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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[53]

Nr. 4.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Buen Retiro.

Von Marie Bernhard.

     (3. Fortsetzung.)

Bei dem jähen Ausbruch des Gewitters taumelte die junge Frau fast sinnlos vor Schreck seitwärts; Röder faßte sie mit seinen starken Armen und hielt sie fest, sie wäre sonst zu Boden gesunken. Es war ihm aber unmöglich, von der Stelle zu kommen, er mußte bleiben, wo er war.

Nun brauste es heran auf Sturmesflügeln, riß die Blätter von den Bäumen und wirbelte sie wie tote Fetzen durch die Luft, bog die starken Aeste zusammen, daß sie ächzten, knickte die Zweige, peitschte das Wasser des Deiches, daß es hoch aufspritzte, und fegte den losen Sand durcheinander. Dem Mann, der mitten im Toben der Elemente stand und die schlanke Frauengestalt an sich gedrückt hielt, legte sich’s mit einem Male wie ein weicher Schleier vor die Augen, ein feines Seidengespinst wob sich um sein Gesicht, ein süßer schwacher Rosenduft umschmeichelte ihn – das war Gabrielens gelöstes Haar, das ihn umflatterte und das der Sturm, der tückische Sturm, ihm ums Antlitz wehte!

Immer von neuem Blitz und Donner und Sturm, schön und majestätisch, aber schreckensvoll, denn kein Regentropfen fiel,

Die Sturmflut bei Hamburg am 22. Dezember vorigen Jahres.
Nach einer Originalzeichnung von Hugo Amberg.

[54] trotzdem die Erde lechzte, ihn zu empfangen, und die Luft glühte. Gleich geschmolzenem Blei lag das Wasser, und die Eschen wiegten sich und bogen sich wie im tollen Reigen. Eine verirrte Schwalbe umkreiste unaufhörlich gedankenschnell die beiden Menschen, die hier eng umfaßt standen, es war, als wollte sie bei ihnen Schutz suchen.

„Können Sie gehen, Gabriele?“ fragte der Doktor halblaut während einer kurzen Pause und bog sich schützend vor, um einem neuen Anprall des Sturmes stand zu halten. Allein er bekam keine Antwort. Sie hatte ihr Köpfchen in seinen Armen verborgen, er fühlte, wie ihr ganzer Körper zuckte und bebte und wie ihre Hände sich an ihn klammerten, sie war in der That sinnlos vor Angst, ihr Herz, gegen das er seine Hand stützte, schlug rasch und unregelmäßig, wie im heftigsten Fieber.

Wie lange sie so noch standen, er wußte es nicht. Als der Regen in schweren Tropfen zu fallen begann, hob er seinen Schützling auf und trug ihn in seinen Armen nach der Villa.

Es war kein kurzer Weg, und doch dünkte er ihm so nahe; er hatte auch seine Last nicht als schwer empfunden und doch war er atemlos, als er sein Ziel erreicht hatte und taumelnd seine Bürde in der Veranda niedersetzte.

Gabriele lag jetzt halb besinnungslos in einem weiten Rohrsessel, das Haupt zurückgesunken, die Augen geschlossen – welch lange dunkle Wimpern sie hatte! Cornelius Röder sah von ihr fort und senkte den Kopf. Es war ihm seltsam zu Mut, seltsam wirr und beklommen.

Als Mamsellchen nach einer Minute in die Veranda trat, befahl ihr Herr, sie solle sich der jungen Frau annehmen. Er selbst ging mit langsamen, zögernden Schritten, wie ein Mensch, der nicht weiß, was er will, nach seinem Zimmer. Dort stand er eine Zeit lang gleich einem Träumenden still; er schien zu lauschen, aber nicht auf das Unwetter draußen; er horchte in sein eigenes Innere, aber er verstand die Stimmen nicht, die dort sprachen. Von diesem Tag an vergaß Doktor Cornelius Röder es nie mehr, nicht für eine einzige halbe Stunde, daß er Gabriele Hartmann unter seinem Dach beherbergte.




7.

Es schien überhaupt, als habe sich mit dem Austoben des Unwetters eine entscheidende Wandlung vollzogen. Auch die junge Frau schien verändert seitdem. Sie hatte in der Nacht, die dem Gewitter folgte, zum erstenmal seit langer Zeit fest und traumlos geschlafen, und am nächsten Morgen wagte sie sich ganz in der Stille über die Grenze des Gartens hinaus in den Wald. Die köstlich reine gekühlte Luft umwehte sie so erfrischend, daß sie mit leicht geröteten Wangen zum Mittagessen heimkam, lebhafter sprach als sonst und einigen Appetit entwickelte. Nach weiteren drei Tagen begann sie früher aufzustehen und die Siesta auf ihrem Zimmer um eine gute halbe Stunde zu verkürzen, und eines Mittags fand Mamsellchen zu ihrem unermeßlichen Erstaunen Frau Hartmann im Geflügelhof vor, wo sie mit einem ganz vergnügten Gesichtsausdruck die jungen Hühner fütterte.

„Sie fängt wahrhaftig an, den Kopf zu heben!“ bemerkte Mamsellchen zu Ewert, ihrem Vertrauten, und dieser nickte triumphierend. „Sehen Sie wohl, Mamsellchen, sehen Sie! Was sagt’ ich? Nun passen Sie bloß auf, wie sie jetzt aufblüht!“

Die Angeredete paßte denn auch wirklich scharf auf und fand Ewerts Weissagung bestätigt. Die junge Frau begann in der That aufzublühen, wenn auch sehr langsam und allmählich. Sie genoß keine Vogelportionen mehr, sondern aß und trank wie ein normaler Mensch; sie träumte nicht mehr stundenlang in der Hängematte müßig vor sich hin, sondern förderte ihre Handarbeit eifrig, schrieb Briefe und eines Tages, als der Doktor zufällig in seine Bibliothek trat, um sich ein Buch zu holen, erhob sie sich mit verlegenem Lächeln von dem bequemen Sessel, der dort für die Lektüre bereit stand.

„Verzeihen Sie, daß ich hier bin, aber Sie hatten gestattet –“

„Ich hatte gebeten,“ fiel er lebhaft ein, „und ich habe nichts zu verzeihen, ich habe mich nur zu freuen, daß Sie meine Bitte erfüllt haben! Darf man sehen? Ah! Brandes, Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts! Nun, was sagen Sie dazu?“

„Ein gutes Buch. Ohne jede Spur von Lebhaftigkeit und doch belehrend, sachgemäß und ohne Vorurteil – das findet man nicht oft.“

Röder nickte bestätigend, aber er hatte gar nicht recht gehört, was die junge Frau zuletzt sprach. Wie belebt ihr Gesicht erschien wie wechselnd im Ausdruck! Und welch tiefe blaugraue Augen sie hatte! Oder waren sie nicht blaugrau? Sie erschienen ihm jetzt so dunkel! Kam das nur daher, weil die blassen Wangen nun rosig angehaucht waren?

Es entstand eine Pause. Die junge Frau stand mit glänzenden Augen da und wartete auf die Fortsetzung des Gesprächs. Der Doktor war ganz in Gedanken eingesponnen, er raffte sich nicht ohne Mühe auf.

„Lieben Sie schon lange so ernste Lektüre?“ fragte er zuletzt, um doch etwas zu sagen.

„Gewiß! Schon in meinen frühen Mädchenjahren sorgte mein Vater stets für gute Bücher. Sie haben Papa gar nicht gekannt, nicht wahr?“

„Ich kann eigentlich nur sagen, daß ich ihn gesehen habe – kennen darf man es doch nicht nennen, wenn man mit jemand drei-, viermal in Gegenwart so und so vieler anderer Personen zusammentrifft und kein tiefergehendes Gespräch miteinander führt. Margot – ich meine Ihre Mutter – lernte Konsul Schütze in Hamburg kennen, wo sie bei guten Freunden zu Besuch war. Er stellte sich dann meinen Eltern persönlich vor und warb um sie, als ich noch auf Reisen war. Bei meiner Rückkehr stand die Hochzeit nahe bevor, und damals sah ich also den Verlobten meiner Pflegeschwester. Er machte mir äußerlich und in seinem Wesen einen sehr guten Eindruck, mehr vermag ich beim besten Willen nicht über ihn zu sagen.“

„Sein Aeußeres und sein gesellschaftliches Benehmen war das Nebensächlichste an ihm!“ Gabrielens Blick und Stimme belebten sich mehr und mehr. „Einen hübschen Mann mit guten Manieren, den findet man hundertmal, aber mein Vater war zugleich ein ganz seltener Mensch, vielseitig begabt, zuverlässig und treu wie Gold, mit einem wahren Kinderherzen. Ich darf das sagen, ohne im mindesten parteiisch zu sein. Obgleich ich den Jahren nach noch jung bin, so hat mich doch mein Be– – mein Leben, meine ich“ – die Sprecherin verwirrte sich ein wenig – „mit so vielen verschieden gearteten Leuten zusammengeführt, daß ich recht wohl Vergleiche anzustellen imstande bin. Ich war erst zwölf Jahre alt, als Papa starb, aber wie deutlich steht sein ganzes Bild vor mir, wie gut erinnere ich mich an tausend Scenen, die sich in meinem elterlichen Hause abspielten, deren Mittelpunkt er war, und ich kann mir nicht denken, daß irgend ein Mädchen in so kindlichem Alter, wie ich damals eines war, ihren Vater tiefer betrauerte, als ich es that!“

In der Tiefe der graublauen Augen erwachte ein leidenschaftlicher Ausdruck, der das ganze Antlitz mit einem Schlag verwandelte. Cornelius Röder hatte recht gehabt, als er an jenem ersten Morgen gedacht, die junge Frau zeige ihm nicht ihr wahres Gesicht. War das jetzige das echte?

„Konsul Schütze muß ein zärtlicher Gatte und Vater gewesen sein!“ bemerkte er sinnend. „Ich erinnere mich, daß er damals Margot, seine Braut, kaum für eine halbe Stunde von seiner Seite ließ und sie mit Liebesbeweisen und Aufmerksamkeiten aller Art förmlich überschüttete!“

„Ja, das sieht ihm ähnlich! So ist er auch in späteren Jahren geblieben. Er hat uns namenlos verwöhnt, meine Mutter und mich. Sie hat sich nach seinem Tode ungemein verändert, sie brach ganz zusammen und fand keinen Halt mehr ohne ihn, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Auch mir erfüllte er jede Bitte. ‚Du sollst gern an Deine Kinderzeit zurückdenken,‘ pflegte er zu sagen, ‚sie soll sonnig und glücklich für Dich sein!‘ Und wahrhaftig, das war sie! Es war ein buntes farbenreiches heiß pulsierendes Leben in unserem Hause auf Batavia. Die Vertreter aller Nationen gingen bei uns aus und ein, fremdartige Menschen und seltsame Trachten erschienen täglich vor meinen Augen, ich hörte um mich herum fast alle Sprachen, die es giebt, und wurde doch davor bewahrt, international verbildet und verpfuscht zu werden, weil mein Vater ein so echter Deutscher, so unsagbar stolz auf sein Volk war. Oft noch seh’ ich im Traum unser stolzes Haus auf Batavia mit seinen luftigen Veranden und weitläufigen Nebengebäuden, seinen exotischen Pflanzen und luxuriösen Wohnräumen – und mitten darin mich, umschmeichelt und geliebkost von jedermann, bedient und auf Händen getragen wie ein Fürstenkind, eine glänzende Zukunft vor Augen. Dann“ – es senkte sich wie ein trüber Schleier über Gabrielens Gesicht, die alte hoffnungslose Müdigkeit kam wieder.

[55] „In Brüssel ging es Ihnen nicht gut?“ forschte er teilnehmend.

„O, ich kann das nicht einmal sagen! Viele andere hätten mich um das beneidet, was wir dort fanden. Ein wohlhabendes Haus, gebildete Menschen, eine schöne Stadt – aber uns fror, uns fror beständig! Das Haus in Batavia steht in meiner Erinnerung da wie auf Goldgrund, wie in ewigen Sonnenschein getaucht, und in Brüssel war alles so kalt, die Gegend, die Menschen, das ganze Leben! Mama war wie vernichtet, sie war ganz ohne Halt, wie sollte sie mir einen bieten? Ich blieb auf mich allein angewiesen, und dazu mein Schmerz um Papa, meine große gewaltige Sehnsucht nach ihm! Kann es ein tieferes Leid geben als dies heiße lebendige Sehnen nach einem Toten, der uns für immer entrückt ist? Und ich spann mich immer mehr darin ein, wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn nicht“ – sie verwirrte sich von neuem und brach kurz ab.

Ihm widerstrebte es, sie mit Fragen zu quälen, er hatte sich’s nicht umsonst angelobt, es nicht zu thun. Doch konnte er es sich nicht verwehren, innerlich gespannt zu sein. Was war es gewesen, was ihr über den Schmerz zu ihrem Vater endlich hinweggeholfen hatte? Die Liebe zu ihrem Mann? Aber das mußte doch Jahre gedauert haben, bis sie ihn gefunden haben konnte! Oder irgend eine Beschäftigung, ein Beruf – und welcher Art? Wo hatte sie ihren Gatten gefunden, welche Stellung hatte er eingenommen, und vor allen Dingen, wie war der Mann beschaffen gewesen, den eine Frau wie diese geliebt hatte? Denn daß sie ihn geliebt hatte, erschien dem Doktor unzweifelhaft. So jung sie noch war, ohne Liebe hatte Gabriele Hartmann sicher nicht ihre Hand verschenkt.

Und ob sie den Gatten ebenso leidenschaftlich betrauerte wie einst den Vater? Ob sein Tod diesen hoffnungslosen Zug in das junge liebliche Antlitz gegraben hatte? Und was wollte sie später anfangen in der Welt? Worauf bezog sich die Stelle in ihrem ersten Brief an ihn, sie habe eine gute Ausbildung erhalten und werde seine Güte höchstens bis zum Herbst ausnutzen, dann wolle und werde sie selbst für sich sorgen?

Nicht eine dieser zahlreichen Fragen kam über seine Lippen. Er ahnte es nicht, wie unendlich wohl er der jungen Frau damit that! Gewiß, er war gut und taktvoll, aber er war auch teilnehmend, sie las es ihm ja vom Gesicht ab, und auch die Teilnahme fragt, nicht nur die unbefugte Neugier. Und hatte er, als der Pflegebruder ihrer Mutter, als ihr jetziger Beschützer und Freund, nicht auch das Recht, zu fragen? Wie zart von ihm, keinen Gebrauch davon zu machen! Sie dankte ihm dafür in ihrem Herzen.

Nach diesem Gespräch, dem ersten, in dem Gabriele sich ein wenig mitteilsamer zeigte, wollte ein anderes Thema nicht mehr aufkommen. Die beiden schlenderten noch ein wenig im Garten umher; als sie an den Weiher kamen und dort den kleinen blauen Kahn sanft an seiner Kette schaukeln sahen, blickten sie einander lächelnd in die Augen und hatten denselben Gedanken. Seit Wochen lebten sie nun schon zusammen in „Buen Retiro“, und kein einziges Mal hatten sie gemeinsam eine Wasserfahrt gemacht! Röder half seinem Schützling ins Boot, löste die Kette und trieb mit ein paar kräftigen Ruderschlägen den Kahn vom Ufer ab. Es war eine stille, seltsam traumhafte Fahrt, die sanft abfallenden Ufer des Teiches waren bunt von wilden Blumen; die glänzenden Binsen ließen wieder ihr geheimnisvolles Surren hören, und in ihrer Nähe schwammen auf tiefgrünen Blättern bleiche Wasserrosen mit ihren Goldkelchen. Röder holte mit seinem Ruder die langen Stengel aus der Tiefe, schnitt mit dem Taschenmesser die Blüten ab und legte sie Gabriele in den Schoß, sie dankte ihm mit einem Lächeln und behielt die Blumen auf ihren Knien. Er hatte es bisher noch nie gesehen, daß sie sich mit irgend einer Blume schmückte, nur die Narzisse, die er ihr damals ins Haar gesteckt, hatte sie bis zum späten Abend darin behalten. Blauschillernde Libellen tanzten über dem Wasserspiegel und schwirrten zuweilen um Gabrielens Kopf, die Eschen sahen ruhig in das dunkle Wasser.

Diese stille Stunde mit ihrem eigenen träumerischen Reiz, da sie so schweigend miteinander fuhren und jeder von ihnen es empfand, daß in diesem Schweigen weder etwas Peinliches noch auch etwas Drückendes lag, sondern eine innere Zusammengehörigkeit, die sie zu Freunden machte – diese Stunde sollte ihnen beiden noch oft, oft ins Gedächtnis zurückgerufen werden, denn es war das letzte friedliche Beieinandersein für lange Zeit.




8.

Der Doktor war den ganzen Tag in der Stadt gewesen. Er hatte dort mit ein paar Journalisten zu thun und mit seinem Buchhändler zu sprechen, denn er wollte sich ein wissenschaftliches Werk verschaffen, dessen er zu seinen Studien bedurfte. Das alles war am Vormittag erledigt, er hätte schon zu Tisch wieder heimfahren können, er blieb aber. Es war eine eigentümliche Unrast in ihm, etwas wie eine dunkle Warnung, sich nicht gar zu sehr in das Stillleben auf seiner Villa zu vertiefen, dessen wunderbaren Reiz er gestern so stark empfunden. Er hatte sich ja auf die Stille und Einsamkeit gefreut, jetzt aber wirkte sie so fesselnd auf ihn, daß er Gefahr lief, sich ganz und gar von ihrem Zauber einspinnen zu lassen. Und das durfte nicht sein, dagegen mußte er sich zur Wehr setzen. So alt war er noch nicht, um den Verkehr mit der Außenwelt vollständig abzubrechen, wenn er ihn auch entbehren zu können meinte! Und als vollends Mamsellchen heute morgen ihn ermahnt hatte, doch mehr unter Menschen zu gehen, mit dem Zusatz, es sei geradezu eine Schande, wie er sich hier vergrabe, da raffte er sich schnell zusammen und fuhr in die Residenz.

Als seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigt waren, suchte er ein paar gute Bekannte auf, die ihm aus seinem Kreise die angenehmsten waren, tüchtige und kluge Leute, der eine ein angesehener Journalist, Redakteur eines bedeutenden Blattes und eifriger Politiker, der andere ein hervorragender naturwissenschaftlicher Gelehrter, Verfasser eines vielgenannten Werkes über fossile Pflanzen und mit Röder seit Jahren bekannt.

Beide Herren empfingen ihn mit freundschaftlichen Vorwürfen über sein langes Fernbleiben, und er fühlte sich etwas beschämt angesichts ihrer unverstellten Herzlichkeit, wenn er bedachte, wie wenig ihm im Grund an ihrer Gesellschaft gelegen war. Er blieb nun mit ihnen zusammen, sie speisten in einem Restaurant zu Mittag und verabredeten, um sieben Uhr im Sommertheater wieder zusammenzutreffen.

Röder fand die Stadtluft außerordentlich heiß und unangenehm, er nahm sich einen Wagen und fuhr weit in einen Park hinaus, wo er die frische reine Luft wiederfand, die er in seinem „Buen Retiro“ jeden Tag genießen konnte. In die Residenz zurückgekehrt, blieb ihm noch eine gute halbe Stunde, in der er die schönsten Straßen durchschlenderte. Er machte dabei die Entdeckung, daß das Hin- und Herwogen des Menschenstromes ihm Schwindel erregte und daß die schönen Dinge hinter den großen Schaufenstern wenig Reiz für ihn besäßen.

Mit den beiden Herren ging er dann ins Theater und saß in den Zwischenpausen bei einem Glas Bier im Garten. Er mußte zugeben, daß das Lustspiel nicht übel und die Ausführung ausgezeichnet war, aber er amüsierte sich nicht. Auch als sie alle drei bei einem kleinen Souper beisammen waren, konnte er nicht mit voller Teilnahme dabei sein. Der Redakteur sprach angeregt und viel, aber Röder fragte sich in seinem Innern verwundert, wie es doch möglich sei, daß ein Mann in reiferen Jahren sich so ungeheuer für Politik interessieren könne, ihm kam dies ganze Parteitreiben so einseitig vor. Der Naturforscher besprach einige Erfindungen der Neuzeit, und hierbei wurde auch Röder lebhafter. Zwischendurch aber hatte er fortwährend die Empfindung, als sei all dies Reden und Thun am heutigen Tag völlig nebensächlich, als erwarte ihn zu Hause etwas ganz Wichtiges, das all sein Sinnen und Denken in Anspruch nehmen müsse. Trotzdem blieb er mit den beiden Herren bis zum Abgang der letzten Pferdebahn zusammen, und als er in dem Vorort ausstieg und heimwanderte, war die Mitternachtsstunde schon nahe.

Es wanderte sich schön in der abgekühlten Luft zwischen den leise wogenden Feldern und den Bäumen, die mit dem Nachtwind Zwiesprache hielten. Der Himmel leuchtete von zahllosen Sternen, die Häuser, die hier und da verstreut waren, lagen in tiefer Dunkelheit. Dann und wann schlug ein Hofhund an, verstummte aber bald wieder. Je näher der einsame Wanderer seiner Villa kam, desto mehr beschleunigte er seinen Schritt, es geschah dies aber ihm selbst vollkommen unbewußt. Endlich bei einer Biegung des Weges sah er das hübsche weiße Haus vor sich liegen.

Was war das? Ein paar Fenster waren erleuchtet, und nicht etwa im obern Stockwerk, wo die junge Frau wohnte, es war unten, in seinem Salon. Und jetzt, waren das nicht verlorene Klänge, die der Nachtwind ihm zutrug? Mit verhaltenem Atem, so leise, als könne sein Schritt die Töne verscheuchen, schlich der [56] Doktor näher. Und jetzt stand er dicht unter den Fenstern, hob sich ein wenig auf den Fußspitzen empor und sah und hörte. Gabriele saß vor dem geöffneten Flügel und begann leise ein Vorspiel. Der Lauscher konnte sie im Profil sehen, das feine Gesichtchen war ernst und gedankenvoll, die dunkeln Brauen ein wenig zusammengezogen. Die Art, wie sie die Hände leicht und sicher über die Tasten gleiten ließ, verriet die fertige Pianistin. Jetzt hob sich eine leidenschaftlich traurige Melodie hervor und dann begann sie zu singen.

In weichen vollen Alttönen, die eine innerliche Fülle der Empfindung verrieten, schwebte es herab durch das halboffene, Fenster zu dem atemlosen Zuhörer – es war eine Ballade, die Gabriele sang, der „König von Thule“.

Die Melodie war dem Lauschenden fremd, aber das that ihm, nichts, sie wußte so ergreifend zu erzählen, trotzdem oder vielleicht weil sie so einfach war. Und die Stimme, die Stimme! Sie durchschauerte ihn, sie traf ihn bis ins innerste Herz. Er hob den Blick zu den Sternen empor und fühlte die lauen Lüfte der Sommernacht um seine Stirn wehen, ein lieblicher Rosenduft umschmeichelte ihn …. den liebte Gabriele auch, den hatte ihr Haar damals gehabt, als das Gewitter losbrach und er sie in seinen Armen hielt.

„Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut –“

sang die Stimme. Welch ein Wort das war: letzte Lebensglut! Wohl mußte es schön sein, die noch einmal vor dem Tode zu trinken! Und er, der hier stand, der entsagende Mann, der mit dem Leben abgeschlossen zu haben meinte und sich auf eine weltfremde Insel gerettet hatte, er fühlte es jetzt, wie die „Lebensglut“ in ihm emporloderte, heiß, unbezwinglich, und mit einem heftigen Schreck über sich selbst wandte er sich ab und trat vom Fenster zurück.

Er hatte eine schlaflose Nacht danach, aber in diesen Stunden hatte er Zeit gefunden, seine Entschlüsse zu fassen. Fort konnte er nicht, dann wäre auch Gabriele nicht länger in der Villa geblieben. Und sie fortschicken – unter welchem Vorwande konnte er das thun? Das Stillleben und die Luft von Buen Retiro thaten ihr offenbar gut, sie war sichtlich rosig und blühend geworden in der letzten Zeit. Um alles in der Welt durfte sie nicht ahnen, wie es um ihn stand. Gleich den meisten Männern reiferen Alters fürchtete auch Cornelius Röder nichts so sehr als den Gedanken, sich lächerlich zu machen – vieles andere ertrug er lieber als gerade das. Und wenn er, der sich bisher so gut als den väterlichen Freund aufgespielt hatte, der Gabrielens Vater sein konnte, jetzt plötzlich Miene machte, ihr zu huldigen, ihr seine Ritterdienste zu widmen, dann war er sicherlich dem Fluch der Lächerlichkeit verfallen! Also galt es, dem Zusammensein mit der jungen Frau möglichst auszuweichen, oder, falls dies nicht thunlich war, dies Zusammensein nach Kräften abzukürzen. Das würde schon zu machen sein. Unter dem Vorwand vermehrter Arbeit konnte er die Mahlzeiten, die sich seit einigen Tagen zuweilen in die Länge gezogen hatten, beschleunigen und jedem intimeren Gespräch dadurch, daß er sich sofort auf sein Studierzimmer zurückzog, ein Ende machen. Im Garten kannte er Gabrielens Lieblingsplätze genau und konnte es vermeiden, sie dort zu treffen. Auch würde er des öfteren nach der Stadt gehen. Zwar war ihm der verflossene Tag endlos lang und ziemlich öde erschienen, aber das half nun alles nichts, er mußte trachten, sich selbst zu entfliehen, und dazu durfte kein Mittel unbenutzt bleiben.

Wäre er streng mit sich selbst ins Gericht gegangen, er hätte sich’s gestehen müssen, daß es schon seit jenem Gewitterabend um sein inneres Gleichgewicht geschehen war, allein er scheute sich, die Sonde in die frische Wunde zu stecken, um zu untersuchen, wo sie begann und wie tief sie ging. Es war schlimm genug, daß überhaupt eine Wunde da war! Er hatte sie entdeckt, da er den leidenschaftlichen Ton dieser dunklen Stimme vernommen hatte, und er wünschte von ganzer Seele, er hätte Gabriele Hartmann nie singen gehört.

Am andern Tage that er sehr geschäftig mit seinen Arbeiten, obgleich er nur ein paar Seiten Manuskript zustande brachte, die er beim späteren Ueberlesen erbarmungslos wieder durchstrich, da sie ihm durchaus ungenügend erschienen.

Ihm war unruhig und seltsam erwartungsvoll zu Sinn; es litt ihn nicht bei seinen Büchern, es litt ihn überhaupt nicht im Hause. Trotzdem es ein sehr warmer Tag war, machte er schon vor Tisch einen weiten Spaziergang und kam so erhitzt und erschöpft heim, daß er sich bei seinem Gast entschuldigen ließ: er müsse sich völlig umkleiden und bitte Frau Hartmann, allein zu speisen.

Was Mamsellchen ihm in seinem Studierzimmer auftrug, genoß er nur zum Teil, „ohne Sinn und Verstand“, wie sie im stillen sagte, dann warf er sich auf sein Sofa und sank in einen bleiernen Schlaf, aus dem er erst in später Nachmittagsstunde erwachte.

Er konnte sich nicht überwinden, Gabriele aufzusuchen, sondern schlich heimlich, ohne Kaffee oder sonstige Erfrischung, durch die Hinterpforte seines Gartens und wanderte ziellos durch den Wald, um erst kurz vor Sonnenuntergang heimzukehren. An der letzten Biegung des Weges blieb er überrascht stehen: eine schlanke weibliche Gestalt lehnte gegen einen der Ahornstämme – Gabriele, die offenbar auf ihn gewartet hatte.

Wenn ihm bei ihrem unerwarteten Anblick das Blut ungestüm aufwallte und er bestrebt war, ihr diese seine Erregung zu verbergen, so konnte es ihm doch nicht entgehen, daß auch sie befangen war, offenbar noch befangener als er.

Sie tauschten einen höflichen Gruß miteinander, und dann standen sie Auge in Auge, stumm, keiner fand ein harmloses Wort.

„Ich habe Sie hier erwartet,“ begann endlich die junge Frau, „ja, ich erwartete Sie hier – um – um – ich wollte Ihnen etwas sagen, das –“

Ihre hilflose Verlegenheit rührte ihn und nahm ihm die eigene Unsicherheit.

„Nun, was ist’s denn damit, Frau Gabriele? Sie sind ja ganz aufgeregt, das darf ich nicht dulden! Sie wissen, ‚keine Erregung!‘ hat Ihr Arzt gesagt. Was wollen Sie mir mitteilen? Ist’s etwas so Peinliches?“

„Peinlich, ja, das ist das Wort dafür!“ fiel sie ihm hastig in die Rede. „Es fällt mir schwer, Ihre Güte, die Sie mir bisher erwiesen haben –“

„Aber ich bitte Sie um alles, worin besteht denn diese meine sogenannte Güte? Ich habe ein Landhaus und Sie machen mir die Freude, mit darin zu wohnen, das ist alles! Sie, meiner lieben Margot Tochter! Sie könnten ganz andere Dinge von mir verlangen, und ich würde sie thun!“

„Gewiß würden Sie das, ich weiß! Und doch – dies – dies –“

„Sie müssen wenig Vertrauen in meine gerühmte Güte setzen, wenn Ihnen ein offenes Wort so schwer fällt!“

„Gut also, ich will offen sein.“ Sie warf ein wenig den Kopf zurück und faßte sichtlich einen tapfern Entschluß. „Ich habe Ihnen bis jetzt noch nichts Näheres über meine Vergangenheit erzählt, ich hatte meine Gründe dafür, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie nicht fragten. Daß ich zuletzt in Bremen war, wissen Sie. Ich fand dort einige Bekannte wieder, die mir bereits in Brüssel nähergetreten waren – das heißt, für dies Nähertreten waren mehr äußerliche Gründe maßgebend. Sie sind gut gegen mich gewesen und ich bin ihnen Dank schuldig. Während der langen Krankheit meines Mannes und nach seinem Tode haben sie sich meiner angenommen, ich darf ihnen das nicht vergessen. Auch für die Zukunft kann ich ihren Rat, ihre Hilfe kaum entbehren, ich sage Ihnen wohl später, warum! Und eben diese Bekannten – es ist ein Ehepaar und dann der Bruder der Frau –“

Sie war mit dem Atem zu Ende, so rasch hatte sie gesprochen, das liebliche Gesicht war über und über rosenrot. Röder stand da und sah sie selbstvergessen an – „trank letzte Lebensglut“ klang es in ihm.

„Was werden Sie nur von ihnen denken, wie sie beurteilen? Mein Arzt in Bremen, der meine Adresse wußte, dem ich von Ihnen erzählte, hat sie hierhergewiesen, und nun, da sie augenblicklich alle drei ohne Beschäftigung sind – und ihre Lebensauffassung ist so – so frei, so ohne Bedenken und viele Formen – da sind sie plötzlich heute unerwartet gekommen, mich zu besuchen. Sie fuhren vor etwa zwei Stunden hier vor, sind ganz entzückt, mich wiederzusehen, schwärmen von dem ‚Idyll‘, in dem ich hier lebe – und ich fürchte – ich glaube –“

„Aber das trifft sich ja prächtig!“ unterbrach er sie lebhaft. „Ich hab’ es schon lange Ihrethalben gewünscht, ‚Buen Retiro‘ möchte mehr Gäste haben, damit Sie etwas mehr Zerstreuung fänden, jetzt, da Sie kräftiger und frischer sind! Raum haben wir in Hülle und Fülle, die Zimmer sind, dank dem mitgebrachten Ueberfluß von meinem väterlichen Gut, aufs beste ausgestattet, und Mamsellchen klagt täglich, sie führe ein zu bequemes Dasein und es fehle ihr an Beschäftigung. Ich bin glücklich, geradezu glücklich, Ihnen endlich einen kleinen Gefallen erweisen zu können,

[57]

Eine Sprechstunde im Sebastianeum zu Wörishofen.
Nach einer Originalzeichnung von Ismael Gentz.

[58] und ich bitte Ihre Freunde, über mich und meine Villa nach Belieben zu verfügen!“

Er sagte das aus voller Ueberzeugung. Aus einem überaus gastfreien Hause stammend und in früheren Jahren selbst ein Freund geselligen Verkehrs, begrüßte er jetzt diese Nachricht mit doppelter Bereitwilligkeit; er freute sich wirklich, Gabriele einen Dienst erweisen zu können, und die Anwesenheit der Fremden überhob ihn außerdem der Verlegenheit des Alleinseins mit der jungen Frau, wovor ihm so bange gewesen war. Blieb auch die Art und Weise dieser „guten Bekannten“ etwas ungewöhnlich, so ohne weiteres einen Ueberfall in Scene zu setzen und Gabriele, die selbst Gast war, unangemeldet zu besuchen, so hieß es eben, dieses Impromptu mit guter Miene entgegenzunehmen, und Röder, auf der Flucht vor sich selbst und des naiven Glaubens, ein so äußerliches Mittel könne ihm und seinem aufrührerischen Herzen helfen, war ganz bereit, das zu thun. Daß Gabriele mehr niedergeschlagen als erfreut aussah, beachtete er in seinem Eifer kaum.

„Es ist doch viel verlangt,“ bemerkte sie mit einem schwachen Lächeln, „wenn ich auch Ihre Güte kenne –“

„Schon wieder meine ‚Güte‘! Ich möchte Ihnen gern das Wort ganz konfiszieren! Sie wissen doch: Die Freunde unsrer Freunde sind auch die unsrigen!“

„Nun, Freunde – das Wort paßt nicht recht – es sind gute Bekannte, die … Sie werden ja sehen!“

„Und es ist die höchste Zeit, daß ich sehe!“ fiel der Doktor ein und bot ihr den Arm. „Kommen Sie, Frau Gabriele! Ich hoffe, mein Mamsellchen wird bereits ihre Feldherrngabe entfaltet haben – ich muß doch aber selbst ein wenig zum Rechten schauen!“

Sie blickte schüchtern zu ihm auf. „Ich danke Ihnen!“ sagte sie leise.

Er wußte es selbst nicht, daß er den zarten Arm, der in dem seinen lag, leise an sich drückte und zärtlich auf Gabriele niedersah.

(Fortsetzung folgt.)




Trost.

So du ein bleiches Antlitz schaust,
Ein Aug’ voll schwerer Thränen:
Glaub’ nicht, daß du sie auferbaust
Mit leid’gem Wortedehnen.
Ob deine Zunge Glauben träuft,
Ob Weisheit, Herzensgüte –
Dein Trost ist Wind, der Blätter häuft,
Ist eine taube Blüte.

In tiefes Dickicht birgt das Wild,
In Dunkel seine Wunden,
In Höhlen kriecht’s, bis daß es gilt
Zu sterben, zu gesunden.
Der Qual wird Licht zum Dorngeflecht,
Und jeder Ton wird schrille –
Es hat der Schmerz ein heilig Recht
Auf Dunkel und auf Stille.

Das Feuer brennt, die Wange bleicht –
Du machst kein Herz genesen!
Ein Leid, das deinem Trostwort weicht,
Das ist kein Leid gewesen.
Das beste Wort klingt hart und schlecht,
Und ob’s die Liebsten sagen – –
Es hat der Schmerz ein heilig Recht,
Zu bluten und zu klagen.

Weißt du ein Teures schmerzdurchloht,
Nimm’s an dein Herz mit Schweigen;
Sanft über seine Herzensnot
Magst du dich traurig neigen;
Hüll’s ein wie Samt, so weich und still,
Mit Liebe, sonder Werben –
Und laß es, wie es muß und will:
Heilen oder verderben.  Victor Blüthgen.




Vor der Berufswahl.

Warnungen und Ratschläge für unsere Großen.
Die Lehrerin in Deutschland.

Heute noch über die Notwendigkeit der Anteilnahme der Frau an der Erziehung des weiblichen Geschlechts des Längeren und Breiteren zu schreiben, wäre ein unnützes Bemühen. Diese Notwendigkeit ist nicht nur von unseren ersten Pädagogen, sondern auch von den betreffenden Behörden wie von Laien im allgemeinen anerkannt worden. Nur Vorurteil oder Unkenntnis können sie noch bestreiten. Ihre Anerkennung hat denn auch die Zahl der Lehrerinnen in den letzten Jahrzehnten außerordentlich vermehrt.

Aus allen Gesellschaftsklassen wenden die jungen Mädchen sich dem Lehrberufe zu. Ist doch nach der Anschauung der Menge der Erwerb als Lehrerin der „anständigste“ – als ob nicht jeder Erwerb durch redliche Arbeit anständig wäre! – Dann bietet der Lehrberuf verhältnismäßig früh eine wenn auch oft recht kärgliche, so doch geregelte Einnahme und, freilich nur für die Lehrerinnen an öffentlichen Schulen, in den meisten deutschen Staaten sichere Bürgschaft für eine Altersversorgung. Diese Anschauung und der Ausblick auf die beiden Vorteile sind in den meisten Fällen ausschlaggebend bei der Wahl des Lehrberufes für die Tochter.

Die Folge davon ist, daß eine Menge ganz ungeeigneter Elemente in den Lehrerinnenstand gekommen ist und alljährlich kommt, deren Persönlichkeit so wenig wie ihre Leistungen den Anforderungen, die der Lehrberuf an seine Vertreter stellt, entsprechen. Diese Erscheinung kommt wohl auch in anderen Berufszweigen vor. Dabei aber dürfen wir uns nicht beruhigen. Denn die Ausübung des Lehrerinnenberufs ist zu wichtig für das Gesamtwohl der Gesellschaft: so lange unsere Töchter aller Gesellschaftsklassen nicht von tüchtigen Lehrerinnen zu ihrem natürlichen Beruf als Mutter und Hausfrau herangebildet werden – so lange ist nicht an eine Besserung vieler, lebhaft beklagter Uebelstände unserer Gesellschaft zu denken. Es sollte daher bei der Aufnahme in die Lehrerinnenbildungsanstalten, bei der Zulassung zu den Prüfungen und bei der Anstellung der Lehrerinnen durchaus eine gewissenhaftere Auswahl getroffen werden, als es bisher der Fall gewesen ist.

In erster Reihe aber sollen die Eltern ihre Töchter so wenig in den Lehrberuf hineinzwingen, als diese ihn ohne innere Neigung und ohne ganz entschiedene Begabung ergreifen sollten. Das Amt einer Lehrerin ist nicht und darf nicht eine Sinekure sein, in der man, ehe die Hoffnung auf Besseres sich erfüllt, die Zeit hinbringt mit dem Abmachen seiner wöchentlichen Pflichtstunden – sondern das Amt einer Lehrerin ist ein so hochwichtiges, daß nur gerade die Besten zur Ausübung desselben gut genug sind. Es erfordert einen ganzen Menschen mit frischer Lebenskraft, mit warmer Begeisterung und voller Hingabe an die ihm gestellte Aufgabe. Wer das Amt und dessen Aufgaben nicht so auffaßt, der soll davonbleiben, und wenn die geistige Begabung ihm auch noch so glänzende Examina verbürgt. Das Wissen allein macht es hier nicht, sondern vor allem das Können, die Kunst. Zur erfolgreichen Ausübung der Erziehungskunst aber gehört nebst dem Lehrtalent und der warmen Liebe für die anvertrauten jungen Seelen vor allem ein gesunder, widerstandsfähiger Körper. Die gewissenhaften Lehrerinnen wissen selbst am besten, wie empfindlich oft die Ausübung ihrer Pflichten durch eine schwache Gesundheit geschädigt wird. Nervenschwäche, Blutarmut, Bleichsucht, diese schlimmen Feinde alles guten Wollens und Könnens, stellen die Erfolge einer oft noch so treuen Arbeit in Frage, machen letztere wohl gar ganz erfolglos. Und welch’ ein Los wartet einer Lehrerin, wenn sie infolge von Kränklichkeit dienstunfähig geworden und wie leider noch immer die meisten in Deutschland wirkenden Lehrerinnen nicht pensionsberechtigt ist!

Die Wahl des Lehrberufs ohne Rücksicht auf die wirkliche und wahrhafte Befähigung zu demselben hat aber nicht nur ungeeignete Elemente in den Lehrerinnenstand geführt, sondern die Zahl der Lehrerinnen zu einer Höhe gesteigert, die mit der gegenwärtig möglichen Verwendung derselben in argem Mißverhältnis steht und die Aussicht auf Anstellung oder eine hinreichend gesicherte Einnahme zu einer sehr ungünstigen macht.

[59] Nach den neuesten Erfahrungen sind wir zu der sicheren Hoffnung berechtigt, daß in Zukunft – wenn auch noch in etwas ferner – die Stellung der Lehrerinnen eine bessere, ihre Verwendung eine allgemeinere werden wird. Demgemäß wird auch ihr Bildungsgang ein anderer werden müssen, denn der bisherige entspricht nicht den gesteigerten Anforderungen an ihr Wissen und Können. Auf Grund der bisherigen Bestimmungen können die Lehrerinnen sich das Zeugnis der Befähigung a!s Volksschullehrerin, als Lehrerin an den Mittel- und höheren Mädchenschulen und das Schulvorsteherinnen-Zeugnis erwerben, das in Verbindung mit dem vorhergenannten zur Leitung einer Volks- oder Mädchen-Mittelschule berechtigt. Nach den neuesten Bestimmungen in Preußen ist die Leitung einer höheren Mädchenschule auch Lehrerinnen unter Voraussetzung des Nachweises der wissenschaftlichen Prüfung gewährleistet, wie die wissenschaftliche Prüfung auch zur Anstellung als Oberlehrerin und somit zum wissenschaftlichen Unterricht in den oberen Klassen der höheren Mädchenschulen berechtigt.

Die einzelnen Unterrichtsfächer, für welche Befähigungszeugnisse erworben werden können, sind die fremden Sprachen, Handarbeit, Zeichnen und Turnen. Der Bedarf an Turnlehrerinnen wird in Zukunft jedenfalls bedeutend zunehmen, da die Forderung, daß die Mädchen von Lehrerinnen im Turnen unterrichtet werden sollen, mehr und mehr von den Behörden als durchaus berechtigt anerkannt wird. Prüfungen für Turnlehrerinnen finden für Preußen in Berlin in der Turnlehrer-Bildungsanstalt und in Bonn vor einer Prüfungskommission statt. Zugelassen werden Bewerberinnen, die bereits die Befähigung zur Erteilung von Schulunterricht vorschriftsmäßig nachgewiesen haben, wie auch solche, die eine gute Schulbildung nachweisen und das 19. Lebensjahr überschritten haben. Kurse zur Ausbildung von Turnlehrerinnen werden in Berlin in der Kgl. Turnlehrer-Bildungsanstalt und von Frau Heßling, Möckernstr. 135, in Königsberg i. Pr. von Fr. Dr. Stobbe und in Wolfenbüttel in Frl. Vorwerks Schule abgehalten.

Die Ausbildung der Lehrerinnen Deutschlands findet in staatlichen, städtischen und Privatanstalten statt; von ersteren bestehen in Preußen 9 neben 106 Lehrerseminaren, in den Reichslanden und in Bayern je 3, in Sachsen und Württemberg je 2. Die Lehrerinnen der andern Länder holen sich ihre Bildung in städtischen und Privatseminaren in zwei- bis dreijährigem Kursus. Die Verwendung von Lehrerinnen hat bei der wachsenden Anerkennung des Princips von seiten der Schulverwaltungen ganz bedeutend zugenommen. Es wirken ungefähr 80 000 Lehrerinnen in Deutschland, von denen etwa 17 000 an Volksschulen und etwa 6000 an mittleren und höheren öffentlichen Mädchenschulen, etwa 55 000 an Privatschulen und als Erzieherinnen beschäftigt sind. Oberlehrerinnen giebt es zur Zeit nicht – einige Lehrerinnen sind auf Grund ihrer außerordentlichen Verdienste mit dem Titel „Frau Oberlehrerin“ belehnt worden. Mit den Bestimmungen vom 31. Mai v. J. über das Mädchenschulwesen etc. hat der preußische Unterrichtsminister auch eine „Ordnung der wissenschaftlichen Prüfung der Lehrerinnen“ erlassen, welche, wie es in den Bestimmungen, heißt, „ihr Ziel, den öffentlichen höheren Mädchenschulen wissenschaftlich durchgebildete weibliche Lehrkräfte zuzuführen, noch besser erreichen wird, wenn gleichzeitig im Besoldungsetat dieser Schulen einige Stellen als Oberlehrerinnenstellen bezeichnet und nur mit Lehrerinnen besetzt werden, welche ihre Befähigung durch Ablegung der wissenschaftlichen Prüfung nachgewiesen haben.“

Diejenigen Anstalten, die den Lehrerinnen die wissenschaftliche Bildung vermitteln sollen, müssen erst noch geschaffen werden und werden voraussichtlich nicht lange auf sich warten lassen. Die Veranstaltungen, die zum Teil von den Lehrerinnen selbst, zum Teil auf deren Wunsch getroffen worden sind, um die Lücken der Seminarbildung auszufüllen, wie z. B. die Fortbildungskurse am Viktoria-Lyceum in Berlin und an der Universität in Göttingen können nicht ausreichen, wenn Oberlehrerinnen in genügender Anzahl ausgebildet werden sollen. Zudem ist es doch wohl Sache des Staates, für die Ausbildung von Lehrerinnen zu sorgen.

Was nun die definitive Anstellung an den öffentlichen Schulen anbetrifft, so gelangen die Lehrerinnen in Preußen am ehesten und leichtesten zu derselben, indem sie nur eine Prüfung und eine zweijährige Dienstzeit zurückgelegt haben müssen. In den meisten anderen Staaten ist die definitive Anstellung entweder von einer zweiten Prüfung abhängig oder erst nach drei- bis fünfjähriger Dienstzeit möglich.

Wohl ist mit der zahlreicheren Verwendung der Lehrerinnen das Gehalt derselben gestiegen; es bleibt aber auch in dieser Beziehung noch viel zu wünschen übrig. Das Höchstgehalt wird in Sachsen gezahlt und beträgt für die Lehrerinnen an der höheren Mädchenschule in Leipzig 2700 Mark, wie denn Sachsen auch der einzige Staat in Deutschland ist, in dem die Lehrerinnen mit den Lehrern im Gehalt gleichgestellt sind. In Württemberg wird außer dem baren Gehalt, der deshalb verhältnismäßig niedrig erscheint, meist freie Wohnung und Heizung gewährt. Dies ist zu berücksichtigen, wenn wir feststellen, daß das Mindestgehalt der Volksschullehrerinnen zwischen 600 Mark (Württemberg) und 1600 Mark (Dresden) schwankt, das für Lehrerinnen an höheren Schulen zwischen 1050 (Halle), und 1600 (Ber(in), das Höchstgehalt der Volksschullehrerinnen dagegen zwischen 900 Mark bei freier Wohnung (Stuttgart) und 2600 Mark (Frankfurt a/M.), das der Lehrerinnen für höhere Mädchenschulen zwischen 1800 (Halle) und 2700 (Leipzig und Hamburg).

In allen Staaten Deutschlands mit einer einzigen Ausnahme sind die an öffentlichen Schulen definitiv angestellten Lehrerinnen pensionsberechtigt. In Preußen und in den Reichslanden hebt die Verheiratung der Lehrerinnen nicht wie in den anderen Staaten die Pensionsansprüche auf. Die Termine der Pensionsberechtigung wie die Höhe der Pension sind je nach dem Gehalt verschieden in den verschiedenen Ländern. Im allgemeinen tritt die Pensionsberechtigung bei Dienstunfähigkeit nach dem zehnten Dienstjahr ein. Das 65. Lebensjahr ist der Pensionstermin bei körperlicher Rüstigkeit. In Württemberg haben die Lehrerinnen zwar keinen Anspruch auf Pension, bei Dienstunfähigkeit aber haben sie, ledigen Standes und unbescholtenen Rufes, die Bewilligung eines jährlichen „Gratials“ aus der Staatskasse zu gewärtigen.

Die große Zahl der an Privatschulen und als Erzieherinnen beschäftigten Lehrerinnen muß für ihre Altersrente selbst sorgen. Gelegenheit dazu bietet ihnen die unter dem Protektorate der Kaiserin Friedrich stehende Allgemeine deutsche Pensionsanstalt für Lehrerinnen und Erzieherinnen, die ihre Centralleitung in Berlin (W. Behrenstr. 72) hat. Die Anstalt beruht auf den solidesten Grundlagen und bietet sichere Bürgschaft. Sie hat außerdem einen Hilfsfonds, aus dem in Krankheitsfällen die Beiträge der Mitglieder und auch direkte Unterstützungen gezahlt werden. – Außerdem bestehen einzelne Stiftungen zu gunsten dienstunfähiger Lehrerinnen, und endlich sind aus den Kreisen der Lehrerinnen selbst in allen Teilen Deutschlands Unterstützungskassen gegründet, die entweder Pensionen oder in Krankheitsfällen Unterstützung gewähren, von denen besonders die ganz Deutschland umfassende Allgemeine deutsche Krankenkasse für Lehrerinnen und Erzieherinnen zu nennen ist, die in Frankfurt a. M. ihren Sitz hat. In Württemberg erstand im vorigen Jahre ein „Lehrerinnenheim“ für erholungsbedürftige Lehrerinnen in Friedrichshafen am Bodensee.

Mit der wachsenden Anerkennung der Lehrerinnen, die sich vor allem in der vermehrenden Verwendung derselben kund giebt, ist ihr Standesbewußtsein beträchtlich gewachsen. Dieses Wachstum hat wiederum den Gemeinsinn unter den Lehrerinnen geweckt, der von Jahr zu Jahr sich lebhafter bethätigt durch allerlei gemeinnützige Veranstaltungen, so vor allem auch in der Gründung von Feierabendhäusern.

Zur Förderung dieses Wachstums trägt jedenfalls der „Allgemeine deutsche Lehrerinnenverein“ sehr viel bei. Derselbe wurde Pfingsten 1890 in Friedrichroda gegründet und es wurde ihm die Aufgabe gestellt, den Lehrerinnenstand nach jeder Richtung hin zu heben. Dieser seiner bedeutsamen Aufgabe sich voll bewußt, ist der Verein unablässig bemüht, nicht nur seine Bestrebungen in immer weitere Kreise der Lehrerinnen hineinzutragen, sondern auch bei den Behörden um Abhilfe von allen den Stand wie die Aufgabe der Lehrerinnen schädigenden Uebelständen wieder und wieder zu bitten, so daß derselbe heute bereits über 7000 Mitglieder zählt und 49 Zweigvereine sich ihm einverleibt haben. Auch die Neuordnung des Prüfungswesens wie der Stellung der Lehrerinnen in Preußen sind nicht zum wenigsten seinen Bestrebungen zu verdanken. – Als eine hervorragend segensreiche Einrichtung des Allgemeinen deutschen Lehrerinnenvereins darf auch die Stellenvermittelung angesehen werden, die gegen den Unfug gewissenloser Agenten Abwehr schaffen will und schafft. Ihr Centralbureau ist in Leipzig, Pfaffendorferstr. 17; in allen Teilen Deutschlands hat sie ihre Agenturen und Sprechstellen. Im Jahre 1893/94 war es ihr möglich, 654 Mitgliedern des Vereins, die sie ausschließlich berücksichtigt, Stellen zu verschaffen, von denen 219 durch den Verein deutscher Lehrerinnen in England, 60 durch den Verein deutscher Lehrerinnen in Frankreich und 15 durch den Verein deutscher Lehrerinnen in Italien vermittelt wurden. Diese drei Vereine sind Zweigvereine des Allgemeinen deutschen Lehrerinnenvereins. Leider wird die Stellenvermittelung des Vereins immer noch nicht von seiten der Familien wie Schulen soviel in Anspruch genommen, als es in deren und der Lehrerinnen Interesse wünschenswert wäre. Jedenfalls ist ihre Inanspruchnahme sehr zu empfehlen, denn sie verfährt bei den Vermittelungen sowohl für die Auftraggeber als die Lehrerinnen durchaus gewissenhaft.

Ist das, was die Lehrerinnen mit vereinter Kraft, in gemeinsamen Bestrebungen erreicht haben, als dessen Höhepunkt wohl die neuesten Bestimmungen des preußischen Kultusministers angesehen werden dürfen, auch über alles Erwarten viel, so bleibt ihnen noch unendlich mehr zu thun. Denn nun gilt es, sich gemeinsam zu regen in ernster Arbeit, um zu beweisen, daß sie das leisten können, was sie erstreben, und auf eine ersprießliche Reform der Bildungsanstalten hinzuarbeiten, welche die Lehrerin dafür geeignet machen sollen.

Hier aber galt es, nur einen Ueberblick des Bestehenden zu geben, zur praktischen Verwertung für Eltern und deren Töchter, die, vor der ernsten Berufswahl stehend, sich die Frage vorlegen: was kannst du als Lehrerin in deinem Vaterlande erreichen? Marie Loeper-Housselle.     




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Ein Tag in Wörishofen.

Von Max Haushofer.
(Mit den Bildern S. 57 und S. 61.)


Breit liegen die Herbstnebel auf der südbayerischen Hochebene, während der dröhnende Bahnzug uns westwärts trägt. Station um Station fliegt vorüber. Wie eine Gespensterlandschaft erscheint im Süden der Spiegel des Ammersees, dann die alten Türme des Städtchens Landsberg am Lech, jene Türme, die einst von den Frauen und Mädchen Landsbergs so heldenmütig gegen die Schweden verteidigt wurden. Noch etliche Stationen – dann hält unser Zug in Türkheim. Außer dem Stationsgebäude ist fast nichts zu sehen als Wald, dunkler nebelumrauchter Fichtenwald. – Ein Dutzend Fuhrwerke hält am Bahnhofe: gelbe und blitzblaue Kästen, Ein- und Zweispänner. Wir entschließen uns zu keinem derselben, sondern fragen einen Gendarmen, der sich mit einem Kutscher friedlich unterhält, um die Straße nach Wörishofen. Der Diener der öffentlichen Sicherheit weist uns ein Sträßchen, das vom Bahnhof in südlicher Richtung waldeinwärts läuft. Eine gute Stunde sei’s nach Wörishofen, und nicht zu fehlen.

Eine Schar von Kutschern lädt uns mit schmeichelhaften Handbewegungen zum Einsteigen ein. Wir danken so höflich, wie die doch nicht ganz selbstlose Einladung verdient, und wandern zu Fuß weiter. Bald umfängt uns ein lockerer melancholischer Wald, eigentlich nur einzelne Gruppen von Bäumen, mit weiten Ausblicken in ein Nebelmeer. Das Sträßchen ist spottschlecht, mit grobem Schotter bedeckt, mit großen Pfützen durchsetzt, so daß es wohl eine halbe Stunde währt, bis uns der letzte der langsam einher holpernden Wagen überholt hat. Und nun lichten sich Wald und Nebel, im Südwesten sehen wir weites Blachfeld sich ausdehnen und am Rande der Ebene, wo die Landschaft wieder hügelig wird, ein schwäbisches Bauerndorf mit einigen ragenden Türmen, weißen Häusern und roten Ziegeldächern. Das ist Wörishofen.

Vor undenklicher Zeit mag wohl ein mächtiger, aus den Lechthaler Alpen niederbrausender Gletscherstrom seine Geschiebe hier niedergelegt haben. Jetzt ist dieser Strom verschwunden; am westlichen Ufer seines meilenbreiten, längst vom Bfluge gefurchten Bettes liegt Wörishofen, halb in der Ebene, halb an die angrenzende Hügellehne hingebaut. Statt des verschwundenen Gletscherstromes fließt mitten durch das Dorf nur ein sanftes Wässerlein, der Wettbach, welcher, so bescheiden er auch daherströmt, doch genug Wasser für die Kuren des großen Heilkünstlers von Wörishofen mit sich führt.

Wörishofen gehört in das bayerische Bezirksamt Mindelheim, im Kreise Schwaben. Die Lage des Ortes ist nicht gerade romantisch, aber freundlich, und bei klarem Wetter grüßt von Süden her die langgestreckte Kette der bayerischen und schwäbischen Alpen, überragt von der mit ihren Felsmauern und Schneefeldern großartig aufstrebenden Zugspitze. Der Ort hat etwa 1000 Einwohner, eine hübsche Pfarrkirche und daneben ein weitläufiges Kloster, in welchem Nonnen vom Orden der Dominikanerinnen eine Erziehungsanstalt für verwaiste und verwahrloste Mädchen errichtet haben, daneben auch eine Haushaltungs- und Molkereischule unterhalten und sogar der Kunst des Biersiedeus obliegen.

Das alles würde dem Orte zu keiner Berühmtheit verholfen haben. Eine solche gewann derselbe erst, als sein jetziger Pfarrherr, Sebastian Kneipp, anfing, mit erstaunlichem Erfolge als Heilkünstler aufzutreten. Seit jener Zeit ist Wörishofen im Laufe wenig6er Jahrzehnte zu einem der besuchtesten Kurorte Deutschlands geworden.

Sebastian Kneipp hat im Jahre 1821 als Sohn einer armen Weberfamilie in dem Dörfchen Stephansried das Licht der Welt erblickt. Erst ward er Weber und spät gelang es ihm, doch noch die geistlichen Studien zu vollenden und im Jahre 1852 die Priesterweihe zu erhalten. Er wurde zunächst Beichtvater des Dominikanerinnenklosters zu Wörishofen, seit 1881 auch Pfarrer des Orts.

Zur Thätigkeit auf dem Gebiete der Heilkunde führte ihn, wie er erzählt, die Sorge um die eigene Gesundheit, welche in seiner anstrengenden Studienzeit einigermaßen gelitten hatte. Er probierte an sich selber die Kaltwasserheilmethode, die ja an sich nichts Neues war; er entwickelte sie selbständig weiter, und als er an sich die schönsten Erfolge sah, gab er auch Anderen Rat. Einige gelungene Kuren verschafften ihm Ruf in weiteren und immer weiteren Kreisen, und heute ist der schlichte Webersohn eine europäische Berühmtheit, wie es einst der „Wasserdoktor“ Vincenz Prießnitz zu Gräfenberg in Schlesien war; Tausende und aber Tausende wallfahrten nach seinem schwäbischen Dorfe, um Heilung bei ihm zu suchen; wenn er Vortragsreisen nach den großen Städten unternimmt, findet er überall mächtigen Zulauf, in Rom zeichnete ihn sein höchster Oberhirt aus; der Ehrentitel eines Prälaten ward ihm zu teil; sein erstes Buch „Meine Wasserkur“ erlebte im Laufe weniger Jahre mehr als fünfzig Auflagen.

Das waren große und seltene Erfolge. Den Mann konnten sie nicht verändern, aber sein heimisches Wörishofen haben sie gründlich umgestaltet. Aus dem schwäbischen Bauernnest ist ein strebsamer Kurort geworden.

Schon von weitem fallen uns zahlreiche Neubauten auf. Wir nähern uns dem Orte und begegnen städtisch gekleideten Herren und Damen, sämtlich barfüßig oder mit nackten Füßen in Sandalen gehend, die Damen auch barhäuptig. Ein flüchtiger Blick in die Auslagen der Ladengeschäfte belehrt uns sofort, daß hier alles dem Kurgebrauche dient und von der Kneippkur lebt. Die Schuhmacher führen nur Sandalen, die Krämer nur kurmäßige Artikel: Kneippwäsche, Kneippkaffee und dergleichen.

Das Barfußlaufen, welches hier Sitte und Kurgebrauch ist, hat offenbar einen vernünftigen Sinn insofern, als es den Menschen immerfort darauf aufmerksam macht, wie wertvoll für ihn überhaupt eine naturgemäße Tracht und eine naturgemäße Lebensführung sei. Für zarte Damenfüße bietet die beschotterte Landstraße namentlich eine recht wünschenswerte Gelegenheit zur Abhärtung.

Wir wandern weiter durch den Ort, indem wir uns fast genieren, Stiefel an den Füßen zu haben, weil wir sehen, daß einigemal teils vorwurfsvolle, teils bemitleidende Blicke auf unserer ketzerischen Fußbekleidung haften.

Zu unserer Linken zeigt sich nun die Pfarrkirche, ein teilweise ehrwürdiger Bau aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts, zum Teil auch renoviert. Um die Kirche ist der kleine Friedhof des Ortes gelagert; und da uns die Neugier plagt, zu sehen, ob interessante Kurgäste hier begraben seien, steigen wir zu dem erhöhten Friedhof hinan. Aber unsere Neugier ist enttäuscht; hier schlummern bloß Einheimische den ewigen Schlaf. Von Fremden stirbt, wie es scheint, niemand in Wörishofen. Oder werden diese Toten nur in ihrer eigenen Heimat begraben?

Das Kloster, welches unmittelbar neben der Pfarrkirche, nur durch eine Gasse von ihr getrennt liegt, ist ein weitläufiger unschöner Bau aus dem vorigen Jahrhundert, aber mit einer hübschen zopfigen Kirche. Der aus einigen Fenstern des Klosters qualmende lebhafte Malzgeruch deutet an, daß man drinnen mit Bierbereitung beschäftigt ist. Vergeblich aber ist unser Bemühen, eine der frommen Schwestern bei dieser profanen Beschäftigung zu beobachten, das Fenster ist zu dicht vergittert und verqualmt.

So wenden wir uns nach dem Westende des Dorfes. Hier ist alles im Werden und Bauen begriffen. Zwischen den alten Bauernhäusern erheben sich frischgetünchte Neubauten städtischen Aussehens mit Kaufläden und Restaurationslokalen. Auf einem größeren Platze sind Turngerüste aufgestellt, einige barfüßige Kurgäste schwingen sich da eifrig an Reck und Barren. Eine Seite dieses Platzes wird von einer mit gläsernen Wänden

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Ansprache des Pfarrers Kneipp in der offenen Halle zu Wörishofen.
Nach einer Originalzeichnung von Ismael Gentz.

[62] versehenen Wandelbahn begrenzt. Wir werfen einen Blick in dieselbe und sehen etwa fünfzig Kurgäste, der Kleidung nach offenbar aus allen Ständen: Barfüßig mit schwingenden Armen und schweigendem Munde, umkreisen die meisten von ihnen im Geschwindschritt die Holzsäulen der Wandelbahn offenbar an nichts anderes denkend als an die Zahl ihrer Wandelgänge.

Wir gehen weiter. Durch eine Bodensenkung fließt ein klarer Bach; an seinen Ufern ist er von Neubauten gesäumt, unter ihnen das stattliche „Sebastianeum“. Dasselbe ist ein modernes, ausschließlich den Kurzwecken dienendes Gebäude, in welchem geistliche und arme Patienten unentgeltliche Verpflegung finden. Hier ist auch das Ordinationszimmer, wo der Prälat täglich seine Sprechstunde abhält. Er hält diese Sprechstunde aber nicht allein, sondern sitzt an seinem Tische umgeben von einer Art Stab aus jüngeren Geistlichen und Aerzten bestehend. Während er selbst die in strenger Reihenfolge vor ihn hintretenden Patienten um ihre Krankheitsgeschichte befragt und mit seinen lebhaften Augen das Krankheitsbild überfliegt, welches die Person des einzelnen Patienten ihm bietet, schreibt einer seiner geistlichen Adjutanten auf seinen Wink die Behändlungsmethode nieder. Sie wird mittels besonderer Zeichen in ein kleines Buch eingetragen, welches jeder Patient vor der ersten Consultation erhält. Die Vollstreckung der Kur nach diesen Anweisungen liegt dann teils in den Händen von Badewärtern, teils ist sie Aufgabe des Patienten selbst.

Wir wandern am Kurhause vorbei. Hinter demselben steigt die Landschaft zu einem bewaldeten Höhenzuge auf. Hier, am Westende des Ortes, erhebt sich aus jungen Anlägen der schöne Bau des Kinderasyls, das ebenfalls unter Kneipps Leitung steht.[1] Während wir vorbeigehen, sitzen auf der Freitreppe vor dem Asyl etliche Kinder mit blassen kranken Gesichtern; eine der dienenden Ordensschwestern steht bei ihnen.

Es wird indessen Zeit, daß wir uns nach der großen Halle verfügen, wo Pfarrer Kneipp seine tägliche Ansprache an die Kurgäste zu halten pflegt. Wir wandern zurück über den Bach. Jetzt fällt uns eine Warnungstafel auf mit der Inschrift: „Wassertreten ist hier verboten“. Es scheint demnach, daß vor Erlaß dieses Verbots einzelne Kurgäste, von lobenswürdigem Eifer beseelt, im Bache selbst spazieren gegangen sind. Etwas anderes kann man ja unter „Wassertreten“ hier nicht wohl verstehen.

Eine Tasse Kaffee, die wir unterwegs in einem Kaffeehause zu genießen versuchen, versetzt uns in eine höchst melancholische Stimmung. Denn da Kneipp ein entschiedener Gegner des wirklichen Kaffees ist, setzt man uns ein Getränk vor, welches niemals eine Kaffeebohne gesehen hat. Das ist der berühmte „Kneipp-Käffee“.

In der Nähe des Klosters liegt die große Wandelbahn, wo der Pfarrherr jeden Nachmittag seine Ansprache hält. Schon auf dem Wege dahin wird uns klar, daß wir uns dem wichtigsten Ereignis nähern, welches ein Tag in Wörishofen bietet. Denn von allen Seiten her strömen in Scharen die Kurgäste, arm und reich, krank und halbkrank. Hier sieht man aristokratische Erscheinungen in kokett zusammengestellten Kurtoiletten; dazwischen Kleinbürger und auch manchen armen Menschen, der vielleicht seine letzten Pfennige verausgabt hat, um die Fahrt nach Wörishofen zu bezahlen. Und man hört hier neben deutschen italienische und russische, englische und böhmische Laute. Man sieht aber auch vieles, fast alles, was das menschliche Elend an körperlichem Siechtum bietet, und was oft genug mit Entsetzen erregender Deutlichkeit aus gelben, fahlen, gedunsenen und sonst entstellten Gesichtern, aus gelähmten, schwerfällig nachgeschleppten Gliedern spricht. Besonders stark ist die Anzahl der Gelähmten, die mühsam ihren Weg hierher suchen. Sehr zahlreich sind aber auch die von bösartigen Hautkrankheiten Heimgesuchten; unter ihnen einzelne, deren ganzes Gesicht von Tüchern mitleidig verhüllt ist. Und der Ausdruck in diesen Gesichtern – von freudigster Zuversicht abgestuft bis zur hoffnungslosen Verzweiflung! In unserer Nachbarschaft sahen wir drei, die unser tiefstes Mitgefühl erregten. Drei junge Männer, alle mit den Anzeichen schwersten körperlichen Leidens behaftet, in ärmlicher Kleidung. Der mittlere, mit einer Soldatenmütze, war hager und totenblaß; aber er ging noch aufrecht; und an jedem seiner Arme hing ihm ein Kamerad, den er noch liebevoll unterstützte. Ein Bild des Jammers und doch wieder so reich an Barmherzigkeit!

Die mächttge Halle hat sich gefüllt. Es ist vier Uhr vorüber lautes Händeklatschen und Beifallrufen verkündet die Ankunft des Pfarrers. Und nun steht der Wasserkurapostel auf seiner Rednerbühne: trotz seiner siebzig Jahre eine kräftige untersetzte Gestalt, mit lebhaften Gebärden und ausdrucksvollen Augen unter buschigen Brauen. Pfarrer Kneipp ist ein Naturredner. Er spricht einen schwäbisch-bayerischen Dialekt; aber doch so deutlich, daß, wer überhaupt der deutschen Sprache mächtig ist, jedes seiner Worte versteht. Kunstlos fügt er seine Sätze; aber er spricht mit Humor und wie ein Mann sprechen kann, der von der Wahrheit und dem Werte dessen, was er sagt, im Innersten durchdrungen ist. Er beginnt, indem er irgend ein Krankheitsbild vor den Augen seiner Zuhörer entrollt und an dieses Krankheitsbild dann seine Lehre von den Segnungen seiner Wasserkur anknüpft. Seine Vorträge gehen nicht über das Begriffsvermögen der einfachsten Menschen hinaus; jeder muß ihn verstehen. Ab und zu apostrophiert er auch in höchst ungenierter Weise ein Mitglied des Zuhörerkreises, mit dem Finger auf dasselbe deutend.

Wir fühlen uns seltsam angemutet von diesem Vortrage. So laienhaft unsere medizinischen Kenntnisse auch sind, ist uns doch, als wären wir Kinder des 19. Jahrhunderts plötzlich zurückversetzt in eine Zeit, in welcher etwa Hippokrates oder Galenus vor einer gläubigen und bewundernden Volksmenge sprach. Und dann denken wir wieder an die Wunderdoktoren des Mittelalters und an die derben Scherze, mit welchen einst Abraham a Santa Clara seine Zuhörerschaft entzückte. Aber zum Lachen ist uns nicht; dafür ist viel zu viel menschliches Elend, zu viel gläubiges Vertrauen um uns her.

Zum Schlusse bietet heute der Redner seinem Publikum noch etwas Besondres. Er hat seinen Vortrag geendet; da stellt sich ihm eine ehemalige Patientin vor, eine fein gekleidete fremde Dame von bescheidenem Wesen. Vor vier Jahren wäre sie nach Wörishofen gekommen, mühsam in einer eisernen Maschine gehend. Jahrelang hätte sie kaum gehen können; alles mögliche hätte sie versucht; in Wörishofen aber war sie gesundet. Mit leiser Stimme erzählt sie das dem Pfarrer, der es laut und fröhlich der Versammlung verdolmetscht.

Seltsam, wie da die Augen der armen Kranken aufleuchten!

Der Prälat geht, gefolgt von seinen eifrigsten Anhängern und Verehrerinnen; die Versammlung löst sich auf. Wir atmen wieder freier, aus dem Gedräng so vieler kranker Menschen uns in die gesunde herbstliche Natur hinausarbeitend. In Scharen pilgert die Zuhörerschaft heimwärts durch die Ortsgassen. Nach einem solchen Vortrage sind sie alle von neuer Lebenshoffnung erfüllt. Die meisten dieser Kranken verehren den Prälaten, wie nur ein heilspendender Patriarch des grauesten Altertums verehrt werden konnte. Aber selbst wir, die wir als Gesunde gekommen sind mit der ganzen Zweifelsucht und kühlen Kritik des Jahrhunderts, können doch ein gewisses wärmeres Interesse nicht von uns abwehren: das Interesse für einen Mann, den ein felsenfester Glaube an seine Mission und an seine vermeintlichen Heilswahrheiten trägt, der aus schlichtesten Verhältnissen heraus zu einer Berühmtheit gekommen ist und in seltener Uneigennützigkeit alles, was ihm zufließt, den Kranken und Elenden zuwendet. Es war nicht unsre Aufgabe, in eine Kritik des Kneippschen Kurverfahrens einzugehen, das unter Umständen sehr verhängnisvoll wirken kann und jedenfalls in seiner Anwendung auf alle möglichen Leiden einer wissenschaftlicheren Kontrolle bedürfte, als des Pfarrers ungenügende medizinische Bildung gestattet; wir wollten bloß den Ort und den Mann schildern und den Zauber, den er auf seine Kranken ausübt.

Während wir über den Einfluß fester Ueberzeugtheit auf fremde Gemüter nachdenken, sinkt die Sonne hinter den schwäbischen Wäldern; die Nebel sind zerrissen und lassen im fernen Süden, gleich einem funkelnden Feenmärchen die Hochgebirgskette mit ihren Schneefeldern zum Vorschein kommen. Einen Augenblick nur – dann, während wir im Postwägelchen wieder der Bahnstation entgegenrasseln, verschwindet das ganze Wörishofen in den Schleiern der Herbstnacht.



  1. Ganz besonders gegen dieses Asyl und die darin geübte Wundbehandlung mit Wasser und ohne antiseptische Verbände werden von wissenschaftlicher Seite neuerdings sehr schwere Bedenken erhoben. D. Red.     




[63]

Um eine Kleinigkeit.

Novelle von Jassy Torrund.

     (Schluß.)

Doktor Böhmer setzte sich nach diesen ersten Vorkehrungen auf den Rand des Bettes und begann, den Körper des Kranken zu reiben, mit breiten, langsamen Strichen das stockende Blut dem Herzen zuzutreiben.

Rieke begriff sofort, daß hier etwas Schlimmes passiert sei, sie verschob ihr Verhör mit Lisbeth nebst dazugehöriger Strafrede, schickte sie in die Apotheke, ohne der Bestürzten Zeit zu lassen auch nur ein einziges Wort zu äußern; sie selber lief in die Küche, so schnell ihre alten Füße sie trugen. Als Lisbeth nach einer Viertelstunde zurückkehrte, geschah es, zu Riekes grenzenlosem Aerger, in Begleitung des Fräuleins von Hagen. „Die hat uns gerad’ noch gefehlt!“ brummte sie und schleuderte dem jüngeren Mädchen einen wütenden Blick zu. Lisbeth zuckte die Achseln. Auf ihrem Weg zur Apotheke hatte sie die Dame getroffen, und als Aurelie sie anredete, hatte sie die gute Gelegenheit wahrgenommen, um ihrem gepreßten Herzen endlich Luft zu machen. Durch geschicktes Ausfragen hatte Aurelie von dem harmlosen schwatzlustigen Ding alles herausbekommen, was sie wissen wollte, daß der Herr so krank, und die gnädige Frau mit der Droschke fortgefahren sei. Das letzte sei noch gewesen, daß die gnädige Frau dem Herrn Medizin gegeben, viele, viele Tropfen – und der Herr hätte „so sonderbar“ ausgesehen und hätte die gnädige Frau „Franziska“ genannt. Und alles sei so kurios gewesen wie noch nie. Daß so was aber auch immer gerade passieren müsse, wenn Rieke fort sei, und daß sie, Lisbeth, dann dafür die Schuld bekäme. Und dabei hätte die gnädige Frau selber heute früh Rieke auf den Markt geschickt, und nun sei der Doktor Böhmer da und mache ein Hallo – nicht zum Aushalten!

Fräulein von Hagen wollte direkt ins Krankenzimmer dringen, allein Rieke vertrat ihr energisch den Weg. Kein Mensch dürfe hinein, erklärte sie aus eigener Machtvollkommenheit, und wenn das gnädige Fräulein den Doktor sprechen wolle, so möchte sie, bitte, vorn im Wohnzimmer warten. So komplimentierte sie Aurelie ohne viel Umstände ins Wohnzimmer, nahm die Medizin und ging zu Doktor Böhmer hinein. Der hatte dem Patienten Löffel auf Löffel von dem starken schwarzen Kaffee eingeflößt, hatte dazwischen emsig das Reiben fortgesetzt und blickte jetzt mit einer gewissen Genugthuung auf die Brust des Kranken, die sich in schwachen Atemzügen hob und senkte.

„Herrgott, der Wagen!“ erinnerte er sich plötzlich. „Rieke, geben Sie dem Kutscher einstweilen einen Bittern, daß der Kerl nicht die Geduld verliert. Er soll eine Viertelstunde lang auf- und abfahren – dann, denke ich, sind wir hier über’n Berg.“ Während des Sprechens flößte er dem Kranken die Medizin ein und erlebte bald darauf, was er gehofft und erwartet, ein gehöriges, den ganzen Körper erschütterndes Erbrechen.

Später, als Ernst Wodrich dann wieder still und aufs äußerste ermattet in seinen Kissen lag, redete der alte Herr auf ihn ein – nicht, wie zu einem Kranken, sondern wie zu einem Gesunden. Galt es doch jetzt, den Patienten um jeden Preis wach zu erhalten. Er sprach über Politik, über die neue städtische Steuer, über das entsetzliche Unglück auf der „Brandenburg“ – aber das alles rauschte unverstanden an dem betäubten Gehirn des Kranken vorüber.

Doktor Böhmer sah, daß er tiefer greifen müsse. „Wo ist Ihre Frau, Wodrich?“ fragte er langsam und eindringlich.

Ernst schlug die Augen auf und sah ihn an – und der erfahrene Menschenkenner ward sich bewußt, daß für diesmal die Gefahr überstanden sei, daß der Geist, der bewußtlos in weite Fernen entrückt gewesen, sich anschickte, in sein Haus zurückzukehren; langsam dämmerte in diesen leerblickenden tiefliegenden Augen ein schwacher Strahl des Verständnisses herauf, langsam färbten sich die fahlen Wangen mit einem Hauch von Lebensröte.

„Wo ist Franziska?“ fragte der Doktor nochmals und griff nach des Kranken Hand.

Ernsts Lippen bewegten sich, mit Anstrengung brachte er das eine Wort hervor. „Fort“ – und machte dazu eine schwache Handbewegung nach der Thür.

Der Arzt drehte sich um, Rieke, die ihm fortwährend hilfreiche Hand geleistet, war noch zugegen; sie stand und starrte auf ihren Herrn, und ihr langsam denkender Verstand mühte sich, die geschehenen Dinge zusammenzureimen.

„Kommen Sie hierher, Rieke!“ gebot der Doktor, seinen Patienten immer fest im Auge behaltend, „und sprechen Sie laut und deutlich, damit der Herr Sie verstehen kann. Seit wann ist die gnädige Frau fort?“

„Seit zehn Uhr,“ berichtete Rieke, die sich inzwischen durch Lisbeth genau orientiert hatte.

„Wo ist sie hingefahren?“

„Lisbeth meint, zur Frau Rätin Lorenz. Die gnädige Frau hat dem Kutscher noch eine andere Adresse hinterher gesagt, das hat Lisbeth aber nicht mehr verstanden.“

„So, hm – noch eine andere Adresse,“ wiederholte der alte Herr und beobachtete den Kranken mit scharfem Blick.

„Wie konnten Sie leiden, daß Ihre Frau bei dem bösen Märzwinde ausging?“ sagte er dann zu Ernst. „Sie hätten sie unbedingt zurückhalten müssen!“

Ernst wandte den Blick ab. „Sie hätte sich schwerlich zurückhalten lassen,“ murmelte er, unwillkürlich dieselben Worte brauchend, die Aurelie von Hagen einst zu ihm gesprochen.

„So. – Was denken Sie eigentlich wohl von Ihrer Frau, Wodrich?“ fragte Doktor Böhmer heftig, die Gegenwart der alten Köchin außer acht lassend.

Ernst antwortete nicht – aber ein bitteres Lächeln flog über sein Gesicht.

„Soweit sind wir also schon wieder,“ nickte der Arzt befriedigt, er beugte sich über den Kranken und dämpfte seine Stimme. „Wer hat Ihnen die verdammten Tropfen gegeben, Wodrich?“

„Ich … ich habe sie selbst genommen,“ stammelte Ernst, unter den forschenden Blicken des alten Freundes die Augen niederschlagend.

„So, so, selbst genommen … wie kommt denn die Flasche dort auf den Tisch?“

Da Ernst beharrlich schwieg, sagte der Arzt ruhig: „Franziska hat sie Ihnen gegeben, das weiß ich durchs Mädchen. Ich möchte nur wissen, wie Sie das arme Weib dazu gebracht haben, Wodrich?“

„Ich habe sie darum gebeten.“

„Wieviel Tropfen?“

„Fünfzig.“

„Zum Kuckuck, Herr, sind Sie denn ganz des Teufels?“ rief Doktor Böhmer aufspringend.

„Und sie hat sie Ihnen gegeben?“

„Sie wußte nicht, was es war. Franziska kennt kein Morphium – sie hat dies Fläschchen bisher noch nie in Händen gehabt,“ beteuerte Ernst.

„So – na, ich will’s ja glauben – also waren Sie der Anstifter?“ fragte der alte Herr und blickte seinen Patienten aus den großen runden Brillengläsern zornig an.

„Ich ganz allein.“

„Na, Sie müssen’s ja verantworten, Wodrich! – Ich weiß nicht, was es zwischen Euch gegeben hat, dränge mich auch nicht hinein – aber als alter Freund will ich Euch den guten Rat geben: Macht nur hübsch Frieden miteinander – Ihr geht sonst alle beide dran zu Grunde,“ sagte der Doktor mit großem Ernst. Dann reichte er Wodrich die Hand. „Ich muß jetzt gehen, habe meinen Kutscher ohnehin schon länger warten lassen, als ich’s verantworten kann.“

Er winkte Rieke, mit hinauszukommen.

„Was ist das mit Ihrer Frau, Rieke? Wohin ist sie? Sie muß unbedingt wieder hergeschafft werden, und das so schnell wie möglich! Schicken Sie die andere Dirn’ mit einer Droschke zu der Rätin Lorenz und lassen Sie die Gnädige holen! Aber die kleine Person soll reinen Mund halten und ihre Frau nicht durch allerhand Schnickschnack aufregen. Sie aber bleiben beim Herrn, setzen sich ans Bett und reden fortwährend mit ihm, er darf nicht wieder einschlafen. Können Sie das?“

Rieke sah den Doktor in treuherziger Verlegenheit an. „Je – was soll ich denn doch bloß reden? Wenn’s noch die Frau wäre – aber der Herr …? So Herren verstehen ja nix!“ meinte sie bedenklich.

„Ganz egal, Rieke, reden müssen Sie! Er darf uns nicht [64] wieder einschlafen, verstanden? Ich muß jetzt fort, denke in höchstens zwei Stunden wieder hier zu sein.“

„Je, Herr,“ sagte Rieke, wie von einem guten Einfall erhellt, „Fräulein von Hagen is ja da, dem Herrn seine Cousine. Kann die das Reden nicht besorgen?“

„Meinetwegen,“ brummte der Doktor. „Gern sehe ich die … hm, die Dame zwar nicht im Krankenzimmer, aber in der Not …“ – er konnte den unhöflichen Satz nicht vollenden, denn Fräulein von Hagen hatte, durch das Sprechen aufmerksam gemacht, die Wohnstubenthür geöffnet. Als sie den Doktor erblickte, kam sie sogleich auf ihn zu. „Kann ich Ernst sehen, Herr Doktor?“

„Ja, ja,“ nickte er, nicht gerade erbaut, „gehen Sie hinein und reden Sie mit ihm! Je mehr, je besser. Er hat aus Versehen ein bißchen zuviel Schlaftropfen genommen – da wir ihn zur Not wieder so weit haben.“ Er wandte sich an Rieke und sagte leise: „Und Sie schaffen mir die Frau zur Stelle, und hernach gleich ins Bett mit ihr. Die müssen wir jetzt ’mal ganz energisch in die Kur nehmen. – Das ist ja ein ganz störriges Volk, einer wie der andere!“ brummte er noch im Hinausgehen.

So betrat Aurelie von Hagen zum drittenmal das Krankenzimmer.

Ernst beachtete sie kaum, er lag still und apathisch da – sie plauderte vom Wetter, vom Theater, von Franzels herrlichen Hyazinthen drüben im Wohnzimmer – er schien es kaum zu hören.

„Daß er mir nur nicht einschläft,“ dachte Aurelie in aufrichtiger Besorgnis und grübelte, wie sie sein Interesse fesseln könne – und auch sie verfiel auf dasselbe Thema wie vorhin Doktor Böhmer – freilich aus ganz anderen Motiven.

„Sehr unrecht von Franziska, Dich allein zu lassen, Ernst,“ begann sie tadelnd, und als er keine Antwort gab, fuhr sie mit erhöhtem Eifer fort: „Ich sagte Dir neulich schon, Du müßtest sie etwas strenger nehmen, besser auf sie achten. Aber Du wolltest ja nicht hören!“

Ernst hob die Augen und richtete einen mahnenden Blick auf seine Cousine.

„Redest Du nur so ins Blaue hinein, oder weißt Du etwas Positives über … über …“ – er wollte „meine Frau“ sagen, verbesserte sich aber und sagte kurz „Franziska?“

Aurelie blickte betreten vor sich nieder; auf eine klare Auseinandersetzung war sie nicht vorbereitet, sie hatte nur andeuten, warnen wollen.

„Sprich!“ wiederholte er hart.

Nun denn! Sie zuckte mit den Achseln, wenn Ernst so vorgehen wollte, so konnte sie ja reden. Mochte dann kommen, was da wollte – ihre Schuld war’s nicht.

So begann das kluge redegewandte Weib dieses ganze, feinerklügelte Gewebe von Franziskas Leichtsinn und Untreue vor Ernsts Augen auszubreiten. Bloße Vermutungen wurden als Thatsachen hingestellt, Franzels eigenes angsterfülltes Geständnis geheimer Beziehungen zwischen ihr und Doktor Sonnenthal kam als schwerwiegender Schuldbeweis hinzu. Doktor Sonnenthals Brief, Franziskas wiederholte Ausgänge trotz des ärztlichen Verbotes, ihre zweimaligen Besuche bei dem Rechtsanwalt – dies alles, was der Wahrheit so vollkommen entsprach, war so sein mit allerlei versteckten häßlichen Andeutungen verwoben, daß es eines unbefangeneren Urteils als das des[WS 1] schwerbeleidigten Ehemanns, eines klarer denkenden Verstandes als des eines Kranken bedurft hätte, um die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden.

Mit aller Denkkraft seines leidenden Gehirns suchte Ernst diesen klugen Auseinandersetzungen zu folgen. Er unterbrach seine Cousine mit keinem Wort, mit keiner Frage, und als sie geendet, schwieg er lange, lange. Sein Blick war nach innen gekehrt, all sein Denken suchte angestrengt in der eigenen Erinnerung nach Thatsachen, die seines Weibes Unschuld beweisen sollten. Wäre er der starke gesunde Mann gewesen, nimmer wäre es Aurelie gelungen, Franziska bei ihm zu verdächtigen. Sein scharfer Verstand hätte das ganze heuchlerische Lügengewebe durchschaut, sein gerechter Zorn hätte das falsche Weib für immer aus seinem Hause getrieben, aber so lag all seine Manneskraft, die körperliche wie die geistige, in den lähmenden Banden der Krankheit, und wie er auch sann und sein schmerzendes Hirn zermarterte – er fand nichts, nichts, was sein Weib in dieser Stunde freisprach.

Gewiß, ihr Mädchenleben war so kurz, so klar, so ereignislos gewesen – und dennoch gab es darin eine Beziehung, die Franziska ihm verschwiegen, ein unseliges Etwas, das sich aus der Vergangenheit in die Gegenwärt herüberschlich.

Gewiß, dieses erste Jahr ihrer Ehe war so ruhig, so friedvoll glücklich verlaufen – aber weshalb? Weil die Stunde der Versuchung noch nicht gekommen war. Jetzt ist sie da – und Franzel, sein reines herrliches kindliches Weib, ist ihr unterlegen! Jedes Wort, das der alte Hausarzt gesprochen, taucht wieder in Ernsts Erinnern auf: von Franziskas Leiden, das weit mehr seelischer als körperlicher Natur sei, von geheimem Weh, das sie quäle. Sie hat gekämpft, hat gelitten an seiner Seite – natürlich, ein reines stolzes Weib erliegt nicht sogleich der Versuchung – und dann hat sie doch den ersten Schritt ins Verderben gethan.

Den ersten? Und wer bürgt ihm dafür, daß es bei diesem ersten geblieben?

Kalter Schweiß tritt auf seine Stirn, und wieder hebt der Kranke mühsam das Haupt und ringt mit dem unsichtbaren Feinde um den Glauben an seines Weibes Treue und Reinheit. Und wie er noch kämpft, wie er sich Herz und Hirn zermartert, sieht er sie vor sich, wie sie Tag und Nacht sorgend, pflegend an seinem Lager gesessen – sie, das junge blühende Geschöpf, und er, der die Höhe des Lebens schon fast überschritten. Er sieht die heimliche Unruhe in ihren schönen Augen, die wechselnde Röte und Blässe ihrer Wangen, sieht – Gott im Himmel, wie konnte er das vergessen! – er sieht sie vor sich in jener Stunde, wo sie den Brief erhielt, den sie vor ihm verbarg, wo sie ihn belog, wo sie wie eine Schuldbewußte vor seinem Bett niedergesunken war in heißen Thränen ……

Da giebt er den Kampf auf, den nutzlosen – über seines Weibes Ehre und seiner eigenen schlagen die schmutzigen grausamen Wogen der Verleumdung zusammen. Still liegt er da, nur seine Hand ballt sich wie in Zorn oder Schmerz – und das Weib an seiner Seite schaut auf ihn nieder und weiß, daß sie ein Menschenglück zunichte gemacht.

„So thatest Du mir,“ flüstert sie, die Hand aufs Herz pressend – dann steht sie auf und tritt ans Fenster.

Was ging sie jetzt noch der Kranke an? Mochte er wachen oder schlafen, leben oder sterben – ihr war’s einerlei! Bis zu dieser Stunde hatte sie noch gehofft – sie wußte selbst kaum, auf was! Nun hat ihre Rache alles zunichte gemacht, sie fühlt, daß alles vorbei ist, daß Ernst ihr nie vergeben wird! Ihr Spiel ist ausgespielt – in diesem Hause hat sie nichts mehr zu schaffen.

Lange stand sie und starrte gedankenschwer auf den Fluß jenseit des winterlich kahlen Gartens, der in träger, brauner Flut dahinzog – so freudlos, so öde wie ihr eigenes Leben, stand und schaute, die Stirn an die kalte Scheibe gepreßt, bis die Augen ihr brannten, bis der Klang der Wohnungsglocke und der Laut einer Stimme sie aufschreckte.

Auch der Kranke, der reglos dagelegen, hatte diesen Laut gehört und erkannt, er machte eine Bewegung – sofort war Aurelie neben seinem Bett.

„Franziska ist da – soll ich sie rufen?“ fragte sie atemlos.

Ernst schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht,“ sagte er schwach.

In ihre Hand gegeben – das ist’s ja, was sie gewollt! Aug’ in Aug’ mit ihrer Feindin will sie sie zwingen, aus ihrer Hand den bittern Kelch der Demütigung zu leeren.

Sie ging hinaus.

Franziska war heimgekommen.

Endlos lange hatte sie warten müssen in einem schmalen, überheizten, dumpfigen Korridor des riesigen Gerichtsgebäudes, wo die Leute ruhelos kamen und gingen, wo die Rechtsanwälte und Gerichtsschreiber mit ihren schweren Aktenbündeln hin und herliefen; wo unablässig an all den vielen Thüren des langen Korridors die Namen der Vorgeladenen aufgerufen wurden; wo alt und jung mit feierlich ernsten Gesichtern umherstand. Die Viertelstunden waren ihr zur Ewigkeit geworden; dies ruhelose Kommen und Gehen, das monotone Raunen und Flüstern rings um sie her verwirrte sie und verursachte ihr fast körperliche Pein. Nur der Zuspruch der treuen Freundin und die äußerste Willenskraft hatten sie aufrecht gehalten.

Die „Sache Wodrich“ kam an die Reihe.

Franziska fuhr zusammen, als der Name laut an ihr Ohr klang. Die Pein des Wartens hatte ein Ende – zitternd, totenblaß betrat sie den Gerichtssaal.

Dann aber war alles überraschend schnell gegangen. Der Kläger hatte zwei Zeugen beigebracht, junge Verkäuferinnen, die

[65]

Hoffnung.
Nach dem Gemälde von George von Hößlin.

[66] dem fraglichen Auftritt beigewohnt; als deren Vernehmung beginnen sollte, trat die eine, durch des Richters ernste Mahnung eingeschüchtert, noch vor dem Schwur zurück. Die zweite legte den Zeugeneid ab, verwickelte sich dann aber bei den Kreuz- und Querfragen des Verhörs in allerlei Widersprüche und gestand endlich weinend: genau gehört hätte sie überhaupt nichts, da sie viel zu weit entfernt gestanden. Die Rätin Lorenz legte klar und sicher ihr Zeugnis ab, das fast wörtlich mit Franziskas eigener Aussage übereinstimmte; dann hatten die beiden Rechtsanwälte das Wort. Der gegnerische Anwalt versuchte mit großer Redegewandtheit, seinen Klienten herauszureißen – aber es gelang ihm nicht. Doktor Sonnenthal faßte alle seine Klientin völlig entlastenden Thatsachen in kurzer scharfdurchdachter Rede zusammen – dann zog sich der Gerichtshof zurück und nach kurzer Beratung verkündete der Richter das Urteil: die Angeklagte ward von jeglicher Schuld freigesprochen – der Kläger aber wurde zur Tragung sämtlicher Kosten verurteilt.

Franzel hatte die ganze Zeit, dem Rat ihres Rechtsanwalts folgend, neben der so grenzenlos gefürchteten Anklagebank gestanden; je weiter die Verhandlung vorschritt, desto mehr schwand die lähmende Angst, die seit Wochen auf ihr gelegen. Sie hörte die ruhige Aussage der Rätin, die kurze überzeugende Rede ihres Verteidigers und sagte sich mit stillem Dank, daß es selbst in dieser schweren Stunde noch Freunde gäbe, die treu und unentwegt ihr zur Seite stünden. – Dann war alles überstanden. Doktor Sonnenthal ließ es sich nicht nehmen, die junge Frau an den Wagen zu geleiten, und wie er sie ansah, mit diesem Ausdruck stiller Seligkeit in den verweinten Augen, in dem blassen vergrämten rührenden Kindergesicht – da ward ihm doch, trotz aller Schneidigkeit, recht wunderlich ums Herz. „Nun fährt sie heim – beneidenswerter Kerl, der Wodrich!“ murmelte er zwischen den Zähnen.

Ein letzter dankender Händedruck und die Droschke rollte fort. So kam Franziska heim – nicht ganz so glücklich, so frei, so erlöst, wie ihre Freunde glaubten. Das Schwerste kam ja noch – jetzt mußte Ernst alles wissen – und jählings fiel es ihr auf die Seele, wie krank, wie verstört er diesen Morgen gewesen.

Aber Geduld! In einer Viertelstunde wird er alles wissen. Dann wird alles gut sein und sie wird ausruhen dürfen von all dem bangen schweren Leid – ausruhen in seinen Armen!

Als Franzel die Hand auf die Thürklinke von Ernsts Zimmer legte, stand sie sekundenlang still, um sich zu sammeln, ihrer heftigen Erregung Herr zu werden, ehe sie zu ihm hineinging. Da ward die Thür von innen geöffnet – Aurelie stand auf der Schwelle.

„Du hier?“ stammelte die junge Frau erschreckt und staunte Fräulein von Hagen mit großen Augen an. Rieke, die ihr draußen die Thür geöffnet, hatte absichtlich kein Wort von Ernsts plötzlicher Erkrankung, noch von Fräulein von Hagens Anwesenheit gesagt.

Aurelie zog die Thür hinter sich zu, Franzel somit den Eintritt und sogar jeden Einblick versperrend. „Ja, ich bin hier – an dem Platze, den Du verlassen,“ sagte sie sodann mit kalter Ruhe und faßte nach Franziskas Hand, um die junge Frau fortzuführen. Rieke stand mißtrauisch beobachtend im Hintergrund, jetzt trat sie vor. „Die gnädige Frau soll ins Bett, Fräulein – der Doktor hat’s gesagt,“ gab sie energisch ihre Meinung kund.

„Ich werde sie schon zu Bett bringen,“ erwiderte Fräulein von Hagen abweisend.

„Laßt mich zu meinem Mann!“ rief Franziska dazwischen, von bangem Ahnen erfaßt, und strebte, ihre Hand freizumachen.

„Ernst will Dich gar nicht sehen!“ zischelte Aurelie nahe an Franzels Ohr, während sie die junge Frau gewaltsam nach den vorderen Zimmern drängte. Mit einem Ruck riß die Gequälte ihre Hand los, stolz und aufrecht stand die zarte kleine Frau vor ihrer Feindin und maß sie mit flammendem Blick. „Das ist Dein Werk!“

Fräulein von Hagen zuckte gleichmütig die Schultern. „Wie Du es nehmen willst. Aber bitte, komm’ ins Zimmer, es ist nicht nötig, daß Deine Dienstboten unserer Unterredung beiwohnen.“

„Ich will zu Ernst!“ rief Franzel mit aufwallendem Trotz.

„Und ich sage Dir, er will Dich nicht sehen,“ wiederholte Aurelie höhnisch.

Da fügte sich die junge Frau – stolz erhobenen Hauptes schritt sie ihrer Feindin voran in das stille trauliche Wohnzimmer, wo die Hyazinthen dufteten.

„Was willst Du von mir, und was ist hier vorgegangen?“ fragte sie dann kurz.

Aurelie maß sie mit einem spöttischen Blick. „Du lieber Himmel – nur nicht so hochmütig, Prinzeß!“ sagte sie in beißendem Ton. „Wenn man vom Rendezvous mit seinem ‚Freunde‘ kommt, wenn man seinen Gatten beinahe umgebracht hat …“

„Was?“ schrie Franziska auf, die bei diesen Worten völlig ihre Fassung verlor. „Was ist mit Ernst? O Gott – die Tropfen …?“

„Morphium“, schaltete Aurelie ein.

„Morphium? – und ich gab sie ihm …“

„Ja – Du gabst sie ihm,“ wiederholte die grausame Stimme.

Franzel schlug sich verzweifelnd vor die Stirn und wollte hinausstürmen; aber wieder kam Aurelie ihr zuvor. Geschmeidig wie eine Katze, war sie mit einem Sprunge an der Thür, drehte den Schlüssel herum und zog ihn ab. „Keinen Skandal!“ sagte sie hart und riß Franziska von der Thür zurück. „Bleib’ nur, bleib’! Er lebt ja – aber er will nichts mehr von Dir wissen. Diese Stunde ist mein, hörst Du? – und ich will Dir endlich einmal alles sagen, was ich auf dem Herzen habe.“ Sie führte Franziska, die jetzt nur schwach widerstrebte, in den Hintergrund des Zimmers und drückte sie in einen Sessel nieder; sie selbst blieb in ihrer ganzen stattlichen Größe vor ihr stehen.

„Ich wollte nur sagen,“ fuhr sie kaltblütig fort, „nachdem man das alles gethan und dabei ertappt worden ist, hat man wahrlich nicht nötig, die gekränkte Unschuld zu spielen. – Also Du warst doch richtig zum Rendezvous mit Doktor Sonnenthal?“

„Wo ich war, geht Dich gar nichts an,“ rief Franziska, deren Gemütsverfassung ein beständiger Kampf zwischen zornigem Trotz und hilflosem Weinen war. „Ich will jetzt wissen, was mit Ernst ist! Ist er kränker geworden?“

„Dein Mittel hatte gut gewirkt – schade, daß Doktor Böhmer dazwischen kam,“ sagte Fräulein von Hagen langsam, der es eine wahnsinnige Freude bereitete, ihr Opfer zu quälen; dabei mußte sie immer wieder die Aufspringende zurückhalten. „Uebrigens weiß er jetzt alles.“

„Alles?“ wiederholte Franzel in Todesangst; doch dann gewannen Trotz und Stolz, gewann die Macht des guten Gewissens die Oberhand über Angst und Schwäche des jungen Weibes. „Gut – wenn er alles weiß, dann will ich zu ihm – dann muß er mir ja verzeihen!“ rief sie.

„Hier bleibst Du!“ zischte Aurelie, ihrer selbst nicht mehr mächtig. „Wisse, Ernst verzeiht Dir nie – aber Du sollst hören, was ich Dir zu sagen habe.

Sieh’, ich war ein armes alleinstehendes Mädchen und ich fand eine Zuflucht, fand ein Heim in Ernsts Hause. Wir lebten so froh und in Frieden, ich sorgte für ihn und ich liebte ihn – nein, ich betete ihn an. Er brauchte mich, hörst Du? – ich war ihm nötig zu seinem häuslichen Glücke und eines Tages würde er es erkannt und mich zu seinem Weibe gemacht haben. Bei Gott! ich wäre ihm ein gutes demütiges Weib geworden – eine Gefährtin, ein treuer Kamerad – nicht solch ein armseliges zerbrechliches Spielzeug wie Du! – Da kamst Du –“ Mit sprühenden Augen und erhobenen Händen, wie ein Dämon der Rache, stand das alternde Mädchen vor dem jungen Weibe; selbst in diesem Augenblick leidenschaftlichster Erregung sah man noch die Spuren einstiger Schönheit auf dem verblühten Antlitz – ja es war, als ob in all dem Schmerz und Zorn ein Schimmer längstvergangener Jugend ihre Züge verschönte. Schweigend, in sich zusammengesunken, das Gesicht in den Händen vergraben, saß Franziska da; sie wehrte sich nicht mehr – eine völlige Nervenabspannung war eingetreten, fast unverstanden rauschten die haßerfüllten wilden Worte an ihrem Ohr vorüber.

„Da kamst Du und stahlst mir sein Herz, sein treues, festes, stolzes, ein Herz, das Du gar nicht begreifst und nie begreifen wirst, Du kindisches Geschöpf! Ich mußte gehen, und Du wurdest die Herrin seines Hauses, und Ihr habt mich an Euern Tisch geladen, damit ich mich vor Qual und Sehnsucht verzehren sollte beim Anblick Eures Glückes. Glück – als ob Du diesem Manne das Glück geben könntest, wonach sein Herz verlangt! – Mein Glück und das seine hast Du gestohlen, nun geh’ hin und sieh zu, was Dir geblieben!“ –

Sie trat zurück und gab Franziska frei, und ohne sich nach ihr umzusehen, schritt sie zur Thür; aber ehe sie noch aufgeschlossen, ward von draußen stark geklopft und die Thür zu öffnen versucht. Aurelie schloß auf – Doktor Böhmer stand ihr gegenüber. [67] „Was geht denn hier vor?“ fragte er erstaunt. „Wo ist Frau Wodrich?“

Jetzt hatte er Franziska entdeckt, die, mit dem Rücken nach der Thür gewandt, in einem tiefen Sessel lehnte, die Hände vor das Gesicht gepreßt. Beim Klange seiner Stimme hob sie den Kopf und sah ihn an – sekundenlaug irrten ihre Augen über ihn hin, als kenne sie ihn nicht – dann stieß sie einen heiseren schluchzenden Schrei aus, streckte ihm beide Hände entgegen und wimmerte: „O helfen Sie mir, helfen Sie mir!“ Sie wollte aufstehen, aber ihre Glieder versagten den Dienst, im Nu war er neben ihr, stützte die kleine zitternde Gestalt mit seinen Armen und mühte sich ungeschickt, ihr verwirrtes Haar zu glätten. „Ruhe, mein Seelchen, Ruhe, Ruhe!“ murmelte er, von ihrem Anblick erschüttert, dann – als er sah, daß Fräulein von Hagen noch an der Thür stand, bäumte sich etwas in ihm auf, und die Hand ausstreckend sagte er gebieterisch. „Sie hätten wohl die Güte, uns allein zu lassen, Fräulein! Ihre Gegenwart bringt diesem Hause keinen Segen.“

Aurelie warf ihm einen haßerfüllten Blick zu und ging – Franzel horchte ängstlich auf die im Flur hin und hergehenden Schritte, bis endlich die Thür zur Treppe mit hartem Schlage zufiel und alles stille ward. „Sie ist fort,“ flüsterte sie aufatmend.

„Jawohl, sie ist fort – und ich werde dafür sorgen, daß sie nicht wiederkommt – niemals!“ erwiderte der Doktor ernst; dann, nach langer Pause, während er ihr Zeit ließ, sich zu beruhigen, sagte er so sanft, wie kein Mensch es ihm jemals zugetraut hätte: „Und jetzt, mein gutes Kind, werden Sie mir einmal alles beichten, was geschehen ist – wollen Sie?“

„Darf ich nicht zu Ernst? O, lieber Doktor, ich möchte zu meinem Mann,“ bat Franzel in rührender Demut, indes die Thränen in ihren großen traurigen Augen standen.

„Später, später!“ beruhigte der Arzt, der vorhin bei Ernst gewesen und aus seinem eigenen Munde gehört hatte, daß er Franziska nicht sehen wolle. „Nun, Seelchen – so reden Sie!“

Und Franzel legte ihre Beichte ab in die Hände dieses treuen alten Freundes, schluchzend und stockend bekannte sie all diese schuldlose Thorheit der letzten Wochen. Anfangs staunend und kopfschüttelnd, zuletzt ergriffen von der selbstlosen Tapferkeit dieser jungen Seele, hörte der Doktor zu. – Dann stand er auf. „Ich gehe jetzt zu Ernst. Beruhigen Sie sich, Kind – bald komme ich, Sie zu holen.“

Er ging in das Krankenzimmer zurück, wo Ernst noch immer in derselben Apathie lag. „Nun helfe mir Gott!“ sprach der alte Arzt, „wenn ihn das nicht herausreißt – dann weiß ich kein Mittel.“ Er zog sich einen Stuhl dicht ans Bett heran und sagte, den Kranken scharf fixierend: „Bitte, hören Sie einmal zu, Wodrich, und achten Sie gut auf meine Worte. Ich will mich kurz fassen – das Nähere kann Ihnen dann jemand anders erzählen. Ihre Frau – nebenbei bemerkt, eine wahre Heldin von einem Weibe – ist unschuldigerweise in eine Angelegenheit verwickelt worden, die vor Gericht zum Austrag kommen mußte. Nein, bitte, unterbrechen Sie mich nicht,“ sagte er, den Auffahrenden mit fester Hand niederhaltend. „Eine bloße Lappalie – um es kurz zu machen, die Geschichte endigte, wie sich das ja von selbst verstand, mit einer glänzenden Freisprechung. Franziska kennt aber doch Ihre Auffassung solcher Dinge, sie hat also geschwiegen, zuerst aus Angst vor Ihrem Zorn, dann wurden Sie krank, und nun – merken Sie wohl auf, Woderich! – beginnt das Heldentum dieser Frau. Sie können sich wohl denken, was das ist: eine Frau, so umsorgt, so behütet, wie die kleine Franzel von Kindheit auf war, soll vor Gericht! Wie ein Schreckgespenst steht das vor ihr, läßt ihr Nacht und Tag keine Ruh’. Aber nur nichts merken lassen! Der kranke Mann muß geschont werden. Tragen, ganz allein tragen! – So geht’s weiter. Bis die Frauen, die Rätin Lorenz ist die andere Beteiligte bei der Geschichte, ihrer Seele keinen Rat mehr wissen und einen Rechtsanwalt befragen, Doktor Sonnenthal – einen Mann, der sich vor zwei Jahren einen Korb bei Franziska geholt, trotz alledem aber ihr Freund geblieben ist. – Ruhig, Ernst! – lassen Sie mich erst ausreden!

So kämpft nun die kleine Frau ihren Kampf durch bis zu Ende; als sie mir das alles erzählte mit ihrer armen zitternden Stimme, der man noch all die Aufregung, die Angst anhörte – bei Gott, Wodrich, ich alter Knabe hätte niederknien und die kleinen Hände küssen mögen! – Darum also die verbotenen Ausgänge, darum die zwei Briefe dieses Doktor Sonnenthal. Uebrigens, aller Ehren wert! Ein Mann, der einer Frau das nicht nachträgt, sondern trotzdem ihr seine Freundschaft bewahrt – na, ich meine, den sollte sich auch der Ehemann zum Freunde machen. Solche Leute giebt’s nicht viel heutzutage!

Und Sie merken nun was und machen sich natürlich die schwärzesten Gedanken. Was, weiß ich ja nicht – kann mir’s aber vorstellen. Und um so was, um so eine elende Kleinigkeit geht beinah’ ein Menschenleben zu Grunde – jawohl, Wodrich, soweit war’s mit Ihnen! – die Frau aber schweigt, schweigt trotz allem – geht heute morgen zu Gericht, so tapfer wie ein Held, wird freigesprochen und nun wartet sie – – soll ich sie holen, Ernst?“

Er nickt nur, sprechen kann er nicht. Eine Minute später führt Doktor Böhmer Franziska ins Krankenzimmer; er sieht nur, wie Ernst seine Arme nach ihr ausbreitet, wie das junge Weib vor dem Bett in die Knie sinkt – dann schließt er leise, ganz leise die Thür. Draußen räuspert er sich, fährt mit der Hand über die Augen und sagt zu sich selber: „Ruhig, alter Kerl, ruhig! Was jetzt da drinnen verhandelt wird, das brauchen nur die beiden allein zu hören – und noch einer, ja! – Was nutzt all unser bißchen Weisheit? Wenn der dort oben nicht aufpaßte, dann wären doch jetzt die zwei Menschenleben in Stücke gegangen – und um was? Um eine Kleinigkeit!“


Blätter und Blüten


Neue Erfahrungen über die Giftwirkung arsenhaltiger Tapeten. Daß durch Tapeten, die mit arsenhaltigen Farben bemalt sind, Menschen an ihrer Gesundheit geschädigt werden können, ist schon seit langer Zeit bekannt. Unerklärlich war es aber, in welcher Weise der feste Arsenik der Farbe sich in eine flüchtige gasförmige Verbindung verwandelt, die den Bewohner des betreffenden Zimmers allmählich vergiftete. Neuerdings wurde dieses Rätsel zuerst von dem italienischen Forscher Gosio und dann durch Ch. K. Sanger aufgeklärt. Die Verflüchtigung des Arseniks wird durch bestimmte Arten von Schimmelpilzen besorgt, die sich, falls der Wohnraum feucht ist, auf und hinter der Tapete niederlassen und in dem Stärkekleister derselben einen ausgezeichneten Nährboden finden. Die Entwicklung des giftigen flüchtigen Stoffes ist am ergiebigsten, wenn in dem Nährboden des Pilzes nur wenig Arsen (etwa 1/100 bis 5/100 Prozent) enthalten sind. Sanger hat durch verschiedene Versuche die wichtige Thatsache ermittelt, daß die Schimmelpilze schon dann für den Menschen gefährliche Mengen flüchtiger Arsenverbindungen zu erzeugen vermögen, wenn in einem Quadratmeter Tapete nur acht Milligramm Arsen enthalten sind. – Diese Untersuchungen zeigen wieder, wie streng jede Anwendung irgendwie arsenhaltiger Farben zum Bemalen von Tapeten oder anderen Gebrauchsgegenständen gemieden werden muß. *      

Die weißeste Stadt der Erde ist nach dem Zeugnis des bekannten Reisenden Ernst von Hesse-Wartegg die südspanische Hafenstadt Cadiz. „Etwas Weißeres,“ sagt er in seiner Schrift „Andalusien, eine Winterreise durch Südspanien“ (Leipzig, Reißner), „kann es einfach nicht geben, es müßte denn eine Stadt aus Schneeballen gebaut werden. Wir kamen nach Cadiz auf einem der kleinen, zwischen den spanischen und marokkanischen Häfen verkehrenden Lokaldampfer. Sechs Stunden mochten wir auf den blauen Meereswogen getanzt haben, als plötzlich gegen Osten, anscheinend gerade wie wir auf den Wogen schwimmend, eine weiße Masse sichtbar wurde. ‚Ein Eisberg, ein Eisberg!‘ so riefen meine amerikanischen Reisegefährten, denen der Anblick dieser Sendboten aus den Polarmeeren an den atlantischen Westküsten nichts Neues ist. Dort auf dem tiefblauen Meere, mit dem ebenso blauen leuchtenden Himmel als Hintergrund, erschien ein Eisberg in blendendster Weiße mit senkrecht aus den Fluten aufsteigenden Eismauern, die sich auf der Wasserfläche wiederspiegelten. Die Sonne hatte die Oberfläche teilweise abgeschmolzen, so daß Türme, Dome und Zacken aus ihr hervorstanden; aber nur im ersten Augenblick wurden wir so getäuscht, denn die weiße Masse im blauen Wasser war Cadiz, diese Lieblingstochter der Sonne. Niemals zuvor hatte ich irgendwo ein ähnliches Bild gesehen, höchstens als Fata Morgana in den Prairien oder den Llanos, wenn die heiße Luft über den weiten Ebenen zitterte und am Horizont entzückende Trugbilder von Seen und Städten hervorzauberte. Cadiz erschien wie eines dieser Trugbilder, so unmöglich weiß waren die Mauern, Türme, Dome, die direkt aus den Meeresfluten emporzusteigen schienen. Wir konnten kein Auge abwenden von diesem phantastischen Bilde. Keine andere Stadt, auch Venedig nicht, präsentiert sich vom Meere aus in so magischem Kleide, keine ist so übernatürlich, so seltsam wie dieser Haupthafenort des herrlichen Andalusien.“ †      

[68] Ein Milchbaum. Bäume und Gewächse, die einen milchartigen Saft geben, finden sich in allen Zonen, doch besteht das Milchartige meistens in der Farbe und im Dickflüssigen; an der Küste von Venezuela aber giebt: es eine Art von Brotfruchtbaum, dessen Saft mit der tierischen Milch in jeder Hinsicht die größte Ähnlichkeit hat. Durch Anbohrung seiner Rinde erhält man eine Milch von balsamischem mandelmilchartigen Geruch und Geschmack die dabei gesund und nährend ist, Sogar lange Zeit als alleinige Nahrung genossen werden kann, wie dies von den Negern in den Zuckerplantagen geschieht. Selbst im heißesten Sommer, wenn die Blätter alle verdorrt sind giebt der Stamm noch reichlich Milch. Der Saft enthält ähnliche Bestandteile wie die Milch, nur Gummi und Zucker, der sich auch gesondert gewinnen läßt, in dreifach größerer Menge. Wenn man die Milch mit Aether behandelt, so läßt sich ein wachsartiger Stoff aus ihr darstellen.

Das Ende der Niagarafälle. Seit wann besteht der donnernde Niagara und wie lange wird er noch die für Naturschönheiten schwärmenden Touristen entzücken? Schon seit lange haben sich die neugierigen Menschen diese Fragen vorgelegt und sie auch neulich zu beantworten gewußt. Das Riesenbett des Niagara ist eigenartig geschichtet, zu oberst liegt in ihm eine an 25 m mächtige Schicht von Kalksteinfelsen und unter ihr befinden sich weiche Schiefermassen. Die letzteren werden von den tosenden Wassern fortgespült und der Kalksteinfelsen am Wasserfalle wird unterwaschen; er hängt eine Zeitlang frei vor, bis mächtige Stücke von ihm abbrechen und niederstürzen, infolgedessen weichen die Fälle zurück, d. h. nähern sich immer mehr dem Eriesee. Dieses Zurückweichen ist allerdings äußert langsam, es beträgt nur etwas über einen Meter im Jahre, aber wenn der Wasserfall diesen Krebsgang so weiter fortsetzt, dann wird er in 7000 bis 8000 Jahren den Eriesee erreichen und in diesem verschwinden. In siebentausend Jahren! Was für Völker werden wohl Zeugen des prophezeiten Naturereignisses sein? Ob wohl noch dann der elektrische Funke über den Atlantischen Ocean eine Meldung vom Ende des Niagara tragen wird? *      

Hoffnung. (Zu dem Bilde S. 65) Als die „ältere gesetztere Schwester“ der ewig beweglichen Phantasie hat Goethe die Hoffnung bezeichnet und, während er jene als „seine Göttin“ pries, diese „seine stille Freundin“ genannt –

„O daß die erst
Mit dem Lichte des Lebens
Sich von mir wende,
Die edle Treiberin,
Trösterin, Hoffnung.“

Feuriger hat Schiller sie gefeiert; ihn hatte in entbehrungsreicher Jugend die Erfahrung gelehrt, sie auch als mächtige Führerin durch des Lebens Wirrnis zu schätzen, welche dem Verzagenden Kraft und Mut verleiht, die lichtlose Gegenwart im Ausblick in lichtere Zukunft zu ertragen. Seinen kühnen schönen Dichterträumen von Völkerglück und Menschenwürde, die noch heute als Fortschrittsideale der Menschheit wirken, lieh sie den beglückenden Glauben an ihre Erfüllbarkeit. Der Maler unseres Bildes, der in München lebende Schöpfer so vieler fein und tief empfundenen Bilder, George von Hößlin, schildert die Hoffnung als Trösterin in tiefem Herzeleid; die schönen Augen, die sich hilfesuchend nach oben richten, sind noch vom Schimmer vergossener Thränen umflort. In den gramvollen Zügen des schönen bleichen Weibes lesen wir: sie hat schweren Verlust zu betrauern, Unersetzliches hat sie verloren; aber ihr Herz richtet sich schließlich doch auf, gehoben vom milden Zuspruch der treuen Freundin der Trauernden, der Hoffnung, die auch aus Gräbern neues Leben hervorzuzaubern vermag. J. P.     


Die Überschwemmung in Hamburg, die am 22. und am 23. Dezember vorigen Jahres infolge einer Sturmflut daselbst so bedeutenden Schaden angerichtet hat, ist der Gegenstand der lebensvollen Skizzen H. Ambergs, die wir auf S. 53 und nebenstehend zur Abbildung bringen. Nach den Hamburger Tagesblättern hat die furchtbare Wirkung des jäh ausbrechenden Sturmes, der an der deutschen Nordseeküste in jenen Tagen sein verheerendes Unwesen trieb, in Hamburg diejenigen der Sturmflut des Jahres 1881 noch übertroffen. Am Sonnabend vor Weihnachten erfolgte der Ausbruch des Sturmes von Südwesten her, in der Nacht auf den Sonntag sprang er in Nordwest um. Nun wurden die hochgehenden Fluten der Elbe gegen die Wasserkante der Stadt getrieben. Mit rasender Schnelligkeit stieg das Wasser und begann die niedrig gelegenen Stadtteile unaufhaltsam zu überschwemmen. Während im Hafen selbst und auf der Elbe Jollen und Barkassen gleich Nußschalen zum Spiel der aufgepeitschten Wellen wurden, und ihren Führern nur zum Teil mit dem höchsten Aufwand der Kraft die schließliche Bergung am Ufer gelingen wollte –, während das schrille Pfeifen der den Strom befahrenden Dampfer vom Kanonendonner der Warnungsschüsse überhört ward, ergoß sich am Johannisbollwerk, an den Vorsetzen, dem Stubbenhuk, dem Neustadter Neuenweg und vielen anderen Stellen die Flut in die Straßen und füllte die Keller: dort arme Leute aus ihrer Wohnung vertreibend, hier die aufgestapelten Waren der Geschäftsleute zu deren schwerer Schädigung verderbend.

Die Überschwemmung in Hamburg am 23. Dezember vorigen Jahres.
Nach einer Originalzeichnung von Hugo Amberg.

Bis mittags 1¼ Uhr stieg das Wasser und erreichte am Flutmesser der St. Pauli-Landungsbrücke die außerordentliche Höhe 17 Fuß 11 Zoll. Aber obwohl der Sturm schon vorher nachgelassen hatte, war die von ihm verursachte Wassersnot mit dem Rückgang der Überflutung noch nicht überwunden. Auch die eifrige Thätigteit der Feuerwehr, deren sämtliche Spritzen zur Entwässerung der betroffenen Wohnungen und Keller benutzt wurden, konnte nur teilweise, obgleich sie die Nacht zum Montag durcharbeitete, den an sie gerichteten Ansprüchen genügen. Zum Glück sind Menschenleben nicht zu beklagen, aber der erwachsene Schaden ist außerordentlich groß. Kohlenfahrzeuge, Jollen und Leichter sind in größerer Anzahl gesunken, bedeutende Mengen Nutzholz waren von den Lagerplätzen, Fässer mit wertvoller Ladung in großer Zahl fortgespült worden. Eine Vorstellung von dem aufgeregten Wogengang auf der Elbe nach Ausbruch des Sturms gibt unser erstes Hauptbild. Ein Fährdampfer sucht sich gegen den wilden Anprall der weißaufgischtenden Wellen zu behaupten und ein Ewer, dessen Segel der Sturm heftig niederdrückt, kämpft eifrig mit ihnen, um den Hafeneingang zu gewinnen. Die kleinere Vignette oben zeigt eine Partie vom Hamburger Stintfang mit einem beflaggten Sturmsignal der Seewarte und zwei Kanonen, welche Warnungsschüsse abgeben. Das hier nebenstehende Hauptbild stellt eine der überschwemmten Straßen dar. Der den Straßenzug begleitende Fleet ist übergetreten und der Verkehr ist nur noch auf Booten möglich. Der Spitzhund auf einem der schwimmenden Warenballen hat gegen den unheimlichen Feind, der seines Herrn Gut bedrohte, freilich nichts ausrichten können, aber auch die Übermacht des Elementes hat ihn nicht von seinem Wachtposten auf dem Ballen zu vertreiben vermocht. Die untere Vignette zeigt, wie eine Restauration, deren Keller mit Wasser gefüllt ist, mit Bier aus trocken gebliebenen Kellern versorgt wird. Wie bei mangelnden Booten auch die starken Arme und Rücken handfester Hafenarbeiter sich hilfsbereit fanden, zarter veranlagte Passanten durch das Wasser zu tragen, das ihnen den Weg verlegte, vergegenwärtigt uns schließlich die obere kleine Vignette.



[ Verzeichnis der Beiträge und Illustrationen der Wochen-Nr. 4/1895. ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: des des