerissen. Schwarze Wassertümpel, an deren Ufer es in allen Farben blüht, erfüllen die tiefsten Stellen. Auf dem Rande dieser Schluchten im feuchten, geheimnisvollen Dunkel breiten sich seltsam gestaltete Eibenbüsche, welche schwarzgrün schimmernde Aeste gleich Armen nach allen Seiten hin strecken. Allerlei Vogellaute erfüllen die Waldeinsamkeit mit Leben. Zuweilen knistert’s im Unterholz. Ein Reh äugt durch das Gesträuch, ein Hirsch zeigt sein stolzes Geweih, ein Eber wühlt grunzend im Moose nach Eicheln.

Auch drüben über dem Gewässer tritt Laubwald hart ans Ufer, so daß der Fluß, wenn ihn nicht die rotgoldnen Lichter der Morgensonne und die Purpurgluten der Abendsonne küssen, in tiefgrünem Dämmerlicht hinfließt, aus dem die mitten im Wasser auf breiten Blättern schaukelnden gelben Nixblumen träumerisch emporblicken.

Wir verfolgen das einsame Gewässer aufwärts. Da zeigt es sich, daß der Wald des anderen Ufers nur einen schmalen Werder bedeckt, der von den Nebenarmen eines großen Stromes umspült wird. Bei einer Windung des Ufers taucht er auf in seiner ganzen, im Sonnenschein glitzernden und funkelnden majestätischen Breite, der waldgesäumte Oderstrom.

Gleichzeitig grüßt von einer zweiten ihm vorliegenden Insel endlich eine menschliche Ansiedelung. Dicht am Ufer im Schatten von Holzapfelbäumen steht eine Reihe armseliger mit Schilfrohr gedeckter Lehmhütten. Nur flache, spärliche Furchen zeigen Spuren einer kümmerlichen Bebauung des Bodens. Aber aufgespannte Netze und aufgehängte Angelschnüre und im Uferschilf schaukelnde Einbäume verraten den eigentlichen Beruf dieser Anwohner. Es sind schwarzäugige, dunkelhaarige, sehnige Gestalten von slavischem Stamm. Kunstlos ist ihre aus Fellen hergestellte Bekleidung, scheu ihr Wesen. Sie kennen noch keine Oberherren. Auf geweihten Waldwiesen opfern sie dem lichten Belibog und dem bösen Cernibog. Sie wissen nicht mehr, wann ihre Vorväter in diese Einöde kamen, und noch namenlos ist ihre Heimstätte.




Es sind Jahrhunderte dahingegangen. Anno 1100. Das Uferwaldbild hat sich verändert. Zwar wiegen sich die Goldkelche der Nixblumen noch immer im kosenden Hauche und fröhliches Vogelgezwitscher schallt aus dem Walde des Werders. Aber diesseits am rechten Ufer des Stromgebietes haben Ansiedler den Urwald ausgerodet und einen Damm gegen die Hochfluten aufgeworfen. Wo ehemals stille Lagunen tief in den Wald reichten und moosbärtige Baumgreise ihre Wurzelstöcke ausspreiteten, zeigt sich eine Reihe rohrgedeckter Lehm- und Holzhütten im Schatten dunkelbelaubter Apfelbäume. Auf den Feldern dahinter gedeiht goldne Gerste, grauer Roggen und blaßrötliches Heidekorn. Wo einst das Geheimnis des Urwaldes herrschte, regt sich und bewegt sich, schafft und klopft, plaudert und lacht warmblütiges Menschenleben. Freilich macht sich im grellen Sonnenschein der ganze ungewaschene und ungekämmte Naturalismus des altslavischen Dorfes breit, in dessen Staube nackte Kinder jauchzend im Spiele sich mit den Ferkeln wälzen. Aber ein Hauch von Kultur ist doch schon über das Völkchen hingegangen.

Am obern Ende des Dorfes leuchtet inmitten eines von Weißdorn umhegten Friedhofes, vor welchem ein kunstloses Cruzifix steht, eine weißgetünchte Kapelle mit spitzem roten Dache … Aber bei alt und jung steht es doch fest, daß der böse Cernibog zuweilen nachts auf pechschwarzem Rosse durch die Fluren jagt, besonders im Winter, wo man die Hütten verrammeln muß, weil die Wölfe in ganzen Rudeln heulend das Dorf belagern, so daß vor Angst die Kinder weinen und das Rindvieh brüllt.

[331] Am untern Ende des Dorfes, wo man die Stromarme überblickt, liegt eine Schenke. Schon längst nimmt ein lebhafter Handelsverkehr von Süden nach Norden gerade hier seinen Weg über den Strom, wo die Inseln sein Ueberschreiten erleichtern. Seit einiger Zeit ist vom linken bis zum rechten Ufer eben mit Benutzung der Strominseln ein langer Brückenzug aus mächtigen Balken gefügt worden. Es ist nun gar nichts Seltenes, daß eine Tafelrunde von hochgewachsenen, kühnblickenden Blondbärten aus Deutschland am rohgezimmerten Tische unter der alten, noch vom Urwalde übrig gebliebenen Eibe um den Metkrug sitzt, während die entbürdeten Rosse auf dem Anger grasen oder mit den Troßknechten vor der Dorfschmiede halten. Dieser grauhaarige Schmied mit dem rotblond schimmernden Barte war der erste Deutsche, der sich hier bei den dunkelhaarigen Slaven ansiedelte. Er ist der einzige freie Mann des Dorfes. Alle andern sind Hörige, seit sich das große Polenreich über das Land erstreckt.

Volles Glockengeläute klingt über den Werder. Eine Prozession von Kähnen, besetzt mit den zur Kirchfahrt buntgeschmückten Bewohnern des Uferdorfes, bewegt sich den Flußarm aufwärts nach der jenseits gelegenen Insel … Welch anderes Bild gegen einst! Auf einer Landzunge ragt eine gemauerte Feste, flankiert von vierschrötigen Türmen und umgeben von einer roh geschichteten Mauer. Hier residiert mit seinem Burggesinde und seinem reisigen Gefolge ein Statthalter des Herrschers. Einen Bogenschuß entfernt, am anderen Ende des ansehnlichen Inselfleckens erhebt sich eine langgestreckte Basilika auf gemauertem Unterbau mit einem schlanken Glockenturme. Gegenüber wohnt im stattlichen, weitläufigen Gehöft der Bischof. Es herrscht ein buntes Leben auf der Insel, und der Burgflecken, der einen slavischen Namen trägt, aus dem später „Breslau“ wurde, gilt bereits als einer der wichtigsten Plätze des weiten polnischen Reiches.




Ein Vierteljahrtausend später … Die polnischen Herrscher gebieten schon längst nicht mehr über das Land, welches nun einen Teil des Hausstaates der Luxemburger bildet. Es ist in der letzten Zeit des klugen Kaisers Karl IV. Man nennt sie in seinen Landen die „goldne“. Von den früheren Hütten unseres Uferdorfes ist keine Spur mehr vorhanden, und das slavische Völkchen, das in ihnen leichtherzig in den Tag lebte, ist wie vom Winde verweht … Längs des erhöhten Dammes sieht man in dichterer Reihe als einst stattliche, mit Schindeln gedeckte Fachwerkgehöfte von deutscher Bauart. Nirgends fehlt das Wurz- und Kräutergärtlein, und hinter den Hofraiten gedeiht edles Obst.

Weithin ins Land dehnt sich die Flur. Da leuchten die saftig grünen Krautäcker, da wallt silbern das Korn, da glänzt der goldne Weizen, da duftet der Hanf und auf den Rainen weidet breitstirniges Rindvieh. Der tief in die Scholle greifende deutsche Eisenpflug entlockt dem Boden strotzende Fülle. Der in weite Ferne zurückgedrängte Wald hat nur einzelne Büsche an sickernden Gräben im Felde zurückgelassen. Schon seit einigen Menschenaltern sind hier die Deutschen seßhaft. Sie eroberten das ganze Land – aber nicht mit dem Schwerte – sondern mit Beil und Pflug, Hammer und Kelle. Es ist ein Volk von freien Männern. Die hier im Uferdorfe zinsen dem Kloster, welches die Rechts- und Territorialhoheit ausübt, aber freigewählte Schöffen „sitzen das Gericht und finden das Recht“.

Oberhalb des Dorfes steht inmitten des uralten Friedhofes an Stelle der vergessenen Kapelle eine auch schon altersgraue Dorfkirche. Dicht daneben aber breiten sich gleich einer besonderen Ortschaft mit behaglicher Geräumigkeit und in würdevoller Ruhe die zahlreichen und äußerst mannigfaltigen Baulichkeiten eines Prämonstratenserstifts aus. Da ist das Konventhaus mit seinem beschaulich gemütlichen Refektorium. Da ragen die romanischen Rundbogen der alten Klosterkirche mit seltsamem Schnitzwerk an Fenstern und Thüren. Um die Höfe gruppieren sich zwanglos die Wirtschaftsgebäude, das Brauhaus, die Scheuern und Ställe. Das Ganze umgiebt eine hohe Mauer mit Türmen. Wo sie am steilen Rande eines großen Teiches hinstreicht, umwuchert Gesträuch die steinernen Mauerrippen … Das Dorf steht im regsten Verkehr mit den frommen Brüdern und dem zahlreichen Klostergesinde. Man weiß draußen alles, was man drinnen sich lächelnd zuraunt von lebefrohen Mönchen … Aber auf das Kloster läßt man doch nichts kommen. Denn alle Jahre um Johanni giebt’s eine „Heiligtumsfahrt“. Da werden in der Klosterkirche die vielen, vielen wunderkräftigen Reliquien des Stiftes ausgestellt; und es strömen von nah’ und fern Tausende von Gläubigen zu Fuß, zu Wagen und zu Rosse herbei, um Heilung von mancherlei Gebresten, Gewährung von allerlei Gnaden und Sündenvergebung zu erlangen. Die Prozessionen und das Glockengeläute und die Messen nehmen gar kein Ende, und das giebt einen gewaltigen Strom von Gold und allerlei Gaben und Geschenken in die Truhen des Klosters, und im Dorf blüht das Geschäft und die Bewohner des Uferdorfes heimsen eine erste goldne Ernte ein … Am derben Eichentisch unter der uralten Eibe im Garten des stattlichen Kretschams, der auf der Stelle der verschollenen polnischen Schenke steht, wird manch ein Krug weißflockigen Braunbiers geleert bis in die sinkende Nacht hinein, und aus der uralten braven Schmiede schallt der Schlag der Hämmer und stieben lustig die Funken in den Abend heraus.

Der Wald des Werders ist verschwunden und frei schweift der Blick darüber nach der altbesiedelten Dominsel. Auch dort ist das Bild verändert. Von der alten polnischen Burg ist nur ein einsamer unförmlicher Turm geblieben; und wo der Burghof von lautem Treiben wiederhallte, schaut hinter Wildrosenhecken ein braunes gotisches Kirchlein hervor. Dicht daneben ragt eine eben vollendete schön gegliederte Kirche mit kühnen Strebepfeilern und Spitzenbogenfenstern in die Lüfte. … Auf dem Platze der früheren bescheidenen Dombasilika fesselt eine große gotische Kathedrale mit stolzem Portal die Blicke …

Auch flußabwärts welch eine neue Welt! Das jenseitige Ende des alten Brückenzuges verschwindet im Gewirr hochgegiebelter Häuser, das die kleine dem linken Stromufer vorliegende einst öde Sandinsel bedeckt. Auf den Uferrand des Eilands hat sich ein massiges Klosterstift mit seinen Gehöften hingelagert, und daneben ragt, die steinernen Fundamente fast in die rauschenden Wellen des Stromes tauchend, majestätisch in blinkender Neuheit, noch von Gerüsten umsponnen, die stolze Stiftskirche.

Am linken Stromufer, aber weit landeinwärts, erstreckt sich ein mächtiges Handelsemporium. Da, wo vor kaum 200 Jahren nur finstrer Wald, einsames Sumpf- und Moorland den wandernden Kaufmann begleiteten, braust und brandet, hämmert und hastet heute das kraftstrotzende, schaffensfrohe Leben einer deutschen Handelsstadt. Frei wie nur irgend eine der freien Städte „draußen“ im Reiche, blühen unter der Herrschaft staatskluger Konsuln aus reichen Patriziersippen Handel und Gewerbe in nie geträumter Fülle. Noch kürzlich hat Kaiser Karl innerhalb ihrer Mauern glänzend Hof gehalten und Fürsten und Abgesandte aus dem Osten und Westen um sich versammelt …




Abermals ist ein Vierteljahrtausend über das Dorf dahingegangen. Wir schreiben 1620. Nun liegt es schon nicht mehr einsam draußen im Freien. Von Westen her ist längs des rechten Stromufers allmählich – man merkte es kaum, wie in langen Zeiträumen ein Gehöft ans andere sich fügte – eine dorfartige Vorstadt herangekrochen, immer näher, bis sie ans äußerste Gehöft des Uferdorfes stieß.

Auch an seinem östlichen Ende hat es eine gewaltige Umwälzung gegeben. Vergeblich sucht der Blick das mächtige getürmte Mauergeviert des stolzen Prämonstratenserstifts. Die Stätte ist öde und leer, von Gestrüpp und Gras und bunten Wiesenblumen überwuchert. Nur am steilen Ufer des schimmernden Teiches erinnern noch einige geborstene Mauerreste, über welche die Hagebuttensträucher kletteru, an die geschwundene Stiftsherrlichkeit. Es sind bald an die hundert Jahre her, daß die Städter auf Befehl des mächtigen Rates der Stadt drüben mit Aexten und Schaufeln, Hebeln und Hämmern in hellen Haufen heranrückten, um Hals über Kopf das altehrwürdige Stift niederzureißen. Es drohte nämlich damals der Großtürke ins Land zu fallen, und man fürchtete, seine Kriegsvölker möchten sich in dem festen Kloster einnisten.

Mit dem Flußarm geht es zur Neige. Schilf und Meerlinsen dämpfen das Wasser, und die Sonne schlürft es aus, so daß es den gelben Nixblumen nicht mehr behagen will.

Drüben auf der Dominsel ist es recht still geworden. Rührten sich nicht täglich mehrere Male die Glocken, man könnte glauben, alle Leute dort wären eingeschlafen. Der Bischof kommt nur selten her. Die allzunahe ketzerisch gewordne Stadt verleidet’s ihm.

Im Uferdorfe selbst zeigen die Gehöfte noch die alten derb ländlichen Gesichter. Die Bewohner halten, trotzdem sie beinahe Vorstädter sind, zäh an der Väter Weise in Haus, Hof und Feld [332] und machen Mienen, als könnten sie bis ans Ende aller Dinge dieselben bleiben. Wohlhabend sind sie geworden! An Sonn- und Feiertagen treiben sie es arg mit teurem Gewand, schneeigem Linnen, silbernen Knöpfen und Senkeln und Goldhauben. Längst haben sie vergessen, daß ihre Urväter auch einmal als Fremde ins Land gekommen sind. Die uralte Eibe im Garten des Kretschams soll ja gar aus der Heidenzeit stammen. Kann schon sein. Die Bauern trinken und spielen heidenmäßig darunter, daß es ein Graus ist …

Heute aber – es ist ein kalter, windiger Februartag – geht es hoch her drüben in der Stadt. Und sie sind alle, Männer und Jungvolk und vor allem „das Frauenzimmer“, über die Brücken hinübergewandert. Nun summen in der Stadt die Glocken feierlich von allen Türmen. Von den Wällen und Bastionen krachen die Kartaunen und Feldschlangen. Die Wintersonne strahlt. Der von den aufständischen protestantischen Böhmen gekürte König Friedrich von der Pfalz hat unter Jubel seinen Einzug gehalten. Zum erstenmal ist ein neuer Herrscher nicht zum Dome hinüber, sondern zur evangelischen Kirche des Rates gezogen. Der neue König wird in zierlichen lateinischen Versen als „Bringer des Friedens“ begrüßt.

Der Winterabend bricht herein. Ueber der Stadt erscheinen bunte Raketengarben. Aber vom Walde her über den eisfunkelnden Teich und die wüste Klosterstätte rast der Sturm und tutet es unheimlich. „Das ist der wilde Jäger!“ meinen die Alten. „Der Herr behüt’ uns vor einem langen, grausamen Kriege!“




Hundertundsechzig Jahre später. Es herrscht nun wirklich ein Friedrich im Lande, ein Ur-Urenkel jenes unglücklichen „Winterkönigs“. Aber der Zoller ist aus härterem Holze. Sie nennen ihn den „großen König“ und wissen viel von seinen klugen, blauen Stahlaugen zu erzählen … Die Zeiten freilich sind streng und knauserig. Silberne Knöpfe und Goldhauben kennt man bloß noch vom Hörensagen; und man fängt eben erst an, ein wenig aufzuatmen …

Es ist auch gar nicht mehr das richtige Dorf. Viele alte Kräuterfamilien sind fortgezogen; und dafür haben sich allerlei städtische Gewerbetreibende ansässig gemacht. Die Schmiede steht noch auf dem alten Flecke. Die Gassenfront zeigt ein seltsames Gemisch von Dorf- und Vorstadtcharakter. Zwischen Schindel- und Strohdächern heben sich solide rote Ziegeldächer ab. Hier und da lugt sogar im Schatten eines parkartigen Gartens aus blitzblanken Fensteraugen das schlichtnette „Monbijou“ eines reichen Stadtherrn hervor. Zur Linken aber tönt der Viertakt der Dreschflegel, zur Rechten kreischt die Säge und zischt der Hobel. Hier riecht’s nach Zwiebeln und Gurken, dort nach Träbern, und weiterhin streiten Rosen-, Jasmin- und Kaffeeduft miteinander. Während die Gänse auf der ungepflasterten Gasse herumschnattern, klingen aus dem Kaffeegarten die süßen Weisen eines Streichkonzerts, denen ein gewähltes Publikum lauscht: hochfrisierte Bürgerfrauen im Reifrock, würdig steife Herren im blauen Frack und bauschigen Jabot, den Dreispitz über dem wohlgepuderten Zöpfchen … Vom Tanzboden her im alten Kretscham brummt der Baß und quiekt die Klarinette, es geht da sehr hemdsärmelig her, und der alte Dorfschulze jammert über das liederliche Volk.

Auch die Festung ist dem Dorfe hart auf den Leib gerückt. Man sieht von drüben kaum noch Turmspitzen. Auf dem Werder hat man eine gewaltige Bastei mit Wällen und einem steinernen Festungsthor errichtet. Das läßt alles so nüchtern und beklemmend erscheinen. Der alte Flußarm hat sich in seinen hohen Jahren zum langweilig stagnierenden Wallgraben müssen einzirkeln lassen. Den langen lieben Tag hört man Trommeln und Hornsignale, manchmal auch das Geheul der Spießrutenläufer. Da ist es noch gut, daß man diesseits weiße Blütenpracht oder sattes Sommergrün der Wipfel in den großen Gärten genießen und im weltentlegenen häuserlosen Gäßchen hinterm Kretscham zwischen Weißdornhecken dem Flöten der Amseln lauschen kann … Am Ende des Dorfes träumt noch wie sonst der Wasserspiegel des Teiches. In dem angeblich grundlosen Gewässer ist ja – so sagen die Leute – einmal ein Kloster versunken, weil die Mönche gar so sündhaft waren. Um Mitternacht kann man zuweilen den gespenstischen Abt mit seinem Jagdwagen rund um den Teich herum rasseln hören …




Die Zeit schlägt ein rascheres Tempo ein. Kaum sechzig Jahre sind verflossen – wir schreiben 1840 und wieder hat sich das Bild gänzlich verändert. Schon längst ist die drohende Bastei samt den nüchternen Wällen verschwunden. Die Jugend hat nichts mehr davon gesehen. An Stelle der Festungswerke breiten sich behaglich schattige Gartengründe aus, durchschnitten von stillen Zaungäßchen. … Im Sonnenlicht schwimmen die altersbraunen Kirchen und Prälatenhäuser des Domviertels. Anmutig heben sich die Silhouetten der Türme und Hochbauten der Stadt vom Horizont ab.

Der Wallgraben ist mit den Schutt- und Erdmassen der gesunkenen Werke ausgefüllt. Die Thalmulde überkleidet ein Wiesenteppich und nur in der tiefsten Rinne sickert es im Dunkel überhängender Gesträuche – der Rest des Flußarmes, der einst gelbflockige Fluten wälzte. Gleichem Geschick sind die Flußarme jenseit des ehemaligen Werders und am Dome verfallen. Aus beiden Inseln ward „Festland“. Auch das Schicksal des Dorfes am Damme ist längst besiegelt. Eines Tages hat der letzte Dorfschulze die Schöffenbücher auf dem Rathaus abgeliefert. … Auf dem zu einer Promenade umgewandelten ehemaligen Damme wandelt man im Schatten einer Doppelreihe von Platanen, Kastanien und Ulmen und genießt einen köstlichen Ausblick auf Stadt und Flur. Ein Hauch frischen Werdens webt über dem Ganzen.

Noch herrscht hier abseits vom Lärm der Stadt der Frieden der Gartenidylle. Die Bewohner bilden auch jetzt noch eine Welt für sich und haben Berührungspunkte mit der alten Zeit. Da steht noch die alte Schmiede, dort der Kretscham mit seinem Tanzboden. Noch immer grünt die tausendjährige Eibe. Im häuserlosen Gäßchen wandelt man wie einst zwischen Weißdornhecken. Hinterm Friedhof mit dem bemoosten Kirchlein blinkt golden ein Weizenfeld. Am Ende des Dammes schimmert unverändert der Spiegel des großen Teiches geheimnisvoll empor … und auch der gespenstige Abt treibt noch sein Wesen. …




Gegenwart! Lange hat sich die freundliche Gartenidylle gegen die Umstrickung durch das Großstadtungeheuer gewehrt. Da brach das Baubedürfnis der Zeit auch in diese Oase ein … und in Schutt sanken die stillen freundlichen Häuschen, zerstört oder zerstückt wurden die großen lauschigen Gärten. Auf dem Grabe dieses Vorstadtfriedens prunkt protzig eine ununterbrochene Front vierstöckiger Mietskasernen mit angegipstem Renaissancefirlefanz, einander gleichend wie Erzeugnisse einer fabrikmäßigen Architektonik. Da blinken keine freundlichen Fensteraugen mehr aus charakteristischen Häuserphysiognomien, da glotzen sie fünfzigfach gedankenlos aus Dutzendgesichtern. Nur hier und da hat sich ein Rest des alten Gartenzaubers, doch versteckt hinter den Häuserfronten, erhalten.

Verschwunden ist die Schmiede. Im alten Kretscham ist vorläufig, nachdem dort die Fiedeln verstummt sind, eine Volksküche untergebracht. Die uralte Eibe erlag der Axt. Aus dem traulichen Weißdornheckengäßchen machten sie eine Straße, die ein Hospitalbau in zierlicher Gotik eröffnet. Sonst aber stellten sie eine langweilig moderne Zinskaserne an die andere hin mit muffigen Kellerwohnungen unten, Schankstätten und allerlei Läden, den stereotypen ungemütlich nobeln Wohnungen für die „bessern Klassen“ darüber und mit den ungesund engen Mietskäfigen des Proletariats im Hinterhause.

Auch auf dem grünenden Wiesengrabe des alten Flusses reihte sich, als der Monumentalbau einer höheren Schule den Anfang gemacht, ein Hauskoloß an den anderen. Nur ein knappes Restchen ist für gärtnerische Anlagen gerettet worden. Auch die Aussicht nach der Dominsel, nach der Stadt – verbaut, verbaut! Den Bäumen der schattigen Allee ist es nicht mehr geheuer zwischen der Häuserschlucht, durch die unaufhörlich die Wagen der Pferdebahn klingeln und allerlei andere Fuhrwerke rasseln. Vorbei ist’s mit dem alten Frieden. Ausgestorben ist die seßhafte Generation. Man zieht ein, man zieht aus wie anderswo.

Auch das alte bemooste Kirchlein ist verschwunden und der Blick nach dem Friedhof verbaut. Und haben sie nicht auch die öde Stätte des verschollenen Klosters mit Häuserblocks besetzt? Hier hat die Gegenwart sich zu einer poetisch architektonischen That aufgeschwungen, indem sie auf den alten Stiftsfundamenten eine schön und kräftig gegliederte gotische Kirche baute, deren schlanke Türme sich zauberhaft im großen Teiche spiegeln, den noch die Wiese umgrünt. … Doch schon ist seine Zuschüttung im Gange. Und dann? Wird die immer weiter wachsende Großstadt auch den Rest der grünen Flur mit ihren Mietskasernenstraßen überdecken, oder wird man dem neuerwachten Verlangen nach behaglichem Wohnen und der Poesie des Eigenheims mit freundlicheren Schöpfungen der Baukunst entgegen kommen? Hoffen dürfen wir’s, denn gerade in dieser Richtung bewegt sich jetzt – der Wandel der Zeiten.




[333]

Im Ulmen-Laubgang.


Niemals hab’ den Ulmen-Laubgang
Ich so schön geseh’n wie heute,
Wo die zarten grünen Blüten
Auf den Weg der Nachtwind streute.

Auf den breiten Wipfelkronen
Flimmerte die Morgensonne,
Und der Waldpastor, die Amsel,
Predigte von Frühlingswonne.

Und da war es mir, ich sähe
Heut’ den Mai den Einzug halten –
Und ich sah vor mir im Geiste
Wandeln süße Huldgestalten.

Aus den schmucken Blumenkörbchen
Streuten zarter Kinder Hände
Leise auf des Lenzes Pfade
Reiche grüne Blätterspende.

Kranzgeschmückt die Einen waren,
Andre weiße Schleier trugen,
Aus den seidnen goldnen Löcklein
Sah ich Rosenknospen lugen.

Frohsinn kam, umtanzt, umgaukelt
Von den bunten Schmetterlingen;
Hoffnung hatte sich geliehen
Von der Lerche Lied und Schwingen.

Vor der Tulpen Flammenbechern
Klang der Chorgesang der Bienen;
Maikraut um die Stirn gewunden,
War der Rebengott erschienen.

An dem Goldstern der Narzisse
Funkelten die Taujuwele –
Und die Liebe sang das Credo
Aus der Nachtigallenkehle! –

Alles, alles durft’ im Geiste
Heut’ ich wonnetrunken schauen,
Als ich ging durch die Alleen
Bei dem ersten Morgengrauen –

Duftend um die Stirne wehte
Frischer Hauch aus Blatt und Blüten –
Und ich fühlte: aus dem Herzen
Schwand das dumpfe Winterbrüten.

Meine Pulse fühlt’ ich schlagen
Jugendfrisch in hellen Sprüngen –
Und ich glaubte an den Frühling,
An des Lenzes Weltverjüngen!
 Emil Rittershaus.



Vor der Berufswahl.

Warnungen und Ratschläge für unsere Großen.
Das Kunstgewerbe.

Es klingt wie ein Gemeinplatz und kann doch nicht oft genug wiederholt werden: nicht was man treibt, giebt den Ausschlag und schafft das Glück im Leben, sondern wie man es treibt. Im Sinne dieser Wahrheit giebt es überhaupt keinen schlechten Beruf; und besonders die handwerklichen Beschäftigungen, die man mit einem etwas unbestimmten Worte als „Kunstgewerbe“ bezeichnet, müssen hiernach sämtlich als gute und lohnende Berufsarten bezeichnet werden. Denn der Schreiner, der sich Kunstschreiner, der Töpfer, der sich Kunsttöpfer nennt, stellt damit schon gewissermaßen ein Programm auf, in welcher Weise er sein Geschäft betreiben will: er will nicht in der Masse der hunderttausend Flickschreiner, Ofensetzer etc. mitschwimmen; seine Leistungen, denen er ein künstlerisches Gepräge geben will, sollen ihn aus der Masse herausheben. Der Besteller, der ein künstlerisch durchgeführtes Stück Arbeit verlangt und dafür entsprechend höhere Preise zu zahlen bereit ist, soll wissen, daß er sich nur an den Kunsthandwerker zu wenden hat. So kann dieser von vornherein auf eine „feinere“ Kundschaft und auf bessere Preise rechnen: wozu noch kommt, daß die Konkurrenz geringer ist, da doch nur einer sehr beschränkten Anzahl von Handwerkern die Mittel zu einer höheren Ausbildung und jene höhere Veranlagung zu Gebote stehen, die sie dem Ziel, sich „Kunsthandwerker“ nennen zu dürfen, entgegenführt.

Wie wird man Kunsthandwerker? – Es giebt einen ganz geraden, normalen Weg, der nach unserer langjährigen Erfahrung fast immer zum Ziele führt; versuchen wir ihn mit einigen kurzen Strichen zu zeichnen. Ein gesunder, kräftiger Junge von Durchschnittsbegabung, aus bescheidener Bürgerfamilie, dem von Haus aus keine Marotten von „höherem Beruf“ in den Kopf gesetzt sind, der aber vom Vater den Respekt vor der Arbeit gelernt hat, tritt nach Erledigung seiner Schulpflicht bei dem Meister eines Handwerks in die Lehre, welches seiner Natur nach zu einem Betriebe im „kunstgewerblichen“ Sinne geeignet ist. Welches diese Handwerke sind, werden wir später sehen. Den Lehrmeister wird der Vater nicht bloß nach einer Zeitungsannonce auswählen, sondern er wird sich persönlich umthun, um einen solchen zu finden, der [334] es mit der Ausbildung seiner Lehrlinge ernst nimmt, der sie nicht als Hausknechte oder männliche Kindermägde betrachtet. Zum Glück für unser deutsches Handwerk giebt es in jeder Stadt noch solche Meister, und wir haben auf absehbare Zeit noch nicht nötig, an den traurigen Behelf zu denken, den z. B. in Amerika die bittere Not gezeitigt hat, sogenannte Lehrlingswerkstätten, Drillanstalten für das Handwerk, aus Staatsmitteln einzurichten. Gleichzeitig mit dem Beginn der Lehre tritt der Knabe in eine „Fortbildungsschule“ ein, in welcher er in den Abendstunden oder zu anderer Zeit, welche der Meister nach Vereinbarung dazu frei giebt, Zeichnen, Modellieren, vielleicht auch kaufmännisches Rechnen u. dergl. lernt. Solcher Anstalten bestehen in Deutschland unzählige, so daß selbst in den kleinsten Städten der Handwerkslehrling die Gelegenheit zur Ausbildung findet.

Hat der Junge seine drei- oder vierjährige Lehrzeit bestanden, so besitzt er das feste Fundament für sein Leben, auf dem er weiter bauen kann: entweder ein bescheiden Haus, wenn seine Handgeschicklichkeit, sein Formentalent beschränkt waren und ihm keinen höheren Flug gestatten – oder einen Prachtbau, wenn wirklich etwas vom Künstler in ihm steckt, was sich während der Lehre und namentlich während des Schulbesuchs deutlich genug gezeigt haben wird. Im letzteren Falle beginnt für den jungen Mann, der jetzt etwa im siebzehnten oder achtzehnten Jahre steht, die eigentliche kunstgewerbliche Ausbildung: statt als Gehilfe in ein Geschäft einzutreten, besucht er die entsprechende Fachklasse einer Kunstgewerbeschule, in welcher er während des ganzen Tages in seinem speziellen Berufe arbeitet, d. h. die Aufgaben, welche ihm in der Praxis gestellt werden, unter der Leitung künstlerischer Kräfte mit allem Wie und Warum lösen lernt. Ein theoretischer Unterricht, der ihn mit den Merkmalen der Stilarten und anderen notwendigen Hilfswissenschaften vertraut macht, also seine allgemeine Bildung höher hebt, pflegt nebenher zu gehen. Derartige kunstgewerbliche Fachschulen mit Einzelklassen für Maler, Bildhauer, Holzschnitzer, Ciseleure, Gold- und Silberschmiede, sowie für die tektonischen Fächer (Schreiner, Schlosser, Steinmetzen, Töpfer etc.) bestehen ebenfalls in Deutschland in großer Zahl. Wo sie nicht als selbständige Kunstgewerbeschulen organisiert sind, wurden sie wohl mit den städtischen Handwerkerschulen als kunstgewerbliche Tagesklassen verbunden, wie in Köln, Hannover, Magdeburg u. s. w.

Die durchschnittliche Lehrzeit in diesen Schulen beträgt drei Jahre – eine lange Zeit für einen jungen Mann aus bescheidenem Bürgerhause, um seine Füße noch unter Vaters Tisch zu strecken. Ohne Schwierigkeit wird wohl nur der gutgestellte Handwerksmeister seinen Sohn solange „studieren“ lassen. In den minder bemittelten Kreisen muß sich manch armer Bursche mit Hängen und Würgen durchbringen. Allerdings ist vom Staate und aus privaten Kreisen viel gethan, um durch Stipendien auch den ganz Armen die Bahn zum Höheren zu eröffnen.

„Die Kunstgewerbeschulen,“ sagt Julius Lessing,[1] „haben während der 25 Jahre ihres Bestehens ihre Schuldigkeit gethan, Handwerker sind wieder fähig geworden, künstlerisch zu empfinden und nach Entwürfen, Skizzen oder Angaben eines leitenden Architekten selbständig zu arbeiten. Aber nicht jeder besitzt die Fähigkeit, eine solche Skizze zur ausführbaren Werkzeichnung umzugestalten. Das sind eben nur die besten, welche eine eigentümliche Zwischenschicht zwischen Kunst und Handwerk bilden und die frühere Aufgabe des Architekten zum Teil selbständig übernehmen. Ein derartig ausgebildeter Zeichner bleibt zugleich ein praktischer Arbeiter, er kann in jedem Augenblick mit anfassen und kann als Werkführer die Arbeit eines jeden Gesellen aufs genaueste beurteilen und regeln. Anderseits weiß er dem Architekten gegenüber, der mit einer Aufgabe an ihn herantritt, bestimmt die Grenzen zu bezeichnen, in welchen sein Handwerk nach Material und Technik leistungsfähig ist.“

Ein junger Mann von zwanzig, einundzwanzig Jahren, der den vorstehend skizzierten normalen Weg gemacht hat, braucht für seine Zukunft keine weitere Sorge zu haben. Wohl werden, wie es überall vorkommt, in manchen Geschäftszweigen schlechte Konjunkturen eintreten können, die ihn vorübergehend hindern, das, was er gelernt hat, voll zu verwerten; besonders Holzschnitzer, Stuccateure, Ciseleure sind solchen Schwankungen ausgesetzt. Da er aber in seinem Geschäft „von der Pike auf gedient“ hat, so hindert ihn nichts, für die mageren Jahre als gewöhnlicher Arbeiter an die Werkbank zurückzukehren. Im allgemeinen aber nimmt die Nachfrage nach der von Lessing erwähnten „Zwischenschicht“ zwischen Architekten und Handwerkern, besonders nach fachlich geübten Zeichnern, immer mehr zu. Noch vor zwanzig Jahren mußte der Architekt für sämtliche Details der inneren und äußeren Dekoration seines Baues selbst die Zeichnungen anfertigen, um darauf von den submittierenden Handwerkern die Preise abgeben zu lassen. Heute hat sich überall der Brauch eingebürgert, daß der Kunsthandwerker, der Kunstschmied, der Dekorationsmaler, der Glasmaler etc. dem Architekten mit seiner Preisabgabe schön ausgeführte Zeichnungen seiner Arbeiten vorlegt, und beide Teile befinden sich wohl dabei. Daß die Anfertiger solcher Zeichnungen, welche sich in jedem größeren Geschäft in festen Stellungen befinden, nicht schlecht bezahlt werden, versteht sich von selbst.

Wie wir gesehen haben, war die praktische Erlernung eines Handwerks das Fundament, auf dem sich die kunstgewerbliche Ausbildung aufbaute. Sehen wir zu, welche Handwerke nun besonders geeignet sind, in kunstgewerblichem Sinne betrieben zu werden! Von den mit dem Bau zusammenhängenden sind es die Tischlerei, Schlosserei, Töpferei, Stuccaturarbeit, Dekorationsmalerei, Glaserei, Klempnerei, Tapezierarbeit. Von sonstigen Handwerkern ist es der Buchbinder, der Graveur, der Gold- und Silberschmied, der Ciseleur, der Posamentier, der Holz- und Elfenbeinschnitzer, der Porzellanmaler, der Lithograph, vielleicht auch der Konditor, die, wenn ihnen bei künstlerischer Anlage Gelegenheit zu der oben geschilderten Schulausbildung gegeben wird, ihr Geschäft als Kunstgewerbe betreiben und damit ihre Erwerbsfähigkeit auf eine wesentlich höhere Stufe bringen können. Eine besondere Stellung nehmen die Dessinateure für Stoff- und Tapetenmusterung und die allgemeinen „kunstgewerblichen Zeichner“ ein.

Das ist eine bunte Gesellschaft, aus welcher wir einige als Beispiel herausheben wollen, da uns der Raum gebricht, alle einzeln durchzunehmen. Zunächst können wir zwei Gruppen unterscheiden: die eine, deren Entwicklungsfähigkeit nach oben hin begrenzt ist, bei welcher es also darauf ankommt, die Aufgaben von vorwiegend handwerklichem Charakter mit besonderem Geschmack und Kunstverständnis zu lösen; die andere, die unmerklich in die sogenannte hohe Kunst überleitet. Zur ersteren gehören Tischler, Schlosser, Töpfer, Klempner, Buchbinder, Posamentiere, Porzellanmaler, Lithographen u. a. In dieser Gruppe von Arbeiten wird ein junger Mann, der sich in der oben dargestellten Art kunstgewerblich entwickelt hat, meist eine Verwertung seines Könnens als Zeichner finden. Beim Entwerfen eines reicher ausgestatteten Mobiliars, eines ornamental verzierten Eisengitters wird ihn die genaue Kenntnis des Materials und seiner Verarbeitung, die er sich früher als praktischer Arbeiter erworben hat, davor bewahren, Formen zu erfinden, deren Ausführung dem Charakter des Arbeitsstoffes widerstrebt, die daher schwierig und teuer sind. Eine ganze Anzahl der genannten Gewerbe ist heutzutage in Fabrikbetrieb übergegangen; so werden die Töpferarbeiten, welche Oefen und Wandkacheln zum Gegenstand haben, Posamenten, auch die gangbaren Möbel, die Arbeiten des Kunstdrucks, wie Tisch- und Gratulationskarten etc., wohl kaum noch in kleinem Einzelbetrieb, sondern in Fabriken mit durchgeführter Arbeitsteilung betrieben. Werkführer- und Zeichnerstellen in solchen Fabriken können daher auch entsprechend hoch, mit 2 bis 4000 Mark im Jahr, bezahlt werden. Auch die Buchbinderei ist für die von den Verlegern selbst besorgten Originalbände Gegenstand des Fabrikbetriebs geworden; der Erfinder der Einbanddecken pflegt der Graveur zu sein, während an die ausführenden Kräfte keine kunstgewerblichen Anforderungen gestellt werden. Daneben aber ist in den letzten Jahren die Klasse der „Bücherliebhaber“ wieder angewachsen, die Wert darauf legen, und hohe Preise dafür aufwenden, ihre Bücher mit der Hand binden und vergolden zu lassen. Dies ist ein recht dankbares Feld für den kunstgewerblich ausgebildeten Kleinmeister, der die kunstschönen Ledermosaiken und Handvergoldungen selbst entwirft und ausführt. Wenn man hört, daß renommierte Künstler dieser Art in Paris und London einen Einband mit 200 bis 500 Franken bezahlt bekommen – in Deutschland ist man allerdings an diese Liebhaberpreise noch nicht gewöhnt – so kann man wohl von dem „goldenen Boden“ des Handwerks sprechen. Eine Spezialschule für dieses Kunstgewerbe besteht bei uns in Gera, mit drei- bis viermonatigem Kurs für im übrigen fertig ausgebildete Buchbinder.

[335] Diejenigen kunstgewerblichen Zweige, deren Entwicklung nach oben hin unbeschränkt, bei denen also die Grenze gegen die „hohe Kunst“ ziemlich verwischt ist, sind die Dekorationsmalerei, die dekorative Bildhauerei, die Glasmalerei, die Arbeit des Graveurs, des Ciseleurs und Silberschmiedes und die Holz- und Elfenbeinschnitzerei. Wie das zu verstehen ist, werden wir am besten am Beispiel des Malers sehen. Ein begabter junger Mann, der eine Kunstgewerbeschule lange und fleißig genug besucht hat, um sich auch in der figuralen Komposition auszubilden, wird durchaus befähigt sein, den Auftrag eines Kunstfreundes, der sich seinen Musiksaal mit Figurenfriesen ausmalen will, zu übernehmen. Ja, er wird dieser Aufgabe günstiger gegenüberstehen als der akademisch gebildete Maler, den sein Studium auf die Herstellung inhalts- und stimmungsvoller Staffeleibilder gewiesen hat, weil ihm die Beherrschung der Technik, sei es Oel-, Tempera- oder Kaseinmalerei in großen Flächen schon von seiner handwerklichen Lehre her mehr im Blute sitzt. Aehnlich verhält es sich mit dem kunstgewerblich ausgebildeten Bildhauer, den sein Studium mit dem großen Gebiete des Ornamentes besser vertraut gemacht hat, als es die Akademien zu thun pflegen. Die mit reichem Figurenschmuck ausgestatteten silbernen Tafelaufsätze und sonstigen Ehrengeschenke, welche die Aufgaben des Ciseleurs von Ruf zu bilden pflegen, gehören ohne weiteres der Kunst an und sind von jeher – wir erinnern an Cellini, Eisenhoit und andere Meister der Vergangenheit – zu dieser gerechnet worden. Aber stets ist bei diesen Aufgaben eine sicherere Gewähr des Gelingens gegeben, wenn sie der mit der sogenannten Kleinplastik vertraute Ciseleur in der Hand hat, als wenn ein Bildhauer der Großplastik, der an Helden- und Siegesdenkmälern geschult ist, sich erst mit Mühe in den kleinen Maßstab einarbeiten muß. Selbstverständlich erfreuen sich derartige monumentale Aufgaben, die allerdings nur den hervorragendsten Vertretern ihres Fachs zuzufallen pflegen, auch einer entsprechenden Bezahlung. Aber auch bescheidenere Arbeiter dieser der hohen Kunst verwandten Fächer finden, wenn sie sich über das Maß des Handwerklichen erheben, in einigermaßen guten Zeitläuften regelmäßige und lohnende Beschäftigung.

Wir haben bisher den geraden und schwer zu verfehlenden Weg zu zeichnen versucht, auf dem ein begabter junger Mensch zuerst eine handwerkliche und darauf eine künstlerische Ausbildung erwirbt, um später das erlernte Handwerk in kunstgewerblichem Sinne und mit einer lohnenderen Ausnutzung seiner Fähigkeiten zu betreiben. Leider begegnen dem Leiter kunstgewerblicher Anstalten nicht selten Leute, die sich darauf verbeißen, den umgekehrten Weg zu gehen, die das Haus gleichsam beim Dach zu bauen anfangen möchten. Da stellt uns der Vater (in schwereren Fällen die Mutter!) einen Jungen vor, der solch großes Talent – „solch arges Schenie“ heißt’s oft wörtlich – zum Zeichnen habe. Zum Beweis bringen sie eine Kopie nach einem Holzschnitt aus der „Gartenlaube“ oder die Vergrößerung einer Photographie der Großmutter mit, die der Junge „ganz allein, ohne jede Hilfe“ gemacht hat; wir glauben es meistens gern! Eigentlich möchte man ja den Jungen Kunstmaler werden lassen, aber das kostet viel Geld und ist auch ein unsicheres Brot. Da wird denn das „Kunstgewerbe“ als solch anständiges Mittelding angesehen, das den Jungen nicht gerade verurteilt, mit dem Schurzfell oder dem Farbtopfe über die Straße zu gehen, das aber doch noch soviel von der Kunst hat, um das „Schenie“ zur rechten Verwertung zu bringen, und das ein hinreichend neuer und unklarer Begriff ist, um an dasselbe die Hoffnung auf eine sehr schnell zu erlangende Selbständigkeit zu knüpfen. Man will den Jungen gern zwei bis drei Jahre in die Schule schicken, damit er dann als „Kunstgewerbler“ sein gutes Brot finde.

Es ist meist außerordentlich schwer, die Eltern von der Verkehrtheit dieses Vorgehens zu überzeugen und sie auf den normalen Ausbildungsweg zu weisen, zumal die dringende Frage, ob es denn gar nicht möglich sei, auch auf die andere Weise zu einem Resultat zu gelangen, nicht unbedingt verneint werden kann. Gewiß, es giebt Menschen von solch ungewöhnlicher Begabung, besonders von einem gewissen instinktiven technischen Gefühl für die Besonderheiten der in den verschiedenen Handwerken zur Verarbeitung kommenden Materialien, daß unter einem tüchtigen Lehrer und bei eisernem Fleiß sich aus denselben brauchbare Zeichner für verschiedene Zweige des Kunstgewerbes bilden lassen! Weiter als zum Entwerfer wird es aber ein solcher kaum bringen, ein Beruf, der immerhin in einer industriereichen Stadt seinen Mann ernährt. Steht ihm von Hause aus Kapital zur Verfügung, so wird er auch wohl einen tüchtigen praktischen Handwerker finden, mit dem er ein kunstgewerbliches Geschäft, eine Möbel- oder Silberwarenfabrik, eine Glasmalerei, lithographische Anstalt oder dergl., gemeinschaftlich begründen kann. Aber immer wird man mit ziemlicher Bestimmtheit sagen können, daß derselbe begabte Mensch sicherer, d. h. unter Ersparung des ihm durch die Praxis später auferlegten Lehrgeldes, und selbständiger sein Ziel erreicht haben würde, wenn er die paar Jahre einer normalen Handwerkslehre nicht gescheut hätte.

Unter den Kunstgewerbezeichnern, welche ihr Ziel durch eine schulmäßige Ausbildung erlangen wollen, hat man zwischen denen zu unterscheiden, die ihre Dienste für alle Zweige des Kunstgewerbes anbieten, und denen, die sich auf ein bestimmtes Gebiet beschränken. Das im letzteren Falle am meisten bevorzugte ist das der graphischen Künste, was uns nicht wundern darf, da ein phantasiebegabter Mann, wenn ihm auch jede Fühlung mit dem praktischen Handwerk fehlt, sich am ersten imstande fühlen wird, eine ornamentale oder figürliche Komposition zu entwerfen, die um ihrer selbst willen da ist oder die vom Lithographen oder Lichtdrucker unmittelbar vervielfältigt wird. Im Verlage von A. Seemann in Leipzig ist kürzlich ein Adreßbuch der Kunstgewerbezeichner Deutschlands mit Leistungsproben der einzelnen Künstler erschienen. Unter den zweihundert Namen finden sich fast hundertfünfzig, die als ihre Spezialität „Diplome, Plakate, Adreß-, Tisch- und andere Karten“ angeben. Wenn nun auch der mit diesen Sachen beschäftigte Kunstdruck eine große Industrie darstellt, so muß man doch wohl zu der Ueberzeugung kommen, daß mit der genannten großen Zahl von Erfindern der Bedarf ziemlich gedeckt und die Konkurrenz auf diesem Gebiet einigermaßen scharf ist. Um so mehr, als gerade die größten Kunstdruckanstalten für den Export arbeiten und naturgemäß, um den Geschmack ihrer überseeischen Besteller sicher zu treffen, die Originale zu ihren Kunstdrucken aus dem Ausland, namentlich aus England, beziehen.

Ein anderer Zweig, auf dem man vielfach glaubt, mit einer ausschließlich schulgemäßen Ausbildung Erfolge erzielen zu können, ist der Beruf des „Dessinateurs“, des Musterzeichners für Webemuster, Zeug- und Tapetendruck und Stickerei. Besonders das weibliche Geschlecht, welches sich durch Besuch einer Kunstgewerbeschule einen Lebensberuf zu schaffen wünscht, glaubt ihn hier am ersten zu finden. Meist ist hier das Resultat eine arge Enttäuschung. Die Musterzeichnerei bildet ein geschlossenes Gewerbe; um Brauchbares in derselben zu leisten, bedarf es vielerlei: einer genauen Bekanntschaft mit der Webetechnik für Hand- und Maschinenbetrieb, für Wolle, Seide, Baumwolle und Leinen; ferner einer ununterbrochenen Fühlung mit der Mode. Der Eintritt in ein solches Atelier als bescheiden bezahlter Gehilfe muß durch eine lange Lehrzeit erworben werden. Selbst ein im Ornament gewandter Dekorationsmaler oder eine junge Dame, die eine Kunstgewerbeschule drei Jahre hindurch fleißig besucht hat, ist damit höchstens auf dem Standpunkt angelangt, als Lehrling angenommen zu werden. Aehnlich steht es mit der Stickerei; diese ist fast ganz von der Maschine in Anspruch genommen; auch die Muster für Handstickerei werden auf mechanischem Wege vervielfältigt und auf den Stoff übertragen.

Diese Betrachtungen führen uns zur Erörterung der Frage, ob und in welcher Weise das Kunstgewerbe für das weibliche Geschlecht in der Berufswahl in Frage kommt. Wir sehen immer wieder Versuche in dieser Richtung machen, zahlreiche Kunstgewerbeschulen den Mädchen Gelegenheit zur Ausbildung im Musterzeichnen und Blumenmalen geben, und dennoch sind praktische Fälle, in welchen ein Mädchen dem Kunstgewerbe eine selbständige Lebensstellung verdankt, verschwindend gering. Die Schuld dieser bedauerlichen Erscheinung tragen zum kleineren Teile die weiblichen Aspiranten des Kunstgewerbes selbst, zum größten unsere geschäftlichen und gesellschaftlichen Zustände. Auf dem normalen Weg zum Kunstgewerbe, den wir oben bezeichnet haben, findet man ein Mädchen fast nie. Was der begabte Junge in dreijähriger Lehrzeit und ebenso langem Schulbesuch erwirbt, das glaubt ein junges Mädchen, dem die Aussichten auf Verheiratung zu schwinden anfangen, in zwei Jahren durch den Besuch einer Kunstgewerbeschule zu lernen, der leider auch nur zu oft die [336] Regelmäßigkeit vermissen läßt, die wir beim jungen Mann als selbstverständlich fordern. Es sind eben noch zu viel Pflichten gegen den Haushalt der Eltern, Sorgen für die Toilette zu berücksichtigen. So nimmt die junge Dame aus der Schule im besten Falle die Fähigkeit mit, Blumen und Stillleben zu malen und ein Muster für Flachornament zu entwerfen. Wie soll sie diese Fähigkeit nun praktisch verwerten? Sie bietet sich einem Quincailleriegeschäft zum Fächer-, Leder- oder Seidemalen an; der Inhaber sagt ihr, daß gemalte Fächer gerade voriges Jahr aus der Mode gekommen sind und für die nächsten Jahre nur Feder- oder Spitzenfächer gehen. Will sie sich entschließen, Sportbilder auf Cigarrentaschen zu malen, so bezahlt der Händler für das Dutzend vielleicht vier Mark, was einem Tagelohn von einer Mark gleichkommt. Denselben Bescheid erhält sie in dem Porzellangeschäft: die Bouquets auf den Desserttellern werden von Bauermädchen in thüringischen Dörfern gemalt, die zufrieden sind, wenn sie am Tag fünfzig Pfennige verdienen. Ueber das Musterzeichnen für Gewebe und Stickereien wurde schon oben gesprochen.

Es wäre traurig, wenn man nicht hoffen dürfte, daß es für solche Mißstände einmal eine Besserung gäbe. Unzweifelhaft sind weibliche Arbeitskräfte in einer Menge kunstgewerblicher Fächer zu verwerten. Wir greifen nur folgende heraus: die graphischen Fächer (Lithographie, Kupferstich, Holzschnitt, Federzeichnung für Lichtreproduktion); Anfertigung künstlicher Blumen, Buchbinderei in ihrem künstlerischen Teil (Lederdekoration und Vergoldung); Email- und Glasmalen; Kleinplastik für Metallguß und Porzellan; Ciselieren und Gravieren. So sicher ein begabtes und gut ausgebildetes Mädchen in diesen Berufsarten mit den Männern wetteifern könnte, so unmöglich ist es heute noch für sie, eine derselben fachgemäß zu erlernen und zu betreiben – unmöglich oder doch hinter solchen Schwierigkeiten verschanzt, daß die Willenskraft der meisten bei dem Versuch erlahmt. Die von uns als unbedingt nötig bezeichnete praktische Lehre versetzt sie in die häufig rohe Atmosphäre der Handwerksstube; schwer findet sich ein Meister, der die Verantwortung übernimmt, männliche und weibliche Lehrlinge zusammen arbeiten zu lassen. Wozu auch? heißt’s da. Ist doch das Angebot männlicher Arbeitskräfte groß genug – sollen die Frauen auch hier noch die Preise drücken? Und hätte selbst ein Mädchen es erreicht, unter denselben Bedingungen wie ein Mann seine Leistungen anzubieten – sie würde immer einer tiefgewurzelten Abneigung der Geschäftsleute, Händler, Kommissionäre begegnen, mit einer „Dame“ in Geschäftsverbindung zu treten. – Man muß wie gesagt hoffen, daß die zurückgedrängte Stellung der Frau auf diesem wie auf andern Gebieten sich durch die energischen Anstrengungen bessern wird, die von einzelnen Vorkämpferinnen wie von Frauenvereinen in so tapferer Weise gemacht werden: heute hat sich ein Mädchen, welches vom Kunstgewerbe eine Lebensstellung erhofft, leider noch auf die Kämpfe, Mühsale und Enttäuschungen gefaßt zu machen, die keinem Bahnbrecher erspart bleiben. F. Luthmer.     




Ein unbedachtes Wort.

Novelle von M. Misch.

Zur Freude vieler hatte der Musentempel in C. endlich wieder seine Pforten aufgethan. Die Wintercampagne konnte beginnen. Die Eröffnung hatte diesmal auf sich warten lassen, da es dem energischen, strebsamen Direktor gelungen war, eine gründliche Renovierung des Theaters bei den Vätern der Stadt durchzusetzen. Trotz aller Eile war es aber nicht möglich gewesen, zur rechten Zeit fertig zu werden, und so konnte zum Schmerze aller Theaterfreunde die Saison erst am 1. November, statt wie üblich am 1. Oktober, beginnen. Das Theater spielte in der mittelgroßen, aber sehr wohlhabenden und wegen der zahlreichen Pensionäre, die sie bewohnten, Pensionopolis genannten Stadt eine wichtige Rolle. Es war der Sammelpunkt der besseren Gesellschaft. Der Direktor mußte daher für gute Kräfte und ein gutes Repertoire sorgen, wenn er sich halten wollte, und vor allem dafür, daß die engagierten Künstlerinnen jung und schön waren – Anforderungen, die für den Leiter gar nicht so leicht zu erfüllen sind, da gerade Jugend und Schönheit sich erstaunlich selten mit Talent und Können vereinen. Trotzdem aber glaubte der Direktor, sein Personal auch dieses Jahr glücklich zusammengestellt zu haben, und sah, wenn auch etwas erregt, doch siegessicher dem ersten Abend entgegen.

Es wurde ein neues Lustspiel gegeben, in welchem die ersten Kräfte hervorragend beschäftigt waren. Gefielen sie der Kritik, welche in C. weniger von berufenen Schriftstellern als von einigen Theaterenthusiasten gehandhabt wurde, so konnte er sie behalten; gefielen sie nicht, mußte er sie sofort entlassen, wozu ihm die abgeschlossenen Kontrakte das Recht gaben. Die engagierten Künstler fürchteten sich mit Recht vor dem Abend, und mancher begab sich beklommenen Herzens und Schlimmes ahnend in die Garderobe. Kurz vor sieben Uhr füllte sich langsam der Zuschauerraum. Es war Sitte in C., für das Theater Toilette zu machen, und so tauchten in den Logen und im ersten Parkett elegante Damen in knisternden Seidenkleidern, junge Mädchen in hellen Spitzenblusen auf, von einer Loge zur andern hinüber grüßend, mit den Nachbarn ein paar Worte plaudernd, während die Augen im ganzen Hause rasche Umschau hielten und bald ein Blick, bald ein Lächeln zu den Bekannten im Parkett hinunterflog. Die wohlthuende Wärme in dem hübschen, hellerleuchteten Raume rief bei allen Anwesenden eine heitere Behaglichkeit hervor. Sie ahnten ja nicht, die Glücklichen, die im Theater nur ein leichtes Vergnügen, eine schnell vorübergehende Unterhaltung suchten, daß Die hinter dem Vorhang zu gleicher Zeit für ihre Existenz bangten und sorgten.

Der erste Rang, das Parkett und Parterre sowie die Galerie waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Nur in den beiden linken Prosceniumslogen gähnte noch öde Leere. Schon spielte die Musik die Schlußaccorde der Ouvertüre, als die Thüren der beiden Logen endlich mit großem Geräusch geöffnet wurden. Säbelgeklirr und laute Stimmen sorgten dafür, daß das Publikum seine Aufmerksamkeit dorthin lenkte. Die Eintretenden, etwa zehn junge oder jung sein wollende, elegante und „schneidige“ Herren, nahmen mit möglichst viel Geräusch ihre Plätze ein und führten, ungeniert schwatzend, ihre mächtigen Operngläser an die Augen. Es waren die tonangebenden Lebemänner und zugleich einflußreichsten, bekanntesten Theaterfreunde der Stadt, die auf diese Weise die allgemeine Aufmerksamkeit erregten. Alle unverheiratet, reich, nicht mehr allzujung, der jüngste bereits über Dreißig, sämtlich Mitglieder eines Klubs, in welchem oft und hoch gespielt wurde. Die interessantesten Klatschereien von C. drehten sich fast ausschließlich um sie. In den wohlhabenden Familien, die größere Geselligkeit pflegten, waren sie gern gesehene Gäste.

Das Klingelzeichen ertönte. Langsam verstummte der Lärm; der Vorhang hob sich. Die Einleitungsscene verlor sich in dem Stühlerücken der Verspäteten und dem Räuspern, das den Anfang eines Stückes zu begleiten pflegt.

Es war ein feines und doch lustiges Stück, das bald herzliches Gelächter hervorrief. Die am ersten Akte beteiligten Schauspieler gaben ihre Rollen gut, besonders gefiel die muntere Liebhaberin, ein hübsches, noch sehr junges Persönchen, das seine Rolle durch kecke und temperamentvolle Darstellung zur besten Geltung brachte. In den linken Prosceniumslogen richteten sich die großen Operngucker aufmerksam auf sie, und bei ihrem Abgange wurde aus diesen Logen das Zeichen zum Applaus gegeben. Sie hatte gewonnenes Spiel beim Publikum; der Direktor selbst sagte es ihr mit zufriedenem Lächeln. So verlief der erste Akt mit bestem Erfolg, und nachdem am Schluß der Beifall verrauscht war, erhob sich ein Teil der Zuschauer, um Bekannte zu begrüßen und die Eindrücke auszutauschen.

Ein alter, dicker Gutsbesitzer, der seinen Platz im Parkett hatte, trat an den Rand einer der Prosceniumslogen und schüttelte lebhaft die ihm entgegengestreckten Hände. „Wie gefällt Ihnen die Kleine, Schindler?“ fragte er. „Nett, was?“

Der Gefragte strich sich über seinen langen, rotblonden Vollbart. „Weiß nicht, finde heute überhaupt alle Weiber unausstehlich!“

„Schindler hat zu viel Sekt getrunken,“ schnarrte ein Rittmeister, der neben ihm stand, „da ist er immer Weiberfeind!“

Ein scharfes Klingelzeichen erschallte jetzt und machte der Unterhaltung ein schnelles Ende. Der Vorhang hob sich zum

[337]

Der Maispaziergang.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Bergen.

[338] zweiten Akt. Neue Dekorationen, andere Personen! Nach der dritten Scene, in welcher eine Kammerzofe mit sich selbst sprach, als ob das ihre tägliche Gewohnheit sei, und dabei mit einem Staubwedel über die unmöglichsten Gegenstände wischte, erschien abermals die junge Naive auf der Bühne. Lustig kam sie hereingehüpft, plauderte ein wenig und warf schelmische Blicke in die Logen. Dann wandte sie sich befehlend an die Zofe: „Gehen Sie, Lina, und sagen Sie meiner Schwester, ich müsse sie sofort sprechen!“, worauf sich die andere entfernte, um ihren Auftrag auszuführen. Im Publikum wurde eine Bewegung bemerkbar; man zog den Zettel zu Rat. Die erste Liebhaberin mußte jetzt auftreten. Der Direktor hatte in seinen Kreisen ganz enthusiastisch von ihrem Talent geschwärmt. Na, man würde ja sehen! Die Leinwandthür der ersten Coulisse wurde geöffnet, die Operngläser flogen an die Augen. Eine junge Dame trat rasch auf die Bühne und begann sogleich zu sprechen. Ihre Stimme klang weich und angenehm, die vollkommen natürliche Betonung erwies ihre Befähigung für das Konversationsstück. Sie befand sich in Balltoilette. Nach einigen flüchtig gewechselten Reden zeigte sie auf ihr Kleid mit den Worten: „Es ist zu dem morgigen Ball, Grete; ich möchte recht schön sein! Sage mir aufrichtig, wie sehe ich aus?“

„Scheußlich, einfach scheußlich!“ tönte es da halblaut geflüstert, aber deutlich aus der Prosceniumsloge über die Bühne und die ersten Parkettreihen hin.

Die muntere Liebhaberin verlor für eine Sekunde die Fassung, dann sprach sie resolut weiter. In das Antlitz der Beleidigten stieg es heiß unter der Schminke empor. Der Fächer entfiel ihrer zitternden Hand. Mit einem unsagbar traurigen, hilflosen Ausdruck richtete sie ihre Augen nach der Loge. Der den Eckplatz inne hatte, mußte das grausame Urteil gesprochen haben, man las es an seinem Gesichtsausdruck. Langsam wandte sie sich ab und spielte ihre Scene mühsam zu Ende.

Wahrhaftig, sie war nicht schön! Wenigstens beim ersten Anblick nicht. Eine große, schlanke Gestalt in einer Toilette, die zum Unglück ihren überzarten Wuchs erst recht auffällig machte. Auch das längliche, schmale Gesicht mit der gut geformten, aber großen Nase und dem nicht allzukleinen Mund machte beim ersten Anblick einen beinahe unschönen Eindruck. Nur wenn sie die Augen aufschlug, große, dunkle Kinderaugen mit einem warmen, zärtlichen Blick, war sie plötzlich eine andere, lieblichere.

Und wie sie spielte! Der Direktor hatte recht, sie war eine Künstlerin. Als sie abging, ertönte Applaus, der von den ersten Parkettreihen ausging. Sie verbeugte sich flüchtig und warf einen finsteren Blick ins Publikum. Als der Freche sie beleidigte, hatten sie da vorne leise gelacht – sie hatte es wohl gehört. Es war ihr wie ein Dolchstoß gewesen, dieses erbarmungslose Lachen über eine Roheit, einem wehrlosen Weibe gegenüber. Als der Applaus anhielt, mußte sie, so schwer es ihr ward, noch einmal heraustreten. Sie dankte kaum für den Beifall und trat sofort wieder zurück. Hinter dem Prospekt war es still und einsam. Die Schauspieler, welche aufzutreten hatten, standen in den Seitencoulissen, auf ihr Stichwort lauschend. Sie drückte ihre Hände krampfhaft gegen die Schläfe, auf die brennenden Augen. Plötzlich machte sie eine heftig abwehrende Bewegung, als weise sie etwas Quälendes von sich. Es mußten wohl ihre eigenen Gedanken sein, denn sie sagte laut: „Nicht jetzt!“

Wie sie so stand und vor sich hinstarrte, kam von links her der Direktor und ging schnellen Schrittes nach der andern Seite. Ein kurzer, kalter Blick streifte sie. Für sie hatte er kein freundliches Wort wie für ihre Kollegin, die Naive. Sie wußte, was das am ersten Abend zu bedeuten hatte: in zwei Wochen, nach der vertragsmäßigen Frist, war sie entlassen. Und nun hielt sie nicht mehr stand. Ein heißer Strom schoß in die traurigen Augen, ein kurzes, heftiges Schluchzen erschütterte den zarten Körper. Aber nicht lange! Nicht einmal die Wohlthat der Thränen durfte sie sich gönnen. Um Gotteswillen, die Schminke! – Vorsichtig drückte sie das Tuch gegen die nassen Wangen.




Das Theater war aus. Das Stück und auch der größte Teil der Schauspieler hatten gefallen; das Publikum entfernte sich angeregt und befriedigt. Langsam schoben sich die Leute aus den verschiedenen Thüren, stießen im Vorraum, welcher die Garderobe enthielt, wieder zusammen, kämpften da mit einer aller guten Lebensart hohnsprechenden Rücksichtslosigkeit um ihre Kleider und drängten sich dann gemeinsam durch das Hauptportal, mit einer Hast, als versäumte jeder einzelne etwas ungeheuer Wichtiges.

Nicht alle hatten es aber so eilig. In einer geschützten Ecke des Vestibüls stand eine Gruppe von Menschen in lebhafter Unterhaltung. Die kleine, distinguiert aussehende Gesellschaft sprach über den Vorfall, der ja fast allgemein bemerkt worden war. Die Herren zuckten die Achseln. Man sei an derbe Rücksichtslosigkeiten ja bei Schindler schon gewöhnt, immerhin sei es ein starkes Stück, was er heute abend geleistet habe. Sich der beleidigten Schauspielerin besonders anzunehmen, fiel keinem ein; im Grunde hatte ja Schindler nicht so unrecht mit seiner Kritik: reizlos war das Mädchen, darüber bestand kein Zweifel. So schickte man sich bereits zum Auseinandergehen an, und ein pensionierter Hauptmann, Herr von Schmidtlein, that die abschließende Aeußerung: „Außerdem – diese Schauspielerinnen sind an dergleichen gewöhnt!“

Er hielt gerade seiner Gattin den Mantel hin und war erstaunt, als diese, statt hineinzufahren, sich erregt zu ihm umdrehte.

„Du sollst nicht so gedankenlos reden, Otto!“ sagte die Dame, ihre gescheiten, grauen Augen auf seine kleinen, gutmütigen heftend. „Erstens sind Schauspielerinnen so etwas durchaus nicht gewöhnt; auch war es eine Taktlosigkeit an sich, und dann hatte das Mädchen so traurige Augen und sah so unglücklich aus. Mir hat sie leid gethan; aber Ihr Männer habt ja kein Herz. Ja, ja, kein Herz!“ wiederholte sie unverzagt in das Lachen der Zunächststehenden hinein. „Und wenn ich den Schindler sehe, werde ich ihm den roten Kopf waschen, darauf kannst Du Dich verlassen!“

Blonden Kopf, ich muß sehr bitten, blonden, meine Gnädigste!“ ertönte es plötzlich hinter ihr.

Sie wendete sich hastig um. Herr von Schindler begrüßte sie mit überlegenem Lächeln.

„So, da sind Sie!“ sagte sie ohne alle Verlegenheit. „Na, da will ich Ihnen also ebenfalls vor versammeltem Publikum sagen, daß Sie selbst heute ‚scheußlich‘ waren.“

„Das bin ich leider immer, Gnädigste.“

„Wenn Ihnen das für Ihre Person Vergnügen macht, wird niemand etwas dagegen haben. Aber ein armes wehrloses Mädchen zu beleidigen, Herr von Schindler, ihr ein solches Wort ins Gesicht zu schleudern –“

„Ins Gesicht? … Das kann sie ja gar nicht gehört haben, höchstens die Nächstsitzenden ...“

„Sie hat es gehört, darauf verlassen Sie sich nur ganz sicher. Man sah ja, wie sie zusammenschreckte. Und was soll das arme Ding dagegen machen? Ein Mann könnte sich Genugthuung verschaffen, aber so ein Mädchen! Die wird heute abend in ihrer Stube sitzen und weinen mit ihren prächtigen Augen –“

„Nicht wahr, prächtige Augen!“ unterbrach sie Herr von Schindler ganz unbefangen.

„Ja gewiß,“ fuhr die Dame erbittert fort, „die hat sie! Und daß Sie das jetzt in so entzücktem Tone zugeben, finde ich, offen gestanden, höchst merkwürdig!“

„Genug, Fanny,“ mahnte ihr Gatte halblaut, worauf sie plötzlich innehielt und ihn ansah.

„Wir wollen gehen, komm!“ Er drehte sie dabei mit sanftem Drucke der übrigen Gesellschaft zu und begann, sich von den Anwesenden zu verabschieden. Seine Frau wurde dunkelrot, wodurch ihr großes, energisches Gesicht einen fast kindlichen Ansdruck bekam, und folgte sofort seinem Beispiele.

„Sie sehen, er ist ein Tyrann,“ sagte sie lächelnd, „aber man muß sich fügen!“ Und zu Herrn von Schindler gewendet, setzte sie hinzu: „Wenn mein Mann einmal nicht dabei ist, kommt die Fortsetzung, Sie grausamer Mensch!“

Hierauf rasches Händeschütteln, Gutenachtrufen, noch eine letzte Verbeugung, und die Gruppe löste sich auf.

Das Ehepaar Schmidtlein hatte noch keine zwanzig Schritte in der nächtlichen Straße zurückgelegt, als ein rascher Schritt sie einholte und eine wohlbekannte Stimme sagte: „Wir haben denselben Weg. Gestatten die Herrschaften, daß ich nebenherlaufe?“

„Wie ceremoniös!“ lachte der Hauptmann. „Das ist man ja gar nicht von Ihnen gewohnt, Schindler!“

Frau Fanny unterdrückte eine in gleicher Richtung gehende, aber weniger harmlose Bemerkung und schritt, scheinbar ohne auf den Begleiter zu achten, gemütsruhig am Arme des Gatten dahin. Es gab eine kleine Stille, plötzlich sagte er: „Gnädige Frau!“

„Herr von Schindler?“

[339] „Glauben Sie wirklich, daß dieses Fräulein Sinders meine Worte verstanden hat?“

„Ja, wie soll denn das anders möglich sein?“

„Nun, die Entfernung zur Bühne ist doch ziemlich groß.“

„Aber es war eine Sekunde lang völlig still. Man hörte Ihr ‚Scheußlich!‘ scharf genug zwischen die Reden der beiden hinein!“

„Dumme Geschichte!“ brummte Schindler vor sich hin.

„Thut es Ihnen jetzt leid?“ fragte Frau von Schmidtlein voll Siegeshoffnung.

„Na, eine schlaflose Nacht werde ich darum nicht haben,“ versetzte er bockbeinig, „so ’was fährt wohl jedem einmal heraus! Aber ...“

„Na – aber ..?“ half sie seinem Zögern nach.

„Aber es ist nicht einmal wahr, und das ärgert mich hinterher, sie ist gar nicht garstig. Das untergräbt mein kritisches Ansehen! Na, einerlei, zu ändern ist jetzt nichts mehr an der Sache.“

„Sehen Sie, Herr von Schindler,“ sagte die Frau Hauptmann stehen bleibend. „Sie sind innerlich viel besser, als Sie es andere glauben machen wollen. Das Gewissen drückt Sie jetzt, das ist recht heilsam, und weil Sie eines haben, deswegen sind Sie überhaupt gar nicht der Roué und Spötter, den man aus Ihnen macht. Ich habe noch andere Anzeichen dafür,“ fuhr sie eifrig fort, als jener Miene machte, sich gegen dieses unerwünschte Lob zu wehren, „Sie sind wohlthätig und kümmern sich auch menschlich um die Leute, die Sie unterstützen, das weiß ich aus sicherer Quelle …“

„Nur, um die Langweile zu vertreiben, gnädige Frau, aus keinem andern Grund!“

„Und warum haben Sie denn überhaupt Langweile?“ fuhr die kleine Frau hitzig fort. „Ich muß Ihnen sagen – laß nur, Otto, ich thue ihm nichts! – daß es schade um Sie ist. Das Lotterleben mit den andern Müßiggängern brauchten Sie nicht zu führen, Sie könnten auf Ihrem Gut ein tüchtiger und ein glücklicher Mann sein, nähmen sich eine nette Frau ..“

Die beiden Herren brachen gleichzeitig in ein Lachen aus. „Nun ist sie beim Ehestiften angelangt,“ sagte der Hauptmann, „nun gnade Ihnen Gott, Schindler!“

„Glücklicherweise sind wir da an meiner Straßenecke,“ sagte dieser, „und ich kann mich eben noch retten. Gute Nacht, gestrenge Richterin, und von nun an offene Feindschaft zwischen uns!“

„Sind Sie mir böse?“ fragte sie gutmütig, zweifelhaft in sein grimmiges Gesicht blickend.

„Ja, Sie haben heute meinen blonden Schopf rot genannt, das kann ich Ihnen in Ewigkeit nicht vergeben.“

„Ach, Sie unverbesserlicher Spottvogel, mit Ihnen ist wirklich kein ernsthaftes Wort zu reden!“ rief sie halb ärgerlich, halb belustigt. „Ich ziehe meine Hand noch gänzlich von Ihnen ab! Komm, Otto, Du darfst mir nicht länger in der Gesellschaft bleiben!“

Und mit einem lachenden Gutenachtgruß entfernte sich das alte Pärchen. Herr von Schindler blieb stehen, schlug seinen Kragen hoch und sah ihnen nach, wie sie Arm in Arm dahinschritten, eng aneinandergeschmiegt. Es war feucht auf dem Boden, denn während der Theaterstunden waren die ersten Schneeflocken gefallen und hatten sich sofort wieder in schmutziges Wasser verwandelt. Er sah, wie sich Frau Fanny bückte, um ihr Kleid aufzunehmen, und hörte noch den Hauptmann mit seiner lauten Stimme lachend sagen: „So ist’s recht, Fanny, schone Dein neues Herbstkleid vom vorvorigen Jahr!“

Wieder fiel ihm auf, mit welcher Heiterkeit diese Leutchen ihre Armut trugen. Sie lebten von der Pension des Hauptmanns, der seinen Abschied wegen einer chronischen, übrigens ungefährlichen Krankheit hatte nehmen müssen, und besaßen außerdem nur noch die ‚Kaution‘, in welcher das ganze Vermögen der Frau bestanden hatte. Sie mußten sich sehr einschränken, waren aber immer zufrieden und vergnügt. Weil sie sich gern haben! fuhr es dem Lebemann durch den Sinn. „Gern haben sie sich, die beiden, und fühlen sich glücklich in ihrer Liebe!“ Während er ihnen unwillkürlich nachblickte, verfolgte er diesen Gedankengang weiter.

„Da gehen sie nun nach Hause, die Frau bereitet einen gemütlichen Theetisch und zieht ihrem alten Schatz die warmen Pantoffeln an. Macht mein Diener übrigens alles genau so! Dann setzen sie sich nebeneinander aufs Sofa und plaudern. Hand in Hand – Philemon und Baucis! Einer kennt des andern Herz, keine Falschheit, keine Lüge! Wenn sie sagt, ich hab’ Dich lieb, so ist’s Wahrheit. – Uebrigens verdammt kalt heute! Da stehe ich nun, philosophiere und bekomme nasse Füße. Diese Frau Fanny hat entschieden einen schlechten Einfluß auf mich. Ob sie wohl recht hat, daß die Sinders jetzt weinen wird? Na, wird schon wieder aufhören! Nun aber schleunigst!“

Den Hut tiefer ins Gesicht ziehend, wendete er sich hastig um und eilte mit raschen Schritten die Straße hinunter dem Klub zu, dessen hellerleuchtete Front ihm einladend entgegenstrahlte. – Marie Sinders hatte sich nach Schluß des Stückes, in welchem sie besonders im letzten Akte noch sehr gefallen hatte, langsam in ihre Garderobe begeben. Sie war müde geworden und ließ sich ganz erschöpft auf dem harten Stuhl nieder, der vor ihrem Toilettenspiegel stand. Die Probe am Vormittag hatte sich bis gegen 3 Uhr hingezogen, und um 5 Uhr war sie bereits wieder zum Ankleiden im Theater gewesen. Endlich war es nun zu Ende! Aber sie empfand heute nicht das zufriedene Behagen wie sonst nach Schluß einer Vorstellung. Sie fühlte sich gedrückt und unglücklich. Sie kam sich so einsam, so verlassen vor. Freilich war das immer so beim Antritt einer neuen Stellung. Aber heute doch mehr als sonst.

Forschend glitten ihre Augen über die anwesenden Kolleginnen, die mit ihr zusammen an dem langen Tisch saßen, von dem jede nur geradeso viel Raum beanspruchen konnte, daß ein großer Toilettenspiegel, die Schminkschatulle und allerlei Kleinkram darauf Platz fanden. Die Damen saßen ziemlich schweigsam da und wischten sich in höchster Eile die Schminke vom Gesicht. Alle sahen müde und abgespannt aus; nur die muntere Liebhaberin plauderte fieberhaft erregt mit ihrer Nachbarin. Schließlich begann sie auch von den Herren in der linken Prosceniumsloge zu sprechen und meinte: „Das sind aber freche Bengels!“ Dabei sah sie mit einem bedauernden Lächeln zu Marie hinüber. Auch die andern blickten auf und sahen die Sinders an.

Diese wurde dunkelrot und beugte sich weit vor, bis ihr geöffneter Flügelspiegel sie den Blicken entzog. O, diese Demütigung! Und wenn es nur dabei bliebe! Aber wenn sie vorhin recht gesehen hatte, wenn das finstere, unzufriedene Gesicht des Direktors ihr gegolten hatte, dann blieb sie nicht lange in dieser Stadt!

Sie erschrak plötzlich vor ihren eigenen Augen, die ihr aus dem Spiegel ganz verzweifelt und entsetzt entgegen starrten. Schreckliches Los des Schauspielers in der Provinz! Wenn der Direktor sie entließ, dann mußte sie in vier Wochen wieder fortziehen, in eine andere Stadt, zu einem anderen Direktor, um dort wieder einen Monat in Langen und Bangen zu verleben. Wieder eine neue Wohnung, neue Kollegen, ein neues Publikum! Und dabei neben sich die Mutter, die arme, so leicht erregbare Mutter, die Ruhe brauchte und von früher her so sehr an Behaglichkeit gewöhnt war! Nein, nein, es durfte nicht sein! Warum denn auch? Sie war doch eine gute Schauspielerin! Ja, das durfte sie sich selbst zugestehen, so bescheiden sie sonst von sich dachte! Freilich, sie war nicht schön, auch das wußte sie. „Scheußlich“ aber war sie denn doch nicht! Gewiß nicht! Ganz erregt musterte sie sich im Spiegel, vor dem sie mechanisch die Arbeit des Abschminkens beendet hatte. Das Gesicht war angenehm, nur zu fahl – die Wangen eingefallen. Aber, guter Gott, das kam eben von der Unruhe, von den Sorgen, dem schrecklichen Kampfe ums Dasein, den sie für Zwei führen mußte und an den sie so gar nicht gewöhnt gewesen war. Sie kämpfte mutig die Thränen hinunter, die ihr bei dieser Erinnerung heiß aufstiegen. Es that so weh, für all das Elend und die Not noch beschimpft zu werden!

So sehr war sie in ihre Gedanken versunken, daß sie ganz vergaß, sich umzukleiden. Und erst auf die zarte Anspielung der Garderobiere, ob Fräulein gleich bis zur morgigen Vorstellung sitzen bleiben wolle, blickte sie erstaunt um sich. Die anderen hatten sich bereits entfernt, eine nach der anderen war mit einem kurzen „Gute Nacht!“ verschwunden. Erschreckt sprang sie auf, warf ihr Kostüm ab und vollendete ihre Straßentoilette. Sie dachte an ihre Mama, mit der sie verabredet hatte, sie solle sich gleich nach der Aufführung in ihre Wohnung begeben. Wie hatte sie die Aermste warten lassen, die ohnehin sich in der fremden Stadt noch so einsam und unheimisch fühlte! Wenn nur nicht auch sie das beleidigende Wort gehört hatte! Sie besann sich. Nein, das konnte nicht sein! Beruhigt ermaß sie im Geiste die beträchtliche Entfernung zwischen der Bühne und dem Sitz, den ihre Mutter gehabt hatte. Nur ihr nichts sagen! Mit diesem Entschluß nahm sie ihren Mantel um, band ein großes Tuch um den Kopf und eilte die enge Treppe hinunter, wo ihr Mädchen auf sie wartete. Der Regen schlug ihr auf der Straße entgegen, ein heftiger Wind trieb ihr die Tropfen unbarmherzig ins erhitzte Gesicht. „O welch ein Leben!“

(Fortsetzung folgt.)

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Blätter & Blüten.



Das Nahrungsbedürfnis der Kinder. Vielfach herrschen über das Nahrungsbedürfnis der Kinder ganz falsche Vorstellungen. Man bemißt dasselbe nach dem Nahrungsbedürfnis der Erwachsenen, während dies doch weder in Bezug auf Menge noch auf Zusammensetzung der Nahrung zutrifft. Physiologische Untersuchungen haben darüber folgendes ergeben. Das Nahrungsbedürfnis der Kinder bis zum Alter von 16 Jahren ist verhältnismäßig größer als das der Erwachsenen, weil die Ernährung bei ihnen nicht nur den Bestand des Körpers erhalten, sondern auch das Material für das Wachstum liefern muß. Auf 1 Kilo Körpergewicht berechnet ergiebt sich der Bedarf für Erwachsene: Eiweiß 1,8 g, Fett 1,2 g, Kohlehydrate 5,2 g. Ein Kind von 10 bis 12 Jahren braucht aber auf 1 Kilo Körpergewicht 2,6 g Eiweiß, 2,2 g Fett und 8,7 g Kohlehydrate. Daraus folgt, daß die Nahrnng der Kinder in ihrer Zusammensetzung reicher an Eiweiß und Fett sein sollte. Eine reichlichere Beigabe von Fleisch und Butter im Verhältnis zu Brot, Kartoffeln, Gemüse etc. ist den Kindern nützlich; das Fleisch kann auch zum Teil zweckmäßig durch frischen weißen Käse ersetzt werden. Für unser nervöses Zeitalter ist die Zufuhr von Fett von Bedeutung, da die Nervensubstanz viel Fett verbraucht. Wenn die Kinder also gut gestrichene Butterbemmen so gern haben, so ist das nur die Aeußerung eines ganz gesunden Instinktes. *      

Bestrittene Jagdbeute. (Zu dem Bilde S. 325.) Schon öfters ist es mir auf der Jagd begegnet, daß ich, während meine Hunde suchend Rüben -oder Kartoffelbreiten nach Hühnern abrevierten, unerwartet Jagdgesellschaft bekam, indem ein Raubvogel in meiner Nähe kreiste, der auch wohl, wenn ein schlecht getroffenes Huhn schwerfällig mit plustrigem Gefieder fortstrich, blitzschnell dasselbe schlug und mit seinem Raube das Weite suchte.

Einst jagte ich in der Nähe der Weser und hatte schon stundenlang gesucht, aber nichts erlegt. Die Hühner hatten, wie der Weidmann sagt, das Wetter im Kopfe – sie hielten nicht, liefen rasch und standen so weit vor meiner Flinte auf, daß ich entweder nicht schießen konnte, oder, wenn ich auch ’mal hinhielt, um sie auseinander und dadurch zum Halten zu bringen, doch keins herunter holte – der Galgen an meiner Jagdtasche blieb leer. Endlich strich eine Kette nach einer größeren Rübenbreite hin und kaum hatte ich die Hühner in der Ferne verschwinden und dann noch einmal für eine Sekunde erscheinen sehen, als sie mit senkrecht gegen die Flugrichtung gestemmten Schwingen ihre Schnelligkeit stoppten. Da stand auch schon eine zweite Kette 80 Schritte vor mir auf und strich in derselben Richtung davon. Jetzt hatte ich Hoffnung, zu Schuß zu kommen, denn es war nicht ausgeschlossen, daß die Hühner in der guten Deckung vor dem Hunde auseinanderliefen und dann hielten. Mein Wunsch sollte erfüllt werden, und zwar mehr noch als es mir lieb war. Ebenso wie ich den Hühnern nachgeblickt, hatte es auch ein Konkurrent von mir gethan, den ich bislang nicht gesehen hatte – ein roter Milan, eine Gabelweihe, die es zwar nicht vermochte, die streichenden Hühner einzuholen, jetzt aber über den Rüben kreiste, damit sie vielleicht das eine oder andere unter den Blättern eräugte, wo es sich ängstlich fest an die Erde drückte, um den scharfen Sehern und Fängen des befiederten Räubers zu entgehen.

Bald war auch ich mit meinem Setter dort, der in rascher Zickzacksuche die Rübenbreite abrevierte und auch nach kurzer Zeit plötzlich, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen, starr und unbeweglich, wie ein aus Erz gegossenes Bildnis – die Nase weit vorwärts in den Wind gestreckt – fest vorstand. Er hatte die Hühner – und zwanzig Fuß über ihm glitt durch die Lüfte der mächtige Vogel, raubgierig zur Erde spähend, und regelte mit dem tief gegabelten, breiten Stoß (Schwanz), wie mit einem Steuer, sein kreisendes Schweben.

Langsam ging ich zu meinem „Wild-Joke“ hin – als beachtete ich den befiederten Raubgesellen gar nicht – aber seine Kreise brachten ihn genau so rasch zurück als ich vorwärts kam – er kannte die Gefahr und blieb außer Schußweite. Ich liebelte meinen Hund: – „Vorwärts!“ Allein so weit er auch nachzog, so rasch und sicher er sich bemühte, die laufenden Hühner festzumachen – keines stand auf – sie wußten augenscheinlich, daß über ihnen ein gefiederter Feind Wache hielt. Endlich hatte sich aber doch eins fest gedrückt, der Hund stierte vor sich schräg zur Erde – ich „trat“ es heraus und unmittelbar über den Rüben strich es pfeilschnell dahin – da knallte mein Schuß und es war in den Rübenblättern verschwunden. Im selben Augenblicke fuhr auch schon der Milan schräg herab, um die Beute zu greifen – doch ein zweiter Schuß verhinderte ihn, mit dem Huhn in den Fängen das Weite zu suchen; ich hatte ihm die Schwingenspitze zerschossen.

Der englische Vorstehhund ist zu „weich“, um rücksichtslos einen Raubvogel zu packen, und gerade wie auf unserm Bilde der Setter und Pointer vor dem angeschossenen Rauchfußbussard, so war auch wenige Sekunden später mein irischer „Wild-Joke“ dicht beim Milan und drückte sich ebenso wie jene vorsichtig vor Fang- und Schnabelhieben des befiederten Räubers. Karl Brandt.     

Eine elektrische Eisenbahn im Wasser. Die beiden englischen Seebäder Brighton und Rottingdean am Kanal, welche durch eine Meeresbucht von 5 km Breite getrennt sind, erhalten mit der kommenden Saison eine eigentümliche Verbindung, welche gewiß schon der Merkwürdigkeit halber stark benutzt werden wird. Die trennende Bucht enthält zur Ebbezeit nur ganz flaches Wasser, welches bei der Flut plötzlich 10 Fuß und mitunter 16 Fuß hoch ansteigt; der Meeresgrund ist jedoch ganz eben. Hier ist nun ein breites vierfaches Geleise gelegt worden, über welchem an hohen Pfosten eine elektrische Leitung von einer Stadt zur anderen läuft. Das Fahrzeug aber, welches auf diesem ungewöhnlichen Wege verkehren soll, ist ein mächtiger, plattformartiger Wagen, der für 150 Personen Raum bietet und deshalb eine Fläche von 120 qm besitzt; seine Länge beträgt über 16 m. Um gänzlich dem Bereich der Wellen entzogen zu sein, steht dieses Gefährt auf einem Gerüst von 10 m hohen Stahlröhren, die unten von einem Gestell mit acht Rädern getragen werden. Letztere laufen also im Wasser, werden aber vom Verdeck des Fahrzeuges aus durch zwei starke Dynamomaschinen angetrieben, so daß der Wagen sich wie eine Lokomotive durch die Meeresbucht bewegt. Kontaktrollen schleifen während der Fahrt an der längs der Strecke angebrachten Luftleitung und vermitteln den elektrischen Antrieb. Die Geschwindigkeit der sonderbaren Eisenbahn soll nur 10 km pro Stunde betragen, so daß man in 30 Minuten von Brighton nach Rottingdean gelangen wird. Bw.     

Der stürmische Verlobungstag. (Zu dem Bilde S. 328 und 329.) Wir sehen in das Schlußkapitel einer Schwarzwälder Dorfgeschichte hinein. Mit harter Mühe und langen Kämpfen hat das Liebespaar samt den verbündeten Müttern den alten reichen Bauern soweit gebracht, daß er in den „Verspruch“ seines Aeltesten mit dem ärmeren Mädchen willigte. Aber nun, wo die eigentliche Verhandlung beim Sonntagskaffee losgehen soll, nun reut ihn der Handel plötzlich so sehr, daß er am liebsten die verschüchterte Witwe samt ihrem mit den Thränen kämpfenden Töchterlein aus dem Hause werfen möchte. Seine Alte ist dem unwirsch vom Tisch Auffahrenden gefolgt und redet beschwörend auf ihn ein. Der Sohn steht stumm, aber er wirft einen bösen Blick nach dem alten Hartkopf hinüber, während die entsetzte Brautmutter wie schützend ihrem Kinde näher rückt. Eine kritische Situation! Man könnte für den Ausgang bange sein ohne die alte Erfahrung, daß die gröbsten Männer am Ende doch meistens so thun, wie die unterwürfigsten Frauen es haben möchten. Und mit dieser tröstlichen Aussicht kann man sich ruhig der Hauptsache zuwenden, nämlich der Einzelbetrachtung des lebensvollen Kurzbauerschen Bildes und seiner Figuren, die so charakteristisch echt sich von dem Hintergrund einer alten, gemütlich anheimelnden Schwarzwälderstube abheben.

Der Maispaziergang. (Zu dem Bilde S. 337.) Wer erinnert sich nicht noch gerne in späteren Jahren des glücklichen Mainachmittags, an welchem man mit anderen fröhlichen Kindern in Reih’ und Glied aus dem Schulhofe zog, um in Begleitung der Lehrer durch Feld und Wald einem Vergnügungsort der Umgegend zuzumarschieren! Die schöne Sitte hat sich erhalten, wie unser Bild gar lebensvoll vergegenwärtigt. Lustig glänzen die bunten Fahnen in der Maiensonne, lustig singen die kleinen Burschen ihr Wamderliedchen, sie „fühlen sich“ gehörig, die Herren Abcschützen, die heute zum erstenmal als „Schüler“ in der Welt auftreten dürfen! Das alte Mütterchen am Wegrande sieht voll Anteil auf die junge lärmende Schar: so zog sie einst selbst und dann ihre Kinder und Enkel … ’s ist hübsch lange her, aber sie hat sich ein freundliches Herz bewahrt und die Kinder lieb behalten. Gute Fahrt, ihr kleinen Wandervögel, und volle Milchschüsseln, große Kuchenstücke und lustiges Spiel in eurem Dörfchen, bis das späte Abendrot euch heimleuchtet und ihr vor lauter Müdigkeit kaum mehr beim Zubettgehen der Mutter sagen könnt, wie wunderschön es heute gewesen! Bn.     

Abseits betitelt sich eine Sammlung anmutiger Erzählungen von Ernst Lenbach, welche soeben im Verlag der Cottaschen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart erschienen ist. Die Mehrzahl derselben ist auf denselben liebenswürdig behaglichen Grundton gestimmt, welcher auch den gemütvollen humoristischen Geschichten, die der Autor bisher in der „Gartenlaube“ veröffentlichte, ihren eigentümlichen Reiz verleiht. Der Titel der Sammlung ist bezeichnend für die ganze Art des rheinischen Humoristen. Abseits von der breiten Heerstraße liegen die Pfade, auf denen er mit nachdenklichem Sinn die Poesie sucht und findet, abseits von der lärmenden Welt des öffentlichen Lebens treiben die kreuzbraven Käuze und kernguten Sonderlinge, mit denen er es so gern hält, ihr Wesen, erblüht das idyllische Glück, dessen Wert er gegenüber den Glücksidolen der großen Menge preist. Auch die größeren historischen Novellen „Weltfern“ und „Lucas Heylandt“ entsprechen in ihrem Charakter dem Gesamttitel. Sie zeigen, wie Vorurteile und Glaubenszwietracht in finsteren Zeiten einzelne Menschen hinausstieß in die Einsamkeit als Verfemte und wie die Sehnsucht nach dem Glück, das nur die Liebe von Herz zu Herzen gewährt, das Schicksal selbst solcher Verfemten bestimmt. Viele unserer Leser, welche den gemütvollen Erzähler in der „Gartenlaube“ liebgewonnen haben, werden uns für den Hinweis auf dieses neue Lenbachsche Buch dankbar sein.


Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (19. Fortsetzung). S. 325. – Bestrittene Jagdbeute. Bild. S. 325. – Der stürmische Verlobungstag. Bild. S. 328 und 329. – Im Wandel der Zeiten. Von F. G. Ad. Weiß. S. 330. – Im Ulmen-Laubgang. Gedicht von Emil Rittershaus. Mit Randzeichnung. S. 333. – Vor der Berufswahlt. Warnungen und Ratschläge für unsere Großen. Das Kunstgewerbe. Von F. Luthmer. S. 333. – Ein unbedachtes Wort. Novelle von M. Misch. S. 336. – Der Maispaziergang. Bild. S. 337. – Blätter und Blüten: Das Nahrungsbedürfnis der Kinder. S. 340. – Bestrittene Jagdbeute. Von Karl Brandt. S. 340. (Zu dem Bilde S. 325.) – Eine elektrische Eisenbahn im Wasser. S. 340. – Der stürmische Verlobungstag. S. 340. (Zu dem Bilde S. 328 und 329.) – Der Maispaziergang. S. 340. (Zu dem Bilde S. 337.) – Abseits. S. 340.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No. 20. 1896.


Heinrich v. Treitschke †. In dem am 28. April in Berlin verstorbenen Historiker Heinrich v. Treitschke hat die deutsche Geschichtswissenschaft einen ihrer namhaftesten Vertreter verloren. Von den Historikern großen Stils, die, wie Ranke und Sybel, die Entstehung und Gründung des Deutschen Reichs als die Erfüllung der eigenen patriotischen Wünsche miterlebt und dann vom Standpunkt eines weiten historischen Ueberblicks dargestellt haben, ist der nun auch dem Tod Verfallene am meisten von patriotischer Begeisterung und politischem Ueberzeugungseifer erfüllt gewesen. Das gab seiner Rede, vom Katheder des Universitätslehrers wie von der Tribüne in politischer Versammlung herab, ihren feurigen, namentlich in früheren Zeiten hinreißenden Schwung; das gab seinen historischen Schriften den großen Vorzug innerer Wärme und Frische, packender Darstellungsform und aus tiefster Ueberzeugung schöpfender Vortragsweise. Das schmälerte aber andererseits den objektiven wissenschaftlichen Wert seiner Werke; der Trieb, für seine persönlichen Ansichten kämpfend einzutreten, machte sich oft auch da geltend, wo es das Amt des Historikers ist, das abgeklärte Urteil leidenschaftsloser Wahrheitserforschung zu fällen.

Kapitän W. Willigerod.
Nach einer Photographie von W. Sander & Sohn in Geestemünde.

Heinrich v. Treitschke.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph W. Höffert in Berlin.

Das Ideal einer Wiederherstellung der deutschen Reichseinheit unter starker preußischer Führung besaß in ihm bereits einen leidenschaftlichen Vorkämpfer, als das Bekenntnis zu ihm Mut und Opfer verlangte. Am 15. September 1834 zu Dresden als Sohn eines sächsischen Generals geboren, ließ er sich nach Abschluß seiner Studien zwar in Leipzig als Dozent nieder, fühlte sich aber im inneren Gegensatz zu den in der engeren Heimat geltenden politischen Anschauungen. Seine erste Professur erhielt er 1863 im badischen Freiburg, gab sie jedoch bereits im Juni 1866 wieder auf infolge der Stellung Badens zur deutschen Frage. Er ging nun auf kurze Zeit nach Berlin, übernahm dort die Redaktion der „Preußischen Jahrbücher“, deren eifriger Mitarbeiter er bereits war, und folgte bald danach einem Rufe an die Universität Kiel. Hier (1867), in Heidelberg (bis 1874) und dann in Berlin hat er in der Zeit der Gründung des Reichs und seines inneren Ausbaus im nationalen Sinne ungemein begeisternd auf viele Tausende damals Studierender gewirkt; von 1871 an hat er auch als Mitglied des Reichstags an diesem inneren Ausbau thätigen Anteil genommen. Trugen seine älteren Schriften, wie das Buch „Zehn Jahre deutscher Kämpfe 1865–74“ und die glänzend geschriebenen „Historisch-politischen Aufsätze“, einen mehr publizistischen Charakter, so raffte er gegen Ende der siebziger Jahre seine Kräfte zur Ausführung seines groß angelegten, rein historischen Lebenswerkes zusammen, das 1879 unter dem Titel „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“ zu erscheinen begann und von welchem bisher 5 Bände, der letzte erschien 1894, vorliegen. 1886 wurde er als Nachfolger Rankes zum Historiographen des preußischen Staates ernannt. Seine parlamentarische Laufbahn fand 1888 ihr Ende. Zunehmende Schwerhörigkeit verkümmerte ihm die Freude am öffentlichen Auftreten als Redner. Sein Berliner akademisches Lehramt hat er jedoch bis zu der Erkrankung nicht aufgegeben, die seinen Tod herbeiführte.

Nassr-ed-din, Schah en Schah, König der Könige von Persien, ist in Europa besser bekannt als viele andere der Fürsten im fernen Orient; hat er doch wiederholt, in den Jahren 1874, 1878 und 1889, Reisen nach Europa unternommen, wobei sein buntes Gefolge in unseren Großstädten ein nicht geringes Aufsehen erregte. Er stand im Rufe eines für asiatische Verhältnisse aufgeklärten Mannes, der in seinem Reiche einige Fortschritte der Kultur fördern wollte, aber seine Pläne nur in geringem Maße verwirklichen konnte, da er auf den Widerstand seiner sehr konservativen Unterthanen stieß. Nun kommt aus der persischen Hauptstadt die Kunde, daß religiöse Fanatiker aus der Sekte der Babi, die schon einmal im Jahre 1852 nach dem Leben des Schahs getrachtet hatten, diesmal ihr Ziel erreichten. Nassr-ed-din wurde am 1. Mai von einem dieser Fanatiker ermordet. Der Attentäter feuerte den Schuß in dem Augenblicke ab, als der Schah die Grabmoschee des Wallfahrtsortes Schah-Abdul-Asim, 10 Kilometer südlich von Teheran, betrat. Die Pistolenkugel traf in die Herzgegend, und zwei Stunden darauf verschied der Schah. – Geboren am 17. Juli 1831, bestieg Nassr-ed-din am 10. Oktober 1848 den Thron seiner Väter. Besonders folgenreiche äußere Verwickelungen blieben Persien unter seiner Regierung erspart; schwer aber litt das Land unter inneren Unruhen, welche durch die Habsucht der einzelnen Gouverneure angezettelt wurden. Daß es dem aufgeklärten Schah nicht gelungen ist, die alten Unsitten auszurotten, darüber hat erst vor kurzem der Artikel „Auf den Trümmern von Kutschan“ (vgl. Jahrg. 1895, S. 767) unsere Leser belehrt, in welchem die traurigen Zustände in Persien geschildert wurden. Nassr-ed-din war auch litterarisch thätig; er hat einen „Diwan“, d. h. eine Liedersammlung, und mehrere Beschreibungen seiner Reisen herausgegeben. S.     

Nassr-ed-din, Schah von Persien.
Nach einer Photographie von Sophus Williams in Berlin.

Ein Jubilar auf dem Atlantischen Ozean. Am 22. April d. J. trat der Schnelldampfer „Spree“ seine Reise von Bremen nach New York an, die für den Kapitän des Schiffes, Willigerod, eine Jubelfahrt war. Der bewährte Seemann vollbrachte damit eine That, die vor ihm noch niemand ausgeführt hatte: zum zweihundertstenmal legte er als Kapitän des Norddeutschen Lloyd den Weg nach New York zurück! Fürwahr, eine großartige Leistung ist es, vierhundertmal als verantwortlicher Führer eines großen Passagierdampfers ohne nennenswertes Mißgeschick den Nordatlantischen Ozean durchquert zu haben! Dazu bedurfte es einer eisernen Pflichttreue und zähen Ausdauer, einer jahrelangen angestrengten Arbeit. – Wilhelm Willigerod wurde am 16. Juni 1839 zu Verden in Hannover geboren. Die Lust zu Abenteuern regte sich in ihm frühzeitig; er verließ das Gymnasium zu Celle und ging am 10. Juni 1855 auf die See. Er besuchte alle Weltmeere und machte sogar eine Expedition in das Innere Australiens mit, die mit großen Entbehrungen verknüpft war. Im Juli 1866 legte [e]r das amerikanische Kapitänsexamen ab, und am 21. Juli 1868 trat er in den Dienst des Norddeutschen Lloyd. Im Laufe seiner Fahrten bewährte er sich als ein ganzer Mann, der für seine Nächsten ein warmes Herz hatte. Groß ist die Zahl der Schiffbrüchigen, denen er das Leben rettete, und hohe Orden schmücken die Brust, die so oft dem Sturm getrotzt hat; die wertvollsten dieser Auszeichnungen sind aber zweifellos die goldenen Rettungsmedaillen verschiedener Gesellschaften zur Rettung Schiffbrüchiger. Geachtet von seinen Vorgesetzten, geliebt von seinen Untergebenen, steht Kapitän Willigerod noch in rüstiger Kraft da. Möge sie ihm noch lange beschieden bleiben, mögen ihm auch ferner glückliche Sterne auf seinen weiten Fahrten leuchten!

[340 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Das Kunstgewerbe als Beruf. Berlin, L. Simion, 1891.