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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[69]

Nr. 5.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Buen Retiro.

Von Marie Bernhard.

     (4. Fortsetzung.)

9.

Als Gabriele und Röder zusammen die Stufen der Veranda emporstiegen, kam ihnen Mamsellchen dort mit hochgeröteten Wangen entgegen und berichtete, die fremden Herrschaften seien im Garten.

„Es ist gut! Wollen Sie vorausgehen, Frau Gabriele, und meinen neuen Gästen sagen, ich würde sie in fünf Minuten willkommen heißen? Ich will mich nur durch ein paar Worte mit meinem Hausgeist verständigen.“

Gabriele nickte und ging nach dem Garten. Mamsellchen sah ihr mit beklommener Miene nach. Wie die junge Frau lieblich anzusehen war in dem schlichten weißen Wollkleid, das sie trug, und wie sie aufblühte! Mamsellchen fand, daß sie mehr und mehr dem Generalkonsul, ihrem Vater, glich.

„Herr Doktor“ – Mamsellchen holte einen langen Seufzer aus der Tiefe ihrer Brust heraus, um anzudeuten, wie schwer es ihr ums Herz sei, „die bleiben also hier?“

„Die neuen Gäste? Ja, gewiß!“

„Wie lange wohl?“

„Das weiß ich nicht.“

„Auch nicht, wie sie heißen?“ examinierte Mamsellchen weiter.

Die neue Wärmstube in München: im Frauenraum.
Nach dem Leben gezeichnet von Fritz Bergen.

[70] „Nein!“ antwortete der Doktor.

„Auch nicht, wer sie sind?“

„Nein! Das heißt, es sind Frau Hartmanns Freunde, das genügt mir – und Dir hoffentlich auch!“

„Ja, dann muß es wohl. Welche Zimmer bestimmen der Herr Doktor?“

„Ich dachte, das Eßzimmer und die beiden mit den roten Möbeln.“

„Dann hab’ ich es richtig getroffen, als ich das Gepäck gleich dorthin tragen ließ. Sie haben nämlich Gepäck mitgebracht, gerad’ als wenn sie genau im voraus gewußt hätten, sie würden hier bleiben. Na, das find’ ich nun aber komisch!“

„Ich nicht! Sorg’ nur für ein gutes Abendessen und schick’ mir Ewert wegen des Weines!“

„Die Dame, die sieht so aus –“

„Ich werde ja gleich erfahren, wie sie aussieht!“

„Und der eine Herr ist noch jung, und der schaut nach unserer jungen Frau, das hab’ ich gleich weg gehabt. Unserer jungen Frau ist er aber egal, die hat kaum hingehört, wenn er zu ihr sprach. Ewert hat Mosel mit Wasser und Zucker in die Veranda gebracht, als sie kamen, ich hatte das bestimmt, weil es so heiß war, es schmeckte ihnen sehr gut, und die Dame –“

„Laß mich jetzt gehen, ich muß endlich meine Gäste begrüßen!“

„O Gott, und ich möcht’ noch fragen und reden ohne End’. Ich will bloß noch sagen, es schien den Dreien hier sehr gut zu gefallen, denn sie besahen sich alles und lobten alles, und der Herr mit der tiefen Stimme sagte ein paarmal: Hier laßt uns Hütten bauen! Und unsere junge Frau, die war dabei verlegen!“

Der Doktor winkte ungeduldig mit der Hand und war mit einem: „Ich verlasse mich ganz auf Dich!“ die Stufen hinunter.

Cornelius mußte fast seinen ganzen Garten durchschreiten, ehe er die Gesuchten fand. Endlich hörte er ein sonores Lachen und plaudernde Stimmen aus dem Dickicht einer reich mit wildem Wein umwachsenen Laube hervor, die an einem entlegenen Ende des Gartens stand. Der Blick des Eintretenden umfaßte sofort die Gruppe, einen etwas beleibten Herrn in mittleren Jahren mit einem kühn getragenen Lockenhaupt und martialischem Schnurrbart, eine verblüht, aber sehr entschlossen aussehende Dame, übertrieben modern gekleidet, einen beweglichen blonden jungen Mann, der soeben sein Monocle blitzgeschwind mittels eines Augenzuckens herunterwarf, und Gabriele, die eine abgerissene Weinranke spielend in der Hand hin- und herdrehte.

Allgemeines Aufstehen, allgemeine Vorstellung. Herr Theobald Schrader und seine Frau Gemahlin hatten eine so wortreiche und pathetische Art, ihr Schicksal zu preisen, das sie gerade nach Buen Retiro, gerade zu ihm, Doktor Cornelius Röder, dem „berühmten Gelehrten und Schriftsteller“, geführt hatte, daß dieser sich nicht sonderlich angenehm berührt fühlte. Er haßte die großen Worte wie die großen Gesten, und beides bekam er hier reichlich zu kosten. Dennoch nickte er Gabriele aufmunternd und freundlich zu, als ein schüchterner Blick von ihr ihn traf, der ihn zu fragen schien, wie ihm die neuen Hausgenossen gefielen. Der Schwager Schraders, Alfred Konsky, verhielt sich ziemlich schweigsam, bis Ewert meldete, es sei serviert.

Das kleine Mahl verlief recht unterhaltend. Nach kurzer Zeit schien jeder Zwang von den Gästen gewichen zu sein, sie fühlten sich ganz zu Hause und bethätigten dies durch höchst gemütliches Wesen.

Herr Theobald Schrader, der eine schöne Baßstimme besaß, sich dessen voll bewußt war und beim Reden die Töne oft mit klangreichem Pathos aus der Tiefe seiner Brust herausholte, während er das R wie auf Rädern rollen ließ, hielt sich, trotz seines majestätischen Aussehens, nicht für zu gut, um eine ganze Reihe älterer und neuerer Witze zum Besten zu geben und mit so dröhnendem Lachen zu begleiten, daß das Speisezimmer davon wiederhallte. Seine Ehehälfte, deren Teint dem Aussehen eines stark zerknitterten welken Blumenblatts glich, plauderte fast beständig und schien sich selbst ausnehmend geistreich zu finden; wenigstens wanderten ihre schelmisch zwinkernden Augen wieder und wieder Beifall fordernd zu dem Antlitz ihres Nachbars, des Hausherrn, und als dieser ihr den Gefallen that, aus Gutmütigkeit ihr ein wenig zu schmeicheln und ein paar ihrer Aussprüche zu loben, da war sie völlig zufriedengestellt und versicherte ihm einmal über das andere, er sei ent–zückend, geradezu ent–zückend, und Gabriele könne sich viel auf einen solchen Freund zugute thun. Sie begönnerte die junge Frau auffallend, nannte sie jetzt „meine Kleine“, dann wieder „meine teure Freundin“, immer aber in einem Ton, der deutlich durchblicken ließ, daß Gabriele ihr viel Dank schuldig sei. Am unauffälligsten benahm sich der Bruder, Herr Alfred Konsky. Er hatte eine ruhige Sprechweise und eine gewisse kurze trockene Art, drollige Dinge zu sagen oder auch an die Adresse seiner Schwester kleine unliebsame Wahrheiten zu richten, die entschieden belustigend wirkte und selbst auf Röder ihre Wirkung nicht verfehlte. Seine Nachbarin Gabriele behandelte der junge Mann mit einer ehrerbietigen Vertraulichkeit, die auf eine sehr lange oder sehr intime Bekanntschaft schließen ließ, Zeichen besonderer Verliebtheit konnte der Gastgeber nicht an ihm wahrnehmen, nur einmal fiel ihm ein etwas wärmerer Blick auf, der aber immer noch nicht die Grenze sehr ergebener Freundschaft überschritt.

Als die Geister des Weins die Gemüter zu beleben begannen, taute auch Gabriele, die bis dahin ziemlich schweigsam gewesen war, mehr auf. Sie spann sich in eine halblaut geführte Unterhaltung mit Konsky ein und lachte ein paarmal über Schraders Witze herzhaft mit. Dem Doktor fiel es ein, daß er sie noch nicht ein einziges Mal so kindlich hatte lachen hören – er war eben ein zu ernsthafter schwerfälliger Gefährte für das junge Geschöpf gewesen, er hatte es nicht verstanden, in ihm die schlummernde Munterkeit zu wecken, dazu mußten andere kommen! Und er hätte das so wohlfeil haben können, denn Witze und Bemerkungen in der Art des Herrn Theobald Schrader standen ihm gleichfalls mit Leichtigkeit zu Gebot; Gabriele war ihm nur für dergleichen zu gut gewesen.

Einigemal fiel es ihm auf, daß sie ihren Gästen einen warnenden Blick zuwarf, als diese, in ihrer Redeweise immer ungezwungener werdend, verschiedene Anspielungen auf die Vergangenheit machten und allerlei belustigende Begebenheiten erzählen wollten, die in ihr früheres Beisammensein fielen. Jedesmal brachen sie kurz ab, sobald sie Gabrielens Mienenspiel bemerkten, ein Mienenspiel, das deutlich genug sagte: „Was habt Ihr mir versprochen? Wißt Ihr nicht mehr, um was ich Euch gebeten habe?“

„Unser liebenswürdiger Wirt!“ rief Herr Schrader mit Stentorstimme, und seine Gattin fiel mit einem hell schmetternden Sopran ein: „Hoch soll er leben, hoch soll er leben, er lebe hoch!“

„Sie beneidenswerter Sterblicher!“ fuhr ihr Gemahl pathetisch fort. „Eine Leuchte der Wissenschaft, ein Förderer und Kenner der schönen Künste, ein Besitzer keineswegs zu unterschätzender irdischer Güter, Herr dieser Perle eines idyllischen Landsitzes, Eigentümer eines feudalen Weinkellers … was, ich frage Sie, was, meine hochverehrten Anwesenden, mangelt einem Mann wie diesem zu seinem vollkommenen Glück?“

„Eine Frau!“ bemerkte Herr Alfred Konsky trocken.

„Ebenso einfach als richtig bemerkt, mein lieber Schwager!“ entgegnete Theobald, als das laute zustimmende Lachen seiner Frau sich gelegt hatte. „Also, um einem Wunsch zu entsprechen, der sich entschieden im Busen eines jeden an unserer kleinen Tafelrunde regt: mein hochverehrter Herr Doktor, auf die Erwählte Ihres Herzens!“

Im Busen des hochverehrten Herrn Doktors regte sich vor allem der Wunsch, seine Gäste möchten bald müde werden und ihre Ruhestätten aufsuchen, anstatt ihn und seine etwaigen Herzenswünsche hier zum Mittelpunkt der Unterhaltung zu machen – allein daran war kein Gedanke. Herr Schrader beugte sich über seine Gattin, tippte Röder vertraulich aufs Knie und fragte in vertraulichem Flüsterton: „Nicht wahr, ich gehe nicht fehl, wenn ich annehme … hm, hm – ein Mann wie Sie – nicht wahr, es gäbe manches reizvolle interessante Erlebnis zu berichten, wenn Sie im Buch Ihrer Vergangenheit blättern wollten?“

„O, bitte, bitte, blättern Sie!“ Frau Schrader faltete die Hände wie ein artiges Kind, das um Bonbons bittet, und machte ein spitzes Mäulchen. „Ich denke es mir zu reizend! Mein Mann hat recht, ein Mann wie Sie – dieser frappante Kopf – nicht wahr, Theo? Was müssen Sie alles erlebt haben! Ich wette, die Damen sind sehr, sehr – liebenswürdig gegen Sie gewesen! O, nicht diese ablehnende Miene! Gabriele, meine Kleine, helfen Sie mir den Doktor bestimmen, daß er uns ein Kapitel aus seinem Lebensroman erzählt!“

„Leopoldine, ich bitte Sie, wie können Sie verlangen –“

„Gabriele, Sie thun gerade, als forderte ich Sie auf, ein Verbrechen zu begehen! Sehen Sie sie an, bester Herr Doktor,“ fuhr sie leiser fort, „jetzt macht sie ihr unnahbares Gesicht, wie wir es immer nannten, damals, als Gabriele noch mitten unter uns war! Geben Sie zu, daß sie mit dieser Miene entschieden hochmütig aussieht! Sie liebte es immer, sich von Zeit zu Zeit solche Airs zu geben – ihr muß dann wohl der Papa Generalkonsul [71] zu Kopf steigen und die glänzenden Verhältnisse, in denen sie groß geworden ist. Lieber Gott, mir kommt das ein bißchen lächerlich vor, ich habe sonst für Gabriele immer eine Vorliebe gehabt und freute mich, ihr mit Rat und That zur Seite stehen zu können, sie ist ja so jung und stellenweise von einer Naivetät, von einer Kindlichkeit der Weltanschauung, die ans Unglaubliche grenzt … Für ihr Aeußeres habe ich mich eigentlich nie so sehr begeistern können, die Gestalt ist mir zu schmächtig, zu wenig imposant“ – die Rednerin sah unwillkürlich in den ihr gegenüberhängenden Spiegel, der ihre üppige Figur in dem prall sitzenden Seidenkleide zurückstrahlte – „und das Gesicht, ich wüßte, bis auf Augen und Zähne, nichts Schönes darin zu finden, es ist meist auch zu blaß. Freilich heute hat es Farbe – ja, was ich sagen wollte, bei den Männern hat Gabriele allerdings wunderbar viel Erfolg, ich konnte es aber nie recht begreifen. Der Geschmack der beiden Geschlechter ist doch grundverschieden – klären Sie mich doch ein wenig auf, bester Doktor! Wie kommt das?“

„Was soll kommen, gnädige Frau?“

„Ach, Sie weichen mir aus, Sie thun, als verständen Sie mich nicht! Aber das soll Ihnen bei mir nichts helfen. Ich bin eine offene Natur, schon als ich noch ein Kind war, sagte meine Mutter: Poldchen, Du bist viel zu ehrlich; wie willst Du mit dieser Geradheit durch die Welt kommen? Also denn geradezu, wie finden Sie sie?“

„Sie meinen Frau Hartmann?“

„Natürlich, wen denn sonst? Sind Sie nicht auch bezaubert?“

„Ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, schöne Frau! Ich habe das Glück – oder soll ich es ein Unglück nennen? – von allen Vertreterinnen Ihres Geschlechts bezaubert zu sein, von allen, ohne Ausnahme! Es ist dies ein verhängnisvoller Zug in meiner Natur, aber er ist da, und ich muß Sie bitten, mit ihm zu rechnen!“

Frau Leopoldine sah zu ihm auf – sprach er im Ernst oder hatte er sie zum Besten? In seinen unbeweglichen Mienen war keine Aufklärung darüber zu finden. Sie lachte ein wenig gezwungen.

„Welch ein Original Sie sind, Doktor Röder, wirklich, ein ganzes Original! Wenn man Ihren Worten glauben würde, dann müßte man sich ja entsetzlich vor Ihnen fürchten!“

„Eine süße Aufgabe für mich, diese liebenswürdige Furcht zu entkräften!“ Er sprach sehr leise, um alles wollte er nicht, daß Gabriele irgend etwas von diesen Albernheiten hörte.

„Es mag auch zum Teil daran liegen, daß man Euch Männern interessanter wird, wenn man sich anscheinend gar nicht um Euch bekümmert!“ Frau Leopoldine konnte sich nicht entschließen, das anziehende Thema aufzugeben. „Und wenn das der Fall ist, o, dann hat Gabriele es vortrefflich verstanden, dies auszunutzen. Wenn ich nur an den armen Willibald denke –“

„Wer war der arme Willibald?“

„Das wissen Sie nicht? Das war ja Gabrielens Mann! Ist der verliebt in sie gewesen! Hat er sich nicht, als sie ihn zuerst nicht wollte, benommen, als könnte er das Leben nicht länger ertragen! Und sie immer ganz gleichmäßig, mit einer Seelenruhe, die weit über ihre Jahre ging – ich, die ich sie doch lange kenne, weiß heute noch nicht, ob sie überhaupt irgend welcher Leidenschaft fähig ist, und wenn sie das ist, ob sie eine solche für den armen Willibald hatte! Ich hielt es damals für meine Pflicht, ernsthaft mit ihr zu reden, denn wirklich, ich glaube, Hartmann wäre verrückt geworden, wenn sie ihn nicht erhört hätte – er war eine excentrische Natur. Und trotz alledem bin ich fest überzeugt, sie hätte ihn dennoch nicht genommen, wenn nicht seine große Begabung für …“

„Liebe Leopoldine, bitte, versuchen Sie einmal diese köstlichen Ananaserdbeeren! Mamsellchen und ich, wir sind unsäglich stolz darauf, wir haben sie selbst heute zum Nachtisch gesammelt!“

Es war Gabrielens Stimme, ungewöhnlich lebhaft, und wieder lag in ihren Augen die beredte Mahnung: Schweige! Du hast es mir versprochen, zu schweigen!

Und Frau Leopoldine aß Ananaserdbeeren und schwieg, das heißt, sie sprach von anderen Dingen. Sie erzählte Röder allerlei Begegnungen, die sie mit berühmten Männern gehabt hatte, meistens waren es Künstler oder Journalisten, und wie diese ihr gehuldigt hätten. „Ja, damals war man noch jung und hübsch!“ schloß sie mit einem Seufzer und einem koketten Augenaufschlag, es unentschieden lassend, wann dies „damals“ gewesen war.

„Leopoldine, teures Weib, hast Du unseren edlen Hausherrn bereits etwas von unserm Attentat gesagt?“ klang jetzt der volle Baß des Herrn Schrader mitten in den Redestrom seiner Gattin hinein.

„Ach, richtig, unser Attentat! Dank Dir, Theo! Ja, ja, Herr Doktor, das hilft Ihnen nun alles nichts, weder das Augenbrauenfalten noch das kühle Abwehren in den Zügen – denn das hatten Sie soeben. Ich bin eine ganz gute Beobachterin!“

„Unleugbar, meine Gnädigste! Aber zur Tagesordnung, das Attentat –“

„Sehr geschickt ausgewichen! Also, wir haben ihn gesehen, zuerst durch das Fenster von draußen her, dann, da ich keine Ruhe gab, mußte Gabriele mich hineinführen, um ihn zu probieren – sie that es ungern genug! Ich schließe daraus, daß Sie sehr heikel mit Ihrem schönen Stutzflügel sind, aber was wollen Sie? Musik ist mein Lebenselement, meine einzige Leidenschaft, mein Bestes –“

„O, o, meine gnädige Frau, es bedarf so vieler Worte nicht! Der Blüthner steht jederzeit zu Ihrer Verfügung, benutzen Sie ihn wie Ihr Eigentum!“

„Wie entzückend das ist, wie großmütig!“ Frau Leopoldine schob lebhaft ihren Stuhl zurück und klatschte in die Hände. „Theo, hast Du gehört? Alfred, so gieb doch acht, so freu’ Dich doch! Musik, meine Herrschaften, Musik!“

Das Zeichen zum Aufstehen war gegeben, allgemeines Händeschütteln, rascher Aufbruch zum Salon, kaum daß Röder Zeit behielt, mit Gabriele ein Wort zu wechseln.

„Verzeihen Sie mir, ich weiß nicht, ob Ihnen das alles recht, ob es nach Ihrem Sinn ist, aber –“

„Kein Aber, Frau Gabriele! Bin ich denn ein so schwerfälliger Pedant, daß ich mich in keine veränderte Lage finden kann? Gehen Sie nur, gehen Sie! Ihr Kavalier wartet schon auf Sie! Ich folge nach!“

Sie hätte gern noch mehr zu ihm gesagt, zögernd legte sie ihre Hand auf Konskys dargebotenen Arm.

Frau Leopoldine war den übrigen vorausgeeilt. Sie saß bereits am geöffneten Flügel und spielte, als die andern eintraten.

„Sie lieben doch Musik, Herr Doktor?“ rief sie mit heller Stimme zu dem Hausherrn hinüber.

Er verneigte sich stumm.

Im Salon verbreiteten die hohen Stehlampen ein klares stetiges Licht. Ein Fensterflügel stand offen, ein mildes Nachtlüftchen hob leise die weiße Gardine. Gabriele zog sich lautlos in die Tiefe des großen Raumes zurück, ihre schlanke, helle Gestalt hob sich scharf von der dunkeln Tapete ab. Die roten Rosen auf ihrer Brust fingen an, sich zu entblättern.

„Ihr, die Ihr Triebe des Herzens kennt –“

Frau Leopoldine Schrader hatte eine sehr gutgeschulte Stimme und einen lebendigen Vortrag. Sie war ganz Cherubim, der schelmische Page aus dem „Figaro“, daß dies Schmachten und Kokettieren einer verblühten, vom Wein erhitzten Dame, die in einem hellen Seidenkleide am Klavier sitzt und sich selbst begleitet, nicht gut zu Gesicht steht, dessen war sie sich offenbar nicht bewußt. Ihre helle, in der Höhe bereits etwas scharfe und abgesungene Stimme schleuderte die Töne mit siegesgewisser Sicherheit hervor, die halb zugedrückten Augen blinzelten schalkhaft zu den drei Herren hinüber, der enggeschnürte Oberkörper wiegte sich wohlgefällig hin und her. Auf die Pagenarie folgte das: „Wenn du fein artig bist“ aus dem „Don Juan“, daran reihte sich das reizende „Kommt ein schlanker Bursch’ gegangen“ des Aennchen aus dem „Freischütz“, und so kam Gabe auf Gabe, rasch, überhastet, ohne ein Wort des Lobes oder ein Beifallsklatschen abzuwarten. Frau Leopoldine schwelgte in ihrer eigenen Kunst. Wenn die Zuhörer dies nicht thaten, sondern entweder ihren eigenen Gedanken nachhingen oder leise miteinander plauderten, ohne weiter auf den Gesang zu achten, so war dies schnöder Undank von ihnen, zu bewundern blieb immer die erstaunliche Kehlfertigkeit, sowie das gute musikalische Gedächtnis, welches die Sängerin befähigte, die Begleitung, wenn auch etwas zu lebhaft, so doch fest und sicher durchzuführen.

Nach einer langen langen Weile bemächtigte sich Herr Theobald gewaltsam des Flügels, indem er seine Gattin ohne weiteres beim Arm nahm und vom Sessel emporzog, und gab die beiden Arien des Sarastro aus der „Zauberflöte“ zum besten. Die Fenster klirrten und die Lampen bebten vor der Gewalt seines Basses, die Begleitung ließ viel zu wünschen übrig, und er mußte die Hilfe seiner Frau in Anspruch nehmen. Sie wünschte nicht, daß er noch mehr singe, sie behauptete, das schade ihm nach dem Essen, lieber wolle sie noch mit Alfred ein paar Duette spenden. Alfred ließ sich erst ein wenig nötigen, ehe er seinen Platz neben Gabriele mit dem am

[72]

Burggraf Friedrich III. von Nürnberg überbringt dem Grafen Rudolf von Habsburg die Nachricht seiner Erwählung zum deutschen König.
Nach dem Gemälde von H. Knackfuß.

[73] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [74] Klavier vertauschte, schließlich klang sein angenehmer Bariton mit dem Sopran seiner Schwester in einigen italienischen Duetten zusammen, die am besten von den bisher gebotenen Leistungen wirkten.

Gabriele wurde lebhaft gebeten, zu singen, das würde der Glanzpunkt, die Krone des ganzen schönen Beisammenseins werden, Doktor Röder ahne wohl gab nicht, welch’ ein herrliches Talent sich unter seinem gastlichen Dach verborgen habe, es sei geradezu eine Sünde, den Anwesenden einen solchen Genuß vorzuenthalten – – es blieb alles ohne Erfolg. Sie machte nicht viele Worte, aber sie weigerte sich standhaft; sie sei nicht aufgelegt und könne heute nicht singen.

Es war nach zwei Uhr nachts, als man sich endlich voneinander trennte. Die Fremden zwar zeigten keine Spur von Ermüdung und hatten nicht übel Lust, noch einen Gang durch den nächtlichen Park zu unternehmen – es mußte entzückend sein, dort bei Sternenschein umherzuschwärmen – als aber Gabriele kurz erklärte, sie sei nicht dabei, zerfiel der ganze Plan sofort.

Man wünschte einander sehr wortreich gute Nacht und machte allerlei Pläne für den nächsten Tag. Röder stimmte höflich den verschiedenen Vorschlägen bei – an ruhiges Arbeiten war vorläufig für ihn nicht zu denken, das sah er schon.

Gabriele reichte ihm zaghaft die Hand und machte eine bedrückte Miene, als er die Hand kaum anrührte und gleich wieder losließ. Ihm lag das Herz schwer in der Brust, es that ihm weh, sie nur anzuschauen, in ihrer mädchenhaften Lieblichkeit. Er hätte sie bei der Hand nehmen, an die Schwelle seines Hauses führen und sprechen mögen: „Geh’ und komm’ nicht mehr zurück zu mir! Du nimmst den Frieden dieses stillen Hauses mit Dir, aber geh’, daß nicht Dein Anblick mich zum Thoren macht!“


10.

Mehr als vierzehn Tage waren seit jenem Abend vergangen. Es war inzwischen Hochsommer geworden. Die Gegend um Buen Retiro herum hatte sich verändert. Die wogenden Kornfelder waren niedergemäht, nur der Hafer schüttelte noch seine leichten Rispen im warmen Wind. Aber auch für ihn war es Zeit zur Ernte – schon machten sich die Schnitter mit ihren blanken Sensen über ihn her. -

In tiefem ernsten Grün prangte der Wald. Das Blumengewimmel zu Füßen der alten Bäume hatte aufgehört, die lustigen Vogelkonzerte waren verstummt. Dafür schwärmten zahllose Schmetterlinge, vom winzigen Bläuling bis zum stolzen Trauermantel, um die hohen Gräser und um die Schilfdolden, die nahe dem üppigen Moorgrund wuchsen.

Die Landleute, die Buen Retiro zu passieren hatten, verstanden die Inschrift nicht, welche die Villa trug. Hätten sie sie verstanden, sie würden sich gewundert haben. Vielleicht auch nicht. Es war nicht gesagt, ob das hübsche Haus eine „gute Zuflucht“ für einen Einzelnen bieten sollte, oder für viele. Jetzt wohnten viele Leute darin, war darum die Zuflucht eine weniger gute?

Die darin ihr Unterkommen gefunden hatten, waren sicher zufrieden; sie zeigten sehr heitere Gesichter und machten gar keine Miene, abzureisen. Es waren außer jenen ersten Drei ein paar „intime Freunde“ von Herrn Schrader gewesen, „ganz prächtige Menschen und gegenwärtig gerade beschäftigungslos, daher zum Glück disponibel“, wie er gesagt hatte – nun, die wohnten in der Stadt und kamen, nachdem Herr Theobald den Hausherrn höflich um Erlaubnis gefragt hatte, einmal um fünf Uhr heraus. Und da zeigten sie sich so entzückt von der Villa, ihrer Umgebung und ihren Insassen, priesen das Dasein dort mit so begeisterten Worten, sprachen sich so entrüstet über die Hitze und den Staub der Großstadt aus, daß Cornelius Röder ein Herz von Stein hätte haben müssen, wenn er sich dieser Mitbrüder nicht erbarmt hätte. Er lud sie also ein, in der Villa zu wohnen, und erhielt eine freudige Zusage. Einer der Herren erwies sich als ein hervorragendes Organisationstalent. Er fand, aus den vorhandenen Mitteln könne etwas gemacht werden, und er machte etwas daraus. Vorn im Garten entstand ein Lawn-Tennis-Platz, weiterhin, in der Nähe des Weihers wurde eine Mooshütte aufgerichtet. In dem an den Salon anstoßenden Raum fand ein Billard Platz, so zierlich, daß auch die Damen bequem das Queue, handhaben konnten. Ein zweiter Kahn wurde herbeigeschafft, da der vorhandene blaue sich als zu klein erwies, um die ganze Gesellschaft zu fassen. Frau Leopoldine Schrader hatte nämlich in der Stadt eine verheiratete Cousine, die gleichfalls viel freie Zeit haben mußte, denn sie kam fast täglich mit ihrem Gatten und einem niedlichen Töchterchen von fünfzehn Jahren nach Buen Retiro herüber. Die Dame war eine sehr hübsche Brünette, von etwas freiem Betragen, liebte es, sich sehr extravagant anzuziehen, Cigaretten zu rauchen und derbe Ausdrücke zu gebrauchen, nahm es auch keineswegs schwer, die anwesenden Herren, mit Ausnahme des Doktors, gelegentlich beim Taufnamen anzureden – aber, mein Himmel, wofür befand man sich denn mitten im Sommer und auf dem Lande! Wenn Man nicht einmal da ein bißchen Idyll““ spielen sollte!

Der Mann der „Cousine“ machte den Clown der Gesellschaft mit vielem Geschick. Er konnte Tierstimmen nachahmen, auf den Händen spazierengehen, Pfauenfedern auf der Nasenspitze balancieren, Feuerbrände schlucken und hundert andere Künste, die er mit großer Bereitwilligkeit zeigte. War schlechtes Wetter oder galt es, im Tagesprogramm eine Pause auszufüllen, sofort wurde Herr Trelow gerufen – sie nannten ihn fast alle „Adolfchen!“ – damit er seine Leistungen zum besten gäbe. Die kleine „Lonny“, seine Tochter, wurde von aller Welt verhätschelt, wurde „Baby“ und „Püppchen“ genannt und mit Chokolade gefüttert – sie war ein munteres schwarzäugiges Ding, hatte viel von der Mama und konnte gelegentlich mit Alfred Konsky und einem seiner Freunde, den beiden jüngsten Herren der Gesellschaft, einen Ton anschlagen, der durchaus nichts von einem „Baby“ hatte.

Es gab ein lustiges Leben auf Buen Retiro. Die Villa hallte wieder von Gespräch und Gelächter. Oft galt es, eine so lange Tafel im Speisezimmer zu decken, daß der ausziehbare Eßtisch nicht ausreichte und unter Scherz und Lachen ein „Anbau“ gemacht werden mußte. Zur Nachmittagsstunde baumelten sechs, acht Hängematten zwischen den Bäumen, und die blauen Dampfwölkchen der Cigaretten wirbelten durch die üppigen Laubkronen. Zwischen zwei kräftigen Ulmen hing an starken Stricken ein kleines Brett, und auf dieser primitiven Schaukel ließ sich die kleine Lonny von den jungen Herren schwindelnd hoch in die Lüfte werfen und bekundete ihren Beifall durch ein gellendes Geschrei, sobald das Brettchen mit ihr nahe am Ueberschlagen war. Die Ruderpartien auf bekränzten Booten im Mondschein waren entzückend, und ein paarmal hielt man die vergnügtesten Picknicks im Walde, wobei große Reisigbündel, von den Herren herbeigeschleppt, angezündet und allerlei Getränke über den lodernden Holzstößen gebraut wurden. Auf dem Heimweg gab es dann große Forschungsreisen nach Irrlichtern und langwierige Beobachtungsstationen neben dem Sumpf – schließlich allgemeines Mitgehen bis zur nächsten Haltestelle der Pferdebahn, um die Familie Trelow zu begleiten, die zur Stadt zurück mußte – unterwegs Chorgesänge und Solovorträge, oft mit eigenen Dichtungen, Verabredungen zum nächsten Tage, ein Hin und Her von lauten Stimmen und lachenden Zurufen, das kein Ende nehmen wollte. Und dann zurück durch den dunkeln, leise im Nachtwinde rauschenden Wald – ein „Fackelzug“ von brennenden Wachslichtchen, die Herr Theobald Schrader aus der Schachtel holte, ein Aufschreien von Frau Leopoldine; sobald ein tiefhängender Zweig ihr Gesicht streifte oder ein Stück faulenden Holzes im Finstern leuchtete, galante Beihilfe von seiten der beiden Freunde, weniger ritterliche Beschwichtigungen durch den Gatten und den Bruder, Debatten über Sternschnuppen und Nordlichter, spätes Heimkommen und „gemütliches“ Beieinandersitzen im Speisezimmer bei einer Art leichten Punsches, den Frau Leopoldine vorzüglich zu brauen verstand.

Sorglos ließen die Gäste der Villa sich’s wohl sein. Der Gedanke, dem Hausherrn durch ihr Hiersein irgend welchen Zwang aufzuerlegen, kam keinem einzigen von ihnen. Mein Gott, er hatte sie ja selbst so liebenswürdig und höflich aufgenommen, das hätte er ja nicht nötig gehabt, wenn es nicht sein eigener freier Wille gewesen wäre! Sehr begreiflich übrigens! Der Mann hatte sich – wahrscheinlich in der Uebereilung – diese abgelegene Villa gekauft; nun er darin saß, fand er denn doch, dies Leben sei auf die Dauer etwas zu einförmig, da lud er sich also Gesellschaft dazu! An Arbeiten war für ihn ohnehin jetzt im heißesten Sommer nicht zu denken, es geschah ihm also nur ein Gefallen, wenn man ihn davon zurückhielt, und überhaupt, brauchte denn ein Mann wie er zu arbeiten? Er mußte doch sehr wohlhabend, beinahe reich sein – seine ganze Lebensweise sprach dafür! Er war nicht sehr mitteilsam, beinahe ein wenig schwerfällig, aber er besaß die gute Eigenschaft, seinen Gästen vollständig freie Hand zu lassen; seine Gegenwart legte niemand einen Zwang auf, und wenn er auch niemals [75] selbst einen Vorschlag machte, ein neues Vergnügen ersann, so war er doch kein Spielverderber, er machte mit guter Manier den tollsten Unsinn, das ausgelassenste Zeug mit …. folglich mußte er doch auch seinen Spaß daran haben!

Die Menschen, die sich hier zusammenfanden, waren ein leichtlebiges Völkchen, sie besannen sich nicht viel, ergriffen, was sich ihnen bot, und nahmen es mit dem Wort „Freundschaft“ nicht so genau. Sie waren samt und sonders gutmütig und halfen anderen gern, vorausgesetzt, daß sie selbst etwas hatten. War das nicht der Fall, nun, dann ließen sie sich eben helfen und machten sich weiter keine Gedanken darüber. Herr Theobald Schrader hatte neulich vor versammelter Tafelrunde erzählt, wie er und seine Gattin vor Jahren, als sie gerade „auf einem besonders grünen Zweig“ saßen, eine ganze Familie, bestehend aus fünf Köpfen, fast ein Vierteljahr unterhalten hatten, bis der brotlose Hausvater eine neue Stellung fand. Wer das ohne weiteres leistete, der konnte sich unbesorgt an anderer Leute Tisch setzen, gleichviel, wo dieser Tisch stand. Das war die Moral von der Geschichte, und sie leuchtete jedem ein, das stand fest, so oder so.

Auch Doktor Röder selbst faßte die Sachlage richtig auf. Die Leute hatten nichts zu thun, sie hielten ihn für einen reichen Mann, der nur zum Vergnügen hier und da einen kleinen Artikel schrieb, die Villa mit ihrer bequemen Lage und ihrer schönen gesunden Luft sagte ihnen sehr zu, und so blieben sie bei ihm, zumal sie ihm, dem einsamen Junggesellen, mit ihrer muntern Gesellschaft sicher einen großen Gefallen thaten und ihm die Grillen vertreiben halfen. Wie konnten sie es wissen, daß ihr Hausherr jahrelang nach Ruhe, nach Einsamkeit gelechzt hatte, daß seine Arbeit ihm lieb und keineswegs bloß Luxus, sondern einfach Lebensbedürfnis war, daß seine Nerven, durch langes Reiseleben übermüdet, dringend der Ruhe bedurften? Wer von ihnen ahnte, was sein „Buen Retiro“ ihm hatte werden sollen, mit welchen Augen er es angesehen, wie er sich darauf gerettet hatte wie auf eine stille Insel, an die kaum eine vereinzelte müde Welle einmal schlagen sollte? Jetzt brandete es stark heran, o ja! Von Ruhe und Sammlung keine Spur – Menschen, Menschen überall, in den Zimmern, im Garten, in der Veranda! Sein Arbeitszimmer war eine Art Sammelplatz für die Gesellschaft geworden, „es war so himmlisch kühl und so schön groß!“ Gabrielens Einwurf, der Doktor könne arbeiten wollen, wurde von allen Seiten voller Entrüstung zurückgewiesen: „Arbeiten? Jetzt, bei dieser Jahreszeit, diesem Wetter?“ „Aber kein Gedanke, wo denken Sie hin, Kind!“ „Ja, ich bitte Sie, wer hat denn Lust, jetzt, mitten im Sommer, etwas zu lesen?“ „Das ist ja der reine Mord!“ „So unvernünftig ist der Doktor nie und nimmer, schon aus Rücksicht auf seine Nebenmenschen nicht, denen er doch jetzt keine wissenschaftliche Lektüre zumuten kann!“ Kurz, Gabrielens Antrag wurde mit Majorität abgelehnt, und es wurde über den Kopf des Hauptbeteiligten weg, der gar nicht zu Wort gekommen war, zur Tagesordnung geschritten. Der Hausherr wurde ja so verehrt, so geliebt! Etwaige wissenschaftliche Streitfragen wurden ihm ohne weiteres zur Entscheidung vorgelegt, und seine Aussprüche bedingungslos als richtig angenommen. Die Damen bedienten und umschmeichelten ihn wie einen Pascha, die kleine Lonny nannte ihn Onkel – er hatte es also sehr gut.

Zuweilen, wenn er humoristisch gestimmt war, sagte er sich dies selbst, mit einem feinen ironischen Schmunzeln. Aber im ganzen geschah ihm das doch recht selten, und bald kam die Zeit, da ihm der Humor wie das Ironisieren verging. Seine Leidenschaft für Gabriele machte gefährliche Fortschritte. Je mehr er sich fragte: wie kommt sie in diese Gesellschaft? wie paßt sie mit diesen Menschen zusammen? – je mehr er sie beobachtete, desto schärfer trat der Gegensatz zwischen ihr und den übrigen hervor, desto mehr stach ihr vornehmes gelassenes Wesen vorteilhaft ab von der grellen vorlauten Lustigkeit der andern. Im ganzen that sie wie er: sie war keine Spielverderberin, sie ließ die Gesellschaft gewähren und war jederzeit bereit zu Bootfahrten und Lawn-Tennispartien, zu Waldpicknicks und Mondscheinpromenaden. Nie aber, auch nicht für eine halbe Stunde, stimmte sie in die allgemeine Ausgelassenheit ein. In ihrer mädchenhaft lieblichen Art, ihrem feinen Taktgefühl war sie ihm nie so anziehend erschienen wie in dieser Zeit. Gleich einer Prinzessin bewegte sie sich in den einfachen weißen Kleidern, die sie jetzt meistens trug, unter dem lärmenden Troß der unternehmenden Gesellschaft. Sie war stets gleichmäßig freundlich gegen alle und hatte nichts Ueberhebendes in ihrem Wesen. Dennoch konnte es nicht ausbleiben, daß man ihre hier und da hervortretende Zurückhaltung und Kühle für Hochmut hielt. Aeußerungen, wie „Gabriele will doch immer etwas Besonderes sein!“ „Gabriele dünkt sich natürlich für solch harmlosen Unsinn wieder zu gut!“ und ähnliche, kamen Röder oft zu Gehör, im ganzen fand man sich aber darein, ebenso wie in des Hausherrn etwas schwerlebige Art; man war zu vergnügt und fühlte sich zu wohl, um sich durch solche Kleinigkeiten ernstlich stören zu lassen.

(Fortsetzung folgt.)


Der Kampf wider die Geheimmittel.

Es ist eine betrübende, aber unabweisbare Pflicht der Presse, den Kampf gegen die Hydra der Geheimmittel immer wieder aufzunehmen und weiterzuführen. Unabweisbar ist diese Pflicht, weil immer noch durch das Unwesen der Geheimmittel dem Volkswohlstand riesige Summen abgepreßt werden zu gunsten einiger gewissenloser Schwindler, weil immer noch eine Menge Menschen durch unsinnige Kuren an ihrer Gesundheit Schaden erleidet, und wenn es – das ist noch der günstigste Fall – auch nur dadurch wäre, daß sie über den Quacksalbereien die beste Zeit zu einer richtigen Kur unter Leitung eines ernsthaften Arztes versäumen. Betrübend aber ist diese Pflicht um deswillen, weil die fortgesetzte Notwendigkeit dieses Kampfes einem offenbar nicht unbeträchtlichen Teile unserer Mitbürger und Landsleute das beschämende Zeugnis ausstellt, daß sie für diese Art Schwindel noch immer empfänglich sind. Wie oft haben nicht die „Gartenlaube“ und andere Blätter vor allen diesen in pomphaften Zeitungsreklamen angekündigten Wundermitteln gewarnt! Welche Mühe haben sich Aerzte und Behörden gegeben, durch Veröffentlichungen aller Art die weitesten Kreise über das Gemeinschädliche und Gemeingefährliche dieser im Dunkeln hantierenden Heilkünstler aufzuklären! Und immer noch scheint es viele Leute zu geben, die von diesen Warnungen nicht erreicht oder nicht überzeugt werden, oder die sie in sträflichem Leichtsinn allzu rasch wieder vergessen. Denn es läßt sich kaum eine Abnahme in der Zahl der Geheimmittelanzeigen bemerken. Ist irgend ein Mittel einmal öffentlich recht tüchtig gebrandmarkt worden, flugs wird die Flagge, unter der es segelte, ein- und eine andre aufgezogen. Ein und dasselbe Tränkchen, Sälbchen, Pillchen oder Pülverchen half vor Jahren gegen Asthma, später gegen Nervenleiden und heute soll’s gegen Gehörschwäche helfen. Und hieß sein „berühmter“ Erfinder gestern X, so heißt er heute Y und morgen Z. Oder der Erfinder schiebt zwischen sich und das Publikum, d. h. eigentlich zwischen sich und die Polizei einen Strohmann – kurz, diese Hamster im Getreidefelde der Medizin finden immer neue Schliche, ihre Backentaschen zu stopfen.

Schon bei den „brieflichen Kuren“ fängt oft der Schwindel an. Da erbietet sich der oder jener „Arzt“, lediglich auf schriftlichen Bericht eines Patienten brieflich Rat erteilen zu wollen. In den meisten Fällen wird man bei genauerer Untersuchung finden, daß derartige Anerbietungen schwindelhafter Natur sind. So hat der unermüdliche Karlsruher Ortsgesundheitsrat, der neben dem Berliner Polizeipräsidium diejenige Behörde ist, welche am eifrigsten den Geheimmittelkrämern auf die Finger sieht, kürzlich die Ankündigungen eines „Spezialarztes“ Dr. Lell in Berlin und eines „Lehrers der Naturheilkunde“ Karl Griebel in Lichtenthal der allgemeinen Nichtbeachtung empfohlen.

Am stärksten entwickelt aber ist natürlich das Geheimmittelunwesen im eigentlichen Sinne. Das Berliner Polizeipräsidium teilte uns kürzlich eine Liste der auf seine Veranlassung chemisch untersuchten Geheimmittel mit – sie umfaßte gegen 250 Nummern und hat zweifellos seither noch manche Bereicherung erfahren. In der neuesten Auflage von Brockhaus’ Konversationslexikon nimmt die Aufzählung der „bekannteren“ Geheimmittel über sechs Spalten engsten Drucks ein! Und der Karlsruher Ortsgesundheitsrat hat alle paar Monate wieder einige neue Fälle öffentlich anzunageln – neue Mittel aus neuen Laboratorien oder auch alte bekannte, die nur, wie oben geschildert, unter neuer Flagge segeln. Wir zählen hier kurz die Warnungen auf, die er im Laufe des Jahres 1894 erlassen hat. Da ist ein gewisser Rechtsanwalt a. D. Martin Glünicke in Berlin, der sich bald als „Studierender der Medizin“, bald als „praktizierender Vertreter der natürlichen Heilweise nach eigenem System“, bald als „medizinischer Privatgelehrter“ etc. bezeichnet, im übrigen in Berlin bereits mehrfach wegen Vergehens gegen die Gewerbeordnung und unerlaubten Verkaufs von Heilmitteln bestraft worden ist. Er preist in Flugblättern und Broschüren sein neues Heilsystem als „neue Cellular-Therapie“ mittels „giftfreier Pflanzenstoffe“ an, das nicht weniger und nicht mehr helfen soll als „gegen alle als unheilbar geltenden Krankheiten“. Wer sich an ihn wendet, fällt natürlich glänzend herein. Um den unerhörten Preis von 14 Mark erhält er eine Sendung fast wertloser und sehr leicht in Zersetzung übergehender Flüssigkeiten; und eine Sendung soll dem Patienten erst nicht einmal genügen!

Auf Gicht- und Nervenleidende haben es die Dunkelmänner besonders abgesehen – vielleicht weil sie die Erfahrung gemacht haben, daß diese Leiden für die schmeichelnden Einflüsterungen einer großartigen Zeitungsanzeige besonders empfänglich machen. Ein gewisser Adolf Winter, Fabrikbesitzer in Stettin, will mit seinen „verbesserten Gichtapparaten“ – Kostenpunkt 8 Mark – sicherste Hilfe gegen Gicht und Rheumatismus und „außerdem noch gegen eine große Anzahl anderer Krankheiten“ [76] bringen. Diese Gichtketten, zweifellos nahe verwandt mit den C. Winterschen Gichtketten, welche die „Gartenlaube“ schon vor 16 Jahren festgenagelt hat, und erwiesenermaßen gleichbedeutend mit dem „Talisman“, der neuerdings sein Wesen in der Presse trieb, sind aber trotz ihrer „Verbesserung“ durchaus ungeeignet zur Behandlung Kranker, zudem unverhältnismäßig teuer. Genau ebenso verhält es sich mit den „neu verbesserten Gesundheitsketten Modell 1893“ von Ernst Kordenat in Stettin. Ein außerordentlich lehrreiches Beispiel für den Wechsel der Namen und Bezeichnungen ist das folgende: In einer mit dem Stichwort „Nervenleidenden“ versehenen Anzeige verspricht ein gewisser W. Liebert in Leipzig kostenfreie Auskunft über ein sicher wirkendes Mittel. Wendet man sich nun an diesen freundlichen Herrn W. Liebert, so erhält man – ein lithographiertes Schreiben, welches für „Dr. Dressels Nervenfluid“ Reklame macht. Dieses „Dr. Dressels Nervenfluid“ aber ist seinerseits lediglich eine neue Auflage des „Roman Weismannschen Schlagwassers“, also ein durchaus schwindelhaftes Mittel, vor dem in der „Gartenlaube“ schon wiederholt und eindringlich gewarnt worden ist.

Noch ist in diesem Zusammenhang der „galvano-elektro-magnetisch wirkende Frottierheilapparat“ von H. T. Biermanns in Frankfurt a. M. zu nennen. Dieser Apparat, der gegen Gicht, Rheumatismus, Nervenschwäche, Neuralgie, Ischias, Magenschwäche, Kongestionen, Lähmung, Rückenmarksschwäche helfen soll, besteht aus einer sogenannten Voltaschen Kette, welche mit einer gewöhnlichen Bürste verbunden ist. Die Kette soll eine regulierbare Stromstärke von 300 Milli-Ampères besitzen, während in Wirklichkeit bei sachverständiger Handhabung mit derselben nur ein Strom von 1 Milli-Ampère zu erzielen ist. Eine Uebertragung des schwachen Stroms auf den menschlichen Körper mittels der Frottierbürste ist aber, nach dem Urteil des Karlsruher Gesundheitsrats, bei der fehlerhaften Anordnung der Leitung vollkommen ausgeschlossen, es kann daher auch nicht von irgend welcher „elektromagnetischen Heilwirkung“ des Apparates die Rede sein. Der Preis von 20 Mark ist unverhältnismäßig hoch.

An eine andere Klasse von Kranken wenden sich die Gebrüder Welter in Hamburg mit ihrem „Universalmagensalz“; es soll „binnen kurzem alle Magenstörungen beseitigen“. Thatsächlich ist es nichts weiter als doppeltkohlensaures Natron von nicht besonderer Reinheit, sein Gebrauch in vielen Fällen nutzlos oder geradezu unzweckmäßig, sein Preis fünfzehnmal so hoch als derjenige, um den man dieselbe Sorte doppeltkohlensaures Natron im Handel beziehen kann. Aus demselben Stoff, versetzt mit einigen weiteren Ingredienzien, besteht auch P. F. W. BarellasUniversalmagenpulver“; es besitzt ebensowenig wie das vorher genannte die ihm nachgerühmte universelle Heilkraft, und sein Preis ist doppelt so hoch, als er nach der Arzneitaxe in den Apotheken gefordert werden dürfte. Bezeichnend für den Verfertiger dieses Mittels ist noch die Thatsache, daß er in Berlin nicht nur wiederholt wegen unerlaubten Feilhaltens von Arzneien, sondern einmal auch wegen unberechtigter Führung eines Adelsprädikats bestraft wurde. Er nannte sich nämlich ebenso schön wie unglaubwürdig „Prinz Friedrich Wilhelm Barella“. Ein gewisser J. B. Molfenter, Buchhalter in Ulm a. D., preist ein chemisches Präparat an zur gründlichen Entfernung von Balggeschwülsten, Warzen, Linsen und sonstigen Hautauswüchsen. Dieses Präparat erwies sich als nichts weiter denn rohe, unreine Salzsäure. Nun unterliegt es ja keinem Zweifel, daß Warzen und ähnliche kleine Hautgebilde durch ein starkes Aetzmittel wie Salzsäure entfernt werden können; dagegen lassen sich die größeren derartigen Bildungen, namentlich die Balggeschwülste der Kopfhaut, durch ein Aetzmittel nur entfernen vermittelst einer langwierigen und unter Umständen recht gefährlichen und schmerzhaften Entzündung und Eiterung. Ueberdies ist es entschieden bedenklich, mit Salzsäure im Gesicht, in der Nähe der Augen zu wirtschaften. Für das Präparat, das ihn einige Pfennige kostet, läßt sich der auf die Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit des Publikums spekulierende Verkäufer sechs Mark bezahlen!

Und nun zum Schluß noch ein Beispiel für jene eigene Art von Schiebungen, welche die Geheimmittelkrämer so gut verstehen. Vor einiger Zeit las man in Zeitungen von einem Mittel gegen Taubheit und Ohrensausen. Es war ein Herr M. Jakoby in Berlin, Grünstraße 17/18, der hiergegen das „Gehöröl von Oberstabsarzt Dr. Schmidt, verbessert von Dr. Deutsch,“ anpries. Nun ist dieses Oel eine Mischung von Cajeputöl, Kampferöl und Mandelöl, Substanzen, die zwar imstande sind, verhärtete Pfröpfe von Ohrenschmalz zu erweichen und ihre Entfernung vorzubereiten, dagegen bei tieferen Ohrenleiden und davon abhängigen Gehörstörungen völlig wirkungslos bleiben. Jakoby ließ sich für etwa 15 g dieses Gehöröls 4 Mark bezahlen, während der wirkliche Wert 20 bis 30 Pfennige beträgt. Gegen diese Ausbeutung erließ der Karlsruher Ortsgesundheitsrat eine Warnung, mit welchem Erfolg, das erfahren wir aus einer zweiten Bekanntmachung, welche etwa 5 Monate später von derselben Stelle ausging. Diese Bekanntmachung besagt: „In einer ‚Ohrenleidenden‘ überschriebenen Anzeige der ‚Badischen Presse‘ verspricht ein gewisser H. Wolter, Reichsbankbeamter a. D. in Charlottenburg, kostenlose Auskunft über ein vorzügliches Mittel, durch welches er von seinem langjährigen Leiden befreit wurde. Auf Anfrage erhält man ein Schreiben, in welchem für das ‚Oberstabsarzt Dr. Schmidtfche Gehöröl‘, verbessert durch Dr. M. Deutsch, zu beziehen aus der Kommandantenapotheke in Berlin, Reklame gemacht wird.“ Es war also einfach statt des Herrn Jakoby der Herr Wolter vorgeschoben.

Wenn diese Veröffentlichungen soviel erreichen, daß die namentlich aufgeführten Geheimmittel vom Markte verschwinden, weil sie keine Abnehmer mehr finden, so ist der Zweck nur halb erfüllt. Eigentlich sollte, und das ist unser Wunsch, die tiefere Wirkung erzielt werden, daß dieser ganze gemeinschädliche Schwindel ein für allemal den Boden im Lande verliert, daß jeder Zeitungsreklame, die irgend ein angeblich untrügerisches Heilmittel von dunkler Urheberschaft anpreist, ein unbedingtes Mißtrauen in allen Kreisen des Volkes entgegengesetzt wird. Dann erst werden jene Dunkelmänner, die so herz- und gewissenlos sind, der Menschheit Leiden für ihren Geldbeutel unter falschen Vorspiegelungen auszunützen, ihre Rechnung nicht mehr finden – das sicherste Mittel, sie zu vertilgen! ><     


Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte.[1]

Von Dr. P. Schellhas.
Die Moundbuilders in den Vereinigten Staaten.


Die geographische Verteilung der Kulturgebiete im heutigen Amerika ist eine ganz andere als in den Zeiten vor der Entdeckung, und kein Erdteil bietet einen so interessanten Gegenstand für die Erforschung der Ursachen menschlicher Kulturentwicklung, kein Erdteil hat aber auch eine so dunkle und schwierige Vorgeschichte wie die Neue Welt. Während in vorkolumbischer Zeit der einheimische Mensch den Höhepunkt seiner Gesittung in den Ländern Centralamerikas und in einigen Gebieten Südamerikas erreichte, liegt heutzutage der Schwerpunkt amerikanischer Entwicklung in den nördlichen Ländern des Erdteils, in den Vereinigten Staaten mit ihrem glänzenden Aufschwung. Von Mittel- und Südamerika und ihren alten Kulturländern, von dem großen mächtigen Aztekenreich in Mexiko, von den Inkas in Peru weiß jeder Gebildete, und diese Völker gehören mit demselben Recht in die „Weltgeschichte“ wie die Völker der Alten Welt und des klassischen Altertums. Weniger bekannt ist die Vorzeit Nordamerikas. Welchen Standpunkt nahmen die ursprünglichen Bewohner jener gewaltigen Länderstrecken der Vereinigten Staaten in früheren Jahrhunderten vor der Ankunft des weißen Mannes ein? Nicht nur die zahlreichen Leser der „Gartenlaube“ in den Vereinigten Staaten, auch die europäischen Leser wird angesichts des modernen Nordamerika mit seiner staunenswerten Entwicklung, seinen Riesenstädten, die in wenigen Jahrzehnten gleichsam aus der Erde wuchsen, seinem Eisenbahnnetz, das überall die Wildnis erschlossen hat, die Beantwortung der Frage interessieren: welche Völker lebten dort, bevor der Europäer das Land betrat, was hat der amerikanische Mensch auf diesem reichen Boden aus eigenen Kräften geleistet? Und damit betreten wir wiederum ein dunkles Gebiet der Menschheitsgeschichte.

Wem fielen nicht bei dieser Frage zunächst die romantischen „Indianergeschichten“ ein, die „Lederstrumpf-Erzählungen“, die er im Kindesalter verschlungen hat? Ist es nicht der „rote Mann“ gewesen, der als wilder Nomade jagend und Krieg führend die Urwälder und Prärien Nordamerikas durchstreifte, seine angestammten Jagdgründe? War nicht Nordamerika vor der Ankunft der Europäer eine Wildnis, mit ungeheuren Urwäldern und Prärien, in denen Indianerstämme lebten, die von keiner Kultur berührt waren, und die der weiße Eindringling erst in blutigen Kämpfen zurückdrängen mußte?

Gewiß gilt das von vielen dieser Gegenden für die Zeit, da die ersten Europäer dorthin kamen. Indessen ist das nicht immer so gewesen. Auch der jungfräuliche Boden Nordamerikas birgt uralte Denkmäler der Vorzeit, Denkmäler von einer Bedeutung, wie wilde Nomaden und Jäger sie nicht zurücklassen, und aus denen wir schließen müssen, daß auch in den Vereinigten Staaten einst Völker wohnten, die eine gewisse Kulturstufe erreicht hatten und weit über den heutigen Indianern standen. Ihre Geschichte, ihr Alter und ihre Stammeszugehörigkeit freilich liegt in tiefem Dunkel, und da sie hauptsächlich zahlreiche und zum Teil sehr bedeutende Erdwerke (Hügel, englisch mounds) als Spüren ihres Daseins zurückgelassen haben, so nennt man sie die „Moundbuilders“, die Hügelerbauer.

In einem großen Teile der Vereinigten Staaten, vom Michigansee bis hinunter nach Texas, der Halbinsel Florida und Kalifornien, finden sich zahlreiche Erdwerke, insgesamt viele Tausende, von der [77] verschiedensten Art und der verschiedensten Größe. Ihr Hauptgebiet sind die großen Flußthäler des Mississippi in seinem oberen Lauf, des Missouri und des Ohio. Ganz besonders häufig sind sie im Staate Ohio, wo man allein über 10000 Denkmäler dieser Art zählt! Erde und lose übereinandergeschichtete Steine sind das Material dieser Bauten, die Steine bilden den festen Kern, über den die Erde aufgeschüttet ist. Bald sind es einfache Hügel, bald terrassen- und pyramidenförmige Anlagen, bald Wälle und andere Erdwerke von der verschiedensten Form, viereckig, kreisrund, oval etc. Manche erheben sich kaum einen Meter über die Erdoberfläche, andere sind bis zu 40 und 50 Meter hoch und haben mehrere hundert Meter Umfang und einen Rauminhalt, der nach Hunderttausenden von Kubikmetern zählt. Unsere Abbildung des 32 Meter hohen Manard Mound in Arkansas (Fig. 1) giebt ein Beispiel der imposanten Größe und der seltsamen Form mancher dieser Erdbauten. Wie viele Menschen mögen an diesen Werken gearbeitet haben und wie lange mag die Arbeit gedauert haben! Andere ziehen sich als Erdwälle von mäßiger Höhe meilenlang hin, und eine besonders merkwürdige Art sind Werke in Tier- oder Menschengestalt (siehe Fig. 2 und 9). Da sind riesengroße Bilder von Vögeln und Fischen, von Bären, Eidechsen, Schildkröten und anderen Tieren in charakteristischen und deutlich erkennbaren Umrissen. Nur solche Tiere sind dargestellt, die in der Neuen Welt einheimisch waren, keines der Tiere kommt vor, die erst durch die Europäer in Amerika eingeführt sind, wie das Pferd, das Rind oder das Schaf. Auf einem Hügel in Adams County in Ohio ringelt sich eine ungeheure Schlange von über 300 Metern Länge, aus einem Erdwall naturwahr nachgebildet.

Fig. 1. Der Manard Mound in Arkansas.

Welchen Zweck diese Erdwercke hatten, ist bei einer großen Anzahl leicht zu erkennen. Ein Teil von ihnen sind Grabstätten und bildet somit ein Seitenstück zu den „Hünen-“, bezw. „Hügelgräbern“ in Europa. In ihrem Innern findet man Skelette in steinernen Grabkammern, oft in beträchtlicher Menge, bis zu mehreren Hunderten, vielleicht im Kampfe gefallene Krieger, und mit ihnen die verschiedenen Gegenstände, die auch jene unbekannten Völker gleich vielen andern ihren Toten mit ins Grab zu geben pflegten. Andere Erdwerke haben unzweifelhaft als Befestigungen gedient und lassen in ihrer Anlage erkennen, daß die alten Moundbuilders bedeutende strategische Geschicklichkeit besaßen. Wieder andere sind anscheinend Tempel, Opferstätten oder Versammlungsplätze gewesen, und die Mounds in Tier- und Menschengestalt haben jedenfalls eine religiöse und symbolische Bedeutung gehabt.

Fig. 2. Charakteristische Formen
der Mounds.

Allerlei Gebrauchsgegenstände aus dem Zeitalter der Moundkultur sind in Menge aus diesen Erdwerken zu Tage gefördert worden, und sie geben uns ein ziemlich klares Bild der Kulturverhältnisse jener entlegenen Zeit. Vor allem sind es recht geschickt und geschmackvoll gearbeitete Thonwaren, Vasen, Schüsseln, Becher, Krüge und andere Trinkgefäße, in deren Herstellung diese unbekannten Völker eine besondere Kunstfertigkeit gehabt zu haben scheinen. Dann hat man zahlreiche Pfeifenköpfe, aus Thon geformt oder aus verschiedenen Steinarten wie Marmor, Schiefer, Porphyr geschnitzt, vorgefunden, die ebenfalls dafür Zeugnis ablegen, daß die Moundbuilders in der Herstellung von plastischen Gegenständen vielen Kunstsinn besaßen und über die rohen Nachahmungsversuche der Wilden weit hinaus waren. Ganz besonderes Geschick bethätigten sie in der Wiedergabe von Tieren, sie müssen gute Naturbeobachter gewesen sein. In wunderbar sorgfältiger Arbeit und überraschender Naturtreue verfertigten sie Pfeifenköpfe in Gestalt von Vögeln, Schildkröten, Bären und anderen Tieren (s. Fig. 3), ja auch menschliche Köpfe stellten sie mit charakteristischem Ausdruck und lebendiger Wiedergabe der Wirklichkeit dar. Gute Beispiele davon sind das in Figur 4 abgebildete Thongefäß in Form eines menschlichen Kopfes und die Pfeifenköpfe Figur 5 und 6, dieselben zeigen uns auch den Typus jenes unbekannten Volkes und lassen erkennen, daß es der Sitte des Tätowierens huldigte. Auch die Kunst des Webens war den Moundbuilders bekannt, wie die Reste von Stoff zeigen, die man hin und wieder in den Mounds fand.

Daß die Moundbuilders harte Steine so geschickt zu bearbeiten verstanden, ist um so bewunderungswürdiger, als ihnen, ebenso wie den hochcivilisierten Völkern Mittelamerikas, das Eisen gänzlich unbekannt war. Ihre Werkzeuge bestanden zum größten Teil aus Stein, von den Metallen bearbeiteten sie fast nur Silber und Kupfer. Reines Kupfer namentlich wurde vielfach zu Waffen zu Schmuck und anderen Gegenständen verarbeitet, und zwar in kaltem Zustande, durch mühsames Hämmern, da sich gediegenes Kupfer zum Schmelzen nicht eignet. Sie gewannen es aus Bergwerken, die man an den Ufern des Oberen Sees (Lake Superior) wieder entdeckt hat, und die einen überzeugenden Beweis davon liefern, daß die Moundbuilders in einem keineswegs niedrigen Kulturzustande lebten. Es ist höchst auffallend, daß die ältesten Spuren des vorgeschichtlichen Menschen in diesem großen Gebiet der Vereinigten Staaten ihn gleich im Besitz des Metalls zeigen, während bekanntlich in Europa ein langer Abschnitt, das Steinzeitalter, vorhergeht, in welchem der urgeschichtliche Mensch lediglich den Stein als Werkzeug benutzte. Muß nicht auch den Moundbuilders eine ähnliche frühere Entwicklungsstufe vorangegangen sein? Aber wo sind ihre Spuren geblieben?

Fig. 3. Thonpfeife in Gestalt
einer Wildkatze.

In der That lassen alle Ueberbleibsel aus dem Zeitalter der Moundbuilders klar erkennen, daß sie auf einer höheren Kulturstufe standen als die heutigen Indianer. Freilich steht ihre Gesittung immer noch weit zurück hinter der jener Völker Centralamerikas, der Mayas oder der Azteken, von denen in den „Altamerikanischen Kulturbilderm“ (im Jahrg. 1892 der „Gartenlaube“) die Rede war, die Moundbuilders waren nur im Besitz einer Halbkultur. Immerhin waren sie jedenfalls keine Nomaden- und Jägervölker, die, in kleine Stämme zersplittert, ohne feste Ansiedelungen umherschweifen, sondern sie müssen ein einheitliches großes Volk gebildet haben, das feste Wohnsitze hatte und den Ackerbau betrieb. Denn ihre Niederlassungen sind am zahlreichsten in den fruchtbaren Flußthälern, und manche Anzeichen sprechen dafür, daß dort große volkreiche Wohnstätten bestanden haben, und daß die Moundbuilders ihre Ländereien gegen die Ueberschwemmungen der Flüsse durch Dämme zu schützen wußten. Auch Handel müssen sie getrieben haben, denn das Kupfer aus den Bergwerken am Oberen See kann nur im Wege des Handels bis nach Florida hin, über deutsche Meilen, verbreitet worden sein, wo es überall in den Mounds vorkommt.

[78] Wer war nun aber dieses rätselhafte Volk, dessen eigenartige Kultur schon vor Ankunft des weißen Mannes untergegangen ist, und dessen Kunstfertigkeiten bei der späteren einheimischen Bevölkerung der Vereinigten Staaten verschollen sind? Welchem Stamme gehörten sie an, welche Sprache redeten sie, wie alt ist ihre Kultur, wie weit zurück liegt ihre Blütezeit? Ueber all diese Fragen herrscht vollständiges Dunkel, und wir sind lediglich auf Vermutungen und Schlüsse angewiesen. Und gerade diese Fragen sind von hohem Interesse, weil sie in Zusammenhang stehen mit dem großen Problem: welches ist der Ursprung der einheimischen Rasse Amerikas, wie ward die Neue Welt bevölkert?

Fig. 4. Gefäß in Form eines
Menschenkopfes.

Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lenkte sich die Aufmerksamkeit der Gelehrten in den Vereinigten Staaten auf diese Denkmäler amerikanischen Altertums. Ein lebhafter wissenschaftlicher Streit knüpfte sich an die Frage nach dem Ursprung der Moundbuilders und ihrem Alter. Die großen und reichen wissenschaftlichen Institute der Vereinigten Staaten, wie z. B. die „Smithsonian Institution“ in Washington, haben sich die Erforschung der Mounds eifrig angelegen sein lassen, und in der Union sind bekanntlich für solche wissenschaftliche Zwecke stets reiche Mittel vorhanden. Zwei Meinungen sind es vor allem, die einander gegenüberstehen. Die einen wollen in den Moundbuilders ein fremdes, ausgestorbenes Volk sehen, das in Urzeiten von ferne her, aus anderen Gegenden der Neuen Welt, oder gar aus anderen Erdteilen, eingewandert ist, und legen daher den Erdwerken ein sehr hohes Alter bei. Die anderen leugnen das hohe Alter der Moundkultur und halten die Moundbuilders für die direkten Vorfahren der heutigen Indianer, für einen großen Völkerbund seßhafter und ackerbautreibender Indianerstämme.

Schon die Frage nach dem Alter der Moundbuilderzeit und jener zahllosen seltsamen Erdwerke ist schwierig zu beantworten und hat die widersprechendsten Lösungen gefunden. Auf vielen der Mounds steht dichter Urwald, Bäume von riesigem Umfang, deren Jahresringe auf ein Alter von 800 bis 1000 Jahren schließen ließen. Man wollte ferner die Beobachtung gemacht haben, daß die menschlichen Skelette, die sich in den Mounds vorfanden, vielfach in so verwittertem und bröckligem Zustand waren, daß sie förmlich an der Luft zerfielen, während das bei den Skeletten aus den europäischen Hünengräbern nicht der Fall war. Diese Merkmale sind indessen vielfach bestritten worden, und selbst die Schlüsse, die man aus den Jahresringen alter Bäume, die auf den Mounds gefällt wurden, gezogen hat, sind auf Grund neuerer Forschungen der Botaniker über das Wachstum der Bäume und die Bildung von Jahresringen als nicht stichhaltig angefochten worden.

Fig. 5. Pfeifenkopf, gefunden
in Illinois.

Bei dieser Frage kommen wir nun aber auf eine höchst interessante und merkwürdige Thatsache, die man als Beweis für das ungeheure Alter der Moundkultur angesehen hat. Unter den oben erwähnten Pfeifen in Tiergestalt, welche die Moundbuilders so kunstvoll zu schnitzen verstanden, hat man mehrere gefunden, die anscheinend ein Tier aus der Familie der Elefanten darstellen. Zwei Pfeifen dieser Art sind in Figur 7 und 8. abgebildet. Auch ein Mound von ähnlicher Gestalt in Wisconsin ist zu erwähnen (Fig. 9). Die Länge des Rüssels, den die Tiere in diesen Darstellungen haben, läßt es ausgeschlosseu erscheinen, daß etwa der Tapir oder ein anderes Rüsseltier der amerikanischen Fauna gemeint sein könnte. Der Elefant kommt bekanntlich in Amerika nicht vor. In prähistorischer Zeit aber, und zwar wenigstens bis zur Eiszeit, ist er, wie die zahlreichen fossilen Funde beweisen, in den Vereinigten Staaten außerordentlich verbreitet gewesen, und außer ihm hat auch das Mammut und das Mastodon in den Urwäldern Nordamerikas gehaust. In Ohio und Kentucky sind die Spuren von beiden außerordentlich zahlreich, und der große englische Geologe Charles Lyell meint, angesichts des Umstandes, daß sie sich oft in den jüngsten Schichten der Erdoberfläche befinden, müsse man auf den Gedanken kommen, daß diese Tiere von den Indianern ausgerottet seien. Während nun einige Gelehrte der Meinung waren, daß das Zeitalter der Moundbuilders danach bis in ferne Perioden der Erdgeschichte zurückgehen müsse, in denen noch ausgestorbene Tiere der Urwelt auf der Erde hausten, haben andere Forscher die Ansicht ausgesprochen, daß die Zeit, als der Elefant in Amerika lebte, keineswegs allzuweit zurückliege. Man hat sogar bei den heutigen Indianerstämmen Sagen angetroffen, die sich auf die Existenz und Ausrottung gewaltiger Tierungeheuer in den Urwäldern beziehen, und in denen man eine Erinnerung an den Elefanten oder das Mammut hat sehen wollen. An sich würde ja das schnelle Aussterben dieser Tierfamilie nichts Auffallendes haben, man denke nur, wie schnell in unserer Zeit der Büffel, der ehemals in unabsehbaren Herden die Prairien belebte, bis auf wenige Reste ausgerottet worden ist. Auch die Echtheit der Pfeifen in Elefantengestalt hat man bezweifelt. Es ist darüber viel gestritten worden. Doch sind einige davon auch nach dem Urteil von namhaften deutschen Forschern unbedenklich als echt anzusehen.

Ein Umstand bleibt schließlich noch zu erwähnen, der vor allem das hohe Alter der Mounds beweist. Gewisse Anzeichen lassen erkennen, daß die Erdwerke der Hügelerbauer errichtet wurden zu einer Zeit, als die Oberflächengestaltung in den Flußthälern der Vereinigten Staaten eine andere war als heutzutage. Man hat Spuren von Wasserwirkung an einzelnen Mounds gefunden, die jetzt mehrere Kilometer von den Flüssen entfernt liegen. In den Thälern haben die Flüsse, je nachdem sie im Laufe der Jahrhunderte ihr Bett tiefer in den Boden eingruben, terrassenförmige Abstufungen des Bodens zurückgelassen. Fast stets liegen die Mounds auf den älteren Anschwemmungen der Ströme, während sie auf der jüngsten Terrasse so gut wie gänzlich fehlen. Es läßt sich daher mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß die Flüsse zu jener Zeit einen anderen Lauf hatten als heutzutage, und daß damals die jüngsten Anschwemmungsterrassen derselben noch nicht bestanden.

Fig. 6. Pfeifenkopf
gefunden
in Illinois.

Andere Gelehrte wollen dennoch, wie gesagt, das hohe Alter der Mounds nicht gelten lassen und berufen sich dafür auf einige allerdings auch höchst merkwürdige Funde, die man in Mounds gemacht hat. So wurden in einem Erdhügel in Nordkarolina einige gänzlich verrostete Stücke einer flachen Klinge aus Eisen aufgefunden, also einem Metall, das den Moundbuilders unbekannt war. In einem Mound in Tennessee entdeckte man ferner ein altmodisches Messer mit Horngriff von unzweifelhaft europäischem Ursprung, in einem anderen in Wisconsin einen Feuerstein von der Form, wie man ihn früher an den Schlössern der Gewehre benutzte etc. In Wisconsin kamen aus einem Mound gar einige silberne Kreuze und Armbänder zum Vorschein, eins von den letzteren mit dem eingeprägteu Worte „Montreal“ versehen! Allerdings war dieser letztere Mound nicht mehr unversehrt, sondern ersichtlich schon einmal geöffnet. Andere Mounds aber, in denen derartige Gegenstände gefunden wurden, sollen nach der Versicherung der Gelehrten, welche die Ausgrabungen leiteten, völlig unversehrt gewesen sein. In vielen Fällen sind allerdings solche Erdwerke später von Europäern aus irgend welchen Gründen aufgegraben worden, und dabei mögen dann dergleichen sonderbare Fundstücke hineingeraten sein. Jedenfalls beweisen solche Funde nichts, wenn nicht jeder Zweifel an der Unversehrtheit des betreffenden Mounds ausgeschlossen ist.

Auf Grund so verschiedenartiger Beobachtungen sind erklärlicherweise die widersprechendsten Theorien über den Urspring der Moundbuilders aufgestellt worden. Die abenteuerlichen und gänzlich unwissenschaftlichen Vermutungen, die hier ebenso wie bei anderen rätselhaften Völkern ausgesprochen sind, wollen wir gar nicht erst erwähnen. Einige Forscher haben sich damit begnügt, [79] die Moundbuilders für ein unbekanntes fremdes Volk zu erklären, das untergegangen ist. Andere haben sie in Zusammenhang gebracht mit den alten Kulturvölkern Centralamerikas, besonders mit den halb sagenhaften Tolteken, die als Begründer der Kultur einstmals in Mexiko ein mächtiges Reich gegründet haben sollen und denen besonders nachgerühmt wurde, daß sie großartige Baudenkmäler zu errichten verstanden. Man meinte, daß sie vor ihrer Einwanderung nach Mexiko eine Zeit lang in Nordamerika ansässig gewesen seien und die Mounds als primitive Beispiele ihrer damals noch nicht entwickelten Baukunst zurückgelassen hätten. Auch als Vorfahren der Azteken, die später das von Cortes zerstörte mexikanische Reich gründeten, hat man die Moundbuilders bezeichnet.

Neuerdings ist nun, wie schon angedeutet, von vielen amerikanischen Gelehrten die Ansicht verfochten worden, daß die Moundbuilders direkte Vorfahren gewisser Indianerstämme gewesen seien. Man hat darauf hingewiesen, daß zu den Zeiten, als die ersten Europäer in die Gegenden kamen, in denen heute die Mounds angetroffen werden, dort nach den Schilderungen dieser ersten Einwanderer Zustände herrschten, die der Moundkultur entsprechen. Es wohnten dort Indianerwölker, die den Ackerbau trieben und eine gewisse Halbkultur besaßen. Auch davon, daß die Eingeborenen der südlichen Gegenden der Union damals Erdwerke errichteten, finden sich mannigfache Anzeichen. Garcilasso de la Vega, der in seiner Historia de Florida die im Jahre 1540 unternommene Expedition des Kapitän Hernando de Soto in jenen Gegenden beschreibt, erzählt, daß die Indianer auf Florida ihre Wohnstätten auf künstlichen Erdwerken zu errichten pflegten. Viele andere Schilderungen von Entdeckungsreisen und Ansiedelungsversuchen aus jener Zeit enthalten ähnliche Andeutungen, die auf die Errichtung von Erdwerken nach Art der Mounds bezogen werden können. Robert Beverley in seiner History of Virginia, 1705, berichtet, daß die Eingeborenen von Virginien steinerne Pyramiden erbauten, die sie heilig hielten, er erwähnt auch die Sitte, einen Erdhügel zu errichten in einem bestimmten Falle, auf den wir noch heute anzuspielen pflegen, wenn wir von der Beilegung eines Streites sprechen. Wenn nämlich nach Beendigung eines Krieges ein Friedensschluß zu stande kam, so wurde feierlich „die Streitaxt begraben“ und über derselben ein Hügel aus Steinen errichtet. Diese und ähnliche Ueberlieferungen aus der Zeit der ersten europäischen Entdeckungsreisenden und Ansiedler lassen jedenfalls darauf schließen, daß damals die Sitte, Erdwerke zu errichten, bei den Eingeborenen der Golfstaaten noch nicht ganz erloschen war.

Fig. 7. Elefantenpfeife aus
einem Mound.

Fig. 8. Thonpfeife in Gestalt
eines Mastodon.

Ja, nach den Untersuchungen amerikanischer Gelehrten sollen Mounds bei manchen Indianerstämmen noch in neuerer Zeit errichtet worden sein. Cyrus Thomas, ein eifriger Forscher auf dem schwierigen Gebiete der Moundkultur, hat ein reiches Material zusammengestellt, um nachzuweisen, daß die Cherokesen wahrscheinlich Mounderbauer gewesen sind; auch bei anderen Indianerstämmen hat man sich bemüht, Anzeichen zu finden, daß die Sitte, Erdwerke zu errichten, noch in historischer Zeit bei ihnen in Uebung gewesen ist. Ferner berichten Sagen nördlicher Indianerstämme, wie der Delawaren und der Irokesen, von einem großen südlichen Indianervolke, das von einem König regiert wurde, der in der Haupstadt des Landes wohnte. Die Tallegwi wird dieses mächtige Indianervolk des Südens genannt. Diese Tradition hat man auf die Moundbuilders gedeutet und danach angenommen, daß ehemals ein großer Völkerbund verschiedener seßhafter und ackerbautreibender Indianerstämme im Süden der Vereinigten Staaten bestanden habe.

Trotz alledem ist die Frage ihrer Lösung nach wie vor fern und das Dunkel, welches über dem rätselhaften Volke liegt, ist noch keineswegs gelichtet. Die Einwendungen, die man gegen die Annahme eines hohen Alters der Mounds erhoben hat, treffen nicht allgemein zu, und die in einigen Mounds gemachten Funde, die erkennen lassen, daß die betreffenden Erdwerke erst nach der Ankunft der Europäer errichtet sind, können nicht die untrüglichen Beweise hohen Alters bei zahllosen anderen Mounds widerlegen: vor allem ihre Lage auf den älteren Anschwemmungsterrassen der Flüsse und das Wachstum uralter Baumriesen auf manchen von ihnen. Wenn selbst die Jahresringe der Bäume kein völlig untrügliches Zeichen sein sollten, so kann es sich immerhin nur um geringfügige, bei so großen Zeiträumen wenig in Betracht kommende Ungenauigkeiten handeln. Ein Mindestalter bis zu 1000 Jahren müssen wir nach der Schätzung der auf einzelnen Mounds gefällten Bäume als erwiesen ansehen.

Fig. 9. Der sogenannte Elephant Mound in Wisconsin.

Dann weicht aber auch die Kultur der Moundbuilder von der der Indianer zu erheblich ab, als daß die einen direkte Vorfahren der anderen sein könnten, und vieles spricht dafür, daß die Hügelerbauer ein einheitliches Volk waren, nicht ein bloßer Bund einzelner verschiedener Indianerstämme. Alle Funde aus der Moundzeit zeigen uns eine eigenartige charakteristische Kultur, die in vielen Beziehungen weit über der der heutigen Indianer steht. Ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen den Moundbuilders und den Indianerstämmen ist nicht zu ersehen. Offenbar haben wir hier dieselbe Erscheinung, die so oft auf der Erde wiederkehrt, daß eine gewisse Kultur, die jahrhundertelang bestanden hat, endlich zu Grunde geht, und das Volk, das sie geschaffen hat, ausstirbt. Wir brauchen uns die Moundbuilder nicht als fremdes und von weit her gekommenes Volk vorzustellen. Aber wir werden nicht fehl gehen, wenn wir das Ergebnis unserer Erwägungen dahin zusammenfassen: die Hügelerbauer waren ein untergegangenes großes einheitliches Volk amerikanischer Rasse, mit den heutigen Indianern vielleicht verwandt, aber einer fernen Vergangenheit angehörig. Ihre Kultur muß durch viele Jahrhunderte hindurch bestanden haben, wann, ist nicht mehr festzustellen, ihr Untergang aber muß über ein Jahrtausend zurückliegen. Spuren der Sitte, Erdwerke zu errichten, mögen sich lange nach dem Aussterben der Hügelerbauer bei den späteren wilden Indianerstämmen, welche nach ihnen diese Gegenden bewohnten – vielleicht als Besieger der Moundbuilders und Zerstörer ihrer Kultur – erhalten haben. Jedenfalls stehen die mühsam zusammengesuchten Spuren solchen Gebrauchs aus historischer Zeit in keinem Verhältnisse zu der großen Zahl und der Bedeutung der alten Erdwerke, und es ist gewagt, das Volk der Hügelerbauer daraufhin zu Vorfahren der heutigen Indianerstämme zu machen. Der Schluß, den wir demnach ziehen müssen, daß die Vereinigten Staaten schon in grauer Vorzeit von seßhaften und in Halbkultur lebenden Völkern bewohnt waren, wird auch durch anderweitige Beobachtungen bestätigt. Auch außerhalb des Gebiets der Mounds trifft man Spuren alter Ansiedelungen: in den Hochplateaus der Gebirgseinöden von Utah, Arizona, Colorado und Neu-Mexiko im Südwesten der Union, die sog. „Pueblos“, große kasernenartige Städte, aus zahlreichen, wie Bienenzellen an- und übereinandergebauten Wohnräumen bestehend, in denen eine nach Tausenden zählende Bevölkerung gewohnt haben muß. Dann die „Cliff-Houses“ (Klippenhäuser), befestigte Plätze, Wachttürme und Wohnhäuser, an fast unzugänglichen Stellen jäh abstürzender Felsen, zum Teil wie Schwalbennester an die steilen Wände geklebt. Und hier haben wir bestimmte Nachrichten, daß schon die ersten spanischen Eindringlinge diese Wohnstätten verlassen und in Trümmern vorfanden. Für ihr hohes Alter spricht ferner der Umstand, daß sie jetzt in völlig wasserloser Felseneinöde liegen, was früher, als diese Gebiete so reich bevölkert waren, unmöglich der Fall gewesen sein kann. Indessen diese Völker haben nicht die Größe und Bedeutung der Moundbuilders gehabt, sie waren auf ein kleineres Gebiet beschränkt.




[80]

Loni.

Erzählung von Anton von Perfall.


Das Dorf bestand nur aus neun Höfen. Mit einer einzigen Ausnahme war einer schmucker als der andere, alle frisch aufgetakelt wie ein Seeschiff, wenn es sich dem heimatlichen Hafen nach langer Fahrt nähert. Da wird auch die Farbe nicht gespart, welche die Schäden der Zeit und der Stürme verdeckt und neue Jugend verleiht.

Die Hagenberger wollten einmal nicht, daß ihre Häuser hinter ihren saftig grünen blumigen Wiesen zurückständen, welche diese rings in weitem Kreise umgaben und sich hindehnten bis an die lärchenbestandenen Waldränder.

Sobald im Frühjahr der erste grüne Hauch über die Flur sich legte, die Schlüsselblumen die ersten gelben Fäden schlugen in den sich belebenden Wiesenteppich, da begann auf den Gehöften ein allgemeines Färbeln und Pinseln. Auf den grünen Läden entstanden große rote Blumen, die Christusbilder, Madonnen und Heiligen an den Wänden erhielten ein frisches Aussehen, und das wurde alles von den Leuten selbst besorgt – ein Maler von Profession hätte sich in der Gegend nicht halten können. Es war nur zu verwundern, daß bei diesem ausgesprochenen künstlerischen Sinn der Hagenberger noch kein großer Meister aus ihrer Mitte erstanden war. Dazu die blumenbesetzten, feingegliederten Balkone, welche der Stolz der Frauen waren; ja man konnte kein liebenswürdigeres, anheimelnderes Bild sehen als das Dorf Hagenberg – höchstens hätte ein Künstlerauge an ihm auszusetzen gehabt, daß ihm in Bezug auf Farbe der Edelrost des Alters, in Bezug auf die Form die malerische Willkür des Verfalles fehle.

Um so auffallender und das Gesamtbild in seinem einheitlichen Charakter störend wirkte ein Anwesen, das noch dazu das umfangreichste war und mitten an der Hauptstraße lag, welche durch das Dorf führte.

Hier waren die Bedingungen des eben erwähnten malerischen Reizes scheinbar zur Genüge gegeben. Der Verputz war abgebröckelt und ließ überall das morsche Fachwerk durchblicken, die Malerei um die niedrigen Fenster mit den halbzerborstenen Läden war verwaschen, in den Ritzen der Holzverschalung wucherte das Moos. Der Düngerhaufen, dieses Kennzeichen der Gesamthaltung eines Bauerngutes, hatte die Stallmauerung angefressen und ergoß trübe Rinnsale über den Hof. Doch diesem Verfall fehlte der Charakter gesunden Alters, er trug die Anzeichen verfrühter Verkommenheit, um so mehr als der sich lang dehnende Stall und der Futterraum darüber es ausschloß, daß Armut der Grund desselben war.

Der Mentnerhof war ein Schmutzfleck in dem lieblichen Bild, der Verdruß der übrigen Hagenberger. Sie hätten ihn gern auf eigene Kosten frisch aufgeputzt, es zuckte ihnen ordentlich in den Fingern jedes Frühjahr, wenn der häßliche Klecks wieder auftauchte aus der sauberen Schneedecke. Aber da wären sie schön angekommen!

Der Mentner freute sich über alles, was andere Menschen ärgerte, man mußte zufrieden sein, wenn man von ihm nicht persönlich Schaden erlitt. Die Hagenberger Gemeindejagd war seit Jahren in den Händen des Königs, welcher für diese brave Gemeinde eine besondere väterliche Vorliebe bezeigte. Kaum war der Mentner in der Gemeinde stimmberechtigt, so sprach er, als die Pachtfrist abgelaufen war, energisch dagegen, daß der Vertrag erneuert werde, und trieb bei der Versteigerung, die eigentlich nur der Form wegen abgehalten wurde, den Jagdpacht unsinnig hinauf, sich selbst als Anwärter ausspielend. Als diese Bemühungen fruchtlos blieben verlegte er sich, ohne jede persönliche Leidenschaft, aus reinem Trotz gegen das königliche Jagdpersonal, auf das Wildern. Einen Knecht, der eben eine längere Gefängnishaft als wiederholt rückfälliger Wilddieb abgebüßt hatte, nahm er sofort in Dienst, wogegen er seinen allgemein als tüchtig bekannten Oberknecht ohne jeden triftigen Grund entließ.

Eine bildsaubere, rotzöpfige Dirne kam vor Jahren mit ihrer ganzen Habe im Schnupftüchel aus dem Tirolischen nach Hagenberg, um Dienst zu suchen; Mentner hatte ihr grob die Thür gewiesen. Aus Mitleid nahmen die Nachbarn sie auf, dann wanderte sie von Hof zu Hof, nirgends that sie lange gut. Auf den Tanzböden verdrehte sie den Burschen die Köpfe, hielt es bald mit dem einen, bald mit dem andern, veranlaßte Streit und Verschwendung, sprengte die treusten Liebschaften, kurz war der reine Fluch für Hagenberg, bis endlich alles sich einigte, ihr kein Unterkommen mehr zu geben. Da holte sie der Mentner, der damals noch ledig war, zu sich, und als zuletzt noch das Landgericht sich darein mischte und der Dirne den Lauspaß geben wollte, da that er das Ungeheuerlichste – er heiratete sie, machte sie zur Hagenberger Bäuerin.

Von da an galt alles für möglich auf dem Mentnerhof, er selbst als Freistätte für alles Gesindel der Umgegend. Er wurde gemieden wie eine Krankheit, und man empfand es als eine Wohlthat, daß wenigstens der Mentner selbst sich zurückgezogen hielt und immer menschenscheuer wurde. Und die rote Loni teilte diese Zurückgezogenheit. Man traf sie nie jenseit der Grenze ihres Anwesens, außer am Sonntage und da nur in der Frühmesse, nie im Hochamt. Sie hatte ganz ihres Mannes Wesen angenommen, verschlossen, trotzig, feindselig. Verschwunden war das herausfordernde gefährliche Lächeln, das verwegene Augenspiel, aber sündhaft schön war sie geworden, daß ein jeder sie anschauen mußte.

Der Mentner selbst behandelte sie, so weit man es beobachten konnte, wie eine Magd, und sie fürchtete den herkulisch gebauten Mann mit den grauen durchdringenden Augen, die sich nie ganz öffneten. Nun, das war auch ganz in der Ordnung, da er sie ja doch vom Schub herunter zur Bäuerin gemacht hatte!

Im übrigen blieb den Nachbarn unbekannt, was im Hofe vorging, obwohl er mitten im Dorfe lag. Selten öffnete sich die Thüre und dann nur leise, vorsichtig, als sollte es niemand hören.

Anderl, der Knecht, paßte in der That sehr gut in dieses Wesen. Der schon von Natur verschlossene unheimliche Geselle, auf dem jetzt der Fluch einer längeren Kerkerhaft lastete, konnte sich nichts Besseres wünschen als diese Abgeschlossenheit.

Man hätte glauben können, die Arbeit des Hofes werde von unsichtbaren Händen gemacht, in eine so unheimliche Stille war er gehüllt. Kein Hofhund, kein Hahn störte sie, selbst das Vieh im Stalle schien sich das Brüllen abzugewöhnen. Oft hatte man das Gefühl, als ob dort alles gestorben wäre, und fühlte sich ordentlich erleichtert, wenn man abends Licht aufblitzen sah, war’s auch nur einen Augenblick.

Kein Wunder, daß alle möglichen Gerüchte gingen, daß alles Ueble, was über das Dorf kam, gleichsam von diesem finsteren Hause auszugehen schien.

Da, eines Morgens, öffnete sich seine Thüre zum erstenmal seit langer Zeit wieder geräuschvoll und heraus trat in vollem Sonntagsstaat, den man an ihm seit Jahren nicht gesehen hatte, der Mentner, und zwischen ihm und dem schwarzen Anderl die Loni selbst, in schwarzer Seide auf und nieder, in ihrem Arm einen weißen, mit reichen Spitzen bedeckten Pack, über dessen Inhält kein Zweifel sein konnte, obwohl niemand nur eine leise Ahnung hatte, daß sich dergleichen ereignet hatte im Mentnerhofe, mitten im Dorfe.

Die Kunde davon verbreitete sich im Nu. Alle drei auf einmal sehen, das wird nicht leicht wieder vorkommen – alles lief aus dem Hause und folgte zur Kirche. Das Kind wurde auf den Namen „Maria“ getauft. „Gott sei Dank, ein Mädl! Vielleicht bleibt’s dabei und der Mentnerhof kommt einmal in andere Hände!“ war der gemeinschaftliche Gedanke der Hagenberger.

Der Mentner sah jetzt gar nicht trotzig drein und Loni blickte zum erstenmal wieder den Leuten frei und offen ins Gesicht, fast mit einem flehenden Ausdruck, als ob sie sagen wollte, laßt es der Kleinen nicht entgelten, daß sie so eine Mutter hat.

Gesprochen wurde von den dreien mit niemand, schweigend kehrten sie in den Mentnerhof zurück, dessen Thüre zugeschlagen wurde, als sollte sie sich nie mehr öffnen.

Doch mit der unheimlichen Stille war es vorbei. Es rührte sich etwas im Hause, neues Leben pulsierte darin. Loni erschien zur rechten Zeit im Obstgarten mit der Kleinen, man hörte lachen, schreien, sogar dann und wann ein Lied, der Bauer sagte „Grüß Gott“ und besserte seinen Zaun aus.

Das hatte man dem kleinen Marei zu verdanken. Wenn es so fortging, wurde alles recht, und bis es eine Jungfrau wurde, war der Mentnerhof kein Schmutzfleck mehr für Hagenberg.

So gewann das Kind von vornherein alle Herzen. Als es allmählich heranwuchs, im Garten herumkroch und darüber hinaus, dann wunderte man sich, wie so etwas Liebes da drinnen hatte geboren werden können – „das reine Engerl, und so zuthunlich und patschig“.

Und was das ganze Dorf nicht vermochte, das vermochte das kleine Marei.

[81]

Die neue Wärmstube zu München: im Männerraum.
Nach dem Leben gezeichnet von Fritz Bergen.

[82] Der Mentner war nicht mehr zu kennen, er spielte mit ihr in hellem Sonnenschein vor dem Hause, trug sie auf den Armen und ließ sie den Vorübergehenden eine Patschhand geben.

Von Jahr zu Jahr wurde es besser mit ihm, die Liebe, die man seinem Kinde entgegenbrachte, packte ihn. Der Düngerhaufen war längst eingedämmt, daß er die Straße nicht mehr beschmutzte, und als Marei zur Jungfrau herangeblüht war, zur schönsten im ganzen Thale, da stand das Mentneranwesen keinem mehr an Sauberkeit nach. Die Läden leuchteten im frischen Grün, der Stadel war neu verschalt, auf den Altanen leuchteten Pelargonien, Reseda und Nelken.

Die Loni kämpfte einen erbitterten Kampf mit dem Mentner um das Marei.

Ihr lebhaftes Glücks- und Liebesbedürfnis wies sie auf das Kind. Das muß dir Ersatz bieten für alles Verlorene, Hingeopferte, wofür du bis jetzt eine hohle Nuß eingetauscht, Wohlstand, Besitz an der Seite eines ungeliebten Mannes! Sie umhüllte es förmlich mit ihren Blicken, war eifersüchtig auf jedes freundliche Wort, jede Gebärde. Sie war die Mutter, was wollte der rauhe herzlose Mann mit diesem kleinen Heiligtum! Doch der führte den Kampf auf andere Weise, als sie erwartet hatte, nicht mit Gewalt, rauh und derb. Sie kannte ihn gar nicht mehr. Mit neidischem Schmerze bemerkte sie die wachsende Zuneigung des Kindes, welches in der weichen Zärtlichkeit des grobknochigen derben Mannes instinktiv eine überschwengliche Liebe fühlte. Um so mehr empörte sie das Benehmen des Bauern gegen sie, bei seiner von ihr jetzt erkannten Fähigkeit, sich anders zu geben. Für ihn blieb sie die Dirn’. Vielleicht verdroß ihn jetzt noch mehr als früher, seines Kindes halber, die Vergangenheit Lonis. Gab es doch genug, welche das Mädchen einmal darum anschauen werden, wenn es auf den Tanzboden geht.

Da war vor allem Einer, welcher dem Mentner immer wieder wie eine Mahnung in den Weg trat – der „Stoanerflori“, wie er jetzt genannt wurde. Einst ein schmucker Bursche, jetzt ein Krüppel, welchen der Förster, nachdem er beim Holzfällen ein steifes Bein davongetragen, aus Mitleid als Steinklopfer verwendete.

Der Mentner wußte sehr wohl, daß der Flori der einzige war, mit dem es der Loni eigentlich ernst gewesen; alles andere waren nur Liebeleien, nur ein leichtfertiges Spiel der losen Dirne oder anderseits verlogene Renommisterei der Burschen.

Er wußte auch, daß die beiden unter Thränen und Schwüren, sich nie zu vergessen, Abschied voneinander genommen hatten, nach der Hochzeit, hinter dem Hause im Obstgarten. „Es hat ja sein müaß’n! Schau’, Flori, was that’st denn Dein ganz’ Leb’n lang mit so an arm’ Madel? Not und Lieb’ pass’n schlecht z’samm’!“

„Alleweil no’ besser als Du und der Mentner, der Di g’rad zum Trotz gegen die Andern heirat’! Glaubst’ denn wirkli, daß D’ mi ganz vergessen kannst?“

„Das glaub’ i net, Flori, und s’is au gar net nöti – was kümmert sich der, an wem i denk’! Wer weiß, wie’s no’ kommt!“

Dann flüsterten sie, daß er nichts mehr hörte.

Er war damals auf dem Sprunge, den Kerl niederschlagen, ihn und sie, aber er hat sich doch bezwungen. Da hätten ja die Leut’ die größte Freud’, wenn es so ausging mit seiner Heirat. Außerdem hatte sie ja eigentlich recht, redete er sich ein, was kümmerte es ihn, an wen sie dachte! Aber doch war etwas Uebermächtiges über ihn gekommen, dessen er sich nicht erwehren konnte – seit der Zeit haßte er den Flori.

Dazu kam, daß dieser Bursche auch fernerhin jede Gelegenheit wahrnahm, mit Loni zusammenzutreffen, wenigstens einen Blick zu wechseln. Was war dagegen zu machen, solange er seinen Boden nicht betrat, – und davor hütete der Flori sich wohl, – nichts, als Loni möglichst im Hofe zu halten, zu trauen war ihr nicht!

Als ein Jahr darauf Flori bei der Arbeit das Bein brach und dasselbe, schlecht gepflegt, steif blieb, da konnte er seine Freude darüber kaum verhehlen, die Worte Lonis „wer weiß, wie’s no’ kommt!“ klangen in ihm noch immer nach. Er hätte sie eigentlich darum hassen müssen, sie spekulierte wohl im stillen auf seinen Tod – aber, wie gewöhnlich in solchem Falle, sein ganzer Groll traf Flori und er ließ die Stimme des Mitleids gar nicht aufkommen – jetzt wußte er es, wie’s kommt, der Krüppel!

Als dieser zum erstenmal am Stock vorbeihinkte, in abgerissener Kleidung infolge des entfallenen Verdienstes, rief der Mentner seine Frau eigens heran. „Wie g’fallt er Dir denn jetzt, der Flori?“

Loni erwiederte nichts, nur blutrot wurde sie im Gesicht und einen Blick warf sie ihm zu, den er nicht aushielt.

„Schäm’ Dich, Mensch!“ Dann ging sie Flori nach, welcher schon einige Schritte vorbei war, reichte ihm, ohne sich nach ihrem Manne umzusehen, die Hand und sprach ihm ihr Beileid aus über sein Unglück. Sie standen bei einander wie damals im Obstgarten und Mentner mußte ruhig zusehen, er konnte doch nicht eifern wegen eines Krüppels. Loni hatte auch, als sie zurückkehrte, einen Zug im Gesicht, der ihm die auf der Zunge liegende Zurechtweisung unterdrücken ließ.

Was sollte denn dieser schon ergraute, humpelnde abgerissene Loder, mit dem vom ständigen Schutzbrillentragen ganz erloschenen Blick, ein Wegmacher, von der schönen Mentnerbäuerin wollen! Sie konnten sich jetzt sprechen, so oft sie wollten, er fragte nicht mehr danach, aber erst, als das Kind kam, vergaß er den Groll, das Mareile füllte ihn ganz aus. Ihm allein galt jetzt seine Eifersucht, die sich auf alle Menschen erstreckte, vor allem auf die Mutter.

Dieser kam es in ihrer eifersüchtigen, argwöhnischen Liebe vor, als neige sich das Kind sogar dem Vater mehr zu als ihr, und sie fühlte sich verlassener, unglücklicher denn je.

Da merkte sie erst, ein wie guter Mensch der Anderl war, wie unrecht sie ihm gethan, indem sie sich bisher vor ihm förmlich gefürchtet hatte, weil sie ihn für falsch und hinterlistig hielt. Er nahm sich ihrer an wie noch niemand auf der Welt. Ohne allen Eigennutz las er ihr jeden Wunsch von den Augen ab und das alles in einer respektvollen Weise, immer der Diener.

Das that ihr unendlich wohl. Oft allerdings überraschte sie ihn über Blicken, deren Art ihr verriet, was in dem Schweigsamen vorging. Ein stummes Werben lag darin, das beunruhigte sie. Seit sie Frau war, hatte sie sich nicht das Geringste zu schulden kommen lassen und sie traute sich selbst nicht in der eisigen Atmosphäre dieses Hauses. Diese Blicke waren aber ganz dazu angethan, sie aufzutauen, und dann – das eigentümliche war, daß sie dabei an ein Unrecht dachte, das sie mehr dem armen Flori zufügte als ihrem Mann.

Die kurze Liebeszeit, die sie mit dem einst so schmucken Burschen verlebt, war der einzige Lichtpunkt ihres freudenarmen Lebens. Diese paar Wochen oder Monate war sie, die arme Dirn’, unerschöpflich reich, sie, die Verachtete, die Sünderin, angebetet wie eine Heilige. Vorher die Schmach und Not einer Heimatlosen, nachher die entsetzliche Oede des Mentnerhofes. Was von Leidenschaft in ihr lebte, wies sie auf den Stoanerflori, daran konnten bisher auch der kurze Fuß und die ergrauten Haare nichts ändern. Und sie war stolz auf diese Treu’!

Da drängte sich der Anderl dazwischen. Er glich fast dem Flori von damals, dasselbe schwarze feurige Auge, dasselbe schwarzgelockte Haar, das in die kurze kräftige Stirn hereinfiel; nur männlicher, selbstbewußter war er; der Anderl hätte sie dem Mentner nicht so gutmütig überlassen.

Er muß aus dem Hanse, das stand bei ihr fest, sie durfte nun einmal nicht die geringste Freude haben, bei ihr schlug alles gleich zum Bösen aus.

Sie suchte alle erdenklichen Vorwände, fing Händel an mit ihm, machte ihn schlecht vor dem Bauer. Der lachte sie aus und der Anderl blieb erst recht und veränderte trotzdem nicht sein herzliches Wesen, ohne ihr je Veranlassung zu einer Zurechtweisung zu geben.

Dieses stumme, rücksichtsvolle Werben wirkte mächtig auf sie; ihre Abneigung gegen den Bauer verwandelte sich allmählich in Widerwillen. Sie ließ ihm freiere Hand in Bezug auf Marei. Die Entfremdung des Kindes, welche bei ihr zur fixen Idee geworden, schmerzte sie immer weniger.

Nachts kam oft Anderl spät zurück, sie sah ihn dann von der Waldseite vorsichtig hinter den Zäunen daherschleichen, oft trug er etwas – sie wußte, woher er kann. Das verursachte ihr lebhafte Besorgnis, schlaflose Nächte. Sie wußte doch, daß der Mentner ganz dieselben Wege ging, schon lange – da empfand sie nie Aehnliches.

Einmal stellte sie den Knecht direkt darüber zur Rede, er solle doch die Wilderei lassen, er habe es doch nicht nötig.

„Thät’s Dir wirkli leid, wenn’s mi amal drauß’n find’n thäten, Loni?“ fragte er.

Sie brach in helle Thränen aus und lief mit der Schürze vor dem Gesicht davon. Seitdem mußte er wissen, wie er daran war.

Eines Abends spät fiel ein Schuß, dem Wolfsgraben zu, nach Lonis Berechnung. Sie war allein im Stall, auch Marei nicht im Hause. Eine tödliche Angst befiel sie.

Nachmittags war sie dem Förster begegnet, er ging nach der Richtung des Wolfsgrabens und sah sie noch so sonderbar an.

[83] Sie lief in die Wohnstube, in den Obstgarten, in den Stadel – niemand da! Sie stieg auf die Tenne hinauf. „Anderl!“

Da öffnete sich die Thür im Holzverschlag und der Knecht trat heraus, ein Kummet in der Hand, das er eben in seiner Kammer flicken wollte.

„Was schaffst, Bäuerin?“

Sie schämte sich. Was soll er glauben von ihr? Sie wollte ja ihren Mann suchen – und doch hätte sie aufjauchzen mögen, als sie den Knecht erblickte.

„I hab’ g’rad nachschau’n woll’n, a Schuß is g’fall’n dem Wolfsgraben zu – wird halt der Förster g’wes’n sein.“

„Is der Bauer schon z’ruck von der Ahornalm?“ fragte der Anderl.

„No net.“

Änderl zog die Stirne in bedenkliche Falten. „Der Förster is heut’ um d’ Weg – wird do nix geb’n ham? Hast Ängst, Loni?“

„Jetzt nimmer.“

Der Anderl ließ das Kummet fallen, es war ihm, als ob er auf sie zustürzen sollte.

„Wird halt der Förster g’wes’n sein,“ fuhr sie in mühsam erzwungener Ruhe fort, „wia ma nur so ängstli sein kann!“

„Naa, so ganz unbedenklich is die Sach’ do net! Jetzt wär’ er mir bald lieber da. ’s is schon hübsch lang’ Nacht und den Mond wart’ ma net gern ab auf solche Weg. Komm do’ ’rein, Loni, von da müass’n wir ’n ja komm’n seh’n.“

Loni trat in die Kammer. Anderl zeigte zum Dachfenster hinaus. Sie fühlte seinen Arm an ihrer Schulter, dann suchte seine Hand die ihre. Es war schwül – schwerer Heudunst erfüllte den engen Raum – es war ihr, als brenne sie lichterloh.

Jetzt zog der Mond herauf zwischen zwei großen schwarzen Tannen, die Zäune warfen ihre Schattengatter auf die bläulich leuchtenden Wiesen, welche das waldige Gelände vom Hofe trennten.

Schweigend blickten sie hinaus, ihre Hände lagen ineinander.

„Wenn er jetzt nimmer heimkäm’?“ flüsterte er plötzlich.

Loni schauerte zusammen und bedeckte ihr Gesicht mit der Hand. Dann riß sie sich los und stieg eilig hinab. Der Mentner durfte sie nicht treffen, wenn er von solchen Gängen kam.

Ihre Tochter schlief in einer Kammer mit ihr, sie schlich vorsichtig an dem Bett vorbei, um sie nicht zu wecken. Ein seliges Lächeln spielte um die Lippen des schlummernden Mädchens. Es träumte vom „Förster Willy“, der ihr auf Tritt und Schritt nachschlich, seitdem er als Forstgehilfe zu seinem Vater nach Hagenberg versetzt worden war. Erst heute früh hatte sie das Pärchen überrascht. Ihr war solch ein Glück das ganze Leben hindurch versagt geblieben, nie durfte sie es in Ehren genießen, offen, frei vor allen Menschen, für sie war es immer Sünde und Schande – der Fluch lag darauf. – „Wenn er jetzt nimmer heimkam’!“ – der Vater ihres Kindes! – Nur net träumen!

Am nächsten Nachmittag ging der Bauer mit Anderl auf die Alm. Er sprach wie immer kein Wort von seinem nächtlichen Gange und Loni hütete sich, zu fragen, auch Anderl machte keine Andeutung.

Mutter und Tochter waren allein im Hofe. Da öffnete das Marei zum erstenmal ihr Herz. Der Willy hatte um ihre Hand angehalten, sie liebten sich über alles und wollten nimmer voneinander lassen. Wenn er zum Forstwart befördert wird, soll Hochzeit sein. Der Vater wird ihr gewiß seine Einwilligung nicht versagen, dazu hat er sie zu lieb, aber einen Haken habe die Geschichte. Der Förster werde sich mit Hals und Kopf gegen die Heirat sträuben, wenn der Vater nicht verspricht, das Wildern für immer sein zu lassen, und da soll halt die Mutter ihm zu Herzen reden. Einen besseren Mann gebe es auf der ganzen Welt nicht wie den Willy.

Seliges Glück strahlte aus ihren Augen, und Loni vergaß darüber, daß das Marei in andern Fällen sich immer zuerst an den Vater wandte, ja, sie empfand es plötzlich als ungeahnte Wonne, ihrem Kinde ein Glück zu vermitteln, das sie selbst nie genossen, und beschloß in ihrem Innern, alles zu thun, was in ihren Kräften stand, die jungen Leute zusammen zu bringen.

Marei dankte ihr mit Thränen. – Nur eine Bedingung habe sie vergessen, die der Förster sicher stellen werde, die aber leicht zu erfüllen sei, – der Anderl müsse aus dem Hause.

Die Mutter erhob sich jäh und machte sich in der Stube zu schaffen. Als sie sich wieder der Tochter zuwandte, war jede Milde aus ihrem Antlitz gewichen. So hatte Marei die Mutter noch nie gesehen, keine Spur mehr der liebevollen Zärtlichkeit, welche die sonst so harte Frau für sie stets bewahrte. Jetzt sah sie so kalt und finster aus ihren grauen Augen, wie sie den Vater immer anblickte, zu ihrem bittern Schmerz.

„Was verlangt denn der Herr Förster noch? Bin i vielleicht auch net gut genug als Schwiegermutter? Das wär’ das Wahre – die Dienstleut’ sich vorschreiben lassen müssen von an’ solchen! Da komm’ dem Vater nur selber damit! Der Anderl ist der beste Knecht weit und breit – und das andere kümmert mi nix.“ Sie verließ das Zimmer und sprach kein Wort mehr den ganzen Tag mit dem verzweifelten Kinde.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.


Wärmstuben in München. (Zu den Bildern S. 69 und S. 81.) Was an unserer vielverschrieenen Zeit schlecht ist, das erfahren wir täglich gedruckt und ungedruckt in reichlichem Maße. Ein Gutes jedoch hat sie sicherlich: Anregungen der werkthätigen Menschenliebe setzen sich rascher als jemals vorher in Entschlüsse und Thaten um, und das öffentliche Leben bereichert sich durch Einrichtungen, die man früher nicht dem Namen nach kannte. Eine Wärmstube mit billiger Erquickung für jeden, der müde und durchfroren des Weges kommt – kann man sich ein besseres Mittel denken, um vielen gleichzeitig im Winterfrost schnelle Hilfe zu bieten, die ihren Mut und Kräfte zu neuer Arbeit belebt?

Nach dem Vorgange von anderen deutschen Städten hat nun auch München eine solche Anstalt. Wo die Theresienwiese an die Stadt grenzt, dort, im Vorgebäude des ständigen Cirkus, dessen Garderoberäume benutzend, haben thätige Menschenfreunde die erste Wärmstube eröffnet, der in kurzer Zeit eine zweite und hoffentlich bis zum nächsten Winter in jedem Stadtteile eine folgen wird. Von früh bis nachmittags 5 Uhr steht sie dem Besuche offen. Den Eintretenden empfängt angenehme Wärme und ein behaglicher Kaffeegeruch, beides von dem großen Herd ausgehend, wo eine freundliche Köchin den braunen Trank aus einem Riesentopf ausschenkt, die Tasse für 3 Pfennig! Suppe ist zum selben Preis zu haben und beides umsonst, wenn ein Schein des Bezirksvorstehers die große Armut bestätigt. Ein Angestellter nimmt die Scheine oder das Geld in Empfang und händigt dagegen entsprechende Anweisungszettel von seinen Abreißblocks aus. Dieser Raum bietet, wie unser erstes Bild zeigt, zugleich den Aufenthalt für die Frauen und Kinder. Die den Schanktisch umdrängenden Kleinen wie die an den Tischen sitzenden Gäste machen einen anständigen bescheidenen Eindruck, wenn auch manchen die Entbehrung aus dem blassen Gesicht schaut. O, möchten doch viele von denen, die ihren Beitrag gleichgültig zahlen und glauben, damit alles gethan zu haben, hier einmal persönlich herkommen und die Erfahrung machen, welche warme menschliche Empfindung man mit elenden fünf Pfennigen – ein Brot muß auch zum Kaffee kommen! – sich erkaufen kann, wenn man einen dieser still Dasitzenden zu Gaste lädt! Und vollends die Kinder! Wie schmeckt ihnen der warme Trank auf dem Nachhauseweg von der Schule, wie lustig plaudern dann sie, die noch keine Sorgen kennen, an ihrem Tische zusammen! … Nebenan im Männerraum halten sich viel schweigsame Gestalten auf; aber auf den Gesichtern führen Entbehrung und Mißmut eine um so beredtere Sprache. Wenn, wie dies auf unserem zweiten Bild im Hintergrund eben geschieht, Anweisungszettel für Kaffee und Suppe, die ein Menschenfreund spendet, zur Verteilung gelangen, hält sich gar mancher zurück, dem die Gabe doch wohlthäte. Ja, auch in dem gemütlichen München hat das moderne Großstadtelend seinen Einzug gehalten. Und was für München gilt, das gilt für alle größeren Städte unseres Vaterlandes. Deshalb heißt es: Gebt, und gebt nach Kräften, nicht als Almosen, sondern als von den Zeitverhältnissen geforderten Beitrag zur Abhilfe von sozialen Schäden, denen mit gutem Willen gesteuert werden kann!


Burggraf Friedrich III. von Nürnberg überbringt dem Grafen Rudolf von Habsburg die Nachricht seiner Erwählung zum deutschen König. (Zu dem Bilde S. 72 und 73.) Noch ist an dem kühlen, frostigen Septembermorgen die Sonne nicht emporgestiegen und nur erst unklar treten die vielen Türme und Mauern der alten Stadt Basel aus dem Nebel hervor. Auch Graf Rudolf von Habsburg, obwohl er früh wach zu sein gewohnt ist, hat sich soeben erst von seinem einfachen Zeltlager erhoben und schickt sich an, im Freien auf dem Kohlacker, wo sie Rast gesucht, mit den wenigen Leuten seines persönlichen Gefolges das Frühmahl einzunehmen. Der jüngste der Knappen ist gerade im Begriff, einen Napf mit dampfendem Brei auf einem als Untersatz zugerichteten, nach oben abgeflachten Kohlkopf aufzutischen, da, inmitten der noch herrschenden nüchternen Ruhe – erst ein leises Zittern des Erdbodens, dann deutlich näherrückend Pferdegetrappel, Unruhe, Lärm – – vor dem Grafen von Habsburg hält eine stattliche Kavalkade, festlich gerüstet. Das dreizipfelige Reichsbanner mit dem schwarzen Adler in goldenem Felde senkt sich zur Huldigung hernieder, und schnell sich niederschwingend von seinem edlen Roß, eilt freudigen Angesichts, in der emporgehobenen Rechten die wichtige Urkunde haltend, die andere Hand zu Gruß und Glückwunsch entgegenstreckend, sein treuer Vetter und langjähriger Kampfgefährte Burggraf Friedrich von Nürnberg auf den Grafen zu. Und mit weithin schallender lauter Stimme verkündet der Bote: „Rudolf Graf von Habsburg, Ihr seid vorgestern in Frankfurt zum deutschen [84] König erwählt worden. Ich habe mich beeilt, Euch die stolze Kunde zu bringen.“ Aber vor Ueberraschuug stumm, die Hände wie zum Gebet ineinander gefaltet, steht regungslos der Graf; weiß er doch, daß mächtigere, einflußreichere Fürsten als er im Reiche vorhanden sind, die Anprüche auf diese höchste, ihm zugedachte Würde erheben. Unwillig, fast beleidigt verbittet er sich, ihn mit einer solchen Meldung zum besten zu halten. Aber Friedrich erwidert: „Das sei ferne, daß ich Euch zum besten halte, den allermächtigsten Herrn!“ Jetzt erst schenkt der Habsburger der Rede seines Freundes williges Gehör. Er erfährt, daß gerade ihn die Kurfürsten unter allen Bewerbern für den geeignetsten gehalten haben, daß er der Mann sei, den nach dem Tode des englischen Schattenkönigs Richard die lange große Not des Reiches erheische. War doch auch der Erwählte wie kaum ein anderer angesehen als klug und thatkräftig, nicht zu reich und nicht zu mächtig, ein Feind der immermehr überhand nehmenden raubsüchtigen Ritter, ein Freund des aufblühenden Städtetums. „Wieviel Gott Ehren giebt dem Mann, deren soll er sich dünken wert“, mit diesen Worteu, berichtet eine Reimchronik jener Zeit, habe nunmehr Rudolf die ihm angetragene Würde angenommen.

Der hier geschilderte welthistorische Auftritt fand statt am 22. September 1273. Rudolf schloß dann sofort mit dem Bischof von Basel Frieden, eilte nach Frankfurt, erklärte sich mit den Bedingungen der Wahl einverstanden und wurde schon am 28. Oktober 1273 in Aachen gekrönt. Als Regent erfüllte er wie wenige die Erwartnngen, die man auf ihn gesetzt hatte. Das kaiserliche Ansehen und den Landesfrieden stellte er wieder her, durch glückliche Erwerbungen und Heiraten machte er sein Haus groß und mächtig, warf auch seinen stärksten Gegner, Ottokar von Böhmen, siegreich nieder, und einzig nur sein letzter Wunsch, die Nachfolge im Reiche nach seinem Tode auf seinen Sohn Albrecht übertragen zu sehen, blieb ihm unerfüllt. – Das prächtige, von Hermann Knackfuß im Auftrag des deutschen Kaisers geschaffene Gemälde, das diesen Liebesdienst verherrlicht, den ein wackrer Hohenzoller einem gleich vortrefflichen Habsburger geleistet, zeigt bis in die kleinste Einzelheit hinein große historische Treue und bildet im königl. Schlosse zu Berlin ein würdiges Gegenstück zu dem von demselben Künstler gemalten Bilde, das eine weniger freundliche Begegnung zwischen Häuptern der Häuser Hohenzollern und Habsburg darstellt, nämlich die Gefangennahme Friedrichs des Schönen durch den Burggrafen Friedrich IV. von Nürnberg in der Schlacht bei Mühldorf am 28. September 1322.

Der Aussichtsturm bei Gravelotte.
Nach dem Entwurf von J. Laube.

Aufruf für die Errichtung eines Gedächtnis-Turmes auf den Schlachtfeldern bei Metz. In diesem Jahre, am 16. und 18. August, werden es fünfundzwanzig Jahre, daß auf den Schlachtfeldern von Mars-la-Tour-Vionville und Gravelotte-St. Privat die großen Siege erfochten wurden, die so entscheidend für den glücklichen Ausgang des Krieges mit Frankreich waren. Nachdem im vorigen Jahre um diese Zeit an der Stelle, von welcher König Wilhelm aus die Schlacht bei Gravelotte persönlich leitete, ein schlichtes Denkmal eingeweiht worden ist, hofft man an einem der Jubiläumstage einem größeren Wahrzeichen die feierliche Weihe geben zu können, das in Gestalt eines Aussichtsturmes inmitten der Schlachtfelder mit ihren vielen Grabhügeln errichtet werden soll. Ein Aufruf, der an erster Stelle von dem Gouverneur der Festung Metz, Generallieutenant v. Arndt, unterzeichnet ist, fordert zu Beisteuern für den bereits vorhandenen Grundstock auf, der in Metz selbst von patriotischen Mitbürgern für das nationale Unternehmen aufgebracht worden ist. Als Schatzmeister des Komitees ist Herr Hofapotheker Weifert in Metz genannt, an welchen auch wir alle Beiträge, zu denen dieser Hinweis anregt, zu senden bitten. Der auf eine Höhe von 30 Metern berechnete Turm soll dem Uebelstand abhelfen, daß die unebene Gestaltung des Terrains bisher einen Ueberblick über die Schlachtfelder unmöglich machte, so daß die vielen Tausende, welche alljährlich pietätvoll hierherkommen, um die Gräber der im Heldentod Gefallenen zu schmücken, nur mühsam und unvollkommen den jetzt so friedlichen Gefilden ein Bild von den einst hier tobenden heißen Kämpfen abzugewinnen vermochten. Auf der Höhe des Point-du-jour ist der günstigst gelegene Punkt ermittelt worden, damit der Turm diese bisher so vielfach entbehrte Rundschau den Besuchern der Schlachtfelder biete, zugleich mit einer weitreichenden landschaftlich schönen Aussicht auf Metz und das malerische Moselthal. Die Gemeinde Rozérieulles hat das für den Bau nötige Grundstück unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Die Herstellnng eines massiven, einfach aber würdig gebauten Turmes nach dem Modell, das wir nebenstehend zur Abbildung bringen, erfordert jedoch noch recht viel Mittel. Wir zweifeln nicht, daß diese Mitteilungen genügen werden, um dem Unternehmen die noch nötige Unterstützung zu sichern.

Das König Wilhelm-Denkmal bei Gravelotte.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph E. Jakobi in Metz.

Das hier gleichzeitig abgebildete König Wilhelm-Denkmal hat seinen Platz westlich von Mogador, einem durch französische Granaten in Brand geschossenen, kaum 1 Kilometer nördlich von Gravelotte entfernten Gehöft, auf dem Standpunkt, welchen König Wilhelm nebst seinem Gefolge am Abend des 18. August 1870 einnahm. Es ist von den Offizieren und Beamten des 16. Armeekorps und der Garnison Metz errichtet und im vorigen Jahr am Jahrestag der Schlacht enthüllt worden. Auf einem dreistufigen Unterbau ruht ein gewaltiger Granitblock von unregelmäßig abgerundeter Würfelform, wie ihn die Natur gebildet hat. Dieser Findling aus dem Schwarzwalde ist ein Geschenk des Großherzogs von Baden. Der dunkelgraue Stein wiegt 280 Centner und hat eine Höhe von reichlich 2 Metern. Auf einer eingemeißelten ovalen Fläche trägt er die Inschrift: „Von dieser Stelle aus leitete König Wilhelm die Schlacht am 18. August 1870.“ Dies Denkmal ist von einer neuen Einfassung umgeben, deren Eckträger vier französische Geschützrohre mit den Namen: Le Redan, Le Délibéré, Le Négrier und Le Novateur und deren Mittelstützen vier große deutsche Geschosse bilden.



Kleiner Briefkasten.

Fräulein H. K. in Zürich. In der Nordostdeutschen Gewerbeausstellung in Königsberg ist allerdings eine besondere Abteilung für Frauenarbeit mit Einschluß der litterarischen Produktion vorgesehen. Sie müssen sich aber dazu halten, da durch ein Rundschreiben des Komitees an die Presse alle Schriftstellerinnen, die in Ostpreußen, Westpreußen und Posen geboren sind oder dort ihren Wohnsitz haben und gesonnen sind, ihre Schriften bei dieser Gelegenheit auszustellen, ersucht worden sind, ihre Adressen bis spätestens Ende Januar an Frau Chefredakteur Anton, Schützenstraße 12, oder Frau Babette Loewi (B. Herwi), Paradeplatz 45, in Königsberg i. Pr. mitzuteilen, von denen sie die näheren Bedingungen erfahren können.



Inhalt: Buen Retiro. Von Marie Bernhard (1. Fortsetzung). S. 69. – Die neue Wärmstube zu München: im Frauenraum. Bild. S. 69. – Burggraf Friedrich III. von Nürnberg überbringt dem Grafen Rudolf von Habsburg die Nachricht seiner Erwählung zum deutschen König. Bild. S. 72 und 73. – Der Kampf wider die Geheimmittel. S. 75. – Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte. Von Dr. P. Schellhas. Die Moundbuilders in den Vereinigten Staaten. S. 76. Mit Abbildungen S. 77, 78 und 79. – Loni. Erzählung von Anton von Perfall. S. 80. – Die neue Wärmstube zu München: im Männerraum. Bild. S. 81. – Blätter und Blüten: Wärmstuben in München. S. 83. (Zu den Bildern S. 69 und 81.) – Burggraf Friedrich III. von Nürnberg überbringt dem Grafen Rudolf von Habsburg die Nachricht seiner Erwäblnng zum deutschen König. S. 83. (Zu dem Bilde S. 72 und 73.) – Aufruf für die Errichtung eines Gedächtnis-Turmes auf den Schlachtfeldern bei Metz. Mit Abbildungen. S. 84. – Kleiner Briefkasten. S. 84.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Vergl. Jahrg. 1894, S. 156.