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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[85]

Nr. 6.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Buen Retiro.

Von Marie Bernhard.

     (5. Fortsetzung.)

Der junge Konsky zeichnete Gabriele aus, das war offenbar. Neuerdings schien die hübsche Frau Trelow geneigt, der jungen Witwe diesen Verehrer, an dem sie lebhaftes Wohlgefallen fand, streitig zu machen, ein Umstand, der Gabriele sehr gleichgültig zu lassen schien, sie hatte für Alfred Konsky genau dasselbe Lächeln, denselben Gesichtsausdruck und Tonfall der Stimme wie für die andern alle – mit einer einzigen Ausnahme!

Ihr Benehmen gegen Röder war völlig verändert. Sie vermied ihn, wo sie nur konnte, sie hatte es einzurichten gewußt, daß sie während der letzten Wochen auch nicht für zwei Minuten mit ihm allein zusammentraf, sie wandte sich ohne zwingende Notwendigkeit mit keinem Wort an ihn, und wenn sie es ja einmal that, so war ihr Blick unfrei und ihre Rede stockend. Er seinerseits glaubte genau zu wissen, wie er sich dies seltsame Wesen zu deuten habe, sie empfand es peinlich, daß durch sie so viele fremde Elemente ins Haus gekommen, soviel Störungen der ruhigen Hausordnung erwachsen waren, es bedrückte sie, dazu die Veranlassung gewesen zu sein, ohne jetzt die Macht zu haben, eine Aenderung

Großmütterchen.
Nach einer Photographie von B. Erdmann in Mainz gezeichnet von Ch. Eckstein.

[86] herbeizuführen. Er hätte ihr Dank dafür wissen müssen, aber er vermochte dies nicht. Ihr Anblick war ihm eine Pein, und doch entbehrte er ihn mit Schmerzen – der Ton ihrer weichen Stimme quälte ihn, aber er wollte keinen Laut davon verlieren – er lag tief im Bann dieser späten starken Leidenschaft und trachtete umsonst, davon frei zu kommen. Vergebens beschwor er die Erinnerung an Asta, die einst so Inniggeliebte, herauf, las in ihren Briefen und vertiefte sich in den Anblick ihres Bildes. Er hatte sie geliebt und betrauert, aber sie war seit Jahren tot, die Wunde war langsam geheilt und das neue Gefühl so heiß, so lebendig in ihm, daß es ihm scheinen wollte, er habe selbst Asta nie so glühend geliebt und begehrt wie jetzt Gabriele. Die Worte Frau Leopoldinens an jenem ersten Abend, Gabriele habe allem Anschein nach ihres Mannes leidenschaftliche Liebe kaum erwidert, und sie, die ältere Freundin, habe ihr zureden müssen, seine Werbung anzunehmen … diese Worte, wie der Nachsatz, es sei unentschieden, ob Gabriele überhaupt eines starken Gefühls fähig sei, ließen ihm keine Ruhe. Er grübelte darüber mitten im Lärm und Lachen der Tafelrunde wie in der Einsamkeit seines Zimmers, die er oft erst um zwei Uhr des Nachts zu kosten bekam.

Die schönen stillen Tage und Abende früherer Zeit! Er entsann sich, daß sein Geist seit langen Jahren nicht so frisch und ausgiebig gewesen war wie in jenen Wochen, die er mit Gabriele allein zugebracht hatte. Er wußte es jetzt genau, das war die aufkeimende Liebe gewesen, die sein ganzes Wesen durchströmt und sein Können beeinflußt hatte. Nun, da er Verlangen und Sehnsucht in sein Bewußtsein aufgenommen, hatte ihn die Fähigkeit des Schaffens verlassen, er hätte sie jetzt nicht besessen, selbst wenn ihm die Muße zum Arbeiten gegönnt gewesen wäre. Seine journalistischen Beiträge konnte er zur Not fertig stellen, aber das Buch, an dessen Herstellung er mit solcher Freudigkeit gegangen war, kam nicht weiter, denn dem Mann, der an unerwiderter Liebe krankte, fehlte die begeisterte Hingabe, die ein solches Werk erfordert.

„Buen Retiro!“ Wie höhnisch die goldenen Buchstaben jetzt den Besitzer der Villa im hellen Sonnenlicht ansahen! Jawohl, eine „gute Zuflucht“ für einen, der weder in seinem eigenen Hause noch in seinem eigenen Herzen Ruhe fand! Vom frühen Morgen an Leben und Treiben in beiden Stockwerken, hastig geöffnete und geschlossene Thüren, ein eiliges Laufen die Treppe auf und ab, laute Zurufe hier und da, Stimmen aus den offenen Fenstern, antwortende Stimmen aus der Tiefe des Gartens, neckische Hände, die am Thürdrücker rüttelten, an die Scheiben klopften, der grelle Ton einer Glocke, die zum ersten Frühstück rief, dazwischen der dünne Klang eines jämmerlichen Kindertrompetchens, mit dem Herr Trelow schon von weitem seine Ankunft in der Morgenstunde zu verkünden pflegte. Und nun Geschrei und Gelächter, Plünderung der über Nacht mit neuen Blüten geschmückten Rosenstöcke, Bombardement mit abgerissenen Blumen, abermaliges Frühstücksläuten – so fing der Tag an, und je weiter er vorrückte, um so lärmender ging es zu in „Buen Retiro“.

Mamsellchen hatte es in den letzten Wochen vergebens versucht, mit ihrem Doktor Cornelius ein Wort im Vertrauen zu reden. Sie hatte jetzt viel zu thun, und fand sie einmal einen freien Augenblick, dann hatte der Doktor durchaus keine Zeit für sie. Höchstens ein ungeduldiges: „Ja, ja, schon gut, mach’ nur, wie du willst!“ oder „Brauchst Du Geld? Hier hast Du – Du kannst die Rechnung führen und sie mir später vorlegen, ich weiß ja, Du wendest alles gut an!“ Und ein andermal: „Heute kommt Wein an, ich habe ihn bestellt – fünfzig Flaschen Bordeaux, vierzig Rheinwein – bitte, zähl’ nach, ob es richtig ist!“ – und wenn sie etwas sagen wollte: „Später, liebe Alte! Ich hab’ keine Zeit!“

Mamsellchen seufzte und flüchtete sich zu Ewert, der ihre endlosen Klagen über das „Leben, das all die Menschen, die wildfremden, hier vollführen“ und die Anspielungen auf „Leute, die nichts zu essen haben und bloß sehen kommen, wo bei andern der Schornstein raucht“ anhören mußte. Er teilte ihre Entrüstung übrigens nicht ganz. Wenn er auch zugab, daß es nicht gerade vornehme Herrschaften waren, die jetzt die Villa bevölkerten, so waren sie doch allesamt lustig und gut zu leiden, und Ewert gestand, er amüsiere sich über sie.

„Ich nicht!“ pflegte Mamsellchen dann empört zu erwidern. „Ich hab’ die ganze Bande bis hierher satt“ – bezeichnende Handbewegung – „und die einzige von allen, die wirklich ’was Feines ist und hierher paßt, das ist noch unsere junge Frau. Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen, Ewert, aber was Sie denken, ist nicht! Sie meinen, weil ich anfänglich über sie geredet hab’ – aber das war auch man so so, und sehen Sie, Ewert, ich hielt sie für hochmütig, na, und die Hochmütigen, die kann ich schon für den Tod nicht leiden! Aber damit hab’ ich ihr unrecht gethan, und es geht mir nichts ab, wenn ich das eingesteh’, jeder Mensch kann ’mal unrecht haben, und ich bin auch bloß ein Mensch! Nein, nein, unsere junge Frau ist fein, die weiß, was sich gehört, und wenn sie auch nicht so ist wie die Margot, ihre Mutter, so kann ich sie doch gut leiden, und ein Herz hat sie, denn wie ich neulich die gräßlichen Zahnschmerzen hatte, ist sie dreimal zu mir gekommen, zuletzt sogar in der Nacht, und das Mittel, das sie mir gab, that mir gut. Wo sie kann, hilft sie mir, und jung, wie sie ist – sie versteht sich auf die Küche und weiß Ihnen schöne Rezepte – den Chokoladecreme, den wir vorgestern aßen, hatte sie gemacht! Und, glauben Sie, Ewert, sie macht sich was aus einem einzigen von denen? Gar nichts macht sie sich, aber auch gar nichts, kann ich Ihnen sagen! Ich les’ es ihr ja von den Augen ab – sie hat so sprechende Augen! Und wenn sie in ihrem weißen Kleid so mitten unter den anderen ankommt, dann sieht sie aus wie eine junge Gräfin, und das andere ist alles Pack!“

„Hören Sie, Mamsellchen, Pack ist stark! Was Sie für Ausdrücke haben! Ich kann Ihnen sagen, daß sogar zu meinem Baron welche ins Haus gekommen sind vom Theater – und der lud sich keinen ein, der Pack war!“

„Theater?“

„Herrgott, Mamsellchen, wie kommen Sie mir denn vor? Sie werden das doch gewußt haben – nein?“

„Gewußt, nein, das nicht! Aber gedacht hab’ ich’s manchmal!“

„Na, sehen Sie! Ich glaub’ es nicht, daß unser Herr es weiß, denn vor dem nehmen sie sich alle in acht, und die junge Frau hat ihnen das befohlen – merken wird er ja doch das Seinige! Aber vor mir hütet sich keiner, ich weiß es, Mamsellchen, ich weiß es schon lange! Und wenn ’mal zufällig der Herr und die junge Frau nicht da sind, hei, dann geht es Ihnen los, ein Spaß immer auf den andern, krank kann sich einer lachen –“

„Schämen soll sich einer, über so ’was zu lachen!“

„Ja, Sie sagen das so! Aber wenn der Trelow anfängt –“

„Der Hanswurst!“

„Ja, aber komisch ist er! Neulich, wie sie auch unter sich waren, hat er eine Tänzerin nachgemacht – die Damen kreischten immer!“

„Kann ich mir denken! Das Kreischen, das verstehen die aus dem Grunde! Da, das ist Frau Trelows Stimme! Wissen Sie nicht zufällig, Ewert, wo unser Herr steckt?“

„Im Treibhaus, Mamsellchen! Er sucht die Blumentöpfe heraus, die jetzt ins Freie gestellt werden sollen. Ich wollte ihm helfen, aber er litt es nicht, er sagte, Sie brauchten mich hier beim Flaschenspülen!“

„Ja, so himmlisch gut ist er immer und denkt an mich! Aber, Ewert, jetzt spülen Sie hübsch zu Ende, und ich geh’ ins Treibhaus und seh’ zu, ob mein Doktor allein drin ist! Und wenn er allein drin ist, dann steck’ ich ihm ein Licht auf!“

„Sie werden doch nicht sagen, Mamsellchen, daß ich gesagt hab’, was die mir gesagt haben?“

„Seien Sie ruhig! Auf mich kann sich einer schon verlassen.“

Damit trocknete sich Mamsellchen rasch die Hände ab und stieg aus dem Dämmerlicht des sogenannten Vorkellers empor in die Helle des Tages. Es war ein glühend heißer Augusttag. Um zum Gewächshaus zu gelangen, mußte man einen ziemlich beträchtlichen Teil des Gartens durchschreiten. Mamsellchen band sich die helle Schürze ab und warf sie zum Schutze gegen die sengenden Sonnenstrahlen über den Kopf. Aus einem schattigen Seitengang, der in einer Weinlaube endete, hörte sie das Toben und Lachen der lustigen Gesellschaft, Mineralwasserpfropfen knallten, und durch das Laubwerk schimmerten ein paar Hängematten, die ungestüm hin und her bewegt wurden.

Im Treibhaus herrschte eine dunstige feuchtwarme Luft, mit lauem Erdgeruch und betäubendem Blumenduft erfüllt. Cornelius Röder stand auf einer hohen Trittleiter und langte vorsichtig ein Begonientöpfchen nach dem andern herunter, um es auf ein tiefer hängendes Wandbrett zu stellen.

Mamsellchens Erscheinen schien ihm nicht sehr angenehm zu sein. Sie aber übersah mit einem Blick die Lage und frohlockte innerlich. Sie hatte ihn für sich allein – er konnte ihr nicht entgehen. Sorgfältig zog sie die Glasthür, die einen Ausblick ins [87] Freie gewährte, hinter sich zu und kam näher, um ihrem Herrn das bewußte Licht „aufzustecken“.

„Hm?“ machte der Doktor fragend, aber so billigen Kaufs wollte Mamsellchen ihn nicht davonkommen lassen.

„Guten Tag, Doktor!“ sagte sie ruhig.

Er seufzte ein wenig.

„Nun, was willst Du von mir, Alte? Geld?“

„Diesmal nicht. Ich denke, von dem Artikel hab’ ich Ihnen die letzte Zeit genug losgemacht! Nein, ich will bloß etwas fragen: werden die alle, die Fremden mein’ ich, noch lange hier bleiben?“

„Ich weiß nicht.“

„Haben sie nie ein Wort vom Abreisen gesagt?“

„Nein.“

„Dann bleiben sie auch hier, solange wir schön’ Wetter behalten, und das kann bis in den Oktober dauern.“

„Schon möglich.“

„Und wenn das so kommt, was werden Sie dabei thun?“

„Selbstverständlich nichts, Mamsellchen.“

„Sie werden es also leiden?“

„Ohne Zweifel.“

„So? Und die Wissenschaften? Und Ihre Arbeiten? Und Ihr Buch? Was soll daraus werden?“

„Das alles muß warten, bis es wieder still um mich ist!“ Damit setzte der Doktor das letzte Begonientöpfchen weg und begann bedächtig, von der Trittleiter herunterzusteigen.

„Können Sie sich aber denn über solche Gäste freuen? Können Ihnen die lieb sein? Leben Sie nicht in einer ganz andern Welt als all’ die Possenreißer?“

Wie zur Illustration von Mamsellchens Worten ging soeben Herr Trelow draußen würdevoll auf zwei hohen Stelzen vorüber. Er gewahrte die beiden hinter der Glasthür nicht und gab seinen Zuschauern eine unfreiwillige Schaustellung zum besten, indem er eine Stelze plötzlich fallen ließ und auf der andern weiterhüpfte, wozu er den Refrain eines bekannten Gassenhauers sang. Lautes Beifallsgeschrei, das aus der Tiefe des Gartens herüberscholl, belohnte ihn für diese Kunstleistung.

Doktor Röders Augen begegneten denen Mamsellchens, in welchen eine ausdrucksvolle Kritik zu lesen war. Sein Gesicht war sehr ernst. „Meine gute Alte, Du weißt, wie heilig meinen verstorbenen Eltern das Gastrecht war –“

„Gewiß, Doktor, ich weiß! Aber dann waren es gute Freunde oder Bekannte – sind das Ihre Freunde? Sie sind durch Frau Gabriele hierhergekommen –“

„Eben darum!“ fiel er nachdrücklich ein. „Es soll ihnen wohl hier sein, und sie sollen bleiben, so lange sie wollen. Frau Hartmann soll nicht denken, daß ich ihre Freunde nicht gern und willig bei mir aufnehme!“

„Glauben Sie, Doktor, daß unsere junge Frau, so apart und vornehm wie sie ist, mit denen befreundet sein kann? Das glauben Sie ja selbst nicht!“

Er schwieg eine kleine Weile, dann ermannte er sich. „Dem sei nun, wie ihm wolle – hier bleibt alles, wie es ist!“

„Aber wenn ich nun sehen muß, wie mein Herr nicht mehr arbeiten und nicht mehr Spazierengehen kann und nichts mehr thun, was ihn freut! Und sein ganzes schönes stilles Leben, das er sich so gewünscht hat, ist hin, unser ruhiges feines Haus wie ein Taubenschlag – und was für ’ne Sorte fliegt da aus und ein, – Herr Doktor werden doch wissen, daß das alles Leute vom Theater sind?“

„Woher hast Du das?“

„Gott, ich! Man braucht ja bloß ’nen Blick hinzuthun, dann hat man das weg! Und jetzt fällt es mir ein, damals wußt’ ich mir’s nicht recht zu deuten, aber einmal hab’ ich mit angehört, wie der Herr Schrader Frau Gabriele seine ‚liebe Kollegin‘ nannte und sie fragte, ob sie denn nie mehr zu ihrem Beruf –“

Weiter kam Mamsellchen nicht. Röder schnitt ihr mit einer energischen Gebärde das Wort ab. „Sprich nicht weiter, Mamsellchen! Ich wünsche nichts mehr davon zu hören. Das, was Du zufällig belauscht hast, ist weder für Dich noch für mich bestimmt gewesen, wir haben also nicht weiter darüber zu reden.“

„Aber können Sie das bloß glauben? Ich kann es nicht – nein, unsere zarte feine junge Frau – und eine vom Theater!“

„Was ich glaube und was Du denkst, fällt hierbei nicht ins Gewicht! Hattest Du sonst noch etwas zu fragen oder zu wünschen?“

„Ich? Gott, nein, wie sollt’ ich auch? Es war mir ja bloß darum zu thun –“

„Du kannst mir helfen, die Begonientöpfe in den Garten zu tragen – darum ist es mir jetzt zu thun!“

Die Alte sah ihm ins Gesicht und wußte genug. Das Herz zog sich in ihrer Brust zusammen, als sie die trüben Augen und den schmerzlichen Zug um den Mund sah. Eine alte Befürchtung, die sie schon gehegt hatte, noch ehe Frau Gabriele ins Haus gekommen war, stieg mit erneuter Stärke in ihr auf. Das fehlte ihrem Doktor noch – eine unglückliche Liebe! Das heißt, für Mamsellchen war es außer allem Zweifel, daß die junge Frau, sobald sie etwas von diesem Gefühl ahnte, es erwiderte, aber, du lieber Himmel, der Doktor konnte doch nie und nimmermehr „eine vom Theater“ heiraten! Der Begriff, den der alte Hausgeist mit diesem Wort verband, war so ungeheuerlich, daß ihr ein solcher Heiratsgedanke keinen Augenblick im Ernst kam. Für sie waren Seiltänzer, Cirkusreiter und Leute vom Theater ganz dasselbe, einen Unterschied kannte sie nicht.

Und so nahm sie ihre Schürze vors Gesicht, damit ihr Liebling es ja nicht sehen sollte, wie ihr die Augen feucht geworden waren, und dann trug sie ein Begonientöpfchen um das andere hinaus in den grellen blendenden Sonnenschein. Wozu nur die Sonne so wundervoll zu scheinen hatte!




11.

Am Mittagstisch ging es diesmal noch lärmender zu als sonst. Herr und Frau Trelow, oder, wie man sie hier fast nur nannte, „Adolfchen“ und „die schöne Miranda“, hatten gestern zufällig in der Stadt einige alte Bekannte aus früherer Zeit angetroffen, die auch mit dem Ehepaar Schrader und mit Konsky auf Du und Du standen – es hatte eine stürmische Erkennungs- und Begrüßungsscene gegeben, und nun wollte man heute irgend etwas gemeinschaftlich unternehmen. Es war einer der letzten Augusttage und so köstliches Wetter, wennschon etwas heiß – wer konnte wissen, wie bald die Witterung umschlug?

Aber nun wohin? Es entspann sich eine lebhafte Erörterung, so lebhaft, daß „Adolfchen“, um sich Gehör zu verschaffen in seine Kindertrompete, die er beständig bei sich trug, stoßen mußte. Das wirkte. Die Herren räsonnierten, die Damen hielten sich die Ohren zu und baten um Gnade. Der Trompeter hatte das Wort.

Er wußte einen wunderhübschen Vergnügungsort hier in der Nähe, mitten im Walde, ein kleiner See dabei – in einer Viertelstunde zu erreichen – vorzügliches Restaurant, kurz, ideal! Jemand meinte, das alles könne man ja weit bequemer hier in „Buen Retiro“ haben, Wald, See, ausgezeichnete Verpflegung – man lasse die Bekannten einfach hierherkommen, und die Sache sei fertig.

Röder stimmte kurz, aber höflich bei und stellte sein Haus wie den Garten zur Verfügung, allein seltsamerweise wollte weder Adolfchen, noch die schöne Miranda etwas davon wissen. Thatsache war, daß sich das Ehepaar Trelow in Buen Retiro doch immer einigen Zwang auferlegen mußte und danach strebte, auch einmal ohne jede Rücksicht auf den verbindlichen, sich stets in guten Formen bewegenden Hausherrn und Gabriele Hartmann, „die immer die Prinzessin spielen wolle“, sich bewegen zu können. Die alten, neuerdings aufgetauchten Bekannten waren auch keine Leute, die in den Rahmen von „Buen Retiro“ paßten, dieser Rahmen hatte immer seine Grenzen, und man lechzte danach, einmal so recht „grenzenlos“ vergnügt zu sein. Als daher Röder erklärte, er habe sich im Treibhause bei der Hitze Kopfweh geholt und könne sich an dem Ausflug nicht beteiligen, da ward diese Kunde zwar mit äußerlichem Bedauern aufgenommen, von den meisten jedoch mit Fassung ertragen. Es ergab sich, daß Telegraphieren oder sonstiges Benachrichtigen der in der Stadt Wartenden unnütz war, da „Adolfchen“ schon für alle Fälle seine Freunde nach dem besprochenen Vergnügungsort hinbestellt hatte, spätestens um halb fünf Uhr wollte man an Ort und Stelle sein.

Gabriele hatte gleich zu Anfang der Verhandlungen ihre Gegenwart zugesagt und nur halb erschreckt einen Augenblick aufgesehen, als der Herr des Hauses erklärte, daheim bleiben zu wollen. Seitdem hatte sie sich mit keinem Wort an dem Gespräch beteiligt, was weiter nicht auffiel, da die übrigen so lustig waren, daß niemand von ihnen den Beobachter spielte. Auch der Doktor war lebhafter, als es sonst seine Art war, er beauftragte Ewert [88] sogar, die paar Flaschen Champagner, die bisher im Keller gelegen hatten, heraufzubringen. Dafür erntete er nun stürmischen Beifall, das Wortspiel: „Röder, Röderer“ – wurde angesichts des Sekts, der die letztere Marke trug, mit besonderer Betonung zum besten gegeben, die Pfropfen flogen hoch gegen die Decke, die Damen schrieen auf, der perlende Schaum floß in die Gläser.

Trinkspruch folgte auf Trinkspruch, der Sekt that seine Schuldigkeit. Einmal sah Röder, wie Alfred Konsky, der wie immer Gabrielens Tischnachbar war und dem Wein lebhaft zugesprochen hatte, die Hand der jungen Frau, die neben ihm auf dem Tischtuch lag, ergriff, mit zärtlichem Druck festhielt und ihr mit ganz eigenem Ausdruck ein paar Worte zuflüsterte. Sie antwortete mit keiner Silbe, nur ihre großen blaugrauen Augen musterten ihn unter den breiten Lidern hervor mit einem so erstaunt messenden Blick und ihre Hand machte sich so rasch von der seinigen los, daß der unternehmende Herr sich ärgerlich auf die Lippe biß. Wie sie eigenartig und reizend war! Wie fein sich ihr Köpfchen mit dem lichtbraunen seidenen Haar auf dem schlanken Halse erhob und wie gut ihr das halb zerstreute Lächeln stand, das dann und wann um den lieblichen Mund schwebte! Sie war oft in Gedanken verloren, sie war es auch heute. Was hätte Cornelius drum gegeben, wenn er hätte wissen können, mit wem diese Gedanken sich beschäftigten! Konnte es immer und immer nur die Vergangenheit sein, die mit ihren Erinnerungen dies zarte Antlitz so reizvoll belebte, es gewissermaßen von innen heraus durchleuchtet erscheinen ließ? Nein und tausendmal nein! Diese mädchenhafte Jugend gehörte der Zukunft! Und sobald Cornelius Röder das dachte, zuckte es heiß auf in seinem Herzen und dann kam die Gewißheit, die unfehlbare Gewißheit: nicht für Dich! Niemals für Dich! –

Die Kindertrompete gab das Zeichen zum Aufbruch. Heiß und gerötet vom Wein, mit flackernden Augen und lachenden Lippen erhob sich alles von der Tafel. Der Hausherr bekam scherzhafte Verhaltungsmaßregeln, hübsch artig zu sein, das Haus gut zu hüten, keine Thorheiten zu begehen. Er ging mit Humor auf alles ein, er freute sich zu sehr auf das Alleinsein. Ein allgemeiner Wirrwar, ein Hin und Her von Fragen und Antworten – 0

„Aber Gabriele! Noch ohne Hut und Schirm! Und wir andern sind alle schon fertig! Wir werden zu spät kommen!“

Die schöne Miranda war sehr ungeduldig, sie brannte darauf, zu der Zusammenkunft aufzubrechen: sie hatte sich in Alfred Konskys Arm eingehängt, ihre Augen leuchteten wie zwei Brandraketen, ihr Fuß klopfte ungeduldig auf den Boden.

Gabriele war im Begriff, zu sagen: „Wie wär’s, wenn Ihr mich auch zu Hause ließet?“ Sie wußte, es würde sie heute niemand vermissen, und sie wäre tausendmal lieber hier geblieben, aber sie dachte an ihn, der heute aus seiner langentbehrten Einsamkeit ein Fest machen wollte, und mit einem Seufzer sagte sie sich, daß sie ihm auch nicht mehr sein konnte als die andern, und so schwieg sie und wandte sich, um Hut und Schirm zu holen.

Ein letztes Durcheinander von bunten Kleidern, geschwenkten Hüten, wehenden Tüchern, ein Händeschütteln, das dem zurückbleibenden Hausherrn die Rechte beinahe aus dem Gelenk riß, langsames Verhallen der Stimmen, Auftauchen heller Pünktchen da und dort, endlich alles still – still! Nur aus dem Hause ein gedämpftes Klirren von Tellern und Gläsern: Mamsellchen deckte mit Ewerts Hilfe den Tisch im Speisezimmer ab.

Cornelius atmete tief auf und wandte sich zurück, um einen Blick auf seine Villa zu werfen. „Buen Retiro!“ Ja, das war sie ihm gewesen – gewesen! Würde sie ihm wieder dasselbe werden wie damals, als er hier einzog, wenn all’ die Fremden, all’ die gleichgültigen Menschen sie verlassen haben würden – und Gabriele mit ihnen?? – Es war ihm plötzlich, als sei diese Villa, die er fast wie einen lebenden Freund geliebt, doch nichts weiter denn ein toter Besitz, für Geld zu nehmen und hinzugeben wie tausend andere Dinge. Aber er war doch so glücklich hier! Wirklich? Konnte das „Glück“ genannt werden, dies Gefühl der Ruhe, des Geborgenseins, das Bewußtsein, nichts weiter von der Welt zu wollen, als daß sie ihn in Frieden ließ? Glück! Glück mußte es sein, den Arm um die mädchenhafte Gestalt im weißen Kleide legen zu können, das zierliche Köpfchen mit dem hellbraunen Haar an seiner Brust ruhen zu fühlen, die schmale Hand in der seinen – und dazu sprechen zu können: Du bleibst mein! – Das, ja, das wäre eine „gute Zuflucht“ vor der Welt, das wäre ein glückliches Heim!

Er umging langsam im Bogen die Villa, ohne der glühenden Sonne zu achten, die auf seinen Scheitel herabbrannte, und schritt dem Walde zu. Wieder stieg die erste schöne Zeit vor ihm auf, da er Gabriele für sich allein gehabt hatte, und jener Gewittertag und der Abend, da er sie zum erstenmal singen gehört! Was wollte er denn? Gabrielens Wunsch war erfüllt, sie hatte sich gestärkt und gekräftigt hier – er und seine Villa, sie hatten beide ihre Schuldigkeit gethan!

Gabriele und das Theater. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, er kam ihm immer wieder. Er hatte ja gewiß kein Vorurteil gegen die Bühne und wahrhaftig, es gab Schauspieler und Schauspielerinnen genug, welche das alte bürgerliche Vorurteil gegen den Stand in glänzender Weise widerlegten. Aber Gabriele, wie er sie kannte, schien ihm so ungeeignet wie nur möglich, gerade diesen Beruf auszufüllen. Wenn sie aber mit ihm nicht darüber sprach, ihn ihres Vertrauens nicht für wert hielt, seinen Rat über die Gestaltung ihrer Zukunft nicht begehrte … er konnte sich nicht gewaltsam in ihr Vertrauen drängen!

Im Walde hatte die Hitze des Tages sich so gesammelt, daß es dem einsamen Wanderer vor den Augen zu flimmern begann. Erst in der Nähe des Baches wehte es etwas erfrischender. Röder ließ sich dort auf einen großen moosüberzogenen Stein nieder und sann lange nach. Er mußte an jenen Frühlingsabend denken, als er den Brief an seinen Freund Herzog geschrieben hatte und dann den Wald durchstreifte, so in sich gefestigt, so eins mit sich.

„Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt!“

So hatte es damals in ihm geklungen, und er hatte gemeint, daß kaum eine einzelne müde Welle aus dem Ocean des Lebens an sein weltentrücktes Ufer plätschern würde! Jetzt, wenige Monate später – wie viel krause rauschende Wogen hatten sein stilles Heim, sein resigniertes Herz umbrandet! Der Lenz war dahin, der Sommer ging, der Herbst kam – der Herbst! Er senkte sein Haupt und ging nach der Villa zurück.

Als er durch den Garten kam, war die Sonne fast schon hinunter. Durch das Blättergewirr stahlen sich ein paar schwache goldige Reflexe, wie müde Augen, die einen Scheidegruß sagen. Ein einförmig flötendes Vögelchen schickte einem Genossen sein Abendlied zu. Schmachtend nach einem Tröpflein Abendtau, öffneten die Blumen ihre Kelche.

Es gab ein schwermütiges verstecktes Plätzchen im Garten von „Buen Retiro“, eine plumpe kleine Bank ohne Lehne unter einer riesigen Traueresche, die auf einer leichten Bodenerhöhung stand. Viel Aussicht gab es von da nicht zu bewundern, die Bäume und Gebüsche traten ziemlich dicht zusammen, und Blumen wuchsen dort gar nicht. Der Platz war aber auch in der heißesten Sonnenglut schattig, überdies so abseits gelegen, daß er nicht leicht zu finden war. Daher hatte Gabriele ihn zu ihrem Lieblingsaufenthalt erkoren, und Röder, der das wußte, hatte zuweilen im stillen sein Vergnügen daran gehabt, wenn die andern die junge Frau suchten, sie laut beim Namen riefen und Mutmaßungen anstellten, wo sie geblieben sein könne. Wenn sie dann nach langer Zeit zum Vorschein kam und auf alle Fragen und Ausrufe, wo sie gewesen sei, ruhig erwiderte „Im Garten!“, dann trafen ihre Augen und die des Hausherrn in lächelndem Einverständnis zusammen, und er hütete sich wohl, ihr kleines Geheimnis zu verraten.

Hierher lenkte Cornelius Röder seine Schritte an diesem schwülen Augustabend. Konnte er doch sicher sein, heute niemand dort anzutreffen. Wie er aber vom geraden Gartenweg ablenkte und rechts einbog, schimmerte es hell am Fuße der Traueresche, ein weißes Frauenkleid – und ohne noch die Gestalt und das Gesicht zu erkennen, wußte der Herankommende augenblicklich, wen er vor sich habe. Unwillkürlich machte er eine Bewegung, wieder umzukehren, aber die junge Frau hatte ihn gesehen und blickte ihn an, als habe sie schon lange auf sein Erscheinen gewartet. Es blieb ihm nichts andres übrig, als näher zu kommen.

„Sie sind zurückgekehrt? Sie sind nicht bei der Gesellschaft?“

Das waren zwei wenig geistreiche und vollkommen überflüssige Fragen, denn er sah ja, was er fragte, aber Cornelius hatte bei Gabrielens unerwartetem Anblick einen heftigen Schreck empfunden, das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf … er wußte nicht, was er sprach.

Auch sie war nicht so ruhig und sicher wie sonst.

„Ja – ich – ich kam zurück, weil – haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?“ Sie rückte seitwärts; er antwortete mit einer stummen Verneigung und nahm neben ihr Platz.

(Schluß folgt.)
[89]

Schlittenwettfahrt auf der Rückkehr vom Markt.
Nach dem Gemälde von T. Rybkowski.

[90]

Der Accumulator.

Von Franz Bendt.

Wie allbekannt, beginnt der Aufschwung der neueren Technik mit der Erfindung und der Ausgestaltung der Dampfmaschinen. Auch schon vordem besaß der Mensch Arbeitsvorrichtungen der verschiedensten Art, und geschickt verstand er die Fallkraft des Wassers und den Druck der Luft seinen Zwecken dienstbar zu machen. Aber erst durch die Dampfkraft ist die Maschine unabhängig von den zufälligen Kraftquellen, die sich am Orte befinden, gemacht worden. Die kondensierten Sonnenstrahlen, die im Boden der Erde als Kohlen schlummern, bergen unermeßliche Kräfte in sich, die beliebig fortbewegt werden können und ihre Energie jederzeit zur Verfügung stellen. Durch die Kraft der Kohle wurden daher Bewegungsmaschinen, wie es z. B. die Lokomotive ist, möglich. Jedoch die Kohle – dieser natürliche Accumulator, d. h. Aufsammler – hat in ihrer Fülle eine Grenze, und die Zeit wird kommen, wo die Kohlenlager der Erde erschöpft sein werden! Doch auch abgesehen von dieser Gefahr haftet der Dampftechnik eine große Zahl von Übelständen an, von denen die Verbreitung von Ruß, Rauch und Hitze nicht die einzigen sind.

Mit der Entwicklung der Elektrotechnik während des letzten Viertels unseres Jahrhunderts hat sich die Technik von neuem verjüngt. Vermittelst der Methode der elektrischen Kraftübertragung, unter Benutzung der Dynamomaschine, können nunmehr alle Bewegungskräfte in der weiten Welt gebrauchstüchtig gemacht werden, gleichgültig, ob sie sich in der Kraft des Wasserfalles, im Stoß des Windes oder im Auf- und Niederstrom von Flut und Ebbe offenbaren. Man ist imstande, die mechanischen Kräfte, die die Natur uns zumeist direkt bietet, in Elektricität zu verwandeln. Und diese wiederum ist fähig, Wärme, Licht und mechanische und chemische Kraftäußerungen zu veranlassen; überhaupt jede Energieform anzunehmen, welche wünschenswert erscheint. Die Elektrotechnik geht in ihren Wirkungen also weit über die Dampftechnik hinaus; sie giebt dem Menschen Gewalt über alle Kräfte, die unsere Erde birgt, und macht ihn erst wirklich zum Herrn des Planeten.

Auch die Strom-Erzeugerin, die Dynamomaschine, bedarf zu ihrer Bewegung einer Betriebskraft. Die Elektrotechnik kann dann erst allen Anforderungen genügen, wenn sie über ein der Kohle entsprechendes Kraftreservoir verfügt, das die elektrische Energie gleichsam beweglich macht und unabhängig vom Orte. Das Genie der modernen Techniker hat einen solchen Apparat in den Accumulatoren geschaffen!

Ein Accumulator ist ein Mechanismus, in dem elektrische Kräfte aufgespeichert und für beliebige Zeit bewahrt werden können. Wenn man bedenkt, daß alle Energie, die auf der Erde wirkt, ein Geschenk der Sonne ist, so können die Accumulatoren als Vorrichtungen betrachtet werden, die mit Sonnenstrahlen geladen sind.

Ein Accumulator.

Auch der Accumulator ist nicht unvorbereitet dem Menschengeschlecht geschenkt worden. Aus einer großen Anzahl von Apparaten hat sich dieser moderne Zauberkasten nach und nach entwickelt. Seine unmittelbaren Vorfahren besitzt man seit lange in den allbekannten galvanischen Elementen, welche bisher die Ströme für die Telegraphen lieferten, die sich in unseren Klingelapparaten befinden und sonst so mannigfache Verwendung gefunden haben. Wir erinnern nur an die galvanischen Batterien von Daniel, Bunsen und Leclanchez. In diesen wird zumeist durch die Berührung von Metallen und Säuren ein chemischer Zustand erzeugt, der sich in Form elektrischer Ströme äußert. Ist auch der Accumulator, wie wir bemerkten, eine naturgemäße Folge dieser Einrichtungen, so war es doch auch hier, wie so häufig bei ähnlichen Erfindungen, eine zufällige Beobachtung, die, von kundigem Auge verfolgt, den Anstoß zu dem neuen Apparate gab. Bei einem gelegentlichen Versuche hatte Sinsteden bemerkt, daß Bleiplatten, die in einer Säurelösung stehen und die ein elektrischer Strom längere Zeit durchfließt, selbst die Fähigkeit erhalten, Strom zu spenden, wenn man sie durch einen Kupferdraht verbindet. Auf den unbefangenen Beobachter wirkt dieser Vorgang, als ob die erzeugenden Ströme sich in die Platten festgesaugt hätten, dort ruhen und durch den Zwang einer neuen Verbindung wieder zum thätigen Leben erweckt würden. Es bedurfte vieler Arbeit, ehe die merkwürdige Erscheinung unter der Hand genialer Experimentatoren zu einer praktischen Schöpfung ausgebildet wurde.

Der Ruhm der Erfindung wirksamer Accumulatoren gebührt dem französischen Physiker Planté, der schon im Jahre 1860 einen praktischen Apparat herstellte, aber erst 1879 mit der vollendeten Erfindung vor die Oeffentlichkeit trat, nachdem durch unseren Werner von Siemens die Dynamomaschine erfunden worden war, und sich damit die Möglichkeit ergab, auf billige Weise elektrische Ströme von beliebiger Stärke aller Orten zu erzeugen. Wie unsere Zeichnung veranschaulicht, besteht solch ein elektrischer Kraftsammler aus einem Glasgefäß, in dem sich eine Anzahl Bleiplatten aufgestellt findet. Der übrige Raum ist ganz mit Säure ausgefüllt.

Als Planté sich um die Konstruktion und Verbesserung der Accumulatoren bemühte, trug er sich mit der Absicht, eine bessere Stromquelle für die Telegraphie zu schaffen, als man sie in den oben erwähnten galvanischen Batterien bereits besaß, Aber erst in jüngster Zeit wurden die genannten Apparate für diesen wichtigen Teil der Technik bedeutungsvoll; und das verdankt man hauptsächlich den Ingenieuren der deutschen Reichspost. Es sind ökonomische und praktische Vorteile, welche die Einführung der „Sammler“ in den Telegraphenbetrieb wünschenswert gemacht haben. So bedurfte man beispielsweise früher zum Betrieb des Haupttelegraphenamtes in Berlin 12770 der alten Kupferelemente, deren Preis etwa 14000 Mark beträgt. Die Aufstellung einer so bedeutenden Anzahl von Batterien erforderte einen sehr großen Raum und ihre Wartung ein umfangreiches Beamtenpersonal. Dieselbe Leistung wird jetzt im Haupttelegraphenamte mit 170 relativ kleinen Accumulatoren erzielt, zu deren Wartung ein Mann ausreicht. Auch zur Strombeschickung der Klingelapparate im Telephonverkehr ging man vielfach mit Vorteil zu den Plantéschen Apparaten über.

Von großer Bedeutung ist die Verwendung des Sammlers in der elektrischen Beleuchtung. Das Licht, das der Accumulator erzeugt, zeichnet sich durch große Ruhe aus, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, daß ein so hervorgerufener Strom nicht von den Schwankungen der Maschine abhängt. Durch den Accumulator wird es möglich, allüberall, auch dort wo keine elektrischen Centralen sich vorfinden, das elektrische Licht einzuführen. So hat z. B. die Firma Siemens und Halske in Wien ein Institut geschaffen, welches geladene Accumulatoren an Villenbesitzer in der Wiener Vorstadt gegen ein Billiges versendet und somit einem jeden die elektrische Beleuchtung innerhalb seiner Häuslichkeit zugänglich macht.

Einen bemerkenswerten ökonomischen Vorteil bieten in den Weltstädten die Accumulatoren den großen elektrischen Centralen, die zum Zwecke der Beleuchtung begründet wurden. Am interessantesten und bedeutungsvollsten sind die Anlagen in der deutschen Reichshauptstadt. Sie besitzt fünf Centralen größter Form. In vier derselben sind riesige Dynamomaschinen aufgestellt, die die Ströme erzeugen, welche Berlin mit Licht versorgen. Die fünfte Station wurde erst vor einem Jahre im Tiergartenviertel errichtet, und sie dient dazu, die Privatwohnungen jener Gegend elektrisch zu erleuchten. Der Bedarf beschränkt sich hier im allgemeinen auf wenige Stunden täglich. Es wäre daher wenig vorteilhaft gewesen, wenn man auch diese Station mit Dynamomaschinen ausgerüstet hätte. Großmaschinen sind nur ökonomisch, wenn sie sich möglichst ununterbrochen in Thätigkeit befinden. Die Station ist daher mit Accumulatoren ausgerüstet. Hier stehen in drei mächtigen Sälen 138 Elemente der größten Form. Am Tage, wenn auch die übrigen Stationen nur wenig belastet sind, verwenden sie einen Teil ihrer überflüssigen Kraft, um die Accumulatoren der fünften Station zu laden. Und am Abend, wenn das Lichtbedürfnis beginnt, senden nunmehr die merkwürdigen [91] Zauberkräften ihre aufgespeicherten Ströme in die Leitungen und schaffen Licht.

So unscheinbar äußerlich eine Accumulatorenanstalt auch ausschaut, ein merkwürdiges Ding ist sie doch bei näherer Betrachtung. Rauscht und klappert es auf den mit Dynamomaschinen ausgestatteten Centralen wie in der Werkstatt Vulkans, herrscht überall Leben, so stellt eine Accumulatorenstation dagegen ein Bild vollkommener Ruhe dar. In langen Reihen sind hier die mit Säuren und Platten gefüllten Gefäße aufgestellt. In einigen Elementen kocht es, aber auch nur ruhig und gesetzt. Die Zelle ist geladen, in der die Gasblasen aufsteigen. Sonst aber hört man nur den Schlag irgend eines Hebels, der sich selbständig einstellt. Zur Wartung des sechsstöckigen Hauses dient ein Beamter. Doch auch er ist für den Betrieb des Ganzen nicht notwendig, denn alles wirkt hier automatisch. Das Genie des Technikers hat jedes Ereignis voraus berechnet und dafür gesorgt, daß es selbstthätig erfüllt wird. Und dennoch, was für Kräfte schlummern hier! Die erzeugte elektrische Energie ist auf der Station im Tiergartenviertel von Berlin imstande, allein 4800 gleichzeitig brennende Lampen, deren jede einer Lichtstärke von 16 Kerzen entspricht, mit Strom zu beschicken. Man bezeichnet die technische Wissenschaft zuweilen als kalt und nüchtern; liegt aber nicht ein eigentümlich geheimnisvoller Zauber über der Accumulatorenstation mit ihren still wirkenden und doch so mächtigen Kraftäußerungen? –

Zu den Unglücksfällen, welche die unentbehrlichen neuen Kulturmittel leider auch im Gefolge haben, gehören neuerdings vielfach die Zugbrände. Sie werden zumeist durch die bisher verwendeten Beleuchtungsquellen veranlaßt oder doch vermehrt. Bekanntlich verwendet man auf fast allen Bahnstrecken augenblicklich noch die Fettgaslampe. Neben ihren gefahrbringenden Eigenschaften entspricht diese Methode auch nicht mehr den Anforderungen, die der moderne Mensch an die Beleuchtung stellt; ist es doch fast unmöglich, längere Zeit bei der jetzigen Beleuchtung ohne starke Anstrengung der Augen zu lesen. Schon oft ist daher wiederholt der Wunsch nach elektrischer Zugbeleuchtung ausgesprochen worden. Mit unseren neuen vortrefflichen Accumulatoren ist man in der That fähig, diesem Wunsche leicht gerecht zu werden, und auf mehreren Bahnstrecken haben sich die Versuche vortrefflich bewährt. Es bedient sich beispielsweise seit etwa einem Jahre die Kaiser Ferdinand-Nordbahn in Oesterreich der Accumulatoren zur elektrischen Beleuchtung, und seit fünf Jahren erfreut sich die Strecke Savona-Navarra in Italien elektrisch erleuchteter Züge. Auch im kleinen Dänemark wird seit zwei Jahren in acht Schnellzügen das elektrische Licht angewendet. Die Einrichtung dürfte aus dem Grunde allgemein leicht einführbar sein, daß die Kosten nicht höher sind als die der alten Fettgasbeleuchtung. Nach den kürzlich veröffentlichten Betriebsergebnissen der Dortmund–Gronau–Enscheder Bahnverwaltung in den Wintermonaten 1893 bis 1894 hat die elektrische Beleuchtung gegen die Fettgasbeleuchtung sogar eine Ersparnis von 34 Prozent ergeben. Die Reichspostverwaltung entschloß sich daher, ihren Dienstwagen das elektrische Licht zu geben. Die Passagierwagen scheinen vorläufig noch in der Düsternis verharren zu sollen.

Auch die Bergingenieure sind durch die Gefahr, welche die älteren Beleuchtungsarten in sich bergen, dem elektrischen Lichte zugeführt worden. Bekanntlich tritt die Zündung der schlagenden Wetter zumeist dadurch ein, daß der Bergmann den schützenden Mantel seiner Lampe – der sogenannten Davylampe – löst und dadurch die gefährlichen Gase mit der Flamme in Berührung bringt. In englischen und amerikanischen Gruben hat man die unterirdischen Räume mit Glühlicht versehen. Solche Anlagen sind aber immerhin nicht wohlfeil und übersteigen für viele kleine Gruben in Deutschland die Grenzen, welche einem wirtschaftlichen Betrieb gezogen sind. Auch hier hat der Accumulator sich als Retter in der Not eingestellt. Der Elektrotechniker Vorster in Jena konstruierte vor kurzem Grubenlampen, die hauptsächlich aus einem kleinen leichten Accumulator von praktischer Form bestehen. In seiner Höhlung befindet sich eine Glühlampe, die der Accumulator speist; wird durch einen Zufall die Glasbirne zerschmettert, dann erlischt, wie bekannt, im Augenblick die Lampe, und die Gefahr einer Zündung ist somit ausgeschlossen.

Noch auf einem anderen Gebiete zeigt sich der Accumulator als ein Hilfsmittel in Unglücksfällen. Ein jedes größere Schiff führt bekanntlich sogenannte Rettungsbojen mit sich, um „dem Mann über Bord“ die Möglichkeit zu geben, sicher und schnell dem nassen Elemente zu entfliehen. In der Regel besteht eine solche Vorrichtung aus einem größeren Balle, der an einer Leine befestigt und fähig ist, einen Mann zu tragen. In dunklen Nächten waren diese Rettungsapparate, wie begreiflich, nur wenig verwendbar. Man versieht jetzt die Rettungsbojen mit einer Glühlampe größter Form, nebst einem Accumulator, und hat die Schaltung so vollzogen, daß die Glühlampe in dem Augenblick, wo die Boje den Wasserspiegel berührt, ihre Thätigkeit von selbst beginnt und mit ihren Strahlen weithin das Meer erhellt.

Wo elektrische Ströme zur Verfügung stehen, da sind auch Kräfte aller Art zu erwecken. Der stromerzeugende Accumulator kann somit nicht allein Licht, sondern auch mechanische Arbeit veranlassen. Er ist denn auch vielfach zur Bewegung von Maschinen der verschiedensten Art verwendet worden. – Eine Dynamomaschine besteht hauptsächlich aus einer Anzahl großer Elektromagnete, zwischen denen sich ein beweglicher Teil, der sogenannte Anker, dreht. Schickt man nun elektrische Ströme – wie sie beispielsweise unser Accumulator entwickelt – in die Elektromagnete, dann rotiert der Anker und ist imstande, Räder zu drehen und Maschinen in Bewegung zu setzen. Eine Dynamomaschine, die dieses vermag, nennt man einen Motor.

Von den durch Motoren bewirkten Betriebsanstalten stehen augenblicklich die elektrischen Eisenbahnen im Vordergrunde des Interesses. Zum größten Teil – wie man es in Halle, Bremen, Hamburg und an vielen anderen Orten beobachten kann – wird der Motor, der sich immer unterhalb eines elektrisch betriebenen Wagens vorfindet, dadurch bewegt, daß man durch oberirdische oder unterirdische Drähte ihm Strom von irgend einer elektrischen Centrale aus zuleitet. Diese modernen Transportmittel haben sich vortrefflich bewährt. Sie können aber deshalb nicht als technisch vollendet betrachtet werden, weil die stromführenden Leitungsdrähte das architektonische Bild der Straße stören und überhaupt dem ganzen System etwas Schwerfälliges verleihen. Das war u. a. der Grund, weshalb man in der Vaterstadt der elektrischen Bahnen, in Berlin selbst, sich nicht zur Einführung derselben entschließen konnte, so dringend auch dafür der Bedarf des Verkehres spricht. Seit längerer Zeit hat man sich nun mit dem Plane getragen, die elektrischen Bahnen mit Accumulatoren zu betreiben. Es ist dabei nur erforderlich, eine entsprechende Anzahl unserer Kraftkästen unter die Sitzbänke der Wagen einzustellen und sie mit dem Bewegungsmechanismus zu verbinden. Dann rollt der Wagen als ein selbständiges Ganzes dahin, ohne Draht und ohne Rückleitung! Bis vor kurzem waren die Accumulatoren zu schwer und auch in ihrem ganzen Gefüge nicht genügend technisch durchgebildet, um diesen Zwecken mit Vorteil dienen zu können. Die Accumulatorentechniker sind aber nunmehr zu Formen gelangt, denen die Uebelstände nicht mehr anhaften, und damit ist das Kapitel „elektrische Bahnen“ in ein neues Stadium getreten. Auf verschiedene Weise hat man versucht, bewegliche Accumulatoren zu schaffen. Man ersetzte z. B. die flüssige Masse durch einen gelatinösen Körper, der aus Wasserglas, Schwefelsäure und Asbest besteht. Vortreffliche Erfahrungen mit Accumulatoren für Bahnen erzielte man in New York. Dort wurde von der Stadtverwaltung die oberirdische Stromzuführung verboten, und die Bahngesellschaften mußten sich notgedrungen der Accumulatoren bedienen. Der Zwang hat, wie so oft, auch hier zu vortrefflichen Neuerungen geführt. Die amerikanischen Accumulatoren bestehen aus verzinktem Eisenblech und Platten aus Kupferdrähten, die gemeinsam in einer Alkalilösung stehen. Sie sind hinreichend leicht und leistungsfähig und entsprechen durchaus den Anfordernden der Bahntechniker.

Nunmehr regt’s sich allüberall in den Kreisen der Elektriker, und ein heftiger Kampf ist entbrannt zwischen den Vertretern der alten Methoden der oberirdischen Stromzuführung und den Verehrern der Accumulatoren. Ein Kampf, aus dem vermutlich die letzteren als Sieger hervorgehen werden. Eine elektrische Bahn in großem Maßstabe, die ihren Antrieb durch Accumulatoren empfängt, wurde vor einiger Zeit in Paris eingerichtet. Sie geht von Paris nach St. Denis. Ihre Wagen fassen, wie die größten Pferdebahnfahrzeuge, 52 Personen. Sie bewegen sich innerhalb der Stadt mit 12 Kilometern und außerhalb der Stadtgrenzen mit 16 Kilometern Geschwindigkeit in der Stunde. Außerhalb der [92] Stadt hängt man ihnen zudem noch einen zweiten Wagen an. Während eines Tages durchläuft der Wagen 135 Kilometer. Unterhalb der Sitze eines vollständig mit den Bewegungsmaschinen ausgerüsteten Fahrzeuges befindet sich eine Accumulatorenbatterie, die aus 108 Zellen besteht. Sie wiegt mit allem Zubehör 2760 Kilogramm. Die Anlage in Paris ist deshalb besonders bemerkenswert, weil sich die Strecke bald senkt und bald hebt, also ungünstigen Bedingungen zu genügen hat.

Der Spürsinn der Elektriker hat übrigens versucht, aus dieser Schwierigkeit wiederum einen Vorteil zu gewinnen. Rollt der Wagen einen Berg hinunter, dann ist die Dynamomaschine unbeschäftigt. Sie empfängt durch die Drehung der Triebräder Bewegung, kann also Strom erzeugen und hierdurch wiederum die Accumulatoren laden. Doch das ist vorläufig noch Projekt! Am bedeutungsvollsten bei allen Neueinführungen dieser Art ist ihre wirtschaftliche Seite. Bei der Pariser Bahn ist das finanzielle Ergebnis ein sehr günstiges. Für den Kilometer betragen die Kosten im elektrischen Betriebe 4,24 Mark gegen 4,48 Mark beim Pferdebetrieb. Der Pferdebetrieb der Allgemeinen Omnibusgesellschaft in Paris beträgt sogar 4,8 Mark für den Kilometer. Die Folge ist, daß der Fahrpreis für die mit Accumulatoren betriebenen Fahrzeuge sich verhältnismäßig sehr niedrig stellt, und zwar 8,8 Pfennig für den Kilometer und die Person. Die Pferdebahn nimmt für die gleiche Strecke 12 Pfennig. Innerhalb der französischen Hauptstadt werden jährlich durch die Pferdebahn etwa 50 Millionen Kilometer befahren. Mit Accumulatorenbetrieb würden sich die Jahreseinnahmen somit um zwei Millionen Mark erhöhen.

Auch in Berlin ist man gegenwärtig mit Versuchen beschäftigt, um zu ermitteln, ob sich der Accumulatorenbetrieb für deutsche Verhältnisse eignet. Die Versuche sind gut ausgefallen; hoffentlich wird die Reichshauptstadt mit der Einführung von Accumulatorenbahnen den deutschen Städten mit gutem Beispiel vorangehen.

Durch den Accumulator ist das Fahrzeug von der den elektrischen Strom erzeugenden Station gelöst und es wird nunmehr auch möglich sein, einzelne Wagen, die etwa unseren Droschken, dem Omnibus, dem Kremser ähneln, den Antrieb durch Accumulatoren zu verleihen und sie damit unseren Wünschen entsprechend in ein mechanisch getriebenes Fahrzeug umzugestalten. In der That sind denn auch bereits in London und anderen Städten elektrisch betriebene Omnibusse in Betrieb.

Von ähnlicher Bedeutung wie die elektrischen Eisenbahnen sind die elektrisch betriebenen Boote. Diese Fahrzeuge, welche in größerer Menge auf der Weltausstellung in Chicago, aber auch schon auf der Elektrischen Ausstellung in Frankfurt a. M. vorgeführt wurden, haben gezeigt, daß sie reif sind, jede Konkurrenz auszuhalten. Die Einrichtung eines solchen Fahrzeuges weicht nicht viel von derjenigen der elektrisch bewegten Wagen ab. Auch hier haben wir eine Dynamomaschine, die als Motor wirkt und deren Anker direkt mit der Schiffsschraube in Verbindung steht. Eine entsprechend große Batterie von Accumulatoren liefert den Strom zur Bewegung des Motors. Genau betrachtet, sind die „Sammler“ für den Bootsbetrieb ganz besonders geeignet. Sie dienen zugleich als Ballast und können in jeder gewünschten Form Aufstellung finden. Ihre Last wirkt also nicht störend wie bei den elektrischen Bahnen. Eine andere vortreffliche technische Eigenschaft ist es ferner, daß die Achse des Ankers direkt mit der Schiffsschraube in Verbindung stehen kann. Dadurch wird die Bewegung sehr regelmäßig und fast geräuschlos. Und damit sind die Vorteile der elektrischen Betriebsart den anderen Methoden gegenüber noch. keineswegs erschöpft: das elektrische Boot ist frei von Dampf, Ruß und Hitze, die Maschinenteile bedürfen keiner Schmiermittel und der üble Dunst von Petroleum oder Benzin beleidigt nicht die Geruchsorgane der Fahrgäste. Die von dem hervorragendsten Ingenieur auf diesem Felde, Reckenzaun, erbauten Boote zu Chicago bewegten sich mit einer. Geschwindigkeit von 10 bis 13 Kilometern in der Stunde. Sie können aber doppelt so große Geschwindigkeit erreichen. Sie haben eine Länge von 11 Metern, eine Breite von fast 2 Metern und einen Tiefgang von etwa 66 Centimetern. Unter den Sitzplätzen der Fahrgäste befinden sich 72 stromerzeugende Accumulatoren, die ein Gesamtgewicht von 1300 Kilogramm darstellen. Ein solches Boot kann 32 Personen und 2 Mann Bedienung aufnehmen. Neuestens hat man sich bemüht, die Geschwindigkeit der neuen Fahrzeuge durch genaueste Anpassung an das neue Betriebsmittel zu erhöhen. So besitzt die Accumulatoren-Gesellschaft zu Hagen ein kleines elektrisches Probeboot, das wie ein Pfeil dahinschnellt und allen übrigen mit Dampf betriebenen Schiffen den Rang abläuft.

Daß sich ein Fahrzeug mit solchen Eigenschaften vortrefflich für Kriegszwecke eignet, ist wohl nicht nötig, des weiteren auseinanderzusetzen. In der That hat man denn auch bereits vielfach Versuche gemacht, Torpedobooten, die sich möglichst geräuschlos und schnell bewegen sollen, auf elektrischem Wege, d. h. durch Accumulatoren, ihren Antrieb zu verleihen. Es wurden dabei Konstruktionen ausgeführt, die das höchste Interesse verdienen. Eigentümliche Kriegsfahrzeuge sind beispielsweise die in verschiedenen Typen entworfenen Unterseeboote, welche sich je nach Belieben oberhalb oder unterhalb des Wasserspiegels bewegen können. Am bekanntesten von ihnen ist der in England erbaute „Nautilus“ und das ganz elektrisch eingerichtete französische Kriegsboot „Gymnote“. Der Mangel aller dieser Fahrzeuge liegt bisher darin, daß ihre Geschwindigkeit nur eine relativ geringe ist. Es werden fortdauernd von den Marineverwaltungen aller Staaten Experimente mit Unterseebooten angestellt, deren Ergebnisse jedoch aus guten Gründen nicht veröffentlicht werden. Neben den ganz versenkbaren Kriegsbooten hat man halb versenkbare konstruiert, die gleichfalls durch Accumulatoren ihren Antrieb erhalten und sich vortrefflich zu Torpedoschleuderern eignen.

Auch in anderen Zweigen der Kriegstechnik bedient man sich jetzt mit Vorliebe der Accumulatoren. Man gab ihnen aus diesem Grunde eine möglichst handliche und bequeme Form, so daß sie der Fußsoldat im Tornister und der Kavallerist auf dem Pferde bequem mit sich führen kann. So hat man eine kriegstüchtige Batterie für den Telegraphen und zur Beschickung von Signallichtern und Scheinwerfern, wie sie jetzt allüberall bei den Manövern zur Verwendung gelangen.

Wir möchten noch einer Anwendung des „Sammlers“ gedenken, die allerdings einem etwas phantastischen Gebiete zugehört. Die Erfinder, die sich mit der Konstruktion lenkbarer Luftschiffe beschäftigen, pflegen bei ihren Plänen als zukünftige Betriebskraft sich auf den Accumulator zu berufen. Er könnte allerdings in Verbindung mit einem leichten Motor zur Lösung des vielumworbenen Problems viel beitragen. Leider ist an eine Erfüllung dieses Wunsches vorläufig nicht zu denken.

Nachdem wir nunmehr in großen Zügen die verschiedenen Anwendungsformen des Accumulators betrachtet haben, ist es Zeit, zum Schluß noch seine Technik selbst uns in Kürze zu veranschaulichen. Gewiß ist die Beschäftigung mit einer so wertvollen und für die Zukunft so bedeutungsvollen Vorrichtung den Lesern der „Gartenlaube“ interessant genug, um auch die Dürre einer technischen Schilderung mit in Kauf zu nehmen.

In seiner einfachsten Konstruktion besteht ein Accumulator aus zwei Bleiplatten, die sich in einer Lösung von verdünnter Schwefelsäure befinden. Man verbindet die beiden Platten mit den Polen einer Dynamomaschine oder einer galvanischen Batterie und schickt den Strom durch die Vorrichtung. Der elektrische Strom zerreißt die Bestandteile der Flüssigkeit und zwingt sie sodann wiederum, sich mit dem Blei innig zu verbinden. Ist die Ladung des Sammlers vollendet, dann erscheint die eine Platte mit einer blauschwarzen Masse überzogen, die der Chemiker als Bleiüberoxyd bezeichnet. Die andere Platte hat sich mit einer schwammartigen Masse bedeckt, die Bleischwamm genannt wird. So einfach verläuft jedoch der Vorgang nicht, wie wir ihn hier schildern, sondern Planté mußte, um die Ladung zu erzielen, sich einer ganzen Reihe eigentümlicher Kunstgriffe bedienen. Hatte der Strom einige Wochen hindurch den zukünftigen Accumulator in einer bestimmten Richtung durchflossen, dann schaltete der Erfinder den Strom aus und ließ die Vorrichtung ruhen. Nach dieser Pause wurde der Strom von neuem durch die Kombination gesendet, aber in der entgegengesetzten Richtung wie vordem. In dieser Weise muß mehrere Jahre hindurch in dauerndem Richtungswechsel und entsprechenden Pausen der Apparat beschickt werden. Ist das geschehen, hat der Apparat das oben geschilderte Aussehen erhalten, dann ist er zum Gebrauche fertig und giebt nunmehr einen sehr gleichmäßigen Strom, der nur noch nach einer Richtung fließt. Der Vorgang bei der Ladung von Accumulatoren besteht somit darin, daß auf den Bleiplatten chemische Veränderungen

[93]

Karnevalstreiben in Düsseldorf.
Nach einer Originalzeichnung von E. Massau.

[94] hervorgerufen werden. Die chemische Arbeit erzeugt bei der Entladung Elektrizität.

Der „Sammler“ wurde erst industriell verwertbar, als es Camille Faure gelang, eine neue vermittelnde Methode zu entdecken. Faure trägt die Masse, die sich langsam beim Planté-Prozesse bildet, schon fast vollendet auf die Platten auf. Er verwendet hierfür Mennige, eine technisch vielgebrauchte Sauerstoffverbindung des Bleis. Ueberzieht man die Bleiplatten mit dieser Masse und sendet den Strom durch die Batterien, dann vollzieht sich die Ladung in einigen Stunden. Der Fehler des Faureschen Accumulators liegt wiederum darin, daß er relativ leicht beschädigt werden kann, da die aufgetragene Masse schon bei geringen Erschütterungen abfällt. Durch die mannigfaltigsten Kunstgriffe ist es aber gelungen, diesen Fehler zu heben. Sämtliche gegenwärtig zur Verwendung gelangenden Accumulatoren beruhen auf dem Faureschen Verfahren.

Eine der interessantesten Abänderungen des Faureschen Accumulators wurde im Jahre 1882 Tudor patentiert. Der Erfinder verbindet das Planté- und Faure-Verfahren in sehr glücklicher Weise. Er läßt zunächst den Strom 2–3 Monate durch die Platten hindurchgehen. Das so behandelte Metall wird nunmehr mit Mennige bestrichen und von neuem mit Strom beschickt. Nach etwa einem Vierteljahr ist der „Sammler“ betriebsfähig. Die Tudor-Accumulatoren sind diejenigen, die allen Ansprüchen bisher am meisten gerecht werden, und sie haben sich daher, besonders auch in Deutschland, bereits allgemein eingebürgert.


Karneval am Rhein.

Von Ernst Lenbach.
Mit den Bildern S. 93 und S. 96 und 97

Karneval am Rhein! Welche Fülle von heiteren, farbensatten Bildern rufen die drei Worte in

der Erinnerung eines jeden wach, dem es auch nur einmal im Leben vergönnt war, in diesen Jungbrunnen der Freude einzutauchen!

Irgend eine Art Karneval hat es freilich zu allen Zeiten und bei jedem Volke gegeben. Es gehört zu den unveräußerlichen Menschenrechten, wenigstens einmal im Jahre auf eine Weile alle Weisheit und Würde von sich zu streifen und mit Vorsatz und Bedacht den Narren zu spielen – sonderlich am Vorabend ernster Jahresabschnitte. „Carne vale - Fleisch, ade!“ von dieser wehmütigen Losung der Fastenzeit soll ja das Fest seinen italienischen Namen haben. Mögen Sprachforscher zu solcher Ableitung zweifelnd die Köpfe schütteln – den Anlaß des Brauches kennzeichnet sie jedenfalls. Es ist bezeichnend, daß karnevalistisches Treiben von alters her seine stärkste Macht gerade an den Hauptsitzen kirchlicher Herrschaft entwickelt hat. In den „heiligen“ Städten des strenggläubigen Rußland braucht das Volk acht Tage – die sogenannte Butterwoche, um sich im ausgelassensten Lebensgenuß auf die großen Fasten gründlich vorzubereiten; und aus Goethes Schilderung wissen wir ja, wie unerbittlich damals in dem Rom der Päpste Prinz Karneval die Alleinherrschaft ausübte, sobald die Glocke des Kapitols das Zeichen gegeben, „es sei erlaubt, unter freiem Himmel thöricht zu sein“.

Auf deutschem Boden ist der Karneval zu seiner höchsten Blüte als allgemeines Maskenfest nur im Westen und Süden emporgediehen. Das ganze Wesen des Norddeutschen scheint sich gegen die Forderung zu sträuben, einige Tage lang die eigene Person nur als eine Rolle zu betrachten, die man wegwirft, um mit Behagen eine neue freigewählte Rolle zu spielen. Man hat versucht, rheinische Karnevalsbräuche in große Städte des Ostens und Nordens zu verpflanzen. Es ist aber damit ergangen wie mit den Versuchen, aus rheingauer Rebstöcken auf fremdem Boden rheingauer Wein zu erzielen. Eine Maske darf man nicht bloß tragen, man muß sie auch spielen und sich in ihr wohl fühlen.

Am Rhein ist das so. Es giebt von Mainz abwärts bis an die holländische Grenze wohl kaum ein Dorf, wo nicht zur Karnevalszeit „etwas gemacht wird“. Am glänzendsten aber entfaltet sich das Reich des Prinzen Karneval in den großen alten Städten des Landes, wo noch immer ein fester Kern ureingesessener Bürgerschaft mit den großen geschichtlichen Erinnerungen der Vaterstadt und der heimischen Mundart auch das Stammeserbteil heiteren, harmlosen Witzes wahrt. Bei der uralten gegenseitigen Eifersucht dieser Städte, vorab der drei stolzesten unter ihnen: Mainz, Köln und Düsseldorf, wäre es gefährlich, auch in karnevalistischen Dingen, einer unter ihnen den Preis zuzusprechen. Halten wir uns lieber an das, was allen gemeinsam ist: heiterer, nie verletzender Witz, der in der Wahl und Durchführung der Masken oft überraschende Beweise von der dem ganzen rheinfränkischen Stamme eigenen schauspielerischen Fähigkeit liefert und bei aller treffenden Verspottung fremder wie eigener Sonderbarkeiten niemals den alten Wahlspruch des rheinischen Karnevals verleugnet: „Geck, loß Geck elans!“ – „Ein Narr soll den andern vorbeilassen“ – eine Devise, die auch anderswo und zu anderen Zeiten als in den drei „tollen Tagen“ manchen betrübenden Streit verhindern würde.

Selbstverständlich regt der karnevalistische Geist nicht erst an den drei Fastnachtstagen seine Schwingen. Den zahlreichen großen, kleineren und kleinsten Karnevalsgesellschaften fällt die Aufgabe zu, in ihren allwöchentlichen Maskensitzungen, mit oder ohne Damen, den gährenden Most bis zum perlenden Weine reinster Heiterkeit zu zeitigen. Altem Brauche gemäß beginnt diese Vorbereitungszeit schon im Vorjahre, mit dem Elften des elften Monats – die Elf ist ja die heilige Zahl des Karnevals. Wer in der genannten Zeit zu Besuch in einer der großen Rheinstädte weilt, versäumt es gewiß nicht gern, einer jener Maskensitzungen beizuwohnen. In dieser Beziehung übt Mainz auf seine großen Nachbarstädte eine ganz besondere Anziehungskraft aus. Die preußischen Prinzen pflegten während ihrer Bonner Studentenjahre sich zu einer solchen Sitzung der großen Kölner Gesellschaft einzuladen. Es wird da in Reden und Liedern oft eine ebenso witzige wie nützliche Kritik an öffentlichen Zuständen, an allzuweisen Verordnungen hoher Behörden geübt. Auch Fragen der Litteratur und Kunst unterwirft Prinz Karneval seiner eigenartigen Beleuchtung, wie zum Beispiel im letzten Jahr „Fräulein Cäcilia Wolkenburg“, die geheimnisvolle Personifikation des berühmten Kölner Männergesangvereins, auf ihrer Bühne eine karnevalistische Umdichtung des Goetheschen „Faust“ vorführte, in welcher „M. E. Fisto“ als „ein armer Teufel“ auftritt und Gretchen als richtige Kölnerin natürlich den Familiennamen Schmitz führt. Goethe, der mit 76 Jahren noch dem Kölner Karneval in einem reizenden Gedichte seinen Segen gab, würde vermutlich herzlich zu dieser Verspottung seiner Aus- und Unterleger gelacht haben – selbst zu der überraschenden Lösung, daß „M. E. Fisto“ Gretchen heimführt, während Faust zur Strafe seiner Sünden Frau Marthe heiraten muß.

Besondere Glanzpunkte der Vorbereitungszeit sind der Dreikönigstag (6. Januar) mit seinen unzähligen Bohnenbällen und das gleichfalls dem Tanze geweihte Mariä Lichtmeß-Fest (2. Februar). Ehedem hatte noch der Donnerstag vor Karneval seine eigene Bedeutung als „Weiberfastnacht“, insofern die Frauen an diesem Tage in völliger Umkehrung der sonst angeblich gültigen Ordnung das Regiment im Haus und auf der Gasse führten und allerhand Maskenscherz trieben. Letzteres hat sich so ziemlich verloren, aber noch ist es hier und da Brauch, daß an diesem Tage Maskensitzungen unter weiblichem Präsidium stattfinden.

Den Glanz- und Mittelpunkt des eigentlichen Karnevals bildet in den großen Städten der Festzug am zweiten Fastnachtstage, dem sogenannten Rosenmontag (von rôsen = rasen, toll sein). In diesem Punkte steht Köln wohl unbestritten obenan; die dortigen Rosenmontagszüge (der vorjährige stellte die „Volksfeste aller Nationen und Zeiten“ dar) sind mit ihren zahlreichen turmhohen Prachtwagen und den Hunderten von glänzend und witzig kostümierten

[95] Masken zu Fuß und zu Roß eine einzigartige Sehenswürdigkeit, zu der Scharen schaulustiger Fremden nach der alten Metropole herbeiströmen.

Seinen Ausgang nimmt der Kölner Rosenmontagszug jedesmal vom Neumarkt, dem größten Platz der Stadt, aus. Schon lange ehe sich der Zug zeigt, sind in den von ihm zu passierenden Straßen Trottoirs und Fenster bis auf den letzten Platz von Schaulustigen besetzt, und welcher Jubel bricht los, wenn sich von fern die prächtig gekleideten Vorreiter, die berittenen Zugordner und Musikkorps zeigen – wenn es heißt: „Der Zug kommt!“ Vor dem „eigentlichen“ Zug her aber schiebt sich jauchzend, singend, musizierend, unzählige Scherze untereinander und mit den gleichgestimmten Zuschauern austauschend, eine Schar von „freiwilligen“ Teilnehmern, die oft mit wundersamem Schauspielergeschick die verschiedenen Rollen durchführen, in deren Maske sie sich gekleidet haben. Wie ernst und würdig blickt z. B. auf unserem Bilde S. 96 und 97 rechts zwischen dem galanten Harlekin und der feschen „Fee“ das Gesicht „Emin Paschas“ durch; mit welch elektrisierender, urwüchsiger Jubellust schwingt vorn der „kölnische Bauer“ den Taktstock vor seiner mit Harmonika, dicker Trommel etc. ausgestatteten „Musikbande!“ – Unser von dem kölnischen Maler Christian Heyden herrührendes Bild ist übrigens nebenbei eine ganze geschichtliche Bildergalerie, denn es sind die namhaftesten Leiter, Dichter und Redner des Kölner Karnevals aus den letzten Jahrzehnten, die hier, vom Künstler getreulich porträtiert, „den Zug führen“, wie sie in Wirklichkeit das einzigartige Volksfest ihrer Vaterstadt führten und es zum Teil noch thun. Ist dieses Bild doch auch auf Bestellung der „Großen Karnevalsgesellschaft“ gemalt und nebst anderen zur Ausschmückung ihres Sitzungssaales bestimmt worden, als vorm Jahre es galt, der Feier ihres fünfzigjährigen Bestehens einen bleibenden Ausdruck zu verleihen.

Ein hervorragender und ständiger Anteil der Kunst ist es, welcher dem auf unserem anderen Bilde (S. 93) vornehmlich dargestellten karnevalistischen Treiben Düsseldorfs sein Gepräge giebt. Hier, in der reichen, lebenslustigen rheinischen Malerstadt, macht die Anwesenheit so vieler Künstler auch bei dieser Gelegenheit ihren anregenden Einfluß geltend. Am Karnevals-Samstag veranstaltet der Düsseldorfer Künstlerverein, der „Malkasten“, in den riesigen Räumen der „Tonhalle“ seine große Redoute mit Festspiel. Tausende von Masken vereinigen sich da, viele von ihnen sind aus entfernten Städten herbeigeeilt. Für alle, auch für die Zuschauer, ist bezüglich ihres Kostüms die „Idee“ maßgebend, welche dem Festspiel zu Grunde liegt. Vergangenes Jahr war es „ein Empfang Kaiser Maximilians in Nürnberg“, der diese weiten Räume in ein wundervoll getreues Abbild der mittelalterlichen Reichsstadt verwandelte, belebt von unzähligen Scharen in den „stilvollsten“, zum guten Teil historisch echten Kostümen. Es ist unbeschreiblich, was sich da an Humor und Geist, an künstlerischer Pracht – und vor allem an weiblicher Anmut zusammenfindet. Spät – sehr spät in der Nacht geht es dann in jauchzendem Zuge nach dem „Malkasten“, wo sich die Lustbarkeit fortsetzt, – buchstäblich Tag und Nacht hindurch; es giebt manchen unter dem unverwüstlichen Völkchen, der überhaupt vor Aschermittwoch nicht ins Bett kommt. Aber auch in dem allgemeinen Karnevalstreiben außerhalb der Künstlerkreise macht sich in Düsseldorf überall der Einfluß und die Mitwirkung der „Möler“ bemerkbar. Betreten wir die Räume eines der vornehmen Restaurants, etwa des „Roten Hauses“, dessen prunkvolles Renaissance-Treppenhaus wir auf unserem Bilde oben rechts sehen: welch ein Gewimmel künstlerisch durchgeführter Charaktermasken! Da schreitet ein römischer Krieger ernst, „mit Blicken eines Niebesiegten“, neben seiner Kaiserin her, unbekümmert um die Scherze, die aus der Gruppe vor ihm an sein Ohr klingen, unbekümmert auch um die düster männliche Kraft seines Kameraden von der persischen Leibwache. Nicht jeder begnügt sich, in einer Maske, die ihm gut zu Gesicht steht und bequem sitzt, für sein eigenes Behagen in fideler Gesellschaft zu sorgen. Gar mancher zwängt zum allgemeinen Ergötzen seine Gestalt in eine Tracht, die nur unter Beschwernis zu tragen ist. Links unten auf unserem Bild sehen wir gar einen, der sich als Eisbär durch das Menschengewühl hintrollt, geführt und gemeistert von seinem ebenso tadellos echten Bärenführer ... bis sie dann wahrscheinlich über kurz an irgend einem Büffett Halt machen, um sich zu „stärken“, – denn Durst hat der Rheinländer, auch wenn er ein Eisbär geworden ist.

Und wie in den Wirtssälen, so auf der Straße. Das lärmt und singt, das tollt und springt daher, einzeln oder in langer „bunter Reihe“ Arm in Arm, daß einem armen Hunde, der sich an solchem Narrentage auf die Straße wagt, freilich angst und bange werden kann. Warum trägt er auch kein Maskenzeichen? Sind doch auch wirkliche kostümierte Vierfüßler in diesen Tagen nichts Seltenes auf den Straßen von Düsseldorf und Köln und Mainz.

Aber alle Lust hat ein Ende. Grau und trübe bricht der Aschermittwoch heran, gehüllt in eine Atmosphäre von Katzenjammer. Noch wird hier und da an diesem Tage das Begräbnis des Prinzen Karneval gefeiert - vordem ein allgemeiner Brauch, an welchem sich 1812 in Köln die gesamte damals in der Stadt einquartierte Gardekavallerie Napoleons beteiligte, mit Trauerflor und Grabmusik - ein schauerlich wahres Vorzeichen dessen, was ihrer in Rußland harrte ...

Seufzend blickt so mancher wieder weise gewordene „Narr“ am Aschermittwoch in seinen gähnend leeren Geldbeutel. Mag es ihm ein Trost sein, daß ein Teil des entschwundenen Mammons auch ärmeren Mitbrüdern zugefallen ist. Denn ganz besonders viel und reichlich wird bei all den tollen Veranstaltungen der Armen gedacht. Und das ist gewiß nicht die schlechteste Seite an diesem so wunderlich schönen rheinischen Volksfeste, dem der große Goethe selber ein so hübsches und wahres Motto gestiftet hat:

„Löblich wird ein tolles Streben,
Wenn es kurz ist und mit Sinn!“


Loni.

Erzählung von Anton von Perfall.

     (1. Fortsetzung.)


Der Abend kam, die Nacht. Der Mentner und sein Knecht blieben aus, vielleicht über Nacht auf der Alm. Sie hatten gestern noch lange zusammen gesessen, und der Anderl blinzelte ihm so eigentümlich zu - mit dem Schuß mußte es doch seine eigene Bewandtnis haben. Loni hielt es nicht mehr aus allein, jetzt suchte sie selbst Marei auf.

Das Mädchen saß aus ihrem Bett in der mondhellen Kammer und weinte. Willy hatte ihr erzählt, daß gestern abend wieder ein verdächtiger Schuß gefallen sei im Revier gegen den Wolfsgruben zu. Sie las ihm die Frage aus den Augen, ob ihr Vater zu Hause gewesen sei. Nur aus Liebe zu ihr schwieg er, aber sie fühlte, wie wehe ihm ums Herze war, wie die Kluft zwischen ihnen immer größer wurde, und wenn der Willy mit dem Vater gar einmal draußen zusammenträfe - der Gedanke quälte sie entsetzlich. -

Sie fuhr erschreckt auf, als die Mutter eintrat.

„Ist der Vater kommen?“

„Wird wohl auf der Alm bleiben heut’ nacht“, erwiderte Loni, ihre Angst verbergend.

„Das glaubst’ ja selber net! Der Anderl hat ihn wieder verführt. Hast Du gar kein’ Angst, daß was passier’n könnt’?“

„Was kann i mach’n? Probier’s Du beim Vater, mein Reden is längst umsonst!“

„Der Anderl is an allem schuld, so lang der da is, wird kein’ Ruh’. Was is denn an dem Menschen, daß wir ihn net entbehr’n könn’n, der Flori wär so glückli an sein Platz!“

Loni war peinlich betroffen von diesem Vorschlag.

„A lahmer Knecht, das geht do net auf ’n Mentnerhof,“ sagte sie dann, „übrigens hab’ i ’hn net eing’stellt, den Anderl, und halt ihn aa net.“

Ein langes banges Schweigen trat ein. Es schlug zehn Uhr.

„I’ hab’ den Willy heut’ gesproch’n,“ begann das Marei plötzlich mit von Thränen erstickter Stimme. „Er weiß schon längst, wer gestern g’schoss’n hat auf ’n Wolfsschlag.“

„Weißt es Du? - Also red’ net,“ entgegnete verdrossen Loni.

„I weiß nur soviel, daß i steinunglückli werd’, wenn i mein Buab’n verlier’, und i muaß ihn verlier’n, wenn der Vater ’s Wildern net aufgiebt.“

[96] „Steinunglückli? Das hab’n sich schon viel einbild’t und is do net so wor’n. Man glaubt net, was der Mensch aushalt’n kann,“ entgegnete Loni herb. „Im Grund g’nommen paßt das nia z’samm – a Jager und a Bauerntochter.“

„Als ob sich d’ Liab drum kümmern thät, was z’samm paßt und z’samm darf! Als ob die nach an Stand fraget, nach an G’setz oder irgend was! Daß Du das no net weißt, Mutter!“

„Wia g’scheit Du redst, Marei! D’ Lieb kümmert si freili um nix, die is wia a wild’s Tier, aber eben d’rum muaß man Obacht geb’n d’rauf, daß ’s net auskommt und an Unglück anricht’.“

Marei blickte erschreckt auf die Mutter. Das Mondlicht fiel gerade auf deren bleiches Antlitz, spielte in ihrem lichten roten Haar, sie blickte starr auf die Diele und nickte gedankenverloren mit dem Kopfe.

Die Lieb’ kenn’ i net, Mutter, die muß freili kein Glück sein! Die i spür’ zum Willy, o mein, die is ganz anders: die is wia a schöner Garten im Frühjähr, wo die Vögerln zwitschern und singen und alles blüht und guat riecht, wo net amal a böser Gedanken sich einschleicht, viel weniger a wildes Tier. Das Paradies is’s, Mutter - rein das Paradies auf Erden.“

Loni horchte auf, sie nickte nicht mehr mit dem Kopfe und helle Thränen rannen über das regungslose schöne Antlitz.

Da drang ein Ton herein von draußen, wie wenn Eisen und Stein sich berühren, ein Geflüster ward vernehmbar.

Marei wollte an das Fenster eilen, die Mutter hielt sie zurück, legte den Finger auf den Mund und schlich vorsichtig hin.

Eine Leiter war an die Stallmauer gelehnt, der Anderl kletterte eben barfuß hinauf; sie sah deutlich sein mondbeschienenes Gesicht, es war aschfahl, der Atem ging ihm schwer. Als er an der Tennenluke angelangt war, winkte er dem Bauer, welcher die Leiter hielt. Dieser näherte sich erst dem Fenster. Loni duckte sich gewandt, Marei hielt den Atem zurück, sie fürchtete sich jetzt fast vor dem Vater. Beide verschwanden in das Innere, die Leiter ward vorsichtig nachgezogen. Heute mußte ihnen offenbar besonders viel daran liegen, unbemerkt zu bleiben.

Die Angst schnürte Loni die Kehle zusammen, das Gesicht des Anderl war so entsetzlich gewesen.

„Schlaf’, Marei, und träum’ von Dein’ Paradies! Morgen will i ernstli red’n mit ’n Vater, so a Nacht möcht’ i selb’r nimmer derleb’n.“

Marei behauptete, daß ihr der Schlaf gründlich vergangen sei; nach fünf Minuten aber hatte sie den Rat der Mutter wirklich befolgt, den tiefen gesunden Atemzügen, dem wirklich paradiesischen Lächeln nach, das um ihre halb geöffneten Lippen spielte.




Der Förster Kirchberger fehlte seit zwei Tagen, am dritten wurde eine Streife gemacht, sein Sohn, der Willy, leitete sie, und zwar so gut, daß man in der ersten Stunde die Leiche des Unglücklichen fand, in einer tiefen Schlucht in der Nähe des Wolfsgrabens. Er war mitten durch das Herz geschossen – ermordet!

Willy Kirchberger gedachte des Schusses, den er vor drei Tagen gehört, seiner Unterredung mit Marei – er wußte, wer der Mörder war: der Mentner!

Sie war verloren, für immer verloren für ihn, er mußte zum Ankläger werden ihres Vaters! Alle Augen richteten sich mit Ingrimm auf das Mentneranwesen! Der neue Verputz, die Blumen auf den Altanen, das gute Marei – alles half nichts, es war und blieb das Unglück, die Schande von Hagenberg.

Nach den Aussagen Willys und verschiedener anderer, welche vor drei Tagen jenen Schuß in der Gegend des Wolfsgrabens auch gehört, war anzunehmen, daß dieser es war, der dem Förster gegolten, welcher nachmittags auf dem Wege dahin gesehen worden war.

Weder der Bauer noch Anderl sprachen zu Loni ein Wort über die Angelegenheit, und sie hütete sich, zu fragen; doch beider verstörtes unsicheres Wesen, das Ausweichen Anderls, die unmotivierten Wutausbrüche ihres Mannes verrieten ihr alles. Der Mord, schloß sie, wurde an dem Abend begangen, an welchem sie Anderl aufgesucht hatte – von ihrem Mann!

Der Anderl, auf welchen sich der allgemeine Verdacht lenkte – einem angesessenen Bauern war eine solche That trotz allem nicht zuzutrauen – war ja zu der fraglichen Zeit im Hofe, an ihrer Seite! Und wenn sie vernommen wird – wird sie die volle Wahrheit sagen. Sie wartete jetzt förmlich auf den Untersuchungsrichter. Das Entsetzen über die That ihres Mannes, die Furcht vor der Schande, die ihrem Hause bevorstand, alles trat in den Hintergrund vor der Begierde, ihn schuldlos zu erklären.

Der Bauer war allein bei der That, wenn er sie wirklich begangen hatte, was ja immer noch zweifelhaft war. Sie kann


Der Karneval in Köln: „Der Zug kommt!“
Nach dem Gemälde von Chr. Heyden.

[97] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



als seine Frau zu keiner eidlichen Aussage über ihn gezwungen werden, er wird sich schon herauslügen – und wenn nicht – sie hat ihn oft genug gewarnt – sie empfand kein Mitleid, keinen Schmerz darüber.

Eines beunruhigte sie doch – warum gingen sie den andern Tag wieder und zu zweit hinaus? Und ihre Heimkehr! – Der heimliche Aufstieg auf der Leiter, das Schreckensantlitz des Anderl!

Wenn man sie auch um die Anwesenheit des Anderl an diesem zweiten Abend fragen würde? Da stieg schon ein Zweifel in ihr auf, ob sie die volle Wahrheit sagen wolle.

Auch Marei würde befragt werden. Das Mädchen hatte nur den Vater am Fenster, nicht aber Anderl gesehen und in einem ängstlichen Vorgefühl hatte sie ihm gegenüber den Knecht nicht erwähnt.

Der erste Gang des Gerichtes war in den Mentnerhof. – Loni wurde zuerst vernommen. – Sie trat mit einer Ruhe und Fassung vor den Beamten, welche man ebensowohl der Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Verdächtigen als dem Vertrauen auf seine Unschuld zuschreiben konnte.

Der Untersuchungsrichter nahm ihre Aussage nur in Bezug auf den Knecht entgegen, auf seine Anwesenheit an jenem Abend, an welchem der verhängnisvolle Schuß gefallen, so sehr hatte sich in dem Beamten bereits die Idee festgesetzt, daß an diesem Abend der Mord vollbracht wurde.

Sie atmete erleichtert auf und beteuerte mit einem Nachdruck, einer leidenschaftlichen Erregung die Anwesenheit des Knechtes an diesem Abend, die einem Unbefangenen hätte auffallen müssen. Ueber ihren Mann vernommen, erklärte sie, nichts Bestimmtes darüber zu wissen, ob er zu Hause war oder nicht – sie schlafe getrennt von ihm mit ihrer Tochter und sei früh zur Ruhe gegangen.

Anderl trat nicht so zuversichtlich auf, als man seinem durch die Bäuerin erwiesenen Alibi nach vermuten mußte. Betreffs des Bauern gefragt, erklärte er, den ganzen fraglichen Abend auf seiner Kammer zugebracht zu haben, ohne zu wissen, wer im Hause war.

„Aber daß die Bäuerin da war, wußten Sie doch,“ sagte der Beamte, „da dieselbe Sie gesehen hat. Wo haben Sie sich gesehen?“

Da stockte der Anderl.

„Auf meiner Kammer,“ sagte er nach wiederholter Frage.

„Was that denn die Bäueriu dort?“

Anderl ward verlegen

„G’fragt hat’s mi um was.“

„Ob Sie wohl wissen, wo der Bauer ist, vielleicht?“

Das unverhohlene Erstaunen auf dem Antlitz des Knechtes ließ ferner dem Beamten keinen Zweifel an der Richtigkeit seiner Annahme – die verworrene Ausrede Anderls bestärkte ihn nur darin.

Neben dem Untersuchungsrichter saß Willy, der Sohn des Ermordeten. Seine letzte Hoffnung, daß nicht der Mentner, sondern Anderl der Mörder sei, war dahin – und noch kam das Aergste.

Die nächste Vorgeladene war Marei.

Das Mädchen trat schluchzend ein, Willy wagte nicht, sie anzusehen – auch sie gab an, daß der Anderl an diesem Abend im Hofe war, sie hörte ihn noch arbeiten oben aus der Tenne, ehe sie einschlief.

„Und der Vater? Sie wissen wohl nicht, wo er war am Sechsten abends?“

Marei blickte, wie Hilfe suchend, nach dem Forstgehilfen. Dieser sah sie streng an, ohne Mitleid, ohne Liebe. Du weißt alles, lag in dem Blick, lüge wenigstens nicht!

Sie gedachte des unglücklichen Vaters, den ihre Aussage vernichten mußte. So weit sie mit ihrem kindlichen ungereiften Verstande beurteilen konnte, war eine Lüge jetzt keine Sünde, eher Pflicht. Aber dieser durchdringende Blick des Geliebten machte jede Lüge unmöglich.

„Ich habe mich um acht Uhr schon niedergelegt,“ sagte sie schluchzend.

„Und zu dieser Zeit war Ihr Vater zu Hause?“

Noch einmal warf sie einen flehenden Blick auf Willy, doch der hatte kein Erbarmen.

„Er liebt dich nicht mehr, er hat dich aufgegeben,“ sagte sie sich, „aber der Vater, der liebt dich, was er auch verbrochen haben mag!“

Sie zögerte, der Beamte drängte unbarmherzig. Da nickte sie weinend mit dem Kopfe und sank auf die Bank. Der Beamte machte seine Anmerkung, ohne weiter in sie zu dringen. Sie war entlassen.

Der Mentner wurde verhaftet. Trotzig, ohne Widerrede duldete er sein Los.

Der Mentnerhof lag düsterer denn je in der Mitte von Hagenberg im Schatten eines blutigen Verbrechens.


[98] Monate waren vergangen. Der Mentner saß noch immer in Untersuchungshaft. Ueber den Verlauf der Untersuchung drang nichts Bestimmtes nach Hagenberg; einige Leute wurden vorgeladen, Verhandlungen anberaumt und wieder abgesetzt – der Nachweis der Schuld war offenbar sehr schwer.

Diese Ungewißheit lastete auf ganz Hagenberg wie ein drückender Alp.

Hatte am Ende den Förster doch ein Anderer erschossen, an den niemand dachte, der in ihrer Mitte lebte? Von den Alten konnte nicht die Rede sein, seit Jahrzehnten hatten diese Ruhe gehalten; aber in den jungen Köpfen spukte noch immer die Wilderei, dem einen oder andern von den Burschen war die That am Ende schon zuzutrauen. Ein häßliches Mißtrauen begann das gute Einvernehmen der Nachbarn zu untergraben, von Haus zu Haus schlich der schlimme Verdacht, er nistete sich in den Familien selbst ein.

Nicht wenig trug hierzu der Försterwilly bei, der als verwesender Forstwart das Amt des Vaters verwaltete. Der bisher allgemein beliebte junge Mann machte sich jetzt verhaßt durch sein rücksichtsloses Vorgehen. Es war kein Haus, das nicht von oben bis unten durchsucht worden wäre; jede Woche war er auf einer anderen Fährte, die er mit blinder Hast verfolgte, um ebenso schnell wieder von ihr abzuspringen.

Nur ein Haus hatte vor ihm jetzt völlig Ruhe – das Mentnerhaus. Und doch ging die Blutthat von dort aus, von nirgends anders, das war der feste Glaube der Nachbarn. Und wenn’s der Bauer nicht war, so war’s sein Knecht, der Anderl! Warum verfolgte der Försterwilly nicht diese Spur? „Ganz einfach, weil er net mag! Weil ihm eben alles d’ran liegt, unter einem andern Dach den Schuldigen zu finden als unter dem seiner Geliebten, der Mentnermarei. Machen thät er sich am liebsten an neuen Mörder, als dort den rechten z’ finden!“ hieß es.

Der Haß gegen den Mentnerhof wuchs ins Unendliche. – „Warum jagt die Bäuerin net wenigstens den Anderl zum Teufel? Weil’s net darf, dös is do’ klar!“ – „Hab’n thun sie’s miteinand’!“ lästerte ein anderer.

Doch diese Ansicht gewann keinen Boden. Es gab genug aufmerksame Augen in der Nachbarschaft, doch in diesem Punkte war nichts zu sagen, im Gegenteil, man wollte der Bäuerin die Qual ansehen, diesen Menschen im Hause haben zu müssen.

Marei aber ging umher wie’s Unglück, bleich, matt, gar nicht mehr zu kennen. Sie hatte jetzt etwas Forschendes, Stechendes in ihrem Blick, als ob sie mit ihrem Schatz, dem Willy, um die Wette den Mörder suchen wollte.

Loni führte ein eigenartiges Leben diese Zeit über. Anderl wich ihr sichtlich aus; er fürchtete, von ihr gefragt zu werden. Anfangs drängte sie es auch dazu; sie hielt sich aber gewaltsam zurück, sie konnte noch einmal verhört werden, dann war es besser so. Das glanbte sie ja bestimmt, Anderl war nur Zeuge der That; daß er der Mörder sei, dagegen sträubte sie sich; auch schien es ihr unwahrscheinlich – was sollte den Mentner bestimmen, sich für den Knecht zu opfern! Das lag nicht in seiner Art. Zuletzt war sie froh, daß Anderl von der Sache nicht selbst anfing. Er war der Knecht, unterwürfig, gehorsam, aber weiter nichts. Sie überraschte ihn über keinem der sehnsüchtigen Blicke mehr, die sie früher so wohlig durchdrangen; was er that, hatte nur noch den Charakter des Dienstes. Keine Erinnerung schien in ihm zu leben an jenes Zusammentreffen auf der Tenne. Wenn sie nur daran dachte, brannten ihr die Wangen wie Feuer. Und trotz allem fühlte sie sich glücklicher als je.

Auffallend war es, daß auch Flori seit der Verhaftung ihres Mannes ihr sorgfältig auswich. Sie hatte vielmehr gefürchtet, daß er die Abwesenheit des ihm verhaßten Mentners zu einer Annäherung benutzen werde, und war jetzt froh über seine Zurückhaltung; die alte Neigung war ja längst tot, die sündhaften Worte Anderls, die ihr in jener Nacht durch Mark und Bein gegangen – „wenn er fetzt nimmer heimkäm’“ – hatten sie förmlich ausgebrannt.

Mit banger Ungeduld sah sie der Entscheidung entgegen, welche das Geschick ihres Mannes besiegeln mußte. Sie wünschte seine Freisprechung aufrichtig, aber fürchtete sich doch vor seiner Wiederkehr. Sein hartes liebloses Wesen wird ihr jetzt noch unerträglicher sein.

Marei schloß sich in ihrer Verlassenheit innig an die Mutter an. Ihr Glaube an die Unschuld des Vaters war unzerstörbar. Sie klammerte sich daran mit der ganzen Kraft ihrer jungen Liebe und es gelang ihr auch, den Geliebten wankend zu machen in seiner Ueberzeugung. –

Da, eines Tages, kam der Mentner zurück – frei und ledig. Auf seinen Knotenstock gestützt, schritt er trotzig daher, ohne Gruß, wie früher, und verschwand im Hause, ohne ein Wort mit irgend jemand zu sprechen.

Die Untersuchung war als erfolglos niedergeschlagen worden; man hatte ja nicht einmal den Tag des Mordes feststellen können. Der Schuß, welcher gehört wurde, der fehlende Nachweis, wo der Mentner zur Zeit desselben sich aufgehalten, waren keine genügenden Gründe, Tiroler kamen dann und wann über die Grenze, ein solcher konnte die That begangen haben – trotz der Ueberzeugung des Gerichtes, daß man auf der rechten Spur sei, mußte man ihn freigeben.

Loni erschrak wie vor einem Gespenste, als ihr Mann eintrat. Sein Haar war ergraut, die kräftige Gestalt zusammengesunken, wie um Jahre gealtert. Er war kurz angebunden und benahm sich, als habe er wenige Stunden zuvor das Haus verlassen; erst als Marei hereinstürmte und ihm schluchzend um den Hals fiel, wurde er weich.

Plötzlich besann er sich. „Ah so, Dein’ Freud’ gilt ja eigentlich an’ ganz andern als mir,“ sagte er rauh auflachend. „Aber i mein’ alleweil, da täuschst Di, Mädl; so lang’ sie den wahren Thäter net hab’n, bin’s alleweil i in den Augen vom Forstwart und in den Augen aller Leut’. Kannst’ Dir denn den Willy gar net aus ’n Sinn schlag’n? Muaß ’s denn g’rad der sein?“

Heftiger Widerwille sprach aus seinen Worten. Marei fuhr entsetzt auf, die qualvollste Angst lag in ihren Zügen.

„Was sagst, Vater? Das soll auch nix helfen, daß’ Dich freig’lass’n ha’m? Der Fluch soll ewig auf unserm Haus bleib’n und i soll ewig d’runter leid’n? Naa, das kann unser Herrgott net woll’n. Wie er Di erlöst hat von der falsch’n Anklag’, wird er auch den Mörder wissen und mit dem Finger auf ’hn deut’n: ‚Der is’‘!“ Marei streckte mit einer energischen Bewegung den Arm aus bei den letzten Worten, die ihr, ein heiliger Glaube, aus dem Herzen drangen. Ein „Oho“ tönte von der Thüre her. Anderl war eingetreten. Sie hatte mit ihrem deutenden Finger fast seine Stirn berührt. Der Mentner zuckte zusammen.

Anderl stockten die Worte im Munde.

Loni beobachtete scharf den ganzen Vorgang. Sie wußte nicht recht, ob das Absicht oder Zufall gewesen war. Sie wünschte fast das erstere, die Abneigung Mareis gegen den Knecht war ihr ja längst bekannt. Vor dem Zufall schauerte sie innerlich zusammen, sie unterdrückte den Gedanken gewaltsam. Damit stieg aber neuer Zorn in ihr auf gegen ihr eigenes Kind.

„Sei so gut und führ’ die Komedi net auch vor andere auf; der Anderl wird sich bedanken dafür, und Dein Vater auch, daß die G’schicht’ von neuem losgeht in unserm Haus. Hat Dir Dein Forstwart das einblas’n, oder weißt’ vielleicht was über den Anderl? Dann sag’s nur grad heraus!“

Sie flammte förmlich auf im Zorn, ein haßerfüllter Blick traf das sprachlose Mädchen, welches mit weit aufgerissenen Augen bald den Anderl, bald die Mutter ansah.

„Ja aber, i wollt’s ja gar net – i hab’ ja den Anderl gar net –“

„Hört’s auf!“ donnerte der Mentner, die unheimliche Stille unterbrechend. „Hört’s auf mit die dummen Weiberg’schicht’n und kümmert Euch um andere Sachen! Sie hat ja gar net g’redt vom Anderl, gar net g’seh’n hat sie ihn. Net wahr, Marei, gar net g’sehn hast’ ihn?“

„Nein, Vater, gar net a mal g’seh’n, aber –“

Sie verbarg ihr Antlitz mit beiden Händen und lief aus der Stube und fort aus dem Hause, ohne sich umzusehen, der Försterei zu.

Atemlos kam sie an. Willy war in der Kanzlei.

„Der Vater is da, er is freig’sproch’n, er is unschuldi, Willy!“

Sie sprach die Worte voll sicheren Vertrauens auf ihre Wirkung; als aber Willy nicht, wie sie erwartet, freudig überrascht aufsprang, da faßte sie die Angst.

„Willy! Willy, is denn das no’ uet g’nug?“

Dem jungen Mann fiel es schwer, sich zu beherrschen. „Du irrst Dich, Marei,“ sagte er dann gefaßt. „Dein Vater ist nur freigesprochen wegen Mangels an Beweis. Sieh’, ich freu’ mich [99] ja für Dich, daß es so gekommen; ich bin nicht rachsüchtig, aber an seine Unschuld glauben kann ich nicht, und niemand wird daran glauben in der ganzen Gegend, bis nicht der wahre Mörder entdeckt ist. Und so lange der blutige Verdacht zwischen uns liegt, können wir miteinander nicht glücklich sein.“

„Du hast recht, Willy, aber der blutige Verdacht soll nimmer lang’ zwischen uns liegen.“

Willy sah betroffen auf das Mädchen, so fest, so bestimmt war sonst nicht ihre Art und – der triumphierende Blick!

„Ja, und wie denkst Du Dir das?“

Marei faßte seine Hand und sah ihm fest in das Auge, jetzt glich sie ihrer Mutter.

„I kenn’ den Mörder.“

Willy prallte zurück. – „Du? – und schweigst?“

„Seit heut’ – seit einer halben Stund’ erst,“ flüsterte sie ihm zu. „Der Anderl!“

„Der Vater hat gestanden? Ja dann – dann Marei!“ Willy breitete verheißungsvoll seine Arme nach ihr aus.

Doch diese ließ traurig den Kopf hängen.

„Vom Vater weiß i’s freili net.“

„Von wem denn? Die Beweise, Marei, die Beweise – und alles geht gut.“

Da erzählte sie den sonderbaren Auftritt mit Anderl. Aber ihr selbst schwand während der Rede immer mehr die feste Ueberzeugung, die vorhin so urplötzlich über sie gekommen, ihre Stimme sank mutlos herab. Auch in seinem Gesichte las sie die Enttäuschung.

„Ach, Marei, das langt nicht und nützt uns nichts, im Gegenteil, g’rad g’warnt hast ihn von neuem, wenn wirklich was d’ran ist. Mir selbst geht der Anderl nicht aus dem Kopf – aber so erwisch’n wir ihn nicht. Da hab’ ich ganz andre Anhaltspunkte und kann ihn doch nicht packen. Jetzt geh’ heim und laß Dir nichts merken. Wenn ein Wild einmal angegangen ist, muß man’s erst wieder vertraut werden lassen, eh’ man’s anpirscht.“

Beim Mittagessen im Mentnerhof, das zum erstenmal zu viert eingenommen wurde, war das Marei heiterster Laune. Sie lachte über das drollige Gesicht, das der Anderl gemacht, wie sie ihm mit dem Finger fast die Augen ausgestoßen in ihrem Schreck über sein plötzliches Auftauchen.

Sie that darin etwas zu viel, Loni sah sie unruhig forschend an.

„Wo warst denn eigentli’ so lang heut’ vormittag?“ fragte sie.

„Wo meinst?“ fragte sie völlig unbefangen, die Suppe mitlöffelnd. „In der Kapell’n, um unsern Herrgott z’ dank’n, daß er uns den Vater wiederg’schenkt hat.“

„Was Du aber heut’ alles mit unserm Herrgott z’ thun hast!“ meinte der Mentner.


3.

Mit dem guten Einfluß, welchen Marei auf den Vater früher geübt, war es jetzt auch vorbei, sein menschenscheues Wesen machte sich mehr und mehr auch ihr gegenüber geltend. Er sah jetzt in Weib und Kind nur noch Feinde, die ihn beobachteten, belauerten, dagegen schloß er sich dem Anderl mit auffallender Innigkeit an; der war nicht mehr der Knecht, sondern sein Freund. Natürlich gab es nur eine Erklärnug dafür, die gemeinsame Schuld, die Mitwisserschaft verbündete sie.

Dieses Gefühl hatte auch Marei und der Widerwille, das Grauen, welche dasselbe erzeugte, erstickte in ihr fast die Liebe zum Vater.

Sie hatte nur noch den einen Gedanken, den Anderl zu entlarven, von dessen Thäterschaft sie fest überzeugt war. Ihr kindliches heiteres Wesen war verschwunden, ihr einst so offener Blick veränderte sich in einen lauernden scharf beobachtenden. Sie belauschte, beschlich die beiden, wo sie konnte, um irgend ein unvorsichtiges Wort zu erhaschen. Wiederholt ertappte der Vater sie dabei. Dann gab es lärmende Auftritte, Thätlichkeiten – ihre Liebe zu dem Försterssohne war ihm ohnehin ein Dorn im Auge. Ein verdächtiger Haß beseelte ihn gegen den jungen Mann.

Auf Loni war die Wirkung eine ganz andere. Diese Freundschaft war für sie etwas Unnatürliches. Mochte vorgefallen sein, was immer, nach jenem Abend auf der Kammer, nach dem in seiner Verhaltenheit nur noch leidenschaftlicheren Bekenntnis des Anderl konnte dieser nicht mehr in Wahrheit der Freund ihres Mannes sein. Etwas Beleidigendes, über das sie nicht hinwegkam, lag für sie in dem intimen Umgang der beiden. Oder wollte Anderl damit die Stunde auslöschen, ihr zeigen, daß er sie bereue?

Fast mußte sie das letztere glauben. Und gerade das nährte in ihrem Herzen die sehnsuchtsvollen Träume von einem Glück, das sie aus ihrem jetzigen Zustand befreite.

Da wandte sich ihr Schicksal unerwartet.

Es war ein sonniger Herbsttag, der Bauer war mit dem Anderl bei der Holzarbeit, Loni und Marei hatten zu Hause zu schaffen mit der Obsternte.

Auf einmal kam der Anderl über das Feld hergesprungen. Loni mußte an die Nacht denken, da sie ihn auf der Leiter erblickt hatte, gerade so sah er aus, so verstört. Atemlos, keuchend stand er vor ihr.

„Der Bauer – rasch! Holt’s an Doktor! A Baam –“

Er konnte nicht weiter.

Loni faßte sich schnell. „Marei, lauf’ zum Doktor – er soll glei’ – schnell, lauf’!“

Doch das Mädchen hörte nicht auf sie, sie packte den Knecht bei der Schulter und drang in ihn:

„Was is mit dem Vater? Red’! Wo is er? I muß zu ihm! Tot am End’? Red’! oder – A Baam hat ihn ’troffen im Fall – daher?“ Sie deutete auf die Stirne.

„Arg,“ entgegnete der Knecht.

„Was fragst denn lang? Den Doktor hol’!“ herrschte die Bäuerin.

„I muß aber mit ihm reden, bevor er stirbt! Der Anderl soll ihn hol’n. – Wo liegt er denn, der Vater? I kenn’ mi ja aus weit und breit.“

„Auf’n Feil’nbacherschlag, bei der großen Buch’n, aber red’n wird er nimmer viel. Dem hilft keiner mehr auf. Do i hol’ schon den Dokt’r und den Pfarrer a, wenn’s wollts’.“

Für Marei klang es wie Hohn. Ohne den Knecht einer Antwort zu würdigen, lies sie davon querfeldein, ohne weiter auf ihn zu achten, der angegebenen Richtung nach.

„Nur a Wort, Vater, nur a Wort!“ jammerte sie laut.

Loni eilte ihr nach, auch ihr waren die Worte des Anderl durch Mark und Bein gegangen. Sie fürchtete das Geständnis, welches Marei noch zu erhaschen hoffte.

Wozu denn neu’s Unglück stiften, wenn’s do amal so weit mit ihm is! An zweit’n Menschen unglückli mach’n? Und wenn er’s wär’, macht das den Förster lebendig? Mit solchen Einwürfen rechtfertigte sie bei sich ihre geheime Sorge – zu früh zu kommen zu dem Sterbenden!

Es war nicht weit auf den Schlag, ein Büchsenschuß vom Dorf entfernt. Die Erregung benahm auch der Tochter den Atem, sie mußte einen Augenblick innehalten.

„Willst’ ihn denn no im letzten Augenblick plag’n mit Dein’ unnützen Gefrag’?“ sagte die Mutter.

„Plag’n nennst’s, wenn i dem armen sterbenden Vater a furchtbare Last vom Herzen nehm’?“

Sie eilte wieder vorwärts. Auch sie beschönigte mit dieser Antwort ihren Eifer. Das eigene Interesse trieb sie, ihr Glück, ihre Zukunft hing vielleicht davon ab, daß sie beim Vater rechtzeitig eintraf. Jetzt lichtete sich das Holz, dort lag der Schlag, dort stand die Buche, wirres Astwerk beschränkte den Blick.

„Horch, sprach da nicht wer?“ Beide Frauen standen still.

„Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern,“ klang es deutlich herüber.

Der Mentner war es nicht, der so betete, die Stimme klang kräftig.

Jetzt eilte Loni voraus. Hinter der gestürzten Tanne mußte es sein! Sie riß sich die Hand wund an dem Gestrüpp. – Unter der Buche kniete ein Mann, das Gesicht tief zur Erde gebeugt.

„Der Flori!“ Beide Frauen riefen den Namen zugleich.

Der Mann wandte sich um – es war wirklich der Stoanerflori, der vor dem sterbenden Mentner kniete.

„Lebt er no?“ rief Marei, auf ihn zustürzend.

„No schon,“ lautete die Antwort.

„Red’t er no?“

„G’rad hat er g’red’t.“

(Fortsetzung folgt.)


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Blätter und Blüten


Ein Hofnarr in tausend Nöten. Aus dem Dresdener Archiv wird vom Archivrat Distel ein ergötzliches Schreiben des Hofnarren Fröhlich an seinen Herrn, den Kurfürsten Friedrich August von Sachsen, veröffentlicht. Fröhlich versichert zunächst den königlichen Herrn seiner treuen Anhänglichkeit in überschwenglichen Wendungen, die einem Shakespeareschen Clown Ehre machen würden. Der König habe ihn durch seine Huld und Gnade dermaßen verwöhnt, „daß keine Seemuschel oder Auster in dem tiefen Meeresgrunde so feste an den Felsen angewachsen und sich daran halten kann, als mein Herz an der felsenfesten Gnade Eurer Majestät hanget. Denn wenn ich alle Gnadenbezeigungen auf diesem engen Blatte namhaft machen sollte, welche gleich einem Strom auf mich dürren Stockfisch zeithero zugeflossen und dadurch ich so geschmeidig geworden bin, als ein in Butter zerlassenes Ei oder wie ein neunmal aufgewärmtes Sauerkraut, so wäre es ebenso viel, als wenn mir einer zumutete, ich sollte an einem Tage von hier bis Gibraltar laufen und morgen wieder zu Mittag hier sein“. Der arme Narr, der sich unterzeichnet als „allerunterthänigster von Kummer und Schulden ausgemergelter armer, doch hochweiser Bürgermeister von Narrendorf“, erkennt es in seinem Schreiben an, daß er seine frühere Schuld noch nicht abgetragen hat. „Es gehet mir jedoch nicht wenig zu Herzen, daß ich mein bürgermeisterliches hohes Wort nicht halten und mich mitsamt dem Darlehen meinem allervornehmsten Herrn Gläubiger zu Füßen werfen könne, inmaßen mir dann der Kummer dermaßen zusetzt, daß, da ich sonsten täglich mit vier Kannen Wein mich habe beholfen, ich jetzo mit sechs Maß kaum auskommen kann, zu geschweigen, daß meine Magd täglich acht Groschen mehr Marktgeld für die Küche fordert und haben will.“ Nachdem Fröhlich so seine „bittere Not“ geklagt, giebt er seinem Bittgesuch folgende de- und wehmütige Gestalt: „Dahero komme ich armer Schelm an die Banco meines einmal wie das andere freundlichen Herrn Creditoris und klopfe mit dem Hammer meines Elends an das Comptoir meines allergütigsten Herrn Banquiers mit mehr als fußfälliger, mit mehr als barmherziger, ja mit mehr als miserabler Bitte, Ew. Maj. geruhen mich bärenhäuterischen Debitoren mit eben einem solchen Geldsacke, wie der vorige mit dem Darlehen gewesen, nun schon vollends zu Boden zu werfen, daß ich das Aufstehen bis auf die Leipziger Neujahrsmesse vergessen möge, da ich dann, ehender aber nicht, verspreche, daß ich mich wieder werde erholet haben und will ich sodann alle beide Geldsäcke, den vorigen und den jetzigen, wieder bringen und trotz einem Bürgermeister jedem ehrlichen Kerl unter die Augen gehen. Ich bitte ja gar zu entsetzlich sehr, E. M. gewähren mich doch meine Bitte, wenn es möglich ist; denn ich bin ärger als mein kleiner Prinz; wenn der was haben will, so zerrt er so lange, bis ich’s ihm gebe.“

Ob der neue Geldsack durch die Gnade des Kurfürsten-Königs in Fröhlichs Narrenhäuschen in Dresden gewandert ist, darüber schweigen die Quellen des Archivs. †      


Großmütterchen. (Zu dem Bilde S. 85.) Wahrhaftig, in jedem Kinde steckt ein kleiner Schauspieler! Wer, der öfter Gelegenheit hat, mit Kindern zu verkehren, wäre nicht schon durch eine ähnliche Scene überrascht worden, wie sie unser dem Leben direkt entnommenes Bildchen bietet. Die Ueberraschung ist oft keineswegs angenehm. Betroffen sieht das Auge der wirklichen Großmutter, die da ihr geliebtes jüngstes Enkelkind beim „Großmütterchenspielen“ überrascht, mit welcher scharfen Beobachtung der kleine Thunichtgut die ernsten Züge ihres Gesichts studiert haben muß, um unter ihrer Haube und mit der viel zu großen Brille auf dem Näschen die ganz respektwidrige Rolle so treffend durchzuführen. Und dort die ältere Schwester, die der Kleinen mit gutem Beispiel vorangehen sollte, sieht sie mit der breiten Spitzenhaube der Mutter und dem Strickstrumpf in der einen Hand, während die andere nachdenklich das Kinn stützt, nicht wirklich aus wie ihre stattliche Mama im letzten Viertel einer „Kaffeevisite“? Ein trüber Schleier legt sich für einen Moment über die Augen der alten Frau. Sind das ihre Herzblättchen, die treuherzigen harmlosen Mädel, die den Sonnenschein ihres Alters bilden? Verspotten wohl gar Mutter und Großmutter mit ihrer Schauspielerei? „Kinder!“ ruft sie streng. – Doch diese wenden sich um, hüpfen auf sie zu, treuherzig und harmlos wie immer, ohne eine Ahnung, daß ihr liebes einziges Großmütterchen in ihrem fröhlichen Mummenschanz etwas anderes finden könnte als einen herrlichen Spaß. Und sie erkennt ihren Irrtum und lacht mit ihnen.


Schlittenwettfahrt auf der Rückkehr vom Markt. (Zu dem Bilde S. 89.) Auch im Lande der Ruthenen, in der weiten Tiefebene Ostgaliziens im Flußgebiete des Dnjestr, breitet der Winter langanhaltende Schneeflächen zwischen die menschlichen Wohnstätten. Und auch hier dient dieser Bann, mit welchem die kalte Jahreszeit die Natur belegt, den Menschen gerade dazu, den Verkehr untereinander zu beleben. Unser Bild zeigt uns, wie die Lust der Schlittenfahrt fröhliches Leben in die Oede der Landschaft bringt. Bauern kehren heim vom nächsten Markt zu ihren Gehöften. Angeregt vom Verkehr und den zerstreuenden Eindrücken des Marktlebens, wohl auch von dem erwärmenden Getränk, das sie vor dem Aufbruch zum Schutz gegen die Kälte reichlich zu sich genommen, wird ihnen die Fahrt durch das schneeige Gefilde zur Kurzweil. Die Führer der beiden Schlitten haben sich in ein Wettfahren eingelassen; in lebhaftem Galopp geht die Fahrt dahin, daß es glitzernd aufstiebt vom weißen Grunde. Die Wirkung auf die Insassen ist freilich recht verschieden. Drüben dem jungen Mädchen mit den fröhlich blitzenden Augen wird die wilde Jagd zum willkommenen Anlaß, sich dichter an ihren Schatz zu schmiegen, der mit glückseligem Behagen der Geliebten den starken Arm als Lehne bietet. Weniger zufrieden blickt die Frau des älteren Gutsherrn in dem anderen Schlitten drein. Die Zeit der Brautschaft und der Flitterwochen liegt zu weit hinter ihr, um für die Stimmung des jungen Paares noch das volle Verständnis zu haben, wogegen die rasende Eile, zu welcher ihr Mann die wackeren Gäule antreibt, den wohlgefüllten Korb, mit dem sie vom Markte heimkehrt, schon wiederholt in die Gefahr, umzufallen, gebracht hat. Doch sie hält ihn fest. Ja, sie hat gehörig eingekauft und dieser Gedanke beruhigt ihr Gemüt. Was hat denn der Schlitten da drüben für Ladung? – Leichte Ware!


Vor dem Maskenball. (Zu unserer Kunstbeilage.) Träumerisch blickt sie noch einmal in den Spiegel, aber nicht mehr auf die Anordnung ihrer Toilette bedacht. Sie denkt an ihn, sieht im Geiste seine Gestalt, die geliebten Züge des Mannes, den sie heute auf die Probe stellen will, auf die letzte. Wenn er die noch besteht, dann soll er ihr Jawort erhalten. Ach, wie gern hätte sie seine Werbung schon früher damit erwidert – aber durfte sie ihm trauen? Hatte er nicht vorher so vielen anderen Mädchen den Hof gemacht? War er wirklich frei von Flattersinn, er, der verwöhnte beste Walzertänzer der „Harmonie“? Hatte ihre beste Freundin ihr nicht noch neulich beim Nachhausegehen ins Ohr geflüstert: Nimm Dich vor dem in acht – er ist ein Schmetterling! Heute will sie erproben, ob die Freundin recht hat mit ihrem Verdacht. Gerade mit ihr hat sie sich verabredet, den Maskenball im Schutze der guten immer lustigen Tante zu besuchen. Ganz heimlich – ganz inkognito. O, sie will sich schon schlau anstellen, daß sie sein Wesen ergründet. Und erkennen soll er sie gewiß nicht! … So redet sie sich ein. Aber ob die Liebe nicht dennoch es fügt, daß die ernste Träumerin, wenn sie erst am Arm des geliebten Mannes durch das Maskengedränge dahinschreitet, sich diesem längst vor der allgemeinen Demaskierung zu erkennen giebt – trotz Maske und Domino? p.     


CARNEVAL


manicula 0Hierzu Kunstbeilage II: Vor dem Maskenball. Von E. Melida.

Inhalt: Buen Retiro. Von Marie Bernhard (5. Fortsetzung). S. 85. – Großmütterchen. Bild. S. 85. – Schlittenwettfahrt auf der Rückkehr vom Markt. Bild. S. 89. – Der Accumulator. Von Franz Bendt. Mit Abbildung. S. 90. – Karneval am Rhein. Von Ernst Lenbach. S. 94. Mit den Bildern S. 93 und 96 und 97. – Loni. Erzählung von Anton von Perfall (1. Fortsetzung). S. 95. – Blätter und Blüten: Ein Hofnarr in tausend Nöten. S. 100. – Großmütterchen. S. 100. (Zu dem Bilde S. 85.) – Schlittenwettfahrt auf der Rückkehr vom Markt. S. 100. (Zu dem Bilde S. 89.) – Vor dem Maskenball. S. 100. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.