Die Gartenlaube (1895)/Heft 7
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Nr. 7. | 1895. | |
Buen Retiro.
(Schluß.)
Das plötzliche Zusammentreffen an dem verschwiegenen Platze hatte Gabriele sowohl als Röder befangen gemacht. Sie war ohne Hut und Handschuhe und hielt nur ein Schirmchen in der Rechten, mit dem sie allerlei Ringe und Kreise in den losen Sand zu ihren Füßen zeichnete. Im Haar trug sie einen Schmuck von dunklem Laub und roten Vogelbeeren, was ihr sehr hübsch und eigentümlich zu Gesicht stand. Röder sagte sich das, streifte aber mit einem finstern Blick darüber hin – wer mochte den kleinen Zweig in ihrem Haar befestigt haben?
„Ich habe einen doppelten Grund gehabt, hierherzukommen,“ fing die junge Frau endlich an. „Erstens sagten mir die Leute, mit denen die Zusammenkunft verabredet worden war, nicht im mindesten zu. Ich kannte sie nicht von früher her; wäre dies der Fall gewesen, so hätte ich mich um keinen Preis zum Mitgehen bereden lassen. Der Ton, den man dort anschlug – anfangs verlief alles harmlos, Frau Trelow flocht uns allen Kränze ins Haar –“ Hier unterbrach sich Gabriele und griff mit hastiger Gebärde nach ihrem Haar, nestelte das Blumengewinde los und warf es achtlos in das Buschwerk zu ihrer Rechten. Nun fuhr sie fort: „Aber dann – – Sie erlassen mir wohl die Schilderung! Mich trieb es um so mehr fort, als ich schon lange eine Gelegenheit herbeigesehnt hatte, Sie ungestört zu sprechen, und das war der zweite Grund, weshalb ich zurückgekehrt bin!“
„Aber wie konnten Sie das unbemerkt zustande bringen?“
„Viel leichter, als Sie glauben. Ich bin nicht sehr beliebt bei den andern, meine Gegenwart legt ihnen immer noch eine Art Zwang auf, und das ist ihnen lästig. Heute hätte man es sicher gern gesehen, wenn ich daheim geblieben wäre – ich ging mit, aus Rücksicht auf Ihre mühsam errungenen stillen Stunden, die ich Ihnen so von Herzen gönnte; denn wäre ich dageblieben, Sie hätten sich doch verpflichtet gefühlt, mir Gesellschaft zu leisten … Sagen Sie nichts dagegen, ich kenne Ihr feines und gütiges Empfinden! Nun fühlte ich mich dort grenzenlos unbehaglich, und bei den andern stieg die Lustigkeit und Ausgelassenheit mit jeder Minute, alles lärmte und tollte umher, und als nun ein Spiel veranstaltet wurde, bei dem man
[102] sich rings umher im Walde zu zerstreuen hatte, um sich auf ein gegebenes Zeichen wieder zusammenzufinden, da hatte ich die beste Gelegenheit. Niemand achtete auf mich, und so ‚zerstreute‘ ich mich gleich bis hierher. Dort hat man das entschieden so bald nicht gemerkt, und als man es endlich merken mußte“ – Gabriele lächelte ein wenig – „da hat man sich ohne Zweifel allerseits gefreut.“
Der Doktor hatte sie ruhig reden lassen. Sein ganzes Wesen war in einer seltsamen Spannung. Dies war nur die Einleitung gewesen – was würde folgen?
„Was ich Ihnen sonst zu sagen habe“ – bisher hatte sie frei und fließend gesprochen, jetzt sah sie von ihrem Nachbar fort, und ihre Rede kam ins Stocken – „fällt mir schwer, schwerer, als Sie denken können. Ich – ich – muß fort aus ‚Buen Retiro‘!“
Röder sah sie erschrocken an. Oft hatte er sich’s gewünscht, sie möchte fort, weit fort sein, um nie mehr wiederzukehren, jetzt, da sie selbst die Absicht aussprach, zu gehen, dünkte es ihn eine Unmöglichkeit, daß er das zulassen könne.
„Warum denn? Und so schnell, so plötzlich? Sie sprachen immer vom Spätherbst, ich dachte, bis Mitte Oktober würden Sie –“
„Ja, es war meine Absicht, Ihre Gastfreundschaft so lange in Anspruch zu nehmen. Indessen, ich habe mich rascher erholt als ich wagen durfte, zu hoffen, ich fühle mich körperlich frisch und kräftig und dann – die Verhältnisse hier haben sich völlig geändert.“ Es fiel ihr sichtlich schwer, weiterzusprechen, aber er kam ihr mit keinem Wort zu Hilfe. Ihr unvermuteter Entschluß hatte ihn ganz außer Fassung gebracht.
„Sie haben das Haus voll ungebetener Gäste,“ fuhr Gabriele endlich leise fort, „und, wie ich sie alle kenne und beurteile, denkt keiner von ihnen daran, diese Thatsache als peinlich zu empfinden und ihr bald ein Ende zu machen. Ich möchte Sie bitten, dies nicht zu hart zu beurteilen. Ich sagte es Ihnen schon, ehe die ersten Gäste ankamen, es seien lebenslustige Leute, die jeden Genuß und jede Freude dankbar hinnehmen und sich über das Woher und Wie weiter keine Skrupel machen. Sie sind, wenigstens einige von ihnen, selbst gutherzig und geben gern und sorglos, solange sie etwas haben – eben deshalb nehmen sie auch, was andere ihnen bieten, mit einer Unbefangenheit, die vielleicht einen härteren Namen verdient.“
„Ich gebe ihr diesen härteren Namen nicht,“ fiel der Doktor nachdrücklich ein. „Glauben Sie es mir, ich habe das leichtlebige und im ganzen harmlose Völkchen immer richtig beurteilt. Sie sind eine Art gemütlicher Sozialisten und sehen in jedem gut sanierten Mitmenschen einen Bruder, der die Pflicht hat, seine minder günstig gestellten Geschwister mit seinem Eigentum zu unterstützen und zu erfreuen. So haben sie denn auch mich und meine Villa aufgefaßt, und ich sträube mich nicht weiter gegen diese Rolle, denn wenn ich auch nicht reich bin, so habe ich doch genug, um einmal den Sommer über mein Haus voller Gäste zu sehen!“
„Es sind aber solche, die Sie sich nie und nimmer aus freiem Antrieb eingeladen hätten!“
„Das will ich nicht bestreiten. Indessen – geschah nicht Ihnen ein Gefallen?“
Die junge Frau zögerte, zu antworten. Offenbar kämpfte sie einen schweren Kampf mit sich.
„Sie wissen wohl nicht,“ begann sie zuletzt, und die Farbe ging und kam auf ihrem Gesicht, „daß sie alle zum Theater gehören?“
Er sah sie halb belustigt, halb gerührt von der Seite an. „Also das weiß ich nicht! Armes Kind, dies Geständnis scheint Ihnen ganz besonders schwer geworden zu sein, Sie haben es vielleicht von Tag zu Tag aufgeschoben, weil es Sie so viel Ueberwindung kostete! Ist es wirklich so?“ Gabriele nickte lebhaft.
„Nun, die Qual hätten Sie sich sparen können! Halten Sie mich wirklich für einen so schlechten Menschenkenner, für jemand, an dem all seine jahrelangen Reisen mit ihren vielfach wechselnden Eindrücken und Erfahrungen nutzlos vorübergegangen sind? Wenn dies der Grund war, weshalb Ihnen meine Gastfreundschaft für diese lustige Gesellschaft peinlich war, dann können sie alle ruhig noch einige Wochen hier bleiben und vollends Sie selbst dürfen sobald an keine Abreise denken. Weiß ich doch, daß Sie diesen Leuten so unerreichbar hoch und fern gegenüberstehen, daß es eine Beleidigung für Sie wäre, auch nur einen Vergleich zwischen Ihnen und jenen ziehen zu wollen! Um Gotteswillen, Gabriele, was ist Ihnen?“
Sie hatte bei seinen letzten Worten plötzlich ihr Gesicht mit einer leidenschaftlichen Gebärde in die flachen Hände gedrückt und begann jetzt fassungslos zu schluchzen.
Röder war in grenzenloser Bestürzung. Sein Gemüt war weich, und er gehörte zu den Männern, denen es geradezu eine Pein ist, eine Frau weinen zu sehen – und nun gar diese Frau, die er liebte!
Er neigte sein Haupt über ihr tief gesenktes Köpfchen und begann, ihr Trost zuzusprechen, wie man es einem Kinde thut. Er wußte gar nicht, was er ihr gethan, was sie in seinen Worten so schmerzlich getroffen haben konnte. Mit seiner tiefen klangreichen Stimme, in die sich ein einschmeichelnd warmer Herzenston schlich, bat er sie, sich zu beruhigen, ihm zuliebe, nicht mehr zu weinen – er könne das nicht sehen, und dazu versuchte er, sanft ihre Hände wegzuziehen, aber das war vergebens. Er fühlte nur ein paar heiße Thränen auf seine Hand herabtropfen.
Um die beiden war es rasch finsterer geworden, in dieser grünen Dämmerung ohnehin nicht zu verwundern. Als Gabriele endlich, endlich die Hände herabsinken ließ, konnte Röder selbst in dieser Nähe die Züge ihres Gesichtes und dessen Ausdruck nicht mehr deutlich unterscheiden.
Sie atmete ein paarmal hoch auf, um ihrer Stimme einige Festigkeit zu geben, und sagte dann mit einem raschen Entschluß: „Sie thun mir zu viel Ehre an, wenn Sie mich hoch über jene stellen, die die geduldeten Gäste Ihres Hauses sind – auch ich war beim Theater und werde dahin zurückkehren!“ Sie hatte das beinahe hart gesprochen, als wünschte sie sich mit einem gewissen Trotz gegen einen Widerspruch von seiner Seite zu wappnen.
Der aber erfolgte nicht. Sie fühlte nur ihre kalte zitternde Hand, die willenlos in ihrem Schoß lag, von einer festen und kräftigen erfaßt und festgehalten und hörte seine Stimme dazu sagen. „Und wenn dem wirklich so ist, glauben Sie, ich nehme mein Wort darum zurück?“
Sie blieb eine Weile stumm, dann, ehe er es zu hindern vermochte, hatte sie sich blitzschnell niedergebeugt und mit ihren heißen Lippen die feste kräftige Hand berührt, die noch auf der ihrigen ruhte.
„Gabriele!“ Ungestüm wallte es in ihm auf, aber gleich darauf durchzuckte ihn der Gedanke. „Sie ist ein Kind gegen dich und empfindet wie ein Kind dem väterlichen Beschützer gegenüber!“
Er seufzte leise. „Sie kennen mich doch noch wenig,“ begann er zögernd.
„Besser, viel besser, als Sie glauben! Ich weiß, daß Sie wenig Vorurteile haben, daß Sie gerecht und edel denken. Aber ich weiß es durch meine Mutter und auch durch Sie selbst, daß Sie eine persönliche Abneigung haben gegen alles, was irgendwie mit dem Theater in Zusammenhang steht. Haben Sie es mir nicht selbst gesagt: der Gedanke, ein weibliches Wesen, das Ihnen nahesteht, auf der Bühne zu wissen, sei Ihnen traurig und widerstreite Ihrem Gefühl? Und weil ich das aus Ihrem eigenen Munde gehört hatte, darum schwieg ich bis heute, denn von Ihnen gerade so verurteilt zu werden, das thut mir mehr weh, als ich es Ihnen mit Worten sagen kann.“
„Verurteilen? Gabriele, ich bitte Sie! Nie hätte ich das gethan – Sie sollten mir Vertrauen schenken –“
„Das will ich, eben darum bin ich hier! Ich möchte Ihnen erzählen von meinem früheren Leben –“
Er hörte ihr rasches erregtes Atmen, und wieder stieg es heiß in ihm auf. Jetzt Vergangenheit und Beruf und alles vergessen, alles außer dem Glück seines Herzens, sich das erobern und es festhalten mit starker Hand und der ganzen Welt Trotz bieten, frei und stolz!
Es war gut, daß Gabriele nicht gleich sprach, ihm war das Blut so stürmisch zum Herzen gedrungen, er hätte jetzt nichts von dem, was sie ihm erzählte, zu fassen vermocht. Als sie endlich begann, war er imstande zu hören, er rückte aber von ihr fort, so weit die kleine Bank es gestattete, und preßte die flachen Hände fest ineinander.
„Von meinem Vater sprach ich Ihnen schon und wie zärtlich er mich liebte. Aber mehr noch, er war auch unsäglich stolz auf mich, [103] meine kleinen Talente entzückten ihn, er sah eine bedeutende Zukunft für mich voraus und schmiedete Plan auf Plan, dieser Zukunft feste Gestalt zu geben. Namentlich meine musikalische Begabung machte ihm Freude. ‚Wenn Du erwachsen bist und Mama nicht mehr so viel Bälle und Gesellschaften braucht,‘ pflegte er zu sagen, ‚dann sammle ich ein hübsches kleines Vermögen für Dich, was gar nicht so langer Zeit bedarf, und das verwenden wir dann zu Deiner Ausbildung. Die besten Lehrkräfte, die wir in Europa haben, sind gerade gut genug, um meiner Jella Stimme auszubilden, dies köstliche Material, das gar nicht fein und behutsam genug angefaßt werden kann. Selbstverständlich kommst Du nie in die Oeffentlichkeit, nur ein ganz auserwählter kleiner Kreis braucht mein kleines Wunder anzustaunen, es wäre ein großes Zugeständnis, wenn ich Dir ausnahmsweise einmal in einem Wohlthätigkeitskonzert zu singen erlaubte!‘ So sprach Papa oft zu mir, und ich war froh, ihn so glücklich über mein Talent zu sehen, und nahm mir vor, sehr fleißig zu studieren und ihm in allen Stücken den Willen zu thun, denn ich liebte ihn unendlich! Daß von dem Sammeln eines kleinen Vermögens einstweilen, so lange wir das sorglose Leben in Batavia führten, keine Rede sein konnte, sagte mir schon damals mein unerfahrener Kinderverstand. Ich denke, ich erzählte es Ihnen schon: wir lebten wie die Fürsten, und Papa verstand es nicht, meiner Mutter einen Wunsch abzuschlagen. Sie hatte eine sehr liebliche Art, ihn zu umschmeicheln, er brachte ihr gegenüber kein Nein fertig. Und dann mußte er so rasch sterben, und wir standen mittellos da, was nach Auflösung unserer luxuriösen Häuslichkeit blieb, war ein kleines, kleines Sümmchen, gerade ausreichend, die Ueberfahrt zu bestreiten.
Nun kamen wir nach Brüssel zu Papas Verwandten. Ach, sie thaten für uns, was sie konnten, sie gaben uns die Mittel, zu leben, aber sie gaben uns keine Liebe und kein Verständnis, das besaßen sie eben nicht. Ich mußte mich bald daran gewöhnen, so jung ich noch war, auch für Mama zu denken und zu handeln. Der Tod des Mannes, der sie so grenzenlos verwöhnt, hatte sie fast tiefsinnig gemacht, sie wußte sich gar nicht zu helfen, sie war ganz wehrlos dem Leben und seinen Anforderungen gegenüber. Es demütigte sie, von Leuten, mit denen sie keine innere Gemeinschaft hatte, Geld annehmen zu müssen – der einzige Mensch, zu dem sie volles Vertrauen empfand – Sie, Herr Doktor, – war weit fort auf Reisen, so wurde ich ihre Freundin. Sie besprach alles mit mir. Daß Papas Gedanke ausgeführt werden, daß etwas zu meiner musikalischen Ausbildung geschehen müsse, stand bei mir fest. Ich dachte es mir sehr leicht und sehr schön, durch mein Talent, von dem ich einen ziemlich hohen Begriff hatte, große Summen zu verdienen, die es meiner Mutter möglich machen würden sorgenfrei zu leben und jede Unterstützung von der Hand zu weisen. Ich konnte es kaum erwarten, Unterricht zu bekommen. Die Verwandten sahen es nicht sehr gern, als es endlich dahin kam; sie waren reich und glaubten, es werfe ein schlechtes Licht auf sie, wenn eine ihrer Anverwandten irgend eine Art von Erwerb ergreife. Ich setzte aber mein Stück durch, nicht ohne Scenen und Thränen, und ging zunächst ins Konservatorium. Die Lehrer sagten mir viel schöne Dinge über meine Stimme, aber es hieß doch, ich müsse ein jahrelanges Studium durchmachen, ehe an ein Auftreten als Konzertsängerin zu denken sei. Das aber lag durchaus nicht in meiner Absicht, ich wollte rasch vorwärts, rasch, um jeden Preis!“
Gabriele sagte die letzten Worte mit mühsamer Stimme und stieß einen zitternden Seufzer aus. Es war jetzt ringsumher vollkommen dunkel geworden, der Himmel flimmerte von zahllosen Sternen, und hinter den dichtbelaubten Kastanienkronen zur Rechten leuchtete ein silberweißer Schein, langsam begann die Mondsichel emporzusteigen. Im nahen Gesträuch zirpte es unermüdlich, ein leichtes Lüftchen fächelte im Blätterwerk, das erste wohlige Aufatmen kam über die Natur.
Damals vermittelte mir ein Zufall Herrn Schraders Bekanntschaft. Er war bei der Bühne gewesen und beabsichtigte, von neuem zu ihr zurückzukehren, er hatte soeben einen Gastrollencyklus hinter sich, und bis sich ein neues passendes Engagement für ihn fand, wollte er in Brüssel Gesangunterricht erteilen. Man rühmte ihn als Lehrer, er hörte mich singen, zeigte sich begeistert von meiner Begabung und verhieß mir in kürzester Zeit glänzende Einnahmen, sobald ich mich seiner Leitung überlassen und mich entschließen würde, zur Bühne zu gehen. Dies Ansinnen kam mir gänzlich unerwartet und wurde anfangs ohne weiteres von mir zurückgewiesen. Ich fühlte keine Neigung, zum Theater zu gehen, und sagte das unumwunden. Mitten in diese Verhandlungen hinein fiel ein schwerer Schicksalsschlag – der Tod meiner Mutter! Sie starb ohne lange Krankheit, ich war wie betäubt durch diese neue Prüfung. Bei den Verwandten wollte ich keinesfalls länger bleiben, meine Mutter war das letzte vermittelnde Glied gewesen, das uns zusammenhielt. Sie versuchten nach Mamas Heimgang noch einmal, mich zum Bleiben zu veranlassen, aber umsonst. Ohne Mama – keine Stunde länger in diesem Hause! Die heranwachsenden Kinder waren mir von jeher sehr unfreundlich begegnet, sie allein hätten mir schon den beständigen Aufenthalt dort verleidet, sie waren voller Neid und Eifersucht auf mein Talent, obgleich ich mich niemals in ihren Kreisen damit hören ließ. Ich ging also aus dem Hause und zu einem entfernten Vetter meines Vaters, der gleichfalls in Brüssel lebte und mein Vormund geworden war. Hier behandelte man mich gütig, interessierte sich für meine musikalische Begabung und legte meinen Zukunftsplänen nichts in den Weg. Aber die Familie war arm, hatte mit Sorgen zu kämpfen, kein Gedanke daran, daß ich hier einen materiellen Halt fand. Mit den andern Verwandten hatte ich für immer gebrochen, ich war in offener Feindseligkeit aus ihrem Hause geschieden, sie waren empört über meine schreiende Undankbarkeit und meine Abenteurerlust, die mich in eine so unpassende Laufbahn trieb. Gott weiß, ich war weit von jeder Abenteurerlust entfernt, aber ich war auf mich allein angewiesen, meine musikalische Begabung zeigte mir den einzigen Weg, bald zu eigenem Erwerb zu kommen. Was sollte ich thun? Ich verwertete die schönen Schmuckstücke meiner Mutter, von denen sie sich nie hatte trennen können, um aus dem Erlös fürs erste mein Leben zu fristen. Herr Schrader und seine Frau waren sehr gut zu mir, sie waren damals in sehr günstiger Lage, er war ein gesuchter Gesanglehrer, seine Frau gab Deklamationsstunden und studierte jungen Anfängern leichte Opernpartien ein. Sie nahmen beide so gut wie gar kein Honorar von mir und zeigten lebhafte Teilnahme für mein Fortkommen, auch hatten sie zahlreiche Verbindungen, die mir nützlich sein konnten. Nach einem Jahr des eifrigsten und angestrengtesten Studiums war ich so weit, daß ich öffentlich auftreten konnte.“
Ein tiefes Aufatmen hob Gabrielens Brust, sie sah ängstlich nach ihrem stummen Gefährten, aber der Mond war noch nicht hoch genug gestiegen, sie konnte Röders Gesichtszüge nicht erkennen.
„Es sollte natürlich eine kleine Stadt sein, in der ich anfing,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. „Ich war nicht erbaut davon, aber Herr Schrader hatte wohl recht, wenn er behauptete, ich müsse glücklich und dankbar sein, überhaupt nach so kurzer Studienzeit ein Engagement zu finden; bei Anfängerinnen, von denen niemand etwas wisse, sei das eine große Gunst des Schicksals. So fing ich denn in einer kleinen schlesischen Stadt auf der Sommerbühne an, allein ich merkte bald, daß ich mir zu viel zugemutet hatte, als ich zur Bühne ging. Der ganze Ton zwischen den Kollegen, die Verhandlungen mit den Agenten, die ganze Atmosphäre – erlassen Sie mir’s, es Ihnen zu schildern, Sie werden genug darüber gehört und gelesen haben. Aber es ist doch ein himmelweiter Unterschied, solche Dinge zu hören und zu lesen oder sie selbst zu erleben, zumal wenn man ein unerfahrenes Mädchen von kaum neunzehn Jahren und erzogen ist wie ich. Ich war wie vernichtet, ich fühlte, daß ich nicht für das Theater paßte, meine Stimme klang wohl hübsch, aber mein Spiel war unbelebt, meine Haltung erzwungen, es war kein Theaterblut, kein richtiger Trieb in mir. Man sagte mir das, und ich fühlte, daß es Wahrheit war. Was nun anfangen? Irgendwo mein Heil als Gesanglehrerin versuchen, mittellos, unbekannt, wie ich war, ohne stützende und helfende Verbindungen? Meine wissenschaftlichen Studien wieder aufnehmen? Auch dazu gehörte Geld, und ich war den Wissenschaften seit den letzten zwei Jahren fast ganz entfremdet, meine volle Kraft und Zeit hatte der Musik gehört. Da, als ich verzweifelt nach einem Ausweg suchte, lernte ich meinen – meinen – lernte ich Willibald Hartmann kennen.“
Jetzt belebte sich der stille Zuhörer an Gabrielens Seite plötzlich – dieser Name rüttelte ihn aus seiner Versunkenheit auf.
„Haben Sie ihn geliebt?“ fragte er in fast rauhem Ton.
Die junge Frau antwortete zuerst nicht. Sie schien in ihrem
[104][105] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [106] Innern zu suchen, schien ein abgleichendes Wort vorausschicken zu wollen …
„Nein!“ stieß sie endlich hervor.
„Das heißt,“ setzte sie nach einer atemlosen Pause hastig hinzu, „ich glaubte damals, ihn zu lieben. So schlimm meine Lage war, niemals hätte ich mich um äußerer Gründe willen entschließen können, die Frau eines ungeliebten Mannes zu werden. Frau Schrader, die ich in jener Zeit oft sah, könnte es Ihnen bestätigen, daß es lange dauerte, bevor … daß Hartmann mehr als einmal … verzeihen Sie mir, es muß häßlich klingen, was ich Ihnen sage, aber ich will die Wahrheit sprechen, die volle Wahrheit. Sie sollen wissen, ehe wir von einander scheiden, wer ich war und wer ich jetzt bin!“
„Ich weiß,“ sagte Röder halblaut, „daß Ihr Gatte mehrmals um Sie werben mußte, daß er Sie leidenschaftlich liebte und daß Sie zum Nachgeben nicht zuletzt durch den Gedanken bestimmt wurden, es könnte bei seinem erregbaren Temperament ein Unglück geschehen!“
„Also hat Frau Leopoldine es Ihnen gesagt? Sie hatte recht, es war so. Er war ein leidenschaftlicher Mann, eifersüchtig – und so liebte er mich – ganz rasch war alles gekommen, mir viel zu rasch, zu plötzlich. Ich konnte sein Gefühl nicht erwidern, es war mir beklommen zu Mut in seiner Nähe, mir fehlte das Vertrauen zu ihm. Wenn er neben mir saß, mich aus seinen heißen Augen ansah, dann kam es wie Angst über mich, ich konnte kein rechtes Herz zu ihm fassen, und ich sagte ihm das. Er wollte warten, wiederkommen, alles thun, was ich wollte, aber seine stürmische Liebe ließ das nicht zu. Er konnte bitten, flehen, überreden – mein Gott!“
Wie überwältigt legte Gabriele eine kleine Weile die Hand über die Augen.
„Er war auch beim Theater, er hatte eine wunderschöne Stimme. Ich sollte nicht mehr zur Bühne, ich sollte nichts mehr sehen und hören von der Oper, wenn ich nicht wollte, ich sollte leben wie eine Prinzessin, jeden Wunsch würde er mir erfüllen! Er könne nicht mehr leben, wenn ich ihn nicht erhörte, sein ganzes Dasein sei zerstört, ob ich dafür die Verantwortung tragen könne? Nein, ich konnte es nicht, ich war gerührt, besorgt um ihn, ich sagte mir, eine solche Liebe fände sich nicht zum zweitenmal, eine Liebe, die zugleich mein Rettungsanker wurde … und ich sagte Ja!“
„Wurden Sie glücklich, Gabriele?“
Sie schüttelte langsam und traurig den Kopf.
„Er hat mich verwöhnt und geliebt, aber auch gequält und gepeinigt mit Mißtrauen, mit Eifersucht, mit Vorwürfen über meine Lieblosigkeit und Kälte; ich kam nie zur Ruhe neben ihm. Wir hatten Stunden der Freude und des Genusses – Stunden des Glücks aber, die habe ich nicht gehabt. Ich klage ihn nicht an, denn er konnte nichts für sein ungestüm wallendes Blut, aber ich kann auch mich nicht anklagen, da ich mich redlich bemühte, ihn glücklich zu machen und selbst glücklich zu sein. Wir paßten nicht zu einander, das war alles. Sein ewiges Mißtrauen verletzte mich zu sehr; ich habe manchen Fehler, das aber weiß ich, daß man mir vertrauen kann. Und das Leben, das wir führten, nur von Sängern und Schauspielern umgeben, so ganz nur im Rahmen des Theaters – es widerte mich mehr und mehr an, trotzdem ich selbst nicht mehr aufzutreten brauchte. Und als Willibald dann starb nach langem entsetzlichen Kampf, ich ihm die müden Augen endlich zudrücken durfte, da waren es doch wieder diese gutherzigen Menschen des Theaters, die mich über Wasser hielten, die mir halfen, soviel es in ihren Kräften stand. Darum bin ich ihnen Dank schuldig, ob ich auch vieles an ihnen mißbilligen muß, und darum danke ich auch Ihnen, der Sie, ohne zu fragen und zu klagen, diesen allen Ihr Haus geöffnet und eine schöne frohe Zeit bereitet haben. Ich – wenn ich nun gehe, werde es nie vergessen, was Sie mir gewesen sind …“
Gabrielens Stimme wurde unsicher, sie setzte noch einmal zum Sprechen an, aber es war umsonst.
„Und warum wollen Sie fort?“ fragte der Doktor leise.
„Warum? Weil ich es nicht länger mit ansehen kann, wie Ihnen Stimmung, Arbeitsfreudigkeit, Zeit und Lebensgenuß geraubt wird! Weil ich weiß, daß das Dasein, das Sie jetzt führen, für eine Natur wie die Ihrige gar kein Dasein genannt werden kann. Und da ich überzeugt bin, daß kein einziger von allen denen, die jetzt Ihre Gastfreundschaft genießen, Miene machen würde, zu gehen, so lange ich noch hier bin … nun gut, so muß ich mit jenen zusammen gehen, zu denen ich doch fortan wieder gehöre!“
„Gabriele! Sie können, nach allem, was Sie mir soeben mitgeteilt haben, ernstlich daran denken, zur Bühne zurückzukehren?“
„Muß ich denn nicht? Bleibt mir eine andere Wahl? Ein Beruf, den man ohne Neigung ausübt, bleibt freilich immer ein trauriger Notbehelf, aber ich kann ja nicht anders. Ein Leben, wie es meinem Sinn und meiner Neigung entspricht, kann ich nicht führen –“
„Und welch ein Leben wäre das?“ fiel Röder ihr ungestüm ins Wort.
„Ein friedliches ruhiges Dasein voll geistigen Strebens und stiller Erholung in der Natur, ein Leben, nach dem niemand in der großen Welt fragt, von dem niemand weiß – ach, Sie wissen, Sie wissen, was ich meine: ein Leben, wie ich es hier in ‚Buen Retiro‘ führen durfte in der ersten Zeit.“
„Und meinen Sie, das würde Ihnen auf die Dauer genügen?“
„Genügt es Ihnen denn nicht?“
„Sie dürfen sich mit mir nicht vergleichen. Ich habe mich, wenn ich so sagen darf, ausgelebt – gottlob ist weder mein Geist noch mein Gemüt erstorben, ich vermag noch vieles zu genießen, mich für einiges zu begeistern, ich kann noch Liebe und Freundschaft empfinden – ich meine aber, die Freuden, welche die Welt mir bieten kann, die habe ich ausgekostet, ich habe sie durstig genossen und habe finden müssen, daß eine Natur wie die meine bald davon satt wird. Ich darf mein inneres Gleichgewicht nicht verlieren, und als ich fühlte, daß Gefahr dazu vorhanden war, bin ich hierher nach ‚Buen Retiro‘ gegangen mit der Absicht, hier mein Leben zu verbringen. Die Fäden, die mich mit der Welt verknüpfen, sind nicht abgeschnitten, aber sie liegen lose in meiner Hand, und, wie ich einmal bin, werde ich sie mir wohl niemals ganz entgleiten lassen, jedoch auch nie wieder sie so fest anziehen, daß eine dauernde Verbindung entsteht. Sie aber, Gabriele, Sie sind so jung noch – was hat Ihnen das Leben bisher gebracht, das Sie zu einem solchen Verzicht berechtigt?“
„Mehr als genug, übergenug! Ich habe geselliges Treiben und Verkehr gehabt zum Ueberdruß, in Batavia sowohl als auch bei den Verwandten in Brüssel, ich habe mehr Festlichkeiten in einem Monat besucht als andere deutsche junge Mädchen in einem Jahr, ich habe zahllose Menschen gesehen und gesprochen, mein Verstand verdankt ihnen manches, meine Erfahrung vieles, mehr, als es meinen jungen Jahren gut ist … doch was haben sie meinem Herzen gegeben? Und in der kurzen Zeit meiner Ehe – meinen Sie nicht, ich hatte mehr Gelegenheit, Welt und Leben kennenzulernen als hundert Frauen meines Alters? Ich bin keine Menschenfeindin, da sei Gott vor, aber ich bin nicht die Natur, die der Stürme, der Vergnügungen und Aufregungen bedarf. Das Schicksal hat es nicht gut mit mir gemeint, es wirft mich steuerlos auf hoher See umher, und ich sehne mich nach dem Hafen.“
„Wäre ich zehn Jahre jünger, als ich es bin, Gabriele, ich spräche Ihnen von allem was mein Herz bewegt, und ich böte Ihnen ein Heim am ruhigen Ufer.“
Röder sagte es langsam, wie aus einem Traum sprechend, ohne Erregung – es mußte klar werden zwischen ihm und ihr.
„Ich könnte Ihnen ja anbieten,“ fuhr er fort, als sie nichts erwiderte, „bei mir zu bleiben, es zu versuchen, wie lange Sie das Stillleben, das mir zum Bedürfnis geworden ist, teilen könnten. Aber das darf ich nicht, um meiner Ruhe willen nicht, ich müßte Sie denn bitten, allein in ‚Buen Retiro‘ zu bleiben und mich wieder hinauswandern zu lassen in die Welt. Denn wenn wir zusammen hier blieben, Gabriele, dann müßten Sie mein Eigen werden, da ich Sie liebe – nein, nein, erschrecken Sie nicht – ich wollte Ihnen nur erklären, warum ich ungastlich erscheinen muß – ich weiß ja, es ist nicht möglich –“
Was war nicht möglich? In demselben Augenblick, da er es aussprach, war das Unmögliche geschehen, hielt er Gabriele in seinen Armen. – –
Sie haben oft beide später gemeinsam darüber nachgesonnen, wie es doch eigentlich kam, daß sie sich gefunden hatten, aber die [107] Erinnerung ließ sie im Stich, es kann so rasch, es war so unvermutet und so überwältigend schön.
Cornelius Röder wußte nur, daß das junge Weib in seinen Armen leise schluchzte und daß, als er sie bat und immer wieder bat. „Weine nicht, Liebling, weine nicht!“, sie endlich mit ihrer weichen zitternden Stimme sagte: „Laß’ mich doch! Es sind Freudenthränen!“
Wann es über sie gekommen sei? Sie wußte es nicht zu sagen, bald jedenfalls, sehr bald. Und ob sie ihn so lieben könne wie er sie? Mehr, viel mehr! Und ob sie ihm glaube, daß er alles, alles thun werde, um sie glücklich zu machen, daß er ihr jeden Wunsch erfüllen wolle? Sie habe nur einen einzigen Wunsch – immer, immer in „Buen Retiro“ und immer bei ihm zu sein.
Nach all’ den lärmvollen unruhigen Tagen – welch schönes, stilles Verlobungsfest! Nur der Mond, der silberblaß über den nachtschwarzen Baumwipfeln stand, sah ihnen zu, wie sie einander küßten, und hörte die leisen zärtlichen Worte, die eines dem andern sagte.
Von den Fremden sollte es vorläufig niemand erfahren, es wäre ihnen beiden wie eine Entweihung erschienen. In zwei Tagen sollte Gabriele abreisen, einstweilen zu ihrem Vormund in Brüssel – die andern würden mit ihr die Villa verlassen – und erst von Brüssel aus sollte die Welt ihr Glück hören. Bald, bald wollte Cornelius seiner Braut dorthin folgen, und eine kleine stille Hochzeit sollte es geben.
Arm in Arm gingen sie endlich an jenem Abend nach der Villa zurück, aber es dauerte sehr lange, bis sie dahin kamen. Unterwegs kam ihnen Mamsellchen entgegen, von Besorgnis um ihren Doktor getrieben, und sie erfuhr das große Geheimnis und gebärdete sich wie unsinnig vor Freude. Lachen und Weinen in einem Atem, und Handküsse und Umarmungen, Beteuerungen, keiner lebenden Seele ein Wort zu verraten, Beschwörungen, die „junge Frau“ solle ihren Cornelius glücklich machen, denn solch’ einen Mann fände sie auf der ganzen Erde nicht mehr und so gut wie Mamsellchen kenne ihn doch keines, Fragen, ob die „Gesellschaft“ nun endlich abziehen werde, und großes Frohlocken, als die Antwort bejahend lautete. Und zuletzt zog die treue Seele sich in ihr Zimmerchen zurück, um sich da gründlich auszuweinen, und das Brautpaar blieb draußen vor der Villa zurück.
Da stand das Haus, schön und still im Mondenschein, von weißem feierlichen Licht übergossen. Die dunkle Umrahmung von Bäumen und Gebüsch hielt es wie mit grünen Armen umfangen, seine hellen Fenster blitzten gleich freundlichen Augen, und das Wetterfähnchen hoch oben auf dem Aussichtsturm glänzte wie Silber. Ueber dem Portal die Inschrift aber leuchtete wie eine Verheißung reinen stillen Glücks zu den Liebenden nieder.
Die Zither und ihre Herstellung.
Im deutschen Hochgebirg, in den Dörfern und Almhütten der deutschen und österreichischen Alpen ist von alters her ein Saiteninstrument heimisch, dessen Klang in uns Städtern wie mit Zaubermacht die Poesie des ursprünglichen frischen Lebens da droben heraufbeschwört. Unsere Vorliebe für die Alpenwelt ist auch der Zither zu gute gekommen; mit den Liedern unserer Gebirgsbauern ist auch sie überall in deutschen Landen zu großer Volkstümlichkeit gelangt; in jeder größeren deutschen Stadt giebt es Zithervereine, in denen das Spiel auf diesem Instrument mit Begeisterung gepflegt wird; wie es klingt, wie es aussieht, ist jedermann bekannt.
So wird auch vielen willkommen sein, einmal im Zusammenhang etwas von der Geschichte und der Herstellungsweise der Zither zu erfahren.
Was ihr Alter betrifft, so geht es dem bäuerlichen Instrument wie den Bauern selbst mit ihren Stammbäumen. Auch der Bauer hat eine Ahnenreihe, die ununterbrochen in die Vergangenheit zurückreicht, aber es fehlen ihm die geschichtlichen Aufzeichnungen, auf die sich der Adel für seine Vorfahren berufen kann. Unter den Musikinstrumenten, deren Anfänge bis zu den ersten Regungen menschlicher Kultur hinaufreichen, haben Harfen und Flöten den verbürgtesten Stammbaum. Die Zither – obgleich eine Verwandte der „königlichen“ Harfe – gestattet eine strenge Zurückverfolgung ihrer Ahnen nur auf ein paar Menschenalter, obwohl anzunehmen ist, daß sich die Entstehung ihrer heutigen Form langsam und stufenweise vorbereitet hat. Zweifellos ist nur das Eine, daß der Name „Zither“ weit älter ist als das Instrument, welches heutzutage denselben führt.
Wir folgen dem hervorragenden Kenner auf dem Gebiete der Geschichte der Musikinstrumente, dem Kustos der Instrumentensammlung der königlichen Hochschule für Musik in Berlin Oskar Fleischer, um kurz darzulegen, was die Forschung uns über das Verhältnis der Zither zu ihrem Namen zu sagen hat.
Unter Cithara verstand das Mittelalter ein Musikinstrument mit wagerecht liegendem Resonanzboden und darüber gespannten Saiten, die von oben her angeschlagen wurden. Der Name war dem Griechischen entlehnt und wurde im Laufe der Zeiten mehreren verschiedenartigen Saiteninstrumenten in mannigfacher Umgestaltung beigelegt. Im Griechischen gab es zwei Formen: kitharis und kithára. Erstere ward zu cithara und im Deutschen zu Zither, letztere im Französischen zu Guitarre. Wie zwei Sprachformen, so liegen auch zwei Instrumentenformen den Zitherarten zu Grunde. Die eine geht zurück auf ein geradliniges, die andre auf ein Instrument mit fast kreisförmigem Schallkörper. Die geradlinige Form liegt deutlich vor im Scheitholt, einem schon im 16. Jahrhundert sehr volkstümlichen Begleitinstrumente, aus welchem sich die bayerische, heute in Deutschland fast allein gebrauchte Zither mit ihren mannigfachen Abarten entwickelt hat. Die andre, die runde Form, die altdeutsche Zither, wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch die romanische Guitarre und diese durch die bayerische Zither verdrängt.
Als kennzeichnende Eigenschaften hebt Fleischer hervor den wagerecht liegenden Resonanzboden und die der Hauptsache nach geradlinige Form. Außer diesen Merkmalen sind für die heutige Zither noch bezeichnend: einmal die Trennung der Saiten in eine kleinere Gruppe von Melodie- und eine zahlreichere Gruppe von Begleitungssaiten und ferner die Einteilung des unter den Melodiesaiten liegenden Griffbrettes durch sogenannte „Bünde“. Unter „Bünden“ aber versteht man kleine, senkrecht zur Richtung der Saiten angebrachte Metallstege, welche, nach Halb- und Ganztonentfernungen angeordnet, beim Niederdrücken der Saite eine Verkürzung derselben, entsprechend einer bestimmten Tonhöhe, bewirken. Also nicht der Finger, wie bei der Violine und andren Streichinstrumenten, sondern dieser „Bund“ bestimmt den Punkt, an welchem die Saite fixiert und dadurch in Länge und Ton verändert wird.
Faßt man all das ins Auge, so ist leicht einzusehen, daß sämtliche vermeintliche Vorläufer der Zither mit diesem modernen Instrumente in äußerst loser Verbindung stehen. Mit etlichen guitarrenartigen Musikwerkzeugen hat die Zither nur die Begrenzung des Schallkastens durch zwei parallele Hauptflächen und die Verwendung der „Bünde“, mit dem Hackbrett (das eine [108] Menge von exotischen Verwandten aufweist) außer diesen beiden Flächen auch noch die Besaitungsart gemein. Verschiedene Ueberlieferungen haben sich also wohl vereinigt, um einen neuen Typus zu schaffen. Um den Ausgang des 17. Jahrhunderts scheinen Zithern gleichzeitig in verschiedenen Ländern gebaut worden zu sein. Auf der Wiener Musik- und Theaterausstellung 1892 konnte man eine Zither von Joachim Tilke in Hamburg (1660 bis 1730) sehen, die 5 Paar Metallsaiten und 18 Bünde besaß; daneben eine alte norwegische Zither von Anders Regnaldsen Kloeive in Bergen mit ebensovielen Saiten. Beide Instrumente waren durch einen „Hals“ verlängert. Nicht weit davon lagen eine alte dänische Zither (sogenannte Humble, „Hummel“) und eine aus unsrer Zeit stammende portugiesische Zither von Mano el Pereira in Lissabon. Daß auch der Orient in der Hervorbringung ähnlicher Instrumente – und zwar wahrscheinlich unabhängig von den abendländischen Konstruktionen – nicht zurückblieb, zeigten die verschiedenen in dem ethnographischen Teil jener Ausstellung vorhandenen zitherartigen Instrumente. „Sitar“ nennt sich, stark an „Zither“ anklingend, ein bei den mohammedanischen Indern gebräuchliches Saiteninstrument. Das japanische Koto, das chinesische Chin, das arabische Santir, das Santur der Bulgaren haben freilich größere Verwandtschaft mit dem „Hackbrett“ und sind ohne Griffbrett und Bünde. Immerhin aber ist auch bei ihnen eine Verwandtschaft mit der Zither nicht abzuleugnen, besonders, da sich die moderne Zither nicht unmerklich gerade nach Seite des Hackbrettes hin ausgebildet hat.
Der Ruhm, die Form der bayerischen Zither ausgebildet zu haben, gebührt dem Marktflecken Mittenwald im bayerischen Hochgebirg, dem berühmten Geigenmacherort, wo noch heute die Herstellung von aller Art Saiteninstrumenten den Gegenstand einer regen Hausindustrie bildet. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts hatten die Mittenwalder Zithern die Form von Lauten ohne Hals, wobei der Kasten entweder die beiden seitlichen Ausbauchungen der Guitarre aufwies oder lyraartig gestaltet war. Die älteren Wiener Zithernbauer arbeiteten ebenfalls nach diesen Formen. Genannt wird von letzteren ein Anton Rehrer, „Ziternmacher im tieffen Graben 133“ in Wien (um 1770). Die um dieselbe Zeit geschaffene „Halleiner oder Pinzgauer Zither“ weicht von obiger Form ab; sie hat einen schmalen Hals, der sich gegen die Wirbel hin verengt.
Unsere obenstehende Abbildung stellt mehrere ältere Zitherformen zusammen. Die Originale befinden sich im Besitze der Wiener Zitherfabrik von Anton Kiendl. Figur 1 ist eine „Gebirgszither“ von sehr einfacher Form, die aber dadurch auffällt, daß die in der Decke angebrachten Klangöffnungen die Form der F-Löcher der Violine besitzen, was zu den größten Seltenheiten gehört. Figur 2 ist eine Halleiner Zither von eleganter Form. Auch Figur 3 zeigt den letzteren Typus. Die kurzen Melodiesaiten erinnern an die Abstammung dieser Form vom Hackbrett. Figur 4 zeigt eine Halleiner Zither von hübscher Form, die, gleich den in Fig. 2 und 3 abgebildeten Instrumenten, mit einem zweiten Chor kürzerer Melodiesaiten versehen ist. Figur 5 ist namentlich dadurch merkwürdig, daß das Instrument, – ein roh und bäuerisch gearbeitetes Stück eigentlich aus zwei nebeneinander gekoppelten Zithern besteht. Offenbar der Einfall eines weltabgeschiedenen, intelligenten Gebirglers.
Die heutige Zither bekam ihre Form durch den in Mittenwald geborenen, anfangs in München als Geigen- und Lautenmacher arbeitenden, 1843 nach Wien übergesiedelten Anton Kiendl, dessen Etablissement kürzlich den 50. Jahrestag seines Bestehens begangen hat. Zur Zeit der Begründung war durch einen begabten Mann, den Wiener Wirtssohn Joh. Petzmayer, das Zitherspiel in Wien ungemein in Mode gekommen. Der Hof, die bürgerlichen Kreise, hoch und niedrig, begannen sich für dasselbe zu interessieren, und Kiendl, der eine gewisse Vorliebe für das Instrument aus seiner Mittenwalder Heimat mitgebracht haben mochte, erkannte den Zeitpunkt als günstig, um sich in der Kaiserstadt niederzulassen. Obwohl er auch hier zuerst vornehmlich Lauten baute, so warf er sich doch bald mit aller Kraft auf die Zitherfabrikation, und in regem Verkehr mit Petzmayer stehend und von diesem beeinflußt, kam er in kurzer Zeit darauf, die im wesentlichen bis heute beibehaltene Form festzustellen, deren Typus unsere zweite Instrumentengruppe in Figur 2 darstellt. Auf Anregung seines Freundes Barth konstruierte er noch die – wesentlich größere – Baß- oder Elegiezither (ebenda, Figur 1), dann die Konzertzither, welche die Mitte zwischen dieser und der gewöhnlichen hält (Figur 3), 1823 mit Petzmayer zusammen die Streichzither, und zwar in zwei Größen, in Violin- und Violastimmung. Eine solche ist in Figur 4 abgebildet.
Die Art der Erzeugung dieser modernen Zithern – wir folgen hier der Methode, nach der sie in Ant. Kiendls Instrumenten-und Saitenfabrik in Wien hergestellt werden – ist mühseliger und umständlicher, als man vermuten sollte. Das wichtigste Material dazu ist das Resonanzholz, Fichtenholz aus dem Gebirge, bei dessen Beschaffung mannigfache Rücksichten zu nehmen sind. So ist z. B. nur solches Holz zu gebrauchen, das infolge mageren Bodens und hoher Lage langsam gewachsen ist, daher dicht aneinander liegende Jahresringe aufweist, und dessen Fasern möglichst geradlinig und nicht in Schraubenlinien gedreht erscheinen. Die aus solchen Stämmen nach einem bestimmten System gewonnenen Tafelstücke, aus denen man Böden und Decke der Zither zusammensetzt, müssen zuvor aber lange lagern, um genügend auszutrocknen. Das Gleiche hat mit den zusammengestellten Platten zu geschehen. In Kiendls Fabrik stehen Hunderte und aber Hunderte solcher Lamellen, wie die Bücher einer Bibliothek – wenn auch mit kleinen für den Luftzutritt ausgesparten Zwischenräumen – aneinandergereiht, in den oberen Gestocken der Arbeitsräume. – In ähnlicher Weise wird auch das Fournierholz (Palisander-, Ahorn-, Rosen- oder [109] Ebenholz), mit welchem später der Körper des Instruments um des schöneren Aussehens willen belegt wird, zum möglichst vollständigen Austrocknen gebracht. –
Sind aus den so vorbereiteten Tafeln der flache Boden und die sanft gewölbte Decke hergestellt worden, so werden sie durch die niedrigen aufrechtstehenden Holzleisten, die „Zargen“, miteinander verbunden, wodurch das „Corpus“ entsteht. Diese „Körper“ werden dann wieder bis zur Ausfertigung des Instrumentes dem natürlichen Lufttrockenprozesse unterworfen, worauf mit der Bohrmaschine die Löcher für die Stimmnägel eingebohrt werden. Um das Instrument zu vollenden, wird das Griffbrett auf der geraden Seite des Corpus glatt angeleimt, auf demselben die Einteilung nach Tönen und Halbtönen vorgenommen – die heikelste Arbeit beim Ganzen – die „Bünde“ werden eingesetzt, die Zither poliert, mit Stimmnägeln versehen und endlich mit Saiten bespannt. Es vergehen oft 10, 20 und mehr Jahre, ehe das als einfaches Spaltholz in die Fabrik eingelieferte Material zu kunstvollen Instrumenten verarbeitet das Haus des Meisters verläßt. Auch ist durch diese umständliche Prozedur erklärlich, warum die Firma Kiendl in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens nicht mehr als 25 000 Zithern geliefert hat. Die schon mehrfach erwähnten Bünde weisen noch eine Eigentümlichkeit auf, die einer näheren Darlegung wert erscheint. Da nämlich die Ganz- und Halbtöne bei den verschieden dicken Melodiesaiten nicht genau nebeneinanderliegen, es aber wünschenswert ist, daß die Bünde senkrecht zur Richtung der Saiten über die ganze Breite des Griffbrettes reichen, hat Kiendl die Bünde von den höheren gegen die tieferen Saiten zu geneigt konstruiert, so daß die dickeren Saiten tiefer herabgedrückt werden als die höheren.
Das Material, aus dem die Saiten hergestellt werden, ist teils Metall, Stahl, Messing, oder eine eigene Legierung („Komposition“), teils Darm, teils übersponnene Seide. Die Begleitungssaiten sind von der letzteren Art. Sie werden aus äußerst feinen Naturseidenfäden – je nach der Stärke aus wenigen oder vielen – zusammengelegt und dieser Seidenkern wird sodann mit Kupfer- oder Silberdraht übersponnen. Die Abbildung zur Rechten veranschaulicht diesen Vorgang. Welche Menge von solchem Draht sich auf einer Zither befindet, mag man daraus ersehen, daß die dünnste Saite der Konzertzither von etwa 60cm Länge zur Ueberspinnung eine Drahtlänge von ungefähr 15 Metern erfordert, wobei sich der Draht etwa 7000 mal um den Seidenkern windet.
Die Zahl und Stimmung der Melodie- und Begleitungssaiten ist nicht gleich. Verschiedene Fabriken, verschiedene Zithermeister sind darüber verschiedenster Ansicht, und es hat gerade dieser mit der Harmonie in so naher Beziehung stehende Punkt manche Disharmonie in den betreffenden Kreisen hervorgerufen. Kiendl liefert Zithern mit „Wiener Stimmung“ (a d g e C) und solche mit „Münchener“ oder „Berliner Stimmung“ (a a d g C), erstere mit 31, letztere mit 33 Begleitungssaiten.
Ein Wort noch über die Leistungsfähigkeit der Zither, einen seit jeher vielumstrittenen Punkt. Während ihr die einen alles Mögliche, ja, noch lieber, alles Unmögliche zutrauen, wollen die andern ihr schier die Daseinsberechtigung absprechen. Keines von beiden dürfte richtig sein. Wer der Meinung ist, man könne Beethovensche Sonaten oder Symphonien ungestraft auf die Zither übertragen, überschätzt das Instrument. Die ganze Konstruktion widerstrebt der Wiedergabe komplizierter,
polyphoner Tonwerke, der kurze Ton, die durch nichts zu verändernde Klangfarbe stellen sich den wichtigsten Anforderungen solcher Werke entgegen. Daß ein Zithermeister sogar den Versuch wagte,
Wagners „Tristan und Isolde“ für die Zitherlitteratur zu gewinnen, zeigt nur, daß auch gut in die Sache Eingeweihte vor Verirrungen nicht sicher sind. Als Instrument der Gemütlichkeit aber, als Organ
zur Wiedergabe einfacher Volksweisen, namentlich älplerischer Lieder, zur Begleitung einfachen Gesanges eignet sich die Zither ganz besonders, und darauf sollte immer hauptsächlich Rücksicht genommen werden. In jede Dachkammer, wo niemals ein Klavier Platz fände, ins waldferne Jägerhaus, in die Alpenhütte läßt sich leicht die Zither mitnehmen und mit ihr ein Quell der Behaglichkeit, der Freude. Mit der eigentlichen Heimat der Zither, dem Gebirge, hängt auch ihre beste Kraft zusammen. Das freundliche, anspruchslose Instrument sollte sich seiner Herkunft nie schämen. Künsteleien entstellen dasselbe und machen aus dem gesunden, einfachen Kind der Berge einen – Salontiroler. J. E.
[110]
Rätselhafte Veränderungen des menschlichen Haares.
Das Ergrauen kommt mit langsamen Schritten – langsam fallen die Schneeflocken des Alters auf unser Haupt. Zuerst zeigen sich an den Schläfen die ersten weißen Haare und lange bleiben sie vereinzelt. Jahre vergehen, bis das Ergrauen allgemeiner wird und schließlich Haupthaar und Bart unverkennbar den – Schmuck des Alters tragen. Aber nicht immer vollzieht sich dieser Vorgang so allmählich, es giebt Ausnahmen von der Regel und so ergrauen auch die Menschen in kürzerer Zeit – in einem Jahre, in wenigen Monaten oder Wochen. Ja, das Haar kann noch rascher bleichen, kann plötzlich in einer Nacht, in wenigen Stunden ergrauen. So erzählt uns die Geschichte, daß Herzog Ludwig der Strenge von Bayern, der in dem Wahne, sein Weib sei ihm untreu geworden, die vermeintlichen Mitwisser dieses Vergehens mit dem Schwerte niedergestoßen hatte, nachdem er von deren Unschuld überzeugt wurde, vor Gram und innerem Seelenschmerze in einer Nacht graues Haar bekommen habe. In ähnlicher Weise sollen im Gefängnisse Thomas Morus, der Kanzler Heinrichs VIII. von England, und die unglückliche Marie Antoinette ergraut sein, als ihnen ihr Todesurteil verkündet wurde. Man erzählt seit altersher noch merkwürdigere Geschichten von Vorfällen, in welchen das Ergrauen der Haare sogar in wenigen Augenblicken zustande gekommen war. Die größte Berühmtheit hat wohl die von einem jungen Schweizer erlangt, der sich, um aus einem Geierhorste die Jungen auszunehmen, mit einem Säbel bewaffnet, mittels eines Taues von einer überragenden Felswand, unter welcher der Horst sich befand, herunterseilen ließ. Unter ihm gähnte ein jäher Abgrund. Nachdem er die Jungen herausgenommen hatte und er wieder heraufgezogen werden sollte, stürzten die alten Vögel, durch das Geschrei der Jungen herbeigelockt, zum Kampfe auf ihn ein. Mit dem Säbel um sich hauend, fühlte er plötzlich einen Ruck am Stricke, der ihn trug. Er sieht hinauf und erblickt, daß er mit der Säbelschneide in den Strick gehauen, der nur noch mittels einer dünnen unverletzten Stelle zusammenhält. Namenlose Angst befällt ihn, jede Sekunde kann der Strick völlig zerreißen, er wird endlich glücklich nach oben hinaufgezogen, aber siehe da – sein Haar ist ergraut.
Dieses plötzliche Ergrauen infolge heftiger Erregung will man sogar bei Tieren beobachtet haben. So soll, um nur ein Beispiel zu erwähnen, ein schwarzer Hahn weiß geworden sein, als in der Nacht im Stalle ein Feuer ausgebrochen war.
In früheren Zeiten zweifelte niemand an der Wahrheit dieser Berichte und an der Möglichkeit des plötzlichen Ergrauens. Erst den neueren Physiologen erschien sie zweifelhaft, und da sie dieselbe nicht zu erklären vermochten, erklärten sie alle jene Erzählungen für lauter Fabeln, romanhafte Ausschmückungen tragischer Ereignisse. So lehrte man, daß Haare niemals plötzlich ergrauen können, bis der Zufall Forscher von Fach zu Zeugen eines solchen Vorganges machte.
Im Jahre 1866 wurde auf die Klinik zu Greifswald ein Kranker gebracht, der einen Anfall von Säuferwahnsinn (Delirium tremens) hatte; er sah bald Tiere neben seinem Bette, schwarze Hunde und Katzen, bald Mäuse über die Bettdecke laufen. Trat jemand ins Zimmer, so schrak der Kranke plötzlich furchtbar zusammen, hüllte sich in die Bettdecke und zitterte an Händen und Füßen. Dieser Zustand der großen Schreckhaftigkeit hatte bereits drei Tage gedauert, und bis dahin hatte man am äußeren Aussehen des Patienten keine Veränderungen wahrgenommen. Am vierten Morgen aber fiel es den besuchenden Aerzten und den übrigen Kranken auf, daß die Haare des Kranken zum größten Teile grau geworden waren, und zwar sowohl die Kopf- als die Barthaare. So vollzog sich in diesem Falle sozusagen unter den Augen der Aerzte das plötzliche Ergrauen innerhalb einer Nacht, und die Haare des Kranken, sowohl die ergrauten, wie die normal gebliebenen, wurden von Dr. Landois einer genauen Untersuchung unterworfen. Ueber das Ergebnis derselben wurde später in Virchows „Archiv für die pathologische Anatomie und Physiologie“ ausführlich berichtet. Landois fand, daß dieses plötzliche Ergrauen durchaus verschieden ist von dem gewöhnlichen, das infolge des zunehmenden Alters sich regelmäßig einzustellen pflegt. In dem letzteren fehlt der Farbstoff, während er in dem plötzlich ergrauten enthalten ist; bei mikroskopischer Untersuchung findet man aber, daß in dem Haar sich zahlreiche Luftbläschen befinden, welche den Farbstoff verdecken und das Haar im anfallenden Lichte weiß erscheinen lassen. So war die Thatsache des plötzlichen Ergrauens wissenschaftlich festgestellt, leider aber blieb die Art und Weise, in der es zustande kommt, völlig dunkel. Man konnte nicht ermitteln, aus welchen Gasen jene Luftbläschen bestanden; ferner blieb es unklar, wie sie sich im Haar gebildet haben. War die Luft in das Haar von außen eingedrungen oder waren die Gase innerhalb des Haares durch Zersetzungsprozesse entstanden? Jede der beiden Annahmen kann richtig sein. Dagegen zeigte der von Landois beobachtete Fall bestimmt, daß jenes plötzliche Ergrauen infolge nervöser Erregung, die sich als große Schreckhaftigkeit des Kranken kundgab, eintrat.
Im Laufe der Zeit wurden weitere Beobachtungen gemacht, welche auf innige Wechselbeziehungen zwischen den Nerven und den Haaren schließen ließen. Wiederholt bemerkte man, daß bei Kranken, die an Neuralgien oder Nervenschmerzen litten, diejenigen Haare ergrauten, welche im Verbreitungsbezirke der erkrankten Nerven wuchsen. In der Regel kam auch in diesen Fällen das Ergrauen in langsamen Schritten, oft aber stellte es sich plötzlich ein. Der französische Arzt Raymond behandelte eine Dame, die schwarze Haare hatte und an einer heftigen Neuralgie der Kopfschwarte litt. Eines Tages wurden die Haare der Kranken rot und dann grau – der ganze Hergang nahm nur 5 Stunden in Anspruch. In allen diesen Fällen hatte das plötzlich ergraute Haar seine ursprüngliche Färbung für immer eingebüßt.
Noch wunderbarer ist eine Veränderung der Haarfarbe, die Dr. C. Reinhard in der Irrenanstalt Dalldorf–Berlin beobachtete. Dort befand sich eine Idiotin im Alter von 13 Jahren. In dem Zustande dieses unglücklichen Geschöpfes zeigte sich ein ziemlich regelmäßiger Wechsel von Erregung und Ruhe, dessen einzelne Phasen etwa eine Woche dauerten. Zur Zeit der Erregung wiegte und schaukelte sich die Patientin in ihrem Kinderstuhl hin und her, knirschte mit den Zähnen, lutschte an den Fingern, grunzte und brüllte, steckte alles Erreichbare in den Mund und hatte wenig Schlaf. Dabei zeigten sich eine leichte Röte im Gesicht, mehr Spannung und Energie in der Haltung, vollerer Puls, wärmere Hauttemperatur und vermehrte Hautabsonderung. In dem ruhigen Zustande saß sie still da, schlummerte viel, aß weniger gierig, sah blasser, welker und älter im Gesicht aus, sank in sich zusammen, fühlte sich kühl an und hatte eine trockenere, sprödere Haut. Schon in den ersten Monaten des Aufenthaltes der Kranken in der Anstalt fiel es auf, daß ihr Haar nicht immer die gleiche Farbe hatte, sondern abwechselnd, je nachdem sich der Zustand der Erregung oder der Ruhe einstellte, gelbblond und goldrötlich wurde. Dieser Wechsel der Farbe pflegte sich ziemlich rasch zu vollziehen; innerhalb 48 bis 60 Stunden hatte er meistens seinen Höhepunkt erreicht. Eine genaue mikroskopische Untersuchung zeigte, daß auch in diesem Falle die hellere Färbung durch Luftansammlungen im Innern des Haares hervorgerufen wurde.
Nicht minder merkwürdig war eine Veränderung des Haares bei einem Epileptiker, die Dr. Räuber beschrieb. Der Kranke war 24 Jahre alt und hatte ein reichlich entwickeltes dunkelblondes Haupthaar. Von Zeit zu Zeit begann sich das sonst schlichte Haar des jungen Mannes zu kräuseln, bis in einigen Tagen der ganze Kopf mit einem Krollhaar ohne Glanz, das starr anzufühlen war, bedeckt erschien. Dabei spaltete und knickte sich das Haar an verschiedenen Stellen und verfilzte sich auch. Diese Erscheinung hielt einige Zeit an, worauf das Haar langsam wieder seine ursprüngliche glatte Form annahm. Während des Anfalles hatte der Kranke schmerzhafte, stechende Empfindungen in der Kopfschwarte.
Aehnliche Veränderungen wurden auch bei einem zweijährigen schwächlichen Mädchen beobachtet, das durch geringfügige Veranlassungen derart aufgeregt wurde, daß es die Nächte nicht schlafen konnte. Sobald eine Verschlimmerung der Aufgeregtheit eintrat, wurden die sonst seidenweichen blonden Locken schlaff, während bei herannahender Besserung die einzelnen Haare sofort anfingen, sich wieder zu kräuseln und allmählich wieder Locken zu bilden.
An ähnlichen Haarveränderungen litten auch drei Geschwister einer nervösen Familie. Bei diesen kräuselte sich das Haar, wenn sie lustig, ausgelassen waren, glättete sich dagegen, wenn sie sich [111] langweilten, matt und abgespannt waren. So hatte das eine der Geschwister als junges Mädchen stets beim Beginn einer Gesellschaft, wo ein gewisses Ballfieber bestand, langes Haar, das sich jedoch nach ein paar Tänzen zur halben Länge kräuselte, so daß ein Herr sie fragte, wie es käme, daß sie den Ballsaal mit langen Haaren beträte und mit kurzen verließe.
Häufiger sind Fälle beobachtet worden, in welchen infolge einer schweren Krankheit die Haare in kurzer Zeit ihre Farbe wechselten So berichtet der Arzt Alibert, daß eine Frau nach einem Fieber im Wochenbette ihr blondes Haar verlor und schwarzes dafür wiederbekam. Eine andere hellblonde Dame wurde von einem Typhus befallen, an dem sie schwer daniederlag. Nach ihrer Genesung fielen ihr die Haare aus, welche im Verlauf einiger Monate zwar wieder wuchsen, aber kohlschwarz waren. Der Blondkopf war ein Schwarzkopf geworden. Weiterhin hat man beobachtet, daß Leute im Verlaufe der Lungenschwindsucht statt ihrer hellen Haare dunkle bekommen haben. Es wird auch von einem an Bleichsucht leidenden Mädchen berichtet, welches graues Haar bekam, von der Wurzel bis auf zwei Zoll Länge, während das obere Ende unverändert sich erhielt. Nachdem die Bleichsucht durch Eisenpräparate beseitigt war, wuchsen die Haare wieder in ihrer ursprünglichen braunen Farbe nach, so daß das Mädchen braune Haare hatte, mit einem zwei Zoll langen weißen Zwischenstücke.
Ein solches zeitweiliges vorübergehendes Ergrauen der Haare wird mitunter auch bei ganz gesunden Menschen beobachtet. So hatte ein 19 Jahre alter Knecht, der vor Jahren den Gegenstand sorgfältiger Untersuchungen in Greifswald bildete, eine höchst sonderbare Haarfärbung. Ein jedes seiner Kopfhaare bestand abwechselnd aus braunen und weißen Ringeln, d. h. es war von Stelle zu Stelle ergraut. Die Länge der einzelnen weißen und braunen Ringel betrug 2 bis 3 Millimeter. Landois fand nun, daß die braunen Stellen im Haare die normalen waren, daß an den weißen Stellen aber sowohl das Mark, wie die Rindensubstanz der Haare mit Luftbläschen ganz und gar durchsetzt erschienen, an diesen Stellen war auch das Haar dicker, durch die Gasentwicklung aufgetrieben.
Hiermit schließen wir unsere Mitteilungen über diese wunderbaren
und rätselhaften Veränderungen des menschlichen Haares.
Es ist nicht ausgeschlossen. daß die eine oder andere von ihnen
häufiger vorkommt, als man bis jetzt annimmt, da ja sonst gesunde
Menschen wegen eines vorübergehenden Wechsels in der
Färbung oder Kräuselung des Haares in den seltensten Fällen die
Hilfe eines Arztes oder gar eines Haarspezialisten in Anspruch zu
nehmen pflegen. So sind auch die oben erwähnten Veränderungen
von den Aerzten zumeist nur nebenbei beobachtet worden, indem
die Kranken wegen irgend eines anderen Leidens in Behandlung
kamen und ihre Haarbeschaffenheit durch Zufall die
Aufmerksamkeit der Aerzte auf sich lenkte. Wir möchten darum
durch diese Mitteilungen weitere Kreise zur Selbstbeobachtung
anregen und würden kurze Beschreibungen ähnlicher Haarveränderungen
behufs weiterer zweckmäßiger Verwendung gern entgegennehmen.
Hoffentlich werden solche Erhebungen dazu beitragen, in
die dunklen Wechselbeziehungen der Haare zu den Nerven mehr
Licht zu bringen. C. Falkenhorst.
Loni.
(2. Fortsetzung.)
Der Mentner lehnte mit dem Oberkörper gegen den Stamm der Buche. Das Antlitz war blutüberströmt, das eine Auge zerschlagen – verschwollen – das andere stand weit offen mit glasigem Ausdruck. Jetzt regte er sich.
Marei warf sich über ihn. „Vater, nur a Wort! Hörst mi net? Dei Marei! – Wer hat den Förster umbracht?“
Sie schrie ihm ins Ohr: „Du? – Du? – Naa – Du net! Grad mit’n Kopf gieb a Zeich’n! – O, mein Gott, er hört mi nimmer!“
Sie sank zusammen vor dem Sterbenden, dann erhob sie sich und klammerte sich an den Flori.
„Aber zu Dir hat er g’red’t, Flori, Du hast’s ja g’rad g’sagt. Was hat er g’red’t?“
Loni warf ihm einen warnenden Blick zu.
„Mein Gott, alles durcheinander, halt scho halb weg – da kann ma nix d’rauf geb’n.“
„D’rauf geb’n! Hat er an Nam g’nennt? – Flori, er hat an Nam g’nennt, i weiß ’s g’wiß,“ flehte das verzweifelnde Mädchen.
In diesem Augenblicke machte der Mentner eine krampfhafte Bewegung mit dem Arme, Marei wandte sich von neuem zu ihm und beugte sich dicht auf ihn herab, um keinen Laut zu verlieren.
Das eine Auge war stier mit wesenlosem Ausdruck auf sie gerichtet. Plötzlich fing es darin zu leuchten an, die Lippen bewegten sich.
„Vater, wer hat den Förster umbracht?“
Die Stirne zog sich in krampfhafte Falten, ein Zittern durchflog den Körper, aber es bildete sich kein Laut auf den sich schließenden und öffnenden Lippen. Dann erlosch wieder der Glanz des Auges.
Der Doktor und der Geistliche kamen über den Schlag, geführt vom Anderl, der betroffen aufsah, als er den Flori erblickte. Am Saum des Holzes polterte ein Wagen.
Der Arzt zuckte nach näherer Untersuchung die Achsel. „Da ist nichts mehr zu thun. Das Gehirn ist verletzt, bringt ihn rasch nach Hause!“
Der Geistliche sprach den Unglücklichen an – vergebens! Dann sprach er über ihm ein Vaterunser, in welches alle Umstehenden einstimmten. Aus der großen Buche herab flatterten die purpurnen Blätter mit raschelndem Laut, feierliche Abendstimmung lag über der Landschaft.
„Wird er denn nimmer zur Besinnung kommen? Keinen Augenblick?“ fragte Marei den Arzt.
„Auf einen Augenblick ist es möglich,“ antwortete dieser im Tone geringer Hoffnung. Dann wandte er sich an Anderl und Flori. „Auf, Leute, bringt ihn zum Wagen!“
Die Männer hoben den Unglücklichen auf. Marei wich nicht von seiner Seite, sie hoffte jetzt auf den einen Augenblick, von dem der Arzt gesprochen.
Vor dem Hofe hatte sich schon das ganze Dorf versammelt, die Kunde von dem Unglücksfalle hatte sich rasch verbreitet. „Wenn er g’rad no hat red’n könn’n und den Recht’n nennen,“ war der allgemeine Wunsch. Man drängte sich herbei und sah forschend in das starre Antlitz, als ob hier die Lösung des dunklen Rätsels geschrieben stände.
Loni drängte die Menge zurück. Der Mentner wurde auf die Lagerstätte in der Wohnstube gelegt, neben den großen Ofen.
Man flüsterte nur, als ob man den Mentner nicht wecken wollte aus seinem Schlummer.
Die Dämmerung war angebrochen, gelbes, gebrochenes Licht fiel durch die kleinen Scheiben herein. Da wurde die Thüre hastig aufgerissen, der Försterwilly trat ein. Ohne auf die Umstehenden nur einen Blick zu werfen, eilte er zu der Lagerstätte, vor welcher Marei kniete, jeden Atemzug des Vaters verfolgend.
Sie klammerte sich jetzt an den Geliebten.
„Zu spät! Er hört uns nimmer!“
„Mentner!“ schrie der junge Mann dem Unglücklichen in das Ohr.
Die Hand hob sich, um gleich wieder zurückzusinken.
„Mentner! In wenig Augenblicken stehst’ vor unserm Herrgott! Sprich die Wahrheit – wer hat mein’ Vater umbracht?“
Lautlose Stille. – Der Mentner hob langsam den Arm und fuchtelte, die Finger ausgestreckt, mit rascher Bewegung an seinem Lager herum. Der Mundwinkel zog sich nach abwärts wie bei einem Kinde, das zu weinen anfängt.
Unbedingt war die Frage vernommen worden, wenn auch unklar.
„Hast Du’s gethan?“ fuhr Willy fort. „Ich will Dir’s ja gern verzeihn – nur die Wahrheit red’!“
Jetzt rollte das unverletzte Auge unstet im Raume umher, als beunruhigte es ein Anblick.
Willy und Marei wandten sich um, er suchte wohl den Anderl. –
[112] Da blieb der starre Blick an dem jungen Paar hängen, welches, sich umschlungen haltend, vor dem Sterbenden stand.
Ein unbestimmter Schatten flog über das jetzt wachsbleiche Antlitz, es war, als ob das Blut auf einen Augenblick dahin zurückströmen wollte. Die Stirn zog sich an der Nasenwurzel in tiefe Falten. Ein schlimmes Zeichen in den gesunden Tagen des Mentners. Seine Fäuste stemmten sich gegen den Bettrand.
Alles lauschte atemlos, man hörte den Holzwurm ticken im Getäfel. – – Jetzt wird er sprechen –
Und wirklich – in abgerissenen, aber deutlichen Worten rang sich’s von den Lippen des Sterbenden. „Geh’ weita, Jaga – i oder Du! – Geh’!“
Das Auge starrte drohend auf Willy. Dieser nahm sichtlich die Gestalt des Ermordeten an vor dem brechenden Blick – des Mörders! – Kein Zweifel – in keiner Brust!
Die gewaltsam angespannten Züge lösten sich rasch – ein lautes Aufstöhnen – und der Friede kam auch über den Mentner. Der trotzige Zug um den Mund verschwand – er lächelte, gar nicht mehr höhnisch, sondern wie ein Kind, wie einst das Marei, wenn es von ihrem „Paradiese“ träumte.
Doch mit dem war es aus für immer! Die verworrenen Worte des Sterbenden waren nicht mißzuverstehen.
Willy drückte der Geliebten stumm die Hand und verließ den düsteren Raum – als wär’s ein Abschied für immer.
Jetzt graute es dem Marei vor dem Toten, sie barg ihr Antlitz in die Hände und schluchzte laut. –
Loni machte dem Flori ein Zeichen, er folgte ihr auf den Flur.
„Hat er ’was g’redt zu Dir?“ fragte sie hastig.
„Wohl!“ lautete die kurze Antwort.
„Was denn?“
„G’rad an’ Nam’ hat er g’nennt,“ erwiderte Flori. „Kannst Dir ihn net denk’n?“
„I’? Wie soll i denn?“
„Anderl!“ flüsterte der Steinhauer.
Loni war darauf gefaßt. „Däs is ganz natürli, g’ruf’n hat er nach ihm, vielleicht hat er Di für ihn g’nommen.“
„So, meinst? ’s hat aber ganz anders g’laut! Der Anderl hat’s than’! Muß Dir ja a Stoa vom Herzen sei!“
„Und desweg’n hörst so ’was Furchtbars ’raus aus an Wort und machst an Mensch’n unglückli? Da thuast mir an schlecht’n Dienst. Wenn D’ mi a bisl liab g’habt hast, hast’ nix g’hört! Zu was die G’schicht’ wieder aufrühr’n! Laß’ ’s begrab’n sein mit ihm, i bitt Di! ’s is do’, wie i sag’, g’ruf’n hat er nach ihm.“
Sie sprach hastig, ihre Erregung nicht verbergend.
„Aber was red’st denn! I mag eh nix mit ’n G’richt z’thun ha’m. I will ihm nix, dem Anderl, g’rad wegen dem Marei wär’s mir g’wesen – – weil i selber weiß, wia hart ’s is – Du weißt scho’, Loni –“
Loni atmete erleichtert auf; was er von der Tochter sagte, überhörte sie ganz.
„O, i weiß ja, Du bist a guater Mensch und i werd’ Dir’s nia vergess’n – nia, Flori!“
Sie drückte ihm fest die Hand. Dann eilte sie in die Stube. Flori sah ihr erstaunt nach.
„Warum is ihr denn gar so viel d’ran g’leg’n, daß i nix g’hört hab’?“
Da erblickte er den Anderl durch die offene Stallthüre. Der ging seiner Arbeit nach, als wäre nichts geschehen.
„Hallo! Wenn’s das wär’!“ Er fuhr sich an die Stirn. „Ihr Schatz! – Wer weiß, wia’s no’ kommt! sagte sie damals im Obstgarten. Jetzt wär’s ja eintroff’n, aber i bin ein Krüppel und der Anderl – –! Ein Mörder – wenn i red’!“
Er humpelte durch den Stall an dem Knecht vorbei.
„Aus is’ mit ’n Mentner – hätt’s net ’dacht – war no hübsch frisch, wia i dazu kommen bin –“
„Frisch nennst das?“ meinte der Anderl, „no, i dank!“
„Im Verstand - mein’ i, hat ja Dein Nam’ no g’nennt.“
„Hat er?“ sagte der Anderl, eine Gabel Heu in den Barren werfend. „Da g’hört g’rad net viel dazua – wenn er weiter nix g’red’t hat.“
„Is g’rad gnu – in so an Zuastand –“ setzte der Flori nach einer Pause hinzu.
Anderl stieß die Heugabel auf den Boden und sah den Steinhauer frech an.
„Meinst? Ei, so geh’ do’ auf’s G’richt und d’erzähl ihna ’s die große Morithat, daß der Mentner nach’n Anderl g’ruf’n hat, der ihn aussazog’n hat unterm Bam. Wo’s D’ nur a überall umanand schnuffelst mit Dein Gehwerk!“
Er sah verächtlich auf Flori herab.
Das traf! Flori richtete sich an seinem Stock stramm in die Höhe, wie um sein Gebrechen zu verbergen. „Ja schau, wenn ’s mag, kommt man a mit ei’m Bein g’rad z’recht.“
Er ging, er wollte nicht mehr in die Stube zurück; jetzt durfte und wollte er mit Loni nicht reden. –
Die Nacht war da. Zu Häupten des Toten flackerten die Lichter, Agl, die „Seelennonne“, hatte die Leiche friedlich gebettet. Von der häßlichen Wunde sah man nichts mehr. – „Wia’s nur mögli is, ohne Beicht’, mit so an Verbrech’n auf der Seel’ dahin müss’n und so freundli ausschau’n wia nie im Leb’n!“ dachte sie bei sich.
Die Leute brachten ihm papierne Kränze, schlugen ein Kreuz und blickten scheu auf den Toten.
„Er hat’s selb’r no g’stand’n dem Försterbuben!“ wurde allgemein erzählt.
Die Seelennonne hatte vollauf zu thun. Eines gab dem andern die Thüre in die Hand, und jedem mußte sie beim Eintritt bedeutungsvoll zunicken, beim Austritt im Namen des Hauses für seine Totenspende danken.
Ein unaufhörliches Geflüster rieselte durch den Raum, welchen die meisten zum erstenmal in ihrem Leben betraten. Die leisen Gespräche galten dem Mentner, von dem man nun endlich erlöst war. Sein Tod hatte versöhnend gewirkt. Durch sein Geständnis im letzten Augenblicke hatte er doch manches wieder gutgemacht. Die Unglücksgeschichte konnte endlich begraben werden in Hagenberg, und am Ende hieß es: „Gott allei kann’s wiss’n, wia’s ganga hat, der Förster war do aa a hitziger Kam’rad.“
Loni hielt es nicht aus im Sterbezimmer. Jede Beileidsbezeigung war ihr ein Stich ins Herz. Sie empfand keine Trauer. Er hatte sie ja aus Haß gegen die anderen Menschen geheiratet, und wie hatte er sie behandelt! Die Kette, die sie bisher getragen, riß, weiter nichts. Sie wagte es zwar nicht, sich das so klar einzugestehen, und machte sich überhaupt noch keine Gedanken über die neue Lage, aber in die Stumpfheit, die sie beherrschte, mischte sich doch ein Gefühl der Erlösung.
Daß der Flori sich so rasch davongemacht hatte, beunruhigte sie. Sie war doch eigentlich furchtbar ungeschickt gewesen. Was war denn dabei, daß der Bauer den Anderl da draußen auf der Unglücksstätte noch einmal genannt hatte? Wie konnte sie darüber so erschrecken, wie konnte sie den Flori bitten, bei seiner einstigen Liebe beschwören, darüber zu schweigen! Was war denn zu verschweigen?
Das darf ja jeder wissen. Sie selber wird’s erzählen, wie’s zuging! Aber wie er’s g’sagt hat – der Ton! Derselbe war’s, der ihr seit dem Bericht des Flori in den Ohren klang. – Doch außer dem einen Zeugen hatte die Worte des Sterbenden ja niemand gehört. Und hatte der Mentner es zuletzt nicht selbst eingestanden. „Geh’ weita, Jaga, i oder Du! Geh’!“ – War jetzt noch ein Zweifel möglich? Und wenn? Wenn – der Anderl wirklich – ? Ja, auch dann! Auch dann war’s besser, wenn die That begraben bliebe für immer mit dem Mentner! Würde etwas gebessert damit, wenn der Mensch ins Zuchthaus wanderte? Freilich – des Mentners Namen stände dann wieder rein da, er läge nicht als Mörder auf dem Kirchhof! – Doch das war alles nichts Greifbares. Und sie sah im Geiste den Anderl gefesselt, von Gendarmen abgeführt, mit einem vorwurfsvollen Blick auf sie.
Was lag ihr an der Meinung der Leute! O, sie hatte sie verachten gelernt. Aber ihr Kind – das Marei? Der wird es das ganze Leben verbittern! Die Mutterliebe ward in ihr rege. Die Trauer um den Vater, die Erinnerung an seinen gräßlichen Tod, die wird das Kind mit der Zeit wohl verwinden, aber das andere Leid, die vernichtete Hoffnung auf die Heirat mit dem Försterwilly! Das Mädchen schwand ja förmlich dahin! Wenn’s der Anderl doch gewesen wäre – – – Wie kommt sie dann dazu, einem Knecht zulieb ihr Kind zu opfern?
Da stockte sie und wagte sich nicht mehr vorwärts mit ihren Gedanken. Sie muß mit ihm reden – ihn offen fragen! Und gewarnt muß er wenigstens werden vor dem Flori!
Sie suchte ihn wie damals im ganzen Hause. Wenn sie ihn wieder in seiner Kammer aufsuchen müßte!
Die Scene von damals stand klar vor ihr, es war, als
[113][114] fühlte sie wieder seinen Händedruck, seinen heißen Atem, und dabei drang das Geflüster, das Gebetgemurmel, der Weihrauchgeruch aus dem Sterbezimmer bis auf den Hof. Es legte sich ihr auf die Brust, atembeklemmend.
Zögernd stieg sie die Leiter hinauf zur Denne, würziger Heuduft drang ihr erfrischend entgegen.
Wirklich war der Knecht in der Kammer. Sie rief mit halber Stimme seinen Namen. Wieder ging die Thüre auf und der Knecht stand vor ihr, mit einer brennenden Kerze. Sie sah ein spöttisches Lachen in seinen schwarzen Augen, in denen ein eigentümlicher Glanz leuchtete. „Heut’ schon?“ las sie in dem flackernden Blicke.
Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie wieder unten gewesen wäre. Doch jetzt mußte sie sprechen.
„I bin nur komma wegen dem Flori!“ stammelte sie.
Da schwankte die Flamme bedenklich.
„Er hat – i will sag’n, der Mentner –“
Sie rang nach Atem. „Er hat mit ihm vor sei’m Tod’ g’sproch’n – Dein’ Nam’ hat er g’nannt.“
„No und is da so ’was B’sonders d’ran?“ fragte der Knecht.
„Für mi net - g’wiß net - aber für die Leut’. Besser wär’s schon, wenn der Flori net red’n thät.“
„Was kann i dazu thuan, da muaßt’ zum Flori geh’n, er is ja eh’ a guater Freund von Dir! Mir is’ ein Ding, was er redt!“ Er stellte das Licht auf einen Pfosten, als ob er die grelle Beleuchtung scheute.
„Weil Du Di unschuldi fühlst, net wahr? Weil Du g’wiß weißt, daß ’s der Mentner ’than hat? Mir kannst’s ja sag’n, jetzt, wo er tot is. An dem Tag is’ g’scheh’n?“
„An welch’n?“
„Frag’ a no! Da san ma g’stand’n und hab’n g’wart auf ihn - der Mond is g’rad aufganga - Sieh’, g’rad wie heut’!“
Beide blickten zur Tennenluke hinaus, in deren Mitte das Gestirn hing wie eine krystallene Ampel.
„An dem Tag is’ g’scheh’n? I bitt’ Di, Anderl, die Wahrheit! I schwör’ Dir’s, niemand soll a Wort ’von erfahr’n!“
„Und hast denn ganz vergess’n, was sonst g’scheh’n is an dem Tag, auf dem Fleck?“
Anderl legte den Arm um sie.
Loui sträubte sich. „Laß mi. Heut’ – wo unt’ –“ Doch dasselbe Gefühl der Schwäche überkam sie wie einst.
„Was heut’! Er is tot - seit an Jahr - für Di und mi. G’rad heut’ sollst Du’s hör’n! Was bist komma zu mir? I hab’ g’wart auf Di seit an Jahr!“
Sein Atem ging schwer.
Von unten herauf drang das monotone Gebetgemurmel der Seelennonne, Weihrauchduft. Eine Fledermaus umkreiste eigensinnig die jetzt in dem grellen Mondlicht, das zur Luke hereinfiel, schmutzigrot erscheinende qualmende Flamme. Aber auch ein Flüstern drang herauf, es kam vom Garten. Anderl trat zurück in den tiefen Schatten.
„Hörst Du’s? Als wenn er’s wär’! Als wenn er wieder käm’! Oh!“ Loni stöhnte auf. „An dem Tag is g’scheh’n – net wahr, Anderl?“
„Na, an dem net.“
„Am nächst’n? Wia’s auf der Leiter eing’stieg’n seid’s?“ fvrschte sie gespannt weiter.
„Da hast Du mi g’seh’n? – Und do bist da?“
Anderl faßte erregt ihre Hand.
„Red’, sag’ i - bist Du’s g’wes’n?“
Er schloß die Augen und preßte die Lippen zusammen, seine Brust spannte sich zum Bersten.
„Ja – i war’s!“
Loni bewegte sich nicht, sie schrie nicht auf, es war ihr auf einmal, als habe sie das schon längst gewußt.
„Und der Mentner war dabei?“
„Ob er dabei war! Der Mentner oder der Förster! – so is’ g’stand’n einer mußt’ fallen. Der Kirchberger hat ihn schon am Korn g’habt, da hab’ i’s schnall’n lass’n! Is das an Mord? Weißt, was mir durch’n Kopf ganga is in dem Augenblick? Wennst jetzt net schiaßt, is der Mann von der Loni a Leich’ – da hab’ i g’schossn. Is das an Mord?“
„Na, für mi net! Anderl, d’erschreck net, aber für die andern ...“
Sie sprach nicht mehr aus. Stimmen drangen deutlich herauf, schluchzendes Weinen. Vorsichtig schlich sie vor die Luke und blickte hinab. Marei und Willy standen hinter dem Hause; das Mädchen weinte in ihre Schürze – es galt den Abschied!
„Schau, sie ist ja doch Deine Mutter und trägt auch den Namen durchs ganze Leben, auf dem der Fluch ruht. Ich kann’s nicht glauben, daß sie so einem Menschen zu lieb ihr eigenes Kind opfert – so schlecht kann niemand sein.“
Marei hob ihr Gesicht bei diesen Worten des Geliebten, es lag jetzt trotzige Willenskraft darin. „Und do kann i mir’s denk’n, daß man all’s opfern kann – alls! Um eins – um a heiße Liab.“
Der junge Mann trat betroffen dicht an sie heran und flüsterte ihr etwas zu.
„I glaub’s net – i weiß!“ sagte sie dann leise, aber fest. „Aber i weiß aa, daß mei’ Liab’ net die schwäch’r is – auch i kann all’s opfern – aa die Mutter, wenn’s sein muaß! Also san ma gleich auf gleich! Unser Herrgott wird helf’n! Nur eins, Willy, verlang’ i von Dir – bleib’ mir treu, halt’ aus! Die Wahrheit muaß aufkomma und eher möcht’ i selb’r net Dein’ Nam’ trag’n.“
Sie dachte an diesem einsamen Ort an keinen Horcher und die Erregung machte sie unvorsichtig.
Die Lauscher auf der Tenne vernahmen jedes Wort. Loni fühlte es wie Haß aufsteigen gegen ihr eigenes Kind. Im ersten Augenblick nach Anderls Bekenntnis hatte sie schon daran gedacht, die Tochter mit in das Geheimnis zu ziehen. Wenn Marei hörte, daß Anderl die That begangen, um ihren Vater zu retten, daß diesen eine Sekunde später der Förster erschossen hätte, mußte sie ja anders denken. Aber jetzt gab sie diesen Gedanken auf, das Mädchen würde Anderl trotzdem nicht schonen, sie würde ihn an den Geliebten verraten und der würde kein Erbarmen kennen in seinem blinden Haß. Und das entschied in ihr für den Anderl.
Das freie Geständnis dieses Mannes, der ihr so treu anhing, kettete sie an ihn. Und doch mischte sich in dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit ein leises Grauen. Sie riß sich von ihm los.
Während unten im Garten unter Thränen und heiligen Versicherungen das junge Paar sich trennte, vertrauend auf die Kraft schuldloser treuer Liebe, schlich Loni langsam von der Tenne herab, in der Seele den Trotz gegen die Tochter nährend.
Unten in der Stube lächelte friedlich der Mentner im Flackerlicht der Kerzen, und im alten Lehnstuhl schlief, die Hände über die Brust gekreuzt, die Agl, die Seelennonne.
Der Farrenbach durchschneidet eine Viertelwegstunde vom Dorfe entfernt, aus enger Schlucht tretend, die Hagenberger Flur. Ein breites, im Sonnenlicht grellweiß aus dem umgebenden Grün aufblitzendes Band bezeichnet von weitem seinen vielgewundenen Lauf. Zur trockenen Zeit sickert nur spärliches Wasser matt und mühsam durch das Kalkgeröll, bei anhaltendem Regen bildet sich rasch ein stattlicher Fluß, dessen schmutziggraue Fluten mit wildem Ungestüm über alle Hindernisse hinwegschießen, da einen rauschenden Fall, dort quirlende Stromschnellen bildend. Geht aber ein Hochgewitter nieder, dann wälzt sich ein verheerender Strom, weithin donnernd, aus der Schlucht hervor, schwere Felsblöcke mit sich führend, Baumstämme und Wurzelwerk in wildem Chaos, daß alles splitternd, krachend sich stemmt und staut. Dann brechen die Wasser sich seitwärts Bahn, verheeren die angrenzenden Wiesen, überdecken die Straße mit Geröll und entwurzeln alte Bäume und junge Pflanzungen.
Kurz, der Farrenbach war für die Hagenberger Fluren, wie der Mentnerhof für das Dorf, der Fluch, der ewige Verdruß – eine Gottesgeißel.
Wie jedoch allem Uebel auf der Welt auch eine gute Seite abzugewinnen ist, so auch dem bösen Farrenbach. Er lieferte umsonst und in überreichlicher Fülle das beste Material für den Straßen- und Wegbau, ungezählte Fuhren von Kies und Sand, und den kostbaren Kalkstein bis dicht vor die primitiven Oefen, welche die Hagenberger an seinem Ufer errichtet.
Das war das Arbeitsrevier des Flori; er war der Herr des Farrenbaches. Er hatte seine Unarten wieder auszugleichen, indem er für die Erhaltung der Weidendämme an den besonders gefährdeten Stellen sorgte und die Haupthindernisse seines Laufes entfernte. Er hatte das von den Bergen herabgeschwemmte Material für die Verwertung zu bearbeiten, den Kies, den Schotter, den Sand, seine Abgabe zu überwachen. Er war in den langen [115] Jahren des Gewässers Vertrauter geworden, der alle seine Launen und Tücken kannte. Seinen scharfen Augen entging nicht die kleinste Veränderung an den Ufern, keine mit heimlicher List vollzogene Unterwaschung, kein langgeplanter Ausbruchsversuch, so unverdächtig er auch unternommen war.
Dicht an der Stelle, wo der Bach einige Meter jäh abfallend die Bergschlucht verläßt, lag das Heim des Flori, eine Bretterhütte, aus welcher seitwärts ein verrostetes Rauchrohr herausragte. Hier waren die Arbeitsgeräte aufbewahrt, Spitzhacken, Schaufeln und langgestielte Steinhämmer. Ein alter Kochherd, ein Heulager bildeten die Einrichtung.
Flori bewohnte die Hütte den ganzen Sommer. Auf der Seite des Baches war aus Brettern ein Vordach gefügt; seine Stütze bildeten zwei verwetterte Fichten, welche der Farrenbach vergebens seit einem Jahrhundert anfeindete; nur die freiliegenden zerschundenen Wurzeln, in welche von elementarer Gewalt geschleuderte Felsblöcke sich eingeklemmt hatten, zeugten von der Erbitterung, welche dieser Widerstand hervorrief.
Unter diesem Bretterdach, geschützt vor Sonnenschein und Regen, schwang der Flori unermüdlich seinen langgestielten Hammer und häufte Berge von Schotter neben sich, während ringsum sich streng geordnete Steinhaufen in abgemessenen Rechtecken reihten. Er war in seiner beständigen Einsamkeit ganz verwachsen mit dieser steinernen Welt.
Er kämpfte einen unerbittlichen Kampf mit den Steinen, er redete auf sie ein mit grimmen Worten, züchtigte sie mit wuchtigen Hieben. „Wart’, Tropf verdammter, dir werd’ i’s scho lerna!“ und jedes Wort begleitete ein zorniger Hammerschlag, bis die Stücke stoben. „Was druckst denn alleweil so eina? I brauch’ di net! Taugst eh’ nix!“ und fort flog der Gescholtene. Er bezog auch alles auf sie, wenn einmal seine Gedanken weiter schweiften, als sein Blick hinter der großen Drahtbrille, durch die seine Augen vor den kleinen Splittern geschützt wurden, reichte.
„D’ Mensch’n san um ka Haar anders als wia die Stoan’r; die ein’n zerspringa auf an Schlag in tausend Stück’, auf die andern kannst loshammern, so lang d’willst – all’s umsonst! Den ein’n mußt von der Seit’n anpack’n, den andern von der, die ein’n schau’n recht g’fügig aus und manst, weiß Gott, was dran is, und Racker san’s, nixnutzige, ’balst nur hintupfst. Wid’r ei schau’n aus, daß dir glei graust, und bal’ ’s auseinander san, san’s die best’n!“
Der Schluß dieser Betrachtungen war stets, daß er ganz zufrieden war mit seiner stillen Gesellschaft und sich keine andere wünschte.
Nur hie und da dämmerten Bilder in ihm auf aus längst vergangenen Tagen, deren er sich vergeblich durch doppelte Kraft des Hammerschlages erwehrte, Bilder, die zu der Steinwüste umher schlecht stimmten – –. Das begann mit dem grünen Wald, in dem er als junger Holzknecht arbeitete. Es roch so kräftig nach Harz, und die Arbeit ging ihm so gut von der Hand wie keinem – dann der Abend in dem Rindenkobel oder der Holzhütte bei den lustigen Kameraden – man sah von da aus die Roßalm liegen, wo die schwarze Res’ hauste, sein Schatz. Dann Sonntags der Tanzboden.
Schuhplatteln war sei’ Leibsach’, und die Madl’n hab’n ’n gern g’seh’n. Dann – ja dann – dann is sie komm’n, die rote fremde Dirn’, die Loni, und – da war’s aus mit der Arbeitsfreud’, mit die Madl’n – da hat’s nur mehr eine geb’n – die Loni! So is’ aber all’n ganga, all’n Buab’n, alle waren vernarrt d’rein. Und ihn hat’s all’n vorzogen, ihn, den Flori, die andern hat’s g’rad zum Best’n g’habt, und gefreut hat sie’s, die arme heimatlose Dirn’, daß sie so an Gewalt ausübt üb’r die Mannsleut’, und ihn hat’s aa ’freut! Das war a Liab, wia der Farrenbach beim Hochwetta, so grausi wild, so unbezwingli! Was war d’ Res’ auf der Roßalm gegen d’ Loni! – Mei Gott, sie wissen’s ja all’ mitanand net, was d’Liab is, nur i – i weiß’s, der Stoanerflori.
Da hat’s ihm der Mentner g’nomma mit sei’m Geldsack, aus Trotz, aus Haß gegen die andern, net aus Liab, und der Loni is’ halt in’ Kopf g’stieg’n, Bäuerin z’ werd’n, a Heim z’ hab’n, sie, die ihr Sach’ alls im Schnupftüchl mitbracht hat, und da is sie ’s halt wor’n und der Abschied is komma im Mentner sei’m Garten! D’ Welt war aus – Nacht, schwarze Nacht – nur aa Stern mitten in der Finsternis – „wer weiß, wia’s no’ kommt!“ – Und wia is’ komma?
Wenn seine Gedanken da angelangt waren, erwachte er gewöhnlich durch ein Schmerzgefühl im lahmen Fuß. Er hielt den eisernen Reif, mit dem er die Steine fing, damit sie ihm nicht unter dem Schlag davon sprängen, unthätig in der Hand und starrte auf die Wüste des Farrenbaches hinaus. Dann aber ging’s zornig los, daß die Funken stoben, Schlag auf Schlag.
„Sei froh, daß d’as hinter Dir hast, die Dummheit’n – wart’ - i werd’ Euch –!“ und bei jedem Wort, das er ächzend vor übermächtigem Kraftaufwand ausstieß, fiel ein Streich und die Steine flogen prasselnd über den Reif hinaus, auf den Haufen vor seinen Füßen. So ging’s auch heute.
In wenig Wochen schneit es die Gegend zu, da heißt es für den Wintervorrat sorgen. Den ganzen Vormittag hatte Flori unermüdlich geschafft. Das Zusammenschleppen der schweren Steine zum Arbeitsplatz, das ging ihm vortrefflich von der Hand, dabei kommt man nicht zum Sinnieren. Alle Muskeln sind angespannt, und was sich allenfalls noch rührt von schlimmen Gedanken, das schwitzt man heraus. Aber dann, nach dem Mittagsmahl, das Steinklopfen, das war für ihn jetzt gefährlich, seit dem Tod des Mentners, er merkte es an dem verarbeiteten Material. Da trieben sich faustgroße Stücke zwischen den kleinen scharfkantigen Steinen umher, die einen zu groß, die andern fast zu Staub zermalmt, das Gleichmaß fehlte, auf das er sonst so stolz war – und der Haufen war das Abbild seiner Seele.
Er hatte sich zuerst alle Mühe gegeben, den Verdacht zu unterdrücken, der damals im Sterbehaus in ihm aufgestiegen war, über das Verhältnis der Loni zum Anderl. Es ließ sich am Ende auch anders erklären, daß sie ihn um sein Schweigen gebeten: die alte Geschichte sollte nicht wieder aufgerührt werden. Doch er blieb dabei: solche Seelenangst verrät man nur um einen, den man liebt.
Der Haß, den er gegen den Knecht empfand, seitdem ihn derselbe so verächtlich als Krüppel behandelt hatte, that das Uebrige. Es war ihm, als sei er verdrängt worden. Den Mentner und alles, was der ihm angethan, konnte er jetzt vergessen, wenn die Erinnerung an sein einstiges Liebesglück in ihm lebendig wurde, der Gedanke an Anderl aber weckte ihn jäh aus seinen Träumen. Dann sah er sich plötzlich selbst, wie er vor ihm, dem schmucken Burschen, gestanden, gekrümmt von der Arbeit, den Scheitel kahl, den wirren struppigen Bart ergraut, mit seinem steifen Gestell.
Dann schüttelte er, sich selbst verlachend, den Kopf. Was soll denn so a verbraucht’r Lod’r mit so an Weib? Als ob das Mandl no’ der Flori wär’! Z’erst mit so an Grobian wia der Mentner ’s Leb’n vertrauern und nachher mit an z’sammg’arbeit’n lahma Steiklopfa! Da wär’ die Loni schön dumm. – Also! Ihm kann’s gleich sei, wen ’s no’ mal nimmt – is ihm aa gleich – nur der ein’, der Anderl, soll’s net sein, der Mörder! Ja, der Mörder! – Daß der sterbende Mentner noch dessen Namen genannt, das war’s nicht allein, was ihm diese Ueberzeugung gab.
(Fortsetzung folgt.)
Blätter und Blüten.
Internationale Vorsichtsmaßregeln zur See. Unter dem furchtbaren Eindruck des jähen Untergangs der „Elbe“, der so viele Menschen einem grauenvollen Tod überliefert hat, möchten wir die allgemeine Aufmerksamkeit auf die folgenden Ausführungen des bekannten Konteradmiral a. D. R. Werner lenken, die wir einem seiner jüngsten Bücher, „Auf fernen Meeren und Daheim“ (Berlin, Allgemeiner Verein für deutsche Litteratur), entnehmen und welche die Mangelhaftigkeit der internationalen Vorsichtsmaßregeln zur See zum Ausgangspunkt haben. Der ausgezeichnete Fachmann schreibt: Alle international festgestellten Vorsichtsmaßregeln gegen Zusammenstöße von Schiffen haben sich ziemlich ohnmächtig erwiesen. Sie scheitern hauptsächlich an drei Punkten, an unabwendbaren Verhältnissen, gegen welche kein Gesetz Abhilfe zu schaffen vermag, an sträflicher Nachlässigkeit und am Konkurrenzneid der Menschen, gegen welch letzteres Uebel aber sehr wohl mit Erfolg vorgegangen werden kann.
Bei Nebel z. B., diesem gefährlichen Feinde des Seemanns, während dessen Dauer die meisten Unglücksfälle eintreten und der oft so dicht ist, daß man kaum über die Bordwände hinaus etwas sehen kann, wird der Seemann seines vorzüglichsten Hilfsmittels zur Vermeidung von Gefahren beraubt, des Gesichts. Er ist dann nur auf sein Ohr angewiesen, aber welchen Irrtümern und Täuschungen ist er ausgesetzt, welche auch die sorgsamste Aufmerksamkeit nicht verhindern kann, wenn er sich in Engen befindet, wo sich Hunderte von Schiffen nach allen Richtungen hin kreuzen! Was nützen alle Signale mit Schiffsglocke, Nebelhorn, Sirene oder Dampfpfeife, die außerdem ihrer Natur nach immer unvollkommen bleiben müssen, [116] wenn sie bald näher, bald ferner aus allen Kompaßstrichen ertönen? Man wird wirr im Kopf, fühlt seine Ohnmacht, das Richtige zu treffen und es ist Gott anheim gestellt, ob man glücklich durchkommt.
Dies ist eins von den unabwendbaren Verhältnissen des Seelebens, das sich durch kein Gesetz ganz aus der Welt schaffen läßt, wohl aber kann man die aus ihm erwachsenden Gefahren durch zweckmäßige Maßregeln bedeutend einschränken, wenn man gegen die Pflichtvergessenheit der Menschen strenger vorgeht.
Es ist gesetzlich vorgeschrieben, daß die Dampfschiffe im Nebel mit halber Kraft fahren sollen. Was heißt das? Ein Schnelldampfer läuft 20 Knoten (10 m in der Sekunde) mit voller Kraft; mit sogenannter halber Kraft, die man sich an Bord beliebig auslegen kann, 10 bis 15. Ein Frachtdampfer, der mit voller Kraft nur 10 Knoten läuft, macht mit halber 4 bis 6. Schon wenn diese Verminderung innegehalten würde, müßten sich die Gefahren wenigstens etwas verringern, aber wer kehrt sich daran? Die Handelsdampfer fast nie. Um sich nicht von Konkurrenzlinien überholen zu lassen, gehen sie auch beim dichtesten Nebel mit ihrer schnellsten Fahrt vorwärts. Die transatlantischen Schnelldampfer durchlaufen in einer Minute eine Strecke von etwa 500 bis 600 Metern, und man kann sich denken, wie schwierig es sein muß, einem Gegensegler, der nahezu ebensoviel Fahrt macht, im Nebel oder auch nur bei dunkler Nacht auszuweichen.
Die farbigen Laternen, welche jedes Schiff führen muß, eine rote an Backbord, eine grüne an Steuerbord, und Dampfer außerdem noch ein weißes Licht am Fockmast vorn, sollen gesetzlich eine Seemeile (1852 m) sichtbar sein. Selbst aber, wenn dies der Fall ist, sie gut brennend erhalten werden, was auch vielfach versäumt wird, und wenn die Leute auf Ausguck ihre volle Schuldigkeit thun, wird jene Meile von beiden Gegenseglern zusammen in 1½ Minuten zurückgelegt, und was für eine kurze Zeit ist das, um den richtigen Entschluß zu fassen und auszuführen, namentlich wenn noch andere Schiffe in der Nähe sind, auf die man gleizeitig zu achten hat. Wie sehr oft ist der Nebel aber so dicht, daß man die Lichter nicht auf eine viertel Seemeile sieht, und dann handelt es sich nur um Sekunden, bei denen selbst das schnellste Stoppen der Maschine nichts mehr hilft.
Hier hat also das Gesetz eine große Lücke, die notwendig ausgefüllt werden muß. Bis jetzt fehlt jede Kontrolle, und wenn sie nicht geschaffen wird, dann werden sich die Zusammenstöße und damit der Verlust an Menschenleben und Nationalvermögen immer weiter vermehren, da sich der Uebergang der Segel- zur Dampfschiffahrt wenigstens in engen Gewässern immer mehr vollzieht.
Früher gab es noch verhältnismäßig wenig Dampfer und bisweilen konnte man tagelang im Kanal segeln, ohne einen von ihnen zu Gesicht zu bekommen; jetzt dagegen begegnet man ihnen in so engen Gewässern täglich viel dutzendweise und sie sind am meisten zu fürchten.
Der Wind bindet Segelschiffe an gewisse Kurse, so daß man selbst bei stockfinsterer Nacht und im Nebel immer ungefähr wissen kann, wie der Gegensegler steuert, aber die vom Winde gänzlich unabhängigen Dampfer sind in ihren Kursen unberechenbar. Wenn die elastischen hölzernen Segelschiffe dann auch einmal gegeneinander rannten, so gab es wohl mehr oder minder „klein Holz“, wie die Seeleute sagen, es gingen wohl auch einige Raaen und Stengen, bisweilen sogar ein Mast „auf den Lauf“, aber in den Grund gebohrt wurden sie in den seltensten Fällen.
Die eisernen Dampfer dagegen mit ihrem messerscharfen Bug und ihrer schnellen Fahrt schneiden ein Schiff mitten auseinander, und die Zahl solcher Zusammenstöße, bei denen die Fahrzeuge in wenigen Minuten mit Mann und Maus in die Tiefe sinken, ist in den letzten Jahren in erschreckendem Maße gewachsen.
Je mehr Dampfer gebaut werden, desto größer wird die Gefahr der Zusammenstöße und das Gesetz muß dagegen einschreiten. Es muß für Nebel und unsichtige Nacht nicht „halbe Kraft“, sondern eine gewisse nicht zu hohe Geschwindigkeit, 5 bis 6 Knoten, wie sie unter solchen Verhältnissen die Kriegsschiffe inne halten, für alle Dampfschiffe festgesetzt und ein Ueberschreiten derselben mit schweren Strafen geahndet werden.
Eine Kontrolle wird in den meisten Fällen trotzdem nicht geübt werden können, aber in dem einen des Zusammenstoßes dennoch, und dann müssen nicht allein die betreffenden Kapitäne, sondern vor allem die Reeder dafür verantwortlich gemacht werden, denn nicht jene, sondern diese tragen in den meisten Fällen die Hauptschuld. Erstere würden gern den Gesetzen gehorchen, weil sie unter den gegenwärtigen Verhältnissen viel mehr das eigene Leben auf das Spiel setzen als bei geringerer Fahrt; aber wenn sie durch Gehorsam gegen das Gesetz ihre Reise verlängern und andere gewissenlosere Kapitäne ihnen den Rang ablaufen, dann setzen sie sich dem aus, daß sie ihre Stellung verlieren und die Reeder einen anderen, „schneidigeren“ Kapitän nehmen.
Würden aber die Reeder des schuldigen Schiffes nicht allein gesetzlich bestraft, sobald ihnen nachgewiesen wird, daß sie den Kapitän nicht zur genauen Nachachtung der einschlägigen Bestimmungen verpflichtet haben, sondern sie auch in vollem Umfange zur Haftpflicht für alle Beschädigten herangezogen, so würde sich sehr bald eine Aenderung zum Besseren zeigen und man nicht so viel von Zusammenstößen hören.
Natürlich kann ein solches Gesetz nur international sein, aber da das Ausweichen auf See, die Führung der Lichter, das Signalisieren etc. ohne Schwierigkeit bereits international geregelt sind, so würde sich auch dies regeln lassen, da alle seefahrenden Völker gleichmäßig dabei interessiert sind. Es bedürfte unter Hinweis auf die sich immer mehr häufenden Unglücksfälle wohl nur der Anregung durch eine Regierung, um die Frage in Fluß und zu einem günstigen Abschluß zu bringen. –
Es würde Deutschland zu höchsten Ehre gereichen, auch in dieser Beziehung die Initiative zu ergreifen, nachdem es in humanitärer Beziehung bahnbrechend vorgegangen. Es ist um so mehr hierzu berufen, als gerade die deutschen Schiffsführer den Ruhm in Anspruch nehmen dürfen, die strengste Disciplin auf ihren Schiffen zu halten und in Fällen drohenden Zusammenstoßes die Pflichten der Menschlichkeit mit den von ihnen vertretenen Interessen nach Kräften in Einklang zu bringen.
Zwischen zwei Feuern. (Zu dem Bilde S. 101.) Die Gegensätze ziehen sich an – Kälte weckt Wärme, Frost innere Gluten; man braucht, um im Winter diese Erfahrung zu machen, sich nicht erst die Hände zu erfrieren und davon brennenden Schmerz zu empfinden – das weiß jeder Schlittschuhläufer! Hei, wie die rasche gleitende Bewegung über die Eisfläche durch die eisesfrische Luft die Wangen rötet, die Lebensgeister erwärmt, so daß das Auge in froher Lust erglüht. Und nun gar erst das Herz - wenn heimliche Liebe darinnen wohnt, die hier in der freien Luft, in der frischen Bewegung des Eislaufs ihre Befangenheit verliert. Wenn erwartungsvolle Mädchenaugen das Gewühl der übrigen Schlittschuhläufer mit spähendem Blick durchdringen, in den Mienen die schwer unterdrückte Frage, ob er nicht bald kommen wird, der „riesig nette“ Herr Student, der als Primaner in der Tanzstunde noch so ungelenk war, aber hier draußen auf dem Eis sogar im „Bogenfahren“ ein Meister ist. ... Ach, wenn man erst weiß, wie schön es sich so zu zweien fährt, da macht das Alleinfahren gar keinen Spaß mehr! ... Aber – die Gegensätze ziehen sich an. Jung Klärchen hat auch noch einen anderen Verehrer, der lange nicht so hübsch und nett wie der Erwartete ist. Und richtig – da kommen beide Rivalen zugleich auf sie zu. Wie fatal! Doch sie ist ein wohlerzogenes Mädchen und weiß, was sich schickt. Schnell überwindet sie die Mißstimmung über die Störung durch den „andern“; sie reicht ihm und dem „einen“ mit gleicher Freundlichkeit eine Hand zum gemeinsamen Lauf und läßt sich’s in der Winterkälte wohl sein „zwischen zwei Feuern“, ihr eigenes Feuerlein geheim im Herzen hegend.p.
Stier im Kampfe mit einem Bären. (Zu dem Bilde S. 104 und 105.) Tiercharaktere sind im allgemeinen leichter zu erkennen als die menschlichen, trotzdem herrscht über sie nicht in allen Fällen die erwünschte Klarheit. Auch was den Meister Braun anbelangt, gehen die Ansichten der Forscher weit auseinander. Drollig, liebenswürdig, von gemütlichem Humor nennen die einen den guten Meister Petz, während ihn die anderen als dumm, grob und ungeschliffen darstellen. Der Bär kann sich von beiden Seiten zeigen, er scheint sich nach dem Spruch zu richten, der da lautet: „Alle Kultur kommt vom Magen.“ Er ist mit Vorliebe Pflanzenfresser, und wenn der Wald ihm in Hülle und Fülle Beeren, Nüsse und frische Triebe liefert, dann mag er gemütlich sein. Wenn ihm aber seine Lieblingskost fehlt, dann wird er zum schlimmen Räuber, und wenn er wiederholt Blut geleckt hat, gerät er auf Abwege.
Aber auch als Räuber bleibt er plump. Am liebsten stellt er Schafen nach, wagt sich jedoch auch an größere Tiere, namentlich Ochsen und Pferde. Er schleicht sich an weidende Herden heran, und wenn sich eins der Tiere seinem Versteck genähert hat, bricht er plötzlich hervor. Es beginnt nunmehr ein Rennen, in welchem der ausdauernde Bär zu siegen pflegt, indem er das Tier so lange umherjagt, bis es ermüdet zusammenbricht oder in den Abgrund stürzt. Dann steigt der Räuber als gewandter Kletterer in die Tiefe hinunter und sättigt sich an der Beute. Immer jedoch hat er nicht so ein leichtes Spiel. Die Rinderherden haben ihre natürlichen Beschützer, die mutigen Stiere. Der Leiter der Herde flieht nicht vor dem Bären. Während die Kühe im ersten Augenblick wild und scheu umherrennen, rückt der Stier mit gesenkten Hörnern gegen den Feind vor. Ein doppeltes Gebrüll durchzittert die Luft, die Stimme des Stiers tönt gewaltig. Schon bilden die Gegner einen Knäuel, wie dies auf unserem Bilde meisterhaft wiedergegeben ist. Der Bär hat einen bösen Stoß empfangen, aber auch der Stier fühlt die mächtigen Pranken. Da naht die Hilfe. Die Kühe haben den Kampfruf ihres Herrn vernommen und einige eilen bereits auf den Kampfplatz. Bald wird die ganze Herde brüllend und schnaubend den schlimmen Räuber umringen und der verwegene Geselle wird den Kürzeren ziehen.*
Der Dritte im Bunde. (Zu dem Bilde S. 113) Er hat etwas lange auf sich warten lassen, dafür ist er denn jetzt auch Mittelpunkt, um den sich das ganze Haus dreht. Die zwei „Großen“ rennen von jedem Spiel weg, sobald der Kleine im grünverhangenen Bettkörbchen von seiner Trägerin herunter an die Luft gebracht wird. Diese lächelt mit echtem Ammenstolz auf ihr Bübchen nieder und auch den Kindern scheint’s, als könne es nichts Herzigeres geben als das dicke rote Gesichtchen mit den zwei festgeballten Fäustchen, das so süß in seinem weichen Federneste schlummert. Das blondlockige kleine Fräulein, der bisherige Verzug des Hauses, reckt sich allerdings nur auf Zehen und wirft, mit lässig auf den Rücken gelegten Händen, einen gnädigen Neugierblick zwischen die seidenen Vorhänge: auch in der Bewunderung kommt ihr das Gefühl des eigenen verwöhnten Persönchens nicht abhanden. Der ehrliche Junge dagegen, mit seinem hausgeschnittenen braunen Staffelkopf, er ist ganz Hingebung und Entzücken. Seine Seele denkt nicht mehr an den schönen neuen Drachen, der ihm rückwärts herunterpendelt, er harrt nur atemlos, ob das Brüderchen nicht doch vielleicht die Aeuglein öffnen und ihn ein bißchen anlachen werde. ... Und dabei gucken seine bloßen Aermchen und das gutmütige Kindergesicht so unschuldig naiv aus dem gestickten Affenjäckchen und der überreichlichen Faltenhose heraus, deren Schnittgeheimnis glücklicherweise mit der Empirezeit verschwunden ist!
Daß die Malerin des hübschen Bildes diese Zeit aufs genaueste studiert hat, zeigt jede Kleinigkeit ihrer Darstellung. Aber der Hauptreiz liegt doch in dem einfach menschlichen Vorgang, den sie dem Beschauer so liebenswürdig zu zeigen versteht.Bn.
Inhalt: Buen Retiro. Von Marie Bernhard (Schluß). S. 101. - Zwischen zwei Feuern. Bild. S. 101. - Stier im Kampf mit einem Bären. Bild. S. 104 und 105. - Die Zither und ihre Herstellung. Von J. E. S. 107. Mit Abbildungen S. 108 und S. 109. - Rätselhafte Veränderungen des menschlichen Haares. Von C. Falkenhorst. S. 110. - Loni. Erzählung von Anton von Perfall (2. Fortsetzung). S. 111. - Der Dritte im Bunde. Bild. S. 113. - Blätter und Blüten: Internationale Vorsichtsmaßregeln zur See. S. 115. - Zwischen zwei Feuern. S. 116. (Zu dem Bilde S. 101.) - Stier im Kampfe mit einem Bären. S. 116. (Zu dem Bilde S. 104 und 105.) - Der Dritte im Bunde. S. 116. (Zu dem Bilde S. 113.)