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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[613]

Nr. 37.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Sturm im Wasserglase.

Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts.
Von Stefanie Keyser.
(3. Fortsetzung.)

Als der Abend kam und Christian hoffen konnte, zu einer traulichen Stunde die Familie Olearius allein zu treffen, trat er seinen Weg an, nachdem er außer dem Siegelring mit dem großen Chrysopras fürsorglich noch ein schweres Goldringlein an den kleinen Finger gesteckt hatte.

In dem geistlichen Hause waren die Fenster der Unterstube erhellt, aber die Vorhänge zugezogen. Die Glocke der Hausthür läutete feierlich bei seinem Eintritt. Er klopfte an. Ein kräftiges Herein ertönte. Mit stockendem Atem trat er in die zu aeinem Schrecken von Menschen erfüllte Stube.

Das Hahnreiten in der Mark.
Zeichnung von Fritz Bergen.

[614] Um die große Tafel, auf welcher sich ein Haufen kleiner Münzen türmte, saßen Klingelbeutelväter, Kastenknecht und Bedienter.

Der Hausherr, in sein Rechnungsbuch vertieft, schüttelte ihm stumm die Hand.

Die Hausfrau kam ihm sichtlich erfreut entgegen, nahm ihm Hut und Stock ab uud sagte herzlich: „Der Gotteskasten wird gestürzt; will Er helfen?“

Sein Blick suchte Lenchen. Unter den langen Wimpern hervor sahen ihre Augen zu ihm auf: still, verschlossen, und doch lag ein Ausdruck darin, als rücke sie ihm die kleine Bachin und Justizienraths Christelchen vor.

Sein gutes Gewissen empörte sich gegen den Blick. Doch nein! Heute wollte er sich nicht aufreizen lassen; er wollte wie ein Mann unbeirrt auf sein Ziel losgehen.

In heiterem Tone erklärte er seine Bereitwilligkeit. „Aber zuerst möchte ich die Demoiselle bitten, von mir diese unwürdigen Blumen anzunehmen,“ sagte er und bot seinen Strauß dar.

Magdalene erhob sich, machte einen Knix und legte die Blumen neben sich.

Fieke, die man zum Auslesen des Geldes mit berufen hatte, steckte sofort bewundernd ihr Näschen hinein.

„Rückt zusammen, Ihr Mädchen!“ ordnete die Hausfrau an. „Setze Er sich neben die Lene.“

Fieke rückte eiligst mit ihrem Schemel von Magdalene fort, um ihm Platz zu machen; aber Magdalene rückte sogleich nach, daß er zwischen sie und einen der alten Klingelbeutelväter kam.

„Das falsche Geld,“ fuhr die Mutter fort, „– leider Gottes trägt jeder seine verschlagenen Heller in den Klingelbeutel – kommt auf diesen Haufen; es wird an den Kupferschmied verkauft; das gute Geld nach seinem Wert hier sortiert.“

Struve machte sich schmal, schob seinen Schemel heran und begann mit auszulesen.

Dazwischen glitt sein Blick nach seiner Nachbarin. Wie war sie lieblich zu schauen mit dem schwarzen Sammetband um den Hals! Wie flink ging ihren Fingerchen die Arbeit von statten, und wie sorglich schob sie das häßliche unsaubere Geld von seiner Seite weg. Ganz von selbst nahm sie die Mühsal für sich - eine echte Frau.

Aber er sah auch, daß der ernste Blick nicht aus den Rehaugen wich.

Fieke hatte die Aeuglein auf alle die rollenden kleinen Münzen gerichtet. Jedes grünspanüberzogene Scherflein prüfte sie darauf, ob es wohl ein Heckepfennig sei, in welchem Falle sie es für sich zu erwerben gedachte.

„Da ist ein Thaler aus unserer eigenen Münze. Den hat der Fürst bei seinem letzten Kirchgang in den Gotteskasten gelegt,“ sagte ehrfurchtsvoll der Kastenknecht.

„Und da ist ein kursächsischer Dukaten,“ rief ein Klingelbeutelvater. „Der Erbprinz Günther aus Sondershausen legte ihn in meinen dargehaltenen Sammelbeutel, als er nach Gehren zur Hirschjagd hier durchreiste und zum erstenmal die Kirche besuchte.“

„Das letztemal – das erstemal – gebt acht, das hat ’was zu bedeuten,“ sagte Fieke.

„Fiekchen, bei einem Geistlichen wird keine Zeichendeuterei getrieben,“ verwies sie die Hausfrau.

Als das Geklapper eifrig wieder einsetzte uud laut gezählt wurde – Hundert Heller, funfzig Pfennige, rückte Struve ein wenig näher an Magdalene heran und flüsterte: „Gedenkt die Demoiselle noch zuweilen an die Hochzeit des Herrn Diakonus, wo Ihr das Halskettlein zerriß, und ich Ihr helfen durfte, die kostbaren Perleu aufzulesen? Das dunkle Eckchen des Saales, in dem wir nebeneinander knieten, dünkte mich herrlicher als das Paradies, und wie segnete ich die gute Brautmutter, die mit ihrem großen Reifrock so eifrig die Gavotte vor unsrem Winkel tanzte! Ich konnte doch endlich einmal der Demoiselle sagen, in wie hoher Wertschätzung Sie bei mir steht. Aber auf eine beglückende Antwort harre ich noch immer.“

Sie sah nicht auf von ihrem Geschäft; aber ihre Wangen waren unter seinem Geflüster aufgeglüht wie Pfingströslein.

Stürmischer, zärtlicher fuhr er leise fort: „Nur eine Huld ist mir hernachmals zu teil geworden. Die Erinnerung daran verwahre ich als den köstlichsten Schatz an meinem Herzensschrein: die Gevatterschaft, zu der uns gemeinsam das Vertrauen des Herrn Stadtschreibers berief.“

Die Worte waren verhaucht. Tiefe Glut bedeckte die jungen Gesichter. Dasselbe Bild stand in beiden gepuderten Köpfen: der Taufstein in der Oberkirche mit seiner vergoldeten Dreieinigkeit unter den Paten, die sich darum reihten, sie als jüngstes Pärchen. Magdalene mit dem Strauß, zu dem ihr Herr Gevatter alle Beete seines Gartens geplündert hatte, er, die Citrone in der Hand, welche die Gevatterin verehren mußte. Beide fast atemlos vor Herzklopfen, während dem neuen Erdenbürger der Teufel ausgetrieben, das kleine Haupt mit dem Taufwasser begossen wurde. Denn nun kam der Segen, dann die Gratulation und dann – der Gevatterkuß. Jeder Gevatter küßte seine Gevatterin.

Ja, ja, der Herr Sekretarius Struve hatte Demoiselle Lenchen wirklich geküßt. Die Erinnerung an den süßen und doch so angsterstickten Augenblick verscheuchte aus Magdalenes Sinn den Groll über seinen unüberwindlichen Hang zur Galanterie.

Die Tafel mit den Pfennigen, die Klingelbeutelväter – alles war ihr entschwunden. Ihre Augen erhoben sich zu ihm.

„Darf ich darauf hoffen,“ flüsterte er, „daß die Demoiselle mir endlich eine beglückende Antwort gewährt?“

Auf ihren Lippen schwebte ein Ja.

Da kicherte Fieke auf. „Den Perlmutterknopf da kenne ich. Er gehört an das lavendelblaue Ueberkleid des Frölen von Heymbrot. Weiß Er, Herr Sekretarius, in dem sie heut’ mit Ihm auf dem Laubengang spazierte und immer den Kopf mit Ihm zusammensteckte? Wir haben es wohl gesehen, bei der Wirtschafterin des Herrn Kanzlers, wo ich die Damasttücher stopfte. Gewiß hat sie einmal in der Kirche den Pfennig vergessen gehabt und den Knopf abgedreht. Geb’ Er ihn mir. Wenn ich wieder draußen bei ihr nähe, kann ich ihn anflicken.“

Niemand achtete auf ihre Schneidergedankengänge.

Magdalene glühte jetzt – „wie ein Drache“, sagte sich ihre Mutter beklommen.

Auch Christian war zuerst vor dem zu so ungeschickter Zeit nach ihm hinrollenden Knopf zurückgezuckt. Aber als Magdalene mit spitzen Fingern denselben von ihrem Pfennighäuschen wegstieß und sagte: „Ich habe nichts mit dem Fräulein von Heymbrot zu schaffen,“ da empfand Struve, dem das bedeutungsvolle Billet an den Kammerherrn in der bordierten Westentasche knisterte, etwas wie Beschämung in Magdalenes Namen. Wie konnte sie so harte Worte brauchen?

Er nahm mit seiner schönen ruhigen Hand den Knopf auf und reichte ihn Fieke. Zu Magdalene aber sagte er eindringlich: „Die Demoiselle hat alle Ursache, dem Fräuleiu eine gute Gesinnung zu bewahren.“

Sie erbleichte. „Ich ehre uud achte, wen ich dessen würdig befinde,“ sagte sie herb.

Er richtete seinen Blick fest auf sie mit dem ernsten Ausdruck, den Kiliane so gern an ihm sah.

Das junge Mädchen saß mit unbewegtem Gesichtchen neben ihm; nur ein leises verächtliches Herabziehen der roten Lippen war zu spüren. Ihr züchtiges Wesen, das ihn immer mit Ehrfurcht erfüllt hatte, zeigte die unschöne Schattenseite, die sittenrichterliche Lieblosigkeit.

Wie stieg dagegen die unter allerhand Tändeleien versteckte warmherzige Sinnesweise Kilianes empor.

Er hatte seine Beschäftigung eingestellt und sich zurückgelehnt.

Nun war die letzte Münze an den richtigen Platz gebracht. Alle erhoben sich.

Magdalene stand auf, und ohne sich weiter um den Strauß zu kümmern ging sie und half die Geldsäckchen zuschnüren.

Er sah ihr mit einem langen Blick nach.

In dieser Stunde, wo er den Verlobungsring, den er verschenken wollte, schon am Finger trug, schmerzte es ihn bis ins tiefste Herz, daß das Mädchen, welches er liebte, einem harmlosen Geschwätz sofort ungeziemende Deutung gab. Auf wen durfte ein Mann bauen, wenn die Frau nicht an ihn glaubte? Und bedurfte er nicht vor allem rückhaltloses Vertrauen in den Kämpfen, die er auf seinem Weg unabwendbar vor sich sah?

Darüber half der Trost nicht hinweg, daß Eifersucht die Ursache des Zwiespaltes war; er milderte nicht die Demütigung, die der Freier statt des ersehnten Glückes heimtrug.

Auf seiner freien Stirn trat eine Ader hervor.

Entschlossen wandte er sich an den Hausherrn. „Gestattet mir Hochehrwürden, daß ich Ihn in das Museum begleite? Ich habe ein paar Worte mit Ihm zu sprechen.“

[615] Dann machte er den beiden Frauen eine Verbeugung, drehte sich schroff ab und folgte dem Superintendenten die Treppe hinauf.

Die Kirchendiener empfahlen sich und gingen.

Fieke hatte mit ihren pfiffigen Aeuglein alles gesehen. „Mamsell Lenchen hat wohl gar darum böse gethan, weil der Knopf ein alter Bekannter vom Herrn Sekretarius war?“ fragte sie. „Da muß ich Ihr doch sagen: das Hoffrölen hat sich am Sylvesterabend ein Eichhörnchen gegossen. Ja, wenn Sie auch Augen und Mund aufsperrt! Ich weiß, was ich weiß. – Aber es ist kein Wunder, wenn Ihre Sache zu keinem gedeihlichen Ende führt. Warum schenkt der Herr Sekretarius zum Jahrmarkt einen Nähkasten, obschon jedermann weiß, daß Nadeln die Liebe zerstechen?“

Magdalene war bei jedem Wort zusamnwngefahren. Nun sagte sie, stolz abwehrend: „Was kümmert mich das Fräulein und ihr Eichhörnchen?“

„Fiekchen,“ kam die Hausfrau ihrer Tochter zu Hilfe, „behalte doch Deine Erfahrungen mit den Nadeln, die Du wahrscheinlich bei Deinem Schneiderlehrling gemachl hast, für Dich.“

„Na, solche habe ich nicht gemacht wie die Mamsell mit ihrem Schatz,“ erwiderte Fieke nun auch erbost. „Der Herr Sekretarius drehte sich auf dem Absatz herum, als sei es für immer.“

Dann wünschte sie allerseits gehorsamst eine geruhsame Nacht und wieselte fort.

„Lenchen,“ sagte in klagendem Tone die Mutter, „wozu machst Du Dir so viel Mühe mit den feinen Hohlnähten an den Hemdkrausen, wenn Du doch den Freier immer vor den Kopf stößest?“

Magdalene sah ihre Mutter vorwurfsvoll an.

„Ach,“ erwiderte die sanfte Frau, den Blick verstehend. „Wollte man auf jedes Geklatsch hören, dann käme nie eine Heirat zu stande. Vor einer Verlobung trägt jeder eine ungünstige Nachricht über den Freier in das Haus der Umworbenen, wie später die alten Tiegel auf den Polterabendhaufen.“

Sie hielt inne. Struve kam wieder die Treppe herab.

Die Frauen lauschten. Magdalene faßte nach der Tischkante.

Aber draußen ging der jugendlich elastische Schritt stracks vorüber. Dann klingelte die Hausthür.

Magdalene that wie mit gelähmter Hand die ihr obliegende Arbeit, den blank gebohnten Tisch abzuwischen.

Ihre Murrer seufzte, nahm das Licht und begab sich zu ihrem Eheherrn hinauf.

Aber es dauerte heute lange, ehe droben Ruhe wurde.

„Und wenn mir Amtsentsetzung drohte, nicht ein Wort würde von mir zurückgehalten werden,“ schallte die Stimme des Superintendenten herab.

„Aber wer kann wider den Stachel löcken?“ wagte seine Frau einzuwerfen.

„Der Heilige Geist läßt sich nicht den Mund zubinden,“ widerlegte er sie.

Sie schwieg. Sie mußte es über sich ergehen lassen. Von altersher gilt das Wort: Männer kämpfen, Frauen dulden.

Erst spät ertönte der Abendsegen. Die Stimme von Olearius klang fest, kampfesfreudig; leise zitternd stimmte seine Frau ein.

Auch Magdalene begab sich nicht sofort in ihr Kämmerlein. Sie griff zwar nach der Lampe; aber sie stellte dieselbe wieder hin.

Sie konnte es nicht über das Herz bringen, die schönen Blumen verschmachten zu lassen. Sie hatten es nicht verschuldet, daß der Geber heimlich mit andern schäkerte.

Sie holte einen Würztopf aus dem blauen Porzellan, das in Dorotheenthal gemacht wurde, und stellte mit zitternden Fingern die Blumen hinein.

Wie groß und braun die Aurikeln sie anschauten!

Sie legte plötzlich die Arme auf den Tisch, den Kopf darauf, und unaufhaltsam brachen Thränen und Schluchzen hervor.


Fieke hatte sich von der Magd das Hinterpförtchen öffnen lassen, welches vom Garten der Superintendentur in die Mauergasse führte, in welcher ihr Häuschen stand: krumm und schief wie der kleine Spittelmann auf zwei Krücken.

Hurtig schritt sie ihm zu, daß der Rock aus grobwollenem Rasch geschäftig schwänzte und die weiße Tändelschürze flatterte, die ihr Kiliane geschenkt hatte.

Auf der Bank unter dem Hollunderbaum saß Märten und pflegte der Abendruhe. Als er sie durch die Dunkelheit heranhuschen sah, erhob er sich. Sein Kopf reichte bis an die Dachschindeln.

„Na Fiekchen, hast Du einmal die ganze Stadt zusammengeflickt?“ lachte er ihr entgegen. „Hast ja heute zu allen Fenstern herausgeguckt!“

„Ist das eine Qual,“ seufzte Fieke und packte ihr Körbchen aus, „mit der verflixten Schneiderei! Jede will hübscher gemacht werden, als sie der liebe Gott geschaffen hat. Die Haushälterin vom Herrn Kanzler will eine Wespentaille haben – wenn man sich von solchen Wickelklößen nährt!“ sie schob das gelb glänzende Gebäck ihrem Schatze zu. „Und Justizienrats Christelchen möchte rund wie eine Nudel sein,“ sie legte einen trockenen Bückling daneben.

Märten sah behaglich zu, wie sie so sauber seine Abendmahlzeit ausbreitete: die gerechten Butterfladen aus der Superintendentur und das ungerechte gekochte Hühnchen, das von säumigen Zinsleuten dem Herrn Rentamtmann als Bestechung in die Küche geliefert worden war.

„Du hast schon recht, Fiekchen,“ nickte er. „Aber es giebt auch Jungfern, die eine Wespentaille haben und doch ein rundes Nudelchen sind.“ Er faßte sie um die zierliche Taille, hob sie gelassen in die Höhe und küßte sie herzhaft auf die gesprächigen Lippen.

Dann stellte er sie ebenso ruhig wieder auf ihre Hackenschuhe und machte sich über das Abendbrot her.

Sie hatte seine gemächliche Liebkosung vergnügt hingenommen. Jetzt klagte sie: „Ach, Märten, alles geht schief. Statt Verlöbnis zu halten zanken sich die Leute. Wer weiß, ob ich das amaranthfarbene Kamisölchen von Superintendents Lenchen kriege, in dem ich Hochzeit machen will.“

Er schüttelte seinen dicken Kopf. „Wird das sich dann zu unsern verschrumpften Gesichtern und grauen Haaren schicken?“ fragte er zwischen dem Kauen. „Wir haben erst dreizehn Gülden und sechs Mariengroschen, ist noch weithin bis zu hundert Meißenschen Gülden, die ich nun einnnal nachweisen soll.“ Es war ihm ordentlich lächerlich. „Du freilich bist eine Vollbürgerstochter.“

Fieke drehte selbstgefällig den Kopf hin und her, daß die silbernen Ohrbommeln schwankten. „Ja, ich gehe eine Mesalliance ein, wie sie es bei Hofe nennen,“ sagte sie. „Aber ich thu’ es gern.“ Dann fiel sie in ihren belfernden Ton zurück: „Die Ungerechtigkeit ist himmelschreiend. Wenn es gilt, eine Innung zu behummeln, dann können die Gesetze an den Nagel gehangen werden. Neulich – wir machten aus der Bräutigamsweste des Herrn Bürgermeisters – er hatte sie beim vorigen Schützenfest mit Sauce begossen – wir machten also daraus für den kleinsten Jungen das erste Höschen – das richtige Hanswürstchen! Da bin ich im Mantel und Hut des Herrn durch die Hinterthür hinein geführt worden, daß die Schneider es nicht erführen; aber den armen Leuten wird nicht durch die Finger gesehen.“

„Das hat mein Ur-Ur-Urgroßvater auch schon gesagt,“ brummte Märten und nahm ein zweites Butterbrot.

„Schlimm genug, daß es nach zweihundert Jahren noch immer nicht besser ist,“ zankte sie weiter, „daß die großen Herren noch immer die kleinen Leute schinden.“

„Christian Struve ausgenommen,“ schaltete Märten ein.

„So gehe zu Deinem Christian Struve,“ fuhr sie ihn an. „Vielleicht giebt er Dir ein Sümmchen dazu, wenn Du ihn darum angehst.“

Er sah sie groß an. „Helfen würd’ er wir schon: aber Struve anbetteln? Struve, den ich Du nennen muß, wie wir als kleine Jungen gethan haben? Der mir die Hand drückt wie seinesgleichen? Dann wäre ich ein Bettelmann und nicht mehr sein Freund! Nee, Fieke, lieber Hungers sterben!“

Sie stemmte die Arme in die Seite. „Lieber auch die Fieke im Spittel verkümmern lassen?“

Es zuckte in dem offenen Gesicht. „Wenn’s sein muß – ja!“ sagte er ehrlich.

Sie kreischte auf.

Er faßte mit seiner harten starken Faust ihr feines Schneiderhändchen. „Sei vernünftig, Fieke. Siehst Du, seit ich Struve kenne, weiß ich, daß ich doch auch ein Mensch bin wie alle die andern. Lange ehvor wir einander gut wurden, habe ich mein Herz an ihn gehangen. – Wir waren beide kleine Jungen und [616] saßen in der Schule. Alle schlossen sich an den Hofratssohn an, und neben mir wollte niemand sitzen; denn ich war zerrissen und struppig. Und was das Schlimmste war: sie schrieen mich immer an: ,Rädleinsführer!‘ Wegen dem“ – er strich mit der Hand um den Hals. „Ich prügelte ja so viele durch, wie ich konnte; aber es war ein ganzer Haufen. An die Arbeit will ich denken! Und zuletzt kam der Schulmeister mit dem Bakel, und nun mußte mein Buckel herhalten. Da saß ich nun auf der Eselsbank. Die Schule wurde geschlossen, und die ganze Horde wartete draußen und wollte noch einmal mit dem Schimpfwort über mich herfallen. Da kam Struve zu mir und sagte: ‚Komm, Märten, wir wollen zusammen gehen.‘ Und da gingen wir, der vornehme Junge seine silberbeschlagene Bibel, ich meinen zerlederten Katechismus unterm Arm. ‚Kümmere Dich nicht um die Schreier,‘ sagte er. Er nahm mich mit in seinen Garten hinter die Stachelbeerbüsche. Da saß er im Bratenwestchen, ich barfuß, und er sagte immer: ,Nimm Dir die größten, Märten!‘ Das vergesse ich ihm nicht bis an den jüngsten Tag!“

Fieke faßte nach dem Schürzenzipfel.

„Lieber Himmel, wegen ein paar Stachelbeeren!“

„Dummes Weibsvolk!“ donnerte Märten. „Versteht nichts davon, wie es einem Manne ums Herz ist. Euer Verstand geht nicht über Eure Fingerhütchen und Nadelbüchschen hinaus.“

„Na, wenn das so verächtliches Handwerkszeug ist, brauchst Du auch nicht aufzuessen, was damit verdient wird,“ sagte sie bissig und räumte ihre Fladen zusammen.

Einen Augenblick blieb es still. Märten hatte das Stückchen Brot aus der Hand gelegt. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, was ihm nicht einmal geschah, wenn er Steinblöcke herumschrotete.

„Sieh, Fieke, so etwas hätte Struve niemalen gesagt und gethan,“ sprach er leise. Dann ging er nach seinem alten Mauerturm hinüber, dessen spitzes Dächlein scharf in den Sternenhimmel ragte.

Sie fuhr in ihr Häuschen und schlug die Thür zu.


Durch die Wiesen, die von Plane herführten, ritt Konrad von Eichfeld.

Die grauen Augen brüteten vor sich hin; die schönen Brauen waren finster zusammengezogen.

In der Wechslerstube in Plane war man unverschämt geworden, als er borgen wollte, hatte man die Verschreibung der kommenden Ernte verlangt.

Er hatte es freilich toll getrieben in letzter Zeit, drauf los gewagt in diesem widrigen Trischak, den alten schweren Malaga hinunter gestürzt. Gimpel und Tölpel würde ihn niemand mehr nennen. Er hatte gelernt schweigen zu den süßlichen und frivolen Reden der Hofleute, beim Kartenspielen das Geld, das seine Eltern zusammengespart hatten, mit lächelnder Miene verlieren, sich langweilen bei großer Cour.

Aber je mehr er den „Krautjunker“ los wurde, um so tiefer geriet er in Schulden, und wenn er auch lachend darüber seine Witze machte – tief in ihm nagte der Gewissenswurm und ließ ihn nie zum Genuß kommen.

Manchmal im Anfang seiner Laufbahn, wenn Kiliane ihn ansah mit dem Blick, dem Blick, für den man jede Tollheit begehen konnte, hatte er gehofft –

Ach, es war ja Wahnsinn gewesen: in den Eichfeldhof paßte sie nicht. Das stolz zurückgeworfene Köpfchen würde sich schwerlich bücken unter der niedrigen braunen Thür; der kleine Fuß, der gewohnt war, Atlasschuhe auf fürstlichem Parkett zu zerlaufen, vor der ausgetretenen Wendelstiege zurückscheuen. Als Kammerjungfer die ehrliche Grete – wie würde sie lachen!

Wenn er den Eichfeldhof verkaufte?

Es mochte so viel herausspringen, daß er bis zum Kammerherrn dienen konnte, und dann würde ihm Kiliane die Hand nicht versagen.

Das Herz schnürte sich ihm zu. Er sah Hannjörgs treue vorwurfsvolle Augen, der brotlos davon ging; den alten Schecken, auf dem er reiten gelernt hatte, den man tot schindete; Phylax, der durchaus mit ihm gehen wollte, der endlich Prügel deshalb bekam – was sollte das alte zottige Tier hier unter Möpsen und Windspielen?

Und dann mußte er des kleinen Gottesackers gedenken mit dem Erbbegräbnis, wo seine Eltern schliefen, wo die rosa Winden über die niedrige Umfriedung von Feldsteinen hinüber liefen und sich unter den dunklen Epheu mischten, der die alten Denkmäler mit grauen Rittergestalten und Wappen überspann; wo er so manches Mal gesessen hatte, wenn er seine Flur besichtigt, nach den Herden gesehen hatte, von einer Jagd heimgekommen war.

Es war plötzlich, als drängten sich Gestalten, lebende und tote, aber alle ihm lieb und vertraut, um ihn herum …

Helles Lachen ließ ihn auffahren.

Er war an dem Gartenthor angelangt. Die Flügel standen offen. Die Fronbauern aus dem nahen Dorf waren beschäftigt, die weiten Rasenplätze zwischen den steif geschorenen Gängen zu mähen.

Bunte Kleider schimmerten aus dem lichten Grün der Buchen und – das war Kilianes Stimme gewesen.

Konrad sprang vom Pferd, übergab es einem der Leute und eilte dem Klange nach.

Am Eingang der Pappelallee, die zwei Sphinxe bewachten, stand Kiliane. „Wenn die Herren und Damen auch dagegen streiten, ich bleibe dabei: Mähen ist künstliche Arbeit; keiner von Ihnen vollführt sie,“ hörte er sie sagen.

Jetzt wandte sie sich um. Nein, er täuschte sich nicht: ein rasches Rot flog wie eine Morgenwolke über ihr schönes Gesicht. Und der Spott war aus ihren Zügen hinweggewischt. Sie hatte den nachdenklichen Ausdruck noch nicht verloren, der durch Struves Mahnung heute morgen hervorgerufen worden war.

Der Stallmeister, forsch wie immer, rief zurück: „Das wollen wir doch sehen!“ nahm einem der Mähder die Sense ab und that einen Streich. Das Eisen blieb in der Erde stecken.

Der erste Kammerherr stelzte heran; er vermochte die Sense kaum zu heben.

Sie ging von Hand zu Hand. Wie zerhackt lag das Gras, zu hoch, zu niedrig abgesäbelt, eine Wüstenei.

Lachend trat Konrad heran. Den Stulphandschuh abstreifend, ergriff er die Sense.

Zuerst dengelte er sie richtig, wenn auch die Damen darüber die Fingerchen in die Ohren steckten. Dann nahm er sie ruhig in die kräftigen Hände. Und nun that er den ersten Hieb. Eine lange gleichmäßige Schwade bedeckte den Boden; ein zweiter Streich – und abermals fielen die grünen Halme, die goldgelben Butterblumen.

Die Gesellschaft sah stumm zu. Aber keiner sprach das Wort: Krautjunker.

Wie er so vorwärts schritt, gleichmäßig die Sense führend, den dreieckigen Hut auf der weißen Perücke, das Handgelenk von Brüsseler Spitzen umkräuselt, ein leichtes Lachen um die roten Lippen, kaum rascher atmend bei der schweren Arbeit, sah er nicht aus wie ein gemeiner Mann. Es war der Herr, der die Arbeit that, nicht der Knecht.

Kein Mann liebt es, wenn ein anderer die Aufmerksamkeit der Damen erregt. Die Gesellschaft zerstreute sich.

Konrad bemerkte es nicht. Als habe er die Umgebung vergessen, so mähte er weiter bis ans Ende des Platzes.

Dann gab er die Sense aus der Hand, trocknete leicht mit dem Spitzentuch die Stirn. Sein Auge suchte Kiliane.

Wie so ganz anders sah sie aus als sonst. Wie eine sehnsüchtige Frage, die sich scheu kaum hervorwagt, kam ihr Blick zu ihm herüber.

Mit raschen Schritten war er neben ihr. „Das Fräulein ist verändert; was ist geschehen?“ drang er in sie. „Hat das Fräulein einen Wunsch? Steht es in meiner Macht, ihn zu erfüllen?“ fuhr er eifrig fort.

Sie sah ihn an, als wolle sie ihm bis in den Grund seiner Seele schauen. „In Seiner Macht wohl – und doch! – ich weiß nicht, ob Er es vermag.“

„Warum?“ fuhr er auf. „Stelle mich das Fräulein doch auf die Probe! Was ist’s?“

Sie stand vor ihm neben der Sphinx.

Langsam sprach sie: „Nun, so rate der Junker! Es ist zweierlei, was ich ersehne, und doch gehört eines zum andern. Es ist mir zum Hohne zugesellt, seit ich in die Wiege gelegt wurde, es begleitet mich überall, und doch besitze ich es nicht, wie ich es auch ersehne, dem Tantalus gleich, der im Anblick des Labsals

[617]

Ein letzter Rat.
Gemälde von T. E. Duverger.

[618] verschmachten mußte. Manchmal, wenn wir in den Prachtsälen stehen, wo wir doch nur Dekorationen sind, wenn wir an fürstlicher Tafel Leckerbissen naschen, dann steigt er vor mir auf, der versunkene Schatz.“ Sie dachte an ihren Namen … Heim – Brot, ein Leben im eignen Heim!

Ihre weiche bebende Stimme hatte ihn ganz umsponnen; sein Blick hing an ihren Lippen. Er hätte vor ihr niederknieen, flehen mögen: „Komm mit mir in mein schlichtes Haus! Der versunkene Schatz – das ist das Glück zweier Herzen.“ Aber immer bis jetzt, wenn ihm das Herz überging, hatte er einen eisigen Strahl von Spott fühlen müssen. Die warmen Worte, die auf den warmen Ton antworteten, wagten sich nicht mehr über seine Lippen. Sie selbst hatte ihnen den Weg verschlossen.

„Ich vermag es nicht zu erraten,“ rief er ungeduldig. „Rede das Fräulein frei heraus. Und was es auch sei, ich schaffe es. O, der Wechsler in Plaue giebt Kredit, und wenn er nicht ausreicht,“ – einen Augenblick lief ein Zucken über sein Gesicht; aber dann setzte er doch rauh hinzu: – „so verkaufe ich den Eichfeldhof.“

Ihre Augen hafteten starr an ihm; es war, als versteinerten ihre weichen Züge. Deshalb war er heute früh ausgeritten! Sie hatte ihn den Weg nach Plaue hin galoppieren sehen. Beim Wucherer dort war er gewesen! Ein Weh zog über ihr Gesicht, als ersterbe etwas in ihr.

Dann brach sie in tolles Gelächter aus, bei dem ihr die Thränen aus den Augen stürzten, und rief: „Ich wußte es wohl! Was arme thörichte Herzen glauben hüten zu müssen wie ein Heiligtum, ist einem Hofkavalier – Lappalie! Eh bien, auch mir ist, was mir der Junker bieten kann – Lappalie.“ Sie streichelte der Sphinx die Tatzen. „Schwesterchen, das Rätsel ist nicht gelöst. – Herr Junker von Eichfeld à Dieu!“ verabschiedete sie sich kalt.

Mit dem Fuße stampfend, blieb Eichfeld zurück.

Kiliane ging langsam in die Anlagen hinein.

Es war ganz still hier; kein Halm bewegte sich. Nur fernher tönte das Rauschen der Fontainen. Steifgeschnittene Fichtenpyramiden umstanden sie in abgemessenem Kreis. Die Luft schien schwer von dem Hauch der jungen Triebe, die an den Bäumen hervorsproßten wie auch ein Vogel die gestutzten Flügel hebt. Die spitzen Wipfel ragten gleichförmig in den Abendhimmel, dessen Rot so glühend über ihnen lag, als sinke von ihm herab die heiße Schwüle.

Ihre Lippen zogen sich mit spöttischem Zucken empor. Hohn über die Närrin, die überspanntes Zeug wie ein simples Bürgermädchen träumte! In deren thörichtem Kopf die Grille sich festgesetzt hatte, den Junker von Eichfeld immer sich vorstellen zu müssen im schlichten Rock des Landedelmannes, seine Felder besichtigend, auf seinem Hofe befehlend und wetternd, die Hand, ein treufester Schutz, über Haus und Familie haltend.

Er wollte ganz sein wie die andern.

Sie bewegte den Kopf, als werfe sie etwas zu dem Kehricht des Lebens.

Da dünkte es sie, als wehe ein fremdartiger, fast feierlicher Duft an sie heran wie ein geisterhafter Gruß, der sie beängstigte.

Und jetzt tönte eine gedämpfte Stimme neben ihr: „Ich habe das Rätsel gelöst.“ Es klang wie ein Triumph.

Sie wandte sich rasch um.

Severin stand, ein dunkler Schatten, neben einer Pyramide.

Als ihr Blick ihn traf, irrte sein Auge ab.

Das Weib fühlt immer, wenn ihr Wesen den Mann beeinflußt, wie ein Komet die Atmosphäre des Planeten, dessen Bahn er kreuzt.

Das Grauen, das sie vor dem Mönch empfunden hatte, schlug in ihrer verzweifelten Stimmung um in eine grausame Freude an der Qual anderer.

Sie sah auf seine fest niedergeschlagenen Augen. „Was hilft es mir?“ sagte sie mit ihrem reizenden Lachen. „Kann der Herr mir bieten, was ich ersehne?“

Er schwieg. Kein Atemzug ward laut. Sein Gesicht blieb farblos.

Endlich sagte er mit einem Flüstern, das sie heiß umwehte: „Ich weiß eine Stätte, wo beides in einem zu finden ist für die Zeitlichkeit und Ewigkeit!“

Sie lachte ausgelassen. „Das sieht meinem Schicksal ähnlich, immer pikant! Nur nichts Alltägliches. Der Edelmann, dem das Rätsel aufgegeben war, partet mit Wucherern und der es löst, ist ein –“

Das Wort wurde nicht ausgesprochen: Severin blickte auf und sie an.

Starr sah sie in seine Augen. Ein Schauder schüttelte sie, und sie trat scheu einen Schritt zurück.

Im nächsten Augenblick war Severin hinter den dunklen Fichten verschwunden. Der Weihrauchduft verwehte.

Wie mit gelähmten Gliedern schleppte sie sich dem Schlosse zu.

Der Blick ging ihr nach. Unendliche Qual lag darin und – gewaltsam unterdrückte Glut.

Warum schenkte sie dem Moralprediger Struve Gehör? Nahm die Maske ab, die ihr bisher so gute Dienste geleistet hatte?

Der Lohn war eine herbe Enttäuschung und jener Blick mit seiner Enthüllung.

Es war ihr recht geschehen. Wer sein Schicksal nicht wandeln kann, soll nicht in seine Tiefe sich versenken. Lieber weiter hinflattern über den Sumpf in lustiger Jagd, die Tage verbringen ohne Rückschau, ohne Voraussicht!

In den Gängen schallten noch lachende rufende Stimmen.

Sie schlich durch die Seitenpforte hinauf, vorsichtig auf den Fußspitzen über den Korridor, auf den auch die Zimmer der Wachsbossierer führten.

Plötzlich hielt sie an – was war das?

Ein Stöhnen drang heraus, und dann – fielen da nicht dumpfe Schläge – wie von einer Geißel?

Ihre Züge blieben hart. Der eine geißelt sich, die andere lacht. Jeder hilft sich, wie er kann.

Allons, wieder hinein in die Maskerade des Lebens!

(Fortsetzung folgt.)


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Gesprächige Frauen.

Von Rudolf Kleinpaul.

Die Gesprächigkeit der lieben Frauen ist eigentlich bekannt. Es giebt Indianerstämme, wo die Weiber eine ganz andere Sprache haben als die Männer; zum Beispiel bei den Kariben auf den Kleinen Antillen war es so. Gewöhnlich sprechen die Frauen nicht gerade anders als die Männer, aber meist mehr als die Männer. Die letzteren behaupten das nämlich – sie thun so, als ob die Frauen einerseits die Eitelkeit und den Spiegel, anderseits die Sprache gepachtet hätten, obgleich ich auch männliche Plaudertaschen und dafür Frauen kenne, die ein Geheimnis zu bewahren wissen. Auch unter uns leben Naturen vom Schlage der Porcia, der charakterstarken Gattin des Brutus. Aber die Herren der Schöpfung gefallen sich darin, die Thaten für sich in Anspruch zu nehmen und den Frauen die Redseligkeit zu lassen. Sie machen es wie Milton. Der englische Dichter war dreimal, und dreimal unglücklich verheiratet. Seine erste Frau ging ihm durch, seine zweite Frau starb ihm, seine dritte Frau verbitterte dem erblindeten Greis die letzten Lebensjahre. Von der ersten hatte er drei Töchter, die er notdürftig erzog, aber keine Sprachen lernen ließ. Man wollte ihn tadeln, doch er meinte betrübt: „Ach, eine Sprache ist schon genug für Weiberzungen!“

Zu gunsten dieser Art Gesprächigkeit, deren Wesen und Wert der verbitterte Dichter offenbar verkannte, möchte ich heute meinerseits etwas gesprächig werden. Ich meine mit meiner Aufschrift nicht Frauen, die viel sprechen, sondern die viele Sprachen sprechen – von alten und modernen Sprachenköniginnen möchte ich etwas erzählen. Diese sind gewiß selten, die Männer mögen sagen, was sie wollen. Frauen, die vieler Sprachen mächtig sind und nicht nur so ein bißchen Französisch oder Englisch gelernt haben, imponieren schon; sie werden schon zu den höher Gebildeten gerechnet. Zwar sind heutzutage Sprachkenntnisse infolge des vielen Reisens auch unter den Frauen ungleich verbreiteter als sonst und bereits auf den Töchterschulen und Pensionaten ein Gegenstand liebevoller Pflege. Aber als am Ende des 17. Jahrhunderts Aurora Gräfin von Königsmark, die Geliebte [619] Augusts des Starken, deutsch, französisch, englisch und italienisch sprach, hieß es, daß sie eine sorgfältige, großartige Erziehung genossen habe, und als Kaiser Heinrich V. im Jahre 1111 die bekannte Markgräfin Mathilde von Tuscien auf der Feste Bianello bei Reggio besuchte, war er überrascht, als sich die große Gräfin in deutscher Sprache mit ihm unterhalten konnte. Gegenwärtig gehören diese vier Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch bei den Gräfinnen gewissermaßen zum täglichen Brot, und es findet niemand etwas darin, wenn die Königin Margherita geläufig deutsch spricht und liest. Daß eine deutsche Dame gut englisch und leidlich italienisch spricht, daß sie in Italien gewesen und einen Winter in Rom verbracht hat, kommt jetzt so häufig vor, daß man sich gar nicht genug verwunderu kann, wie die Berliner vor ein paar Jahren, bei der Anwesenheit des Königs Humbert in Berlin, nicht imstande waren, eine Dame zu finden, die das Italienische völlig beherrschte.

Es war im Mai des Jahres 1889; der König von Italien kam an, die Majestäten fuhren nach dem Schlosse, und der Joachimsche Sängerchor stimmte die Weise aus Händels Josua an: „Seht, er kommt mit Sieg gekrönt!“ Darauf hielt der Wagen, denn eine Künstlerin, Frau von Hochenburger, trat als Klio vor und bewillkommnete den hohen Gast mit ein paar italienischen Strophen, die der Geheimerat Jordan gedichtet hatte. Sie sprach die Verse mit edlem Schwung und Feuer, lauthintönenden Klanges – der König war sichtlich überrascht und angenehm berührt. Er winkte die Dame freundlich heran uud sagte ihr, wie sehr es ihn freue, hier in seiner Muttersprache begrüßt zu werden. Und die Unglückliche verstand den König nicht! Sie konnte nur antworten: „Non capisco!“ was den König wiederum nicht wenig wunder nahm. Gewiß hätte man die Dame etwas gesprächiger gewünscht, denn so erinnerte sie doch ein wenig an einen Papagei oder Raben, dem man Worte eingelernt hat, die er nun verständnislos hersagt. – Es wäre übrigens hübsch gewesen, wenn der König Humbert seinen Dank und seine Freude gleich wieder deutsch ausgesprochen hätte; als ihm der Oberbürgermeister die Sympathien der Stadt Berlin ausdrückte, die diese sowohl der Kroue, als dem italienischen Volke entgegenbringe, drückte er ihm die Hand und sagte (wenn der Berichterstatter recht gehört hat): „Beaucoup de grâces“, womit er offenbar das italienische tante grazie übersetzte, während der Franzose merci sagen würde. Bei unserem Kaiser wurde es sehr bemerkt, daß er in Rußland den russischen Soldaten auf gut russisch Bescheid thun konnte.

Italienisch zu sprechen und – die Hauptsache bei einer fremden Sprache – Italienisch zu verstehen, ist bei uns in gebildeteren Kreisen nichts Ungewöhnliches mehr, wie es in Wien nichts Besonderes ist; will heutzutage eine Dame etwas gelten, so muß sie schon russisch sprechen wie die Prinzessin Therese von Bayern – oder griechisch wie Frau Schliemann, die freilich eine geborene Griechin ist, aber außerdem noch ein halbes Dutzend anderer Sprachen beherrscht – oder hebräisch wie Eustochia, die Freundin des heiligen Hieronymus, die den Kirchenvater nach Palästiaa begleitete und mit ihm die Psalmen Davids in der Ursprache sang. Diese heilige Eustochia, eine vornehme Römerin des vierten Jahrhunderts, die Tochter der heiligen Paula, muß schon mehr zu den gelehrten Frauen zu rechnen gewesen sein, weil sie eine tote Sprache trieb, denn natürlich sprach man im vierten Jahrhundert nach Christus im Heiligen Lande kein Hebräisch; und von solchen Philologinnen sehen wir eigentlich hier ab. Wir kümmern uns bloß um die sprachgewandten Weltdamen, die mit allen Leuten zu reden wissen und nebenbei einen literarischen Anflug haben. Mit den klassischen Sprachen hat es jedoch eine eigene Bewandtnis; sie lebten im Mittelalter wirklich noch unter den höheren Ständen, und namentlich das Lateinische war Modesprache, wie das Französische noch heute Modesprache ist. Ich denke doch, die Maria Stuart war kein Blaustrumpf? – Nun, die Maria Stuart las in Holyrood Palace den Livius nach dem Mittagessen, und zwar im Original. Und ihre Nebenbuhlerin, die Königin Elisabeth von England? – Sie antwortete einst den Abgeordneten von Cambridge in griechischer Sprache und den polnischen Gesandten lateinisch. Aehnlich wurde vor ein paar Jahren in Berlin bei der Audienz des neuen italienischen Botschafters Grafen Lanza, der deutsch sprach und verstand, die Unterhaltung französisch geführt.

Solche Sprachen wie Deutsch, Französisch, Englisch oder Italienisch sprechen zu können, gehört zum guten Ton, weil das eben die heutigen Umgangssprachen sind; aber wenn die gnädige Frau noch außerdem mehrere andere lebende Sprachen meistert, entsteht eine kleine Sprachenkönigin. Und solche Sprachenköniginnen sind immer am ersten die wirklichen Königinnen gewesen, schon im Altertum. Die berühmte Kleopatra war nicht nur eine Kokette ersten Ranges, erfahren in allen Künsten der Verführung; sie war auch eine Frau von großem Talent, die ungewöhnliche Sprachkenntnisse besaß. Sie beherrschte sieben Sprachen, während ihre Vorgänger auf dem Throne nicht einmal das Aegyptische richtig sprachen, ja sogar ihr heimisches Macedonisch vergessen hatten. Es ist sonderbar, daß der Orient ein paar Jahrhunderte später noch eine bedeutende Frau erzeugte, die viel Aehnlichkeit mit der Kleopatra besaß und in der That von ihr abzustammen vorgab: Zenobia, die Königin von Palmyra. Auch sie war ein so schönes, wie hochgebildetes Weib, auch sie war sprachkundig, mit dem Lateinischen vertraut, des Griechischen mächtig, im Aegyptischen beschlagen und in den syrischen Dialekten fest. Das Schicksal verschlug sie nach Rom, wo sie, mit Gold und Edelsteinen beladen, vor dem Wagen des Kaisers Aurelian an einer goldnen Kette im Triumphe aufgeführt ward und nachmals mit ihren Söhnen in einer Villa bei Tivoli als römische Matrone lebte, wie in unseren Tagen so manche ehemalige Herrscherin auf ihre alten Tage bei London oder Wien in einer Villa lebt.

Im österreichischen Kaiserhause ist das Sprachenlernen traditionell, und nicht bloß die männlichen Mitglieder desselben rühmen sich, mit allen ihren Unterthanen in deren Muttersprache verkehren zu können, auch die Kaiserinnen und die Erzherzoginnen pflegen sich diese Fähigkeit zu erwerben. Als die Prinzessin Stephanie von Belgien Braut des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich war, hatte sie nichts Eiligeres zu thun, als Ungarisch und Tschechisch zu lernen, gerade so wie die Prinzessin Sophie von Preußen als Braut des Kronprinzen Konstantin Griechisch und die Prinzessin Alix von Hessen als Braut des Großfürsten-Thronfolgers Russisch lernte. Vielleicht bringt sie es einmal so weit wie die nordische Semiramis, Katharina II., die, ebenfalls eine deutsche Prinzessin, als Kaiserin von Rußland hundert verschiedene russische Nationen in ihren Mundarten anzureden vermochte. Die Erzherzogin Maria Christine von Oesterreich, die Witwe des Königs Alfons von Spanien, lernte als Braut in ein paar Monaten Spanisch; am 30. Dezember 1885 leistete sie im reinsten Spanisch den Eid auf die Verfassung. Sie spricht, eine echte Oesterreicherin, wie ihr verstorbener Gemahl außer Russisch und Türkisch die meisten modernen Sprachen und lernt jetzt Baskisch. Vielleicht ist das mit ein Grund, daß die Königin-Regentin so gern zu dem Vater Mortara in die Kirche geht. Dieser Vater Mortara, ein Kanonikus des Augustinerordens, ein ernster gedankenvoller Mönch, ist derselbe, der als Judenkind in Bologna von einer frommen christlichen Amme die Nottaufe erhielt und hierauf seinen Eltern von den päpstlichen Sbirren weggenommen ward. Er predigt, wenn er sich in Madrid befindet, in der Kirche San José und spricht nicht minder seine zweiundzwanzig Sprachen.

Vor allen Frauen ragt auf diesem Felde die Kaiserin von Oesterreich hervor. Wie sie die Litteratur kennt und pflegt, so ist sie auch eine wahre Sprachenkönigin, die nicht nur alle Sprachen der österreichisch-ungarischen Kronländer, nicht nur die Hauptkultursprachen, sondern, ich möchte sagen: alle Sprachen der Habsburgischen Dynastie beherrscht. Ja, sie hat charakteristischerweise gerade dieses Studium gewählt, um sich in den schweren Prüfungen des Lebens zu zerstreuen, ihre Gedanken abzulenken und den Geist zu beschäftigen – wenn sie einen großen Schmerz zu überwinden hat, so erlernt sie eine fremde Sprache.

Die Kaiserin von Oesterreich ist eine bayerische Prinzessin, mithin eine Verwandte der obengenannten Prinzeß Therese, der Tochter des Prinzregenten Luitpold, die unter dem Schriftstellernamen Th. von Bayer Reiseerinnerungen aus Rußland herausgegeben hat und acht Sprachen geläufig spricht. Die Namensschwester der Kaiserin, Elisabeth von Rumänien, die als Dichterin den Namen Carmen Sylva führt, soll ebenfalls in drei Sprachen schreiben und so ziemlich alle übrigen europäischen Sprachen sprechen. Ueber die Gesprächigkeit dieser deutschen Prinzessinnen! Gehört nicht auch die Königin Viktoria halb und halb zu ihnen? Nun, die Königin von Großbritannien und Kaiserin von Indien lernt in ihren hohen Jahren noch die Verkehrssprache Indiens, das sogenannte Hindustani, das von etwa 100 Millionen Menschen gesprochen wird, [620] und nimmt nebst zwei Mitgliedern ihrer Familie bei einem jungen, eigens zu diesem Zwecke nach England berufenen indischen Fürsten Unterricht. Seit Juni 1888 treibt die hohe Frau Hindustani. Es ist nicht lange her, daß der sogenannte Gaikawar, der Fürst des britisch-indischen Vasallenstaates Baroda, nebst seiner Gemahlin, der sogenannten Maharami, bei der Königin Viktoria in Windsor zu Gaste war. Notabene, der Titel Gaikawar bedeutet eigentlich so viel wie Kuhhirt; Maharami ist das Femininum zu Maharadscha, Großkönig.

Diese Fürstlichkeiten hatte die Königin Viktoria schon im Jahre 1887 bei ihrem fünfzigjährigen Regierungsjubiläum kennengelernt. Aber damals verstand die Königin noch kein Wort Hindustani und die Großkönigin noch kein Wort Englisch. Anders im Jahre 1892. In der Audienz, welche die Königin der Maharami jetzt gewährte, redete die Fürstin ihre Oberlehnsherrin in erträglichem Englisch an, und die Königin erwiderte ohne Mühe in der Sprache Hindostans. In derselben fand sie auch ein freundliches Wort für die zwei kleinen indischen Prinzen, welche der Audienz beiwohnten. Die kleinen Jungen hatten wie gewöhnlich große Brillanten an den Fingern und an den Mützen. Die Diamanten, Perlen und Smaragden, welche die Fürstin an ihrer hellroten Jacke trug, sollen das Schönste gewesen sein, was man an Juwelen in Windsor bei Tageslicht jemals gesehen hat! Daß die Dame etwas gelernt hatte, war ebenfalls ein Juwel.


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Die Frage der „Selbstentzündung“.

Von C. Falkenhorst.
II.
Die Selbstverbrennung des menschlichen Körpers. – Selbstentzündungen als Folge der Lebensthätigkeit (Heu).

Am 13. Juni 1847 wurde in Darmstadt Emilie Gräfin von Görlitz in ihrer Wohnung tot und halb verbrannt aufgefunden. In dem Augenblicke, als man in das Zimmer eindrang, stand in demselben ein Schreibtisch, ein sogenannter Kaunitz, in Brand und die Leiche der unglücklichen Gräfin lag etwa zwei Fuß von demselben entfernt auf dem Boden. Ihr Anblick war schauerlich; der Kopf war auf ein Drittel seines ursprünglichen Umfanges zusammengeschrumpft und in einen runden unförmlichen schwarzen Klumpen verwandelt, der Hals war weniger zerstört als das Haupt, immerhin aber erstreckten sich die Spuren des Feuerbrandes über die Brust bis einen Zoll unter der Herzgrube.

Von seiten des Gerichts wurde eine Untersuchung eingeleitet, die mit dem Ergebnis abschloß, daß die Gräfin durch irgend einen unglücklichen Zufall ums Leben gekommen war, und selbst von gerichtsärztlicher Seite wurde der Möglichkeit Raum gegeben, daß der Tod in diesem Falle die Folge einer „Selbstverbrennung“ sein könnte.

Die öffentliche Meinung jedoch begnügte sich nicht mit diesem Gutachten; es erhoben sich vielmehr in Zeitungen Stimmen, welche rundweg erklärten, daß an der Gräfin ein Verbrechen begangen, daß sie ermordet worden sei und daß der Mörder die Leiche nachträglich verbrannt habe, um die Spuren seiner That zu verwischen. Die Angelegenheit erregte um so mehr Aufsehen, als in einigen Zeitungen, wie z. B. in der Nummer des „Deutschen Zuschauers“ vom 1. Oktober 1847, der Graf von Görlitz, der Gatte der Verbrannten, des Mordes beschuldigt wurde. Der Artikel des „Deutschen Zuschauers“ wurde in jener bewegten Zeit eifrig nachgedruckt; war doch seine Spitze gegen die „Korruption der höheren Stände“ gerichtet. Er erinnerte an die kurz zuvor erfolgte Ermordung der Herzogin von Praslin durch ihren Gatten und erwähnte mit Wohlgefallen, daß unter den Pariser Proletariern der Vorschlag gemacht worden war, einen Verein zur sittlichen Besserung der höheren Stände zu gründen. Diese empörende Verdächtigung veranlaßte den Grafen von Görlitz zu einer dringenden Eingabe an das Hofgericht um Einleitung eines Verfahrens gegen ihn und seine Diener, und in der That wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens beschlossen und der Mörder ermittelt; aber nicht der Graf war schuldig, sondern nach dem Wahrspruch der Geschworenen Johann Stauff, ein Diener der Gräfin, der, wie er später selbst gestand, sein Opfer erdrosselt, aus dem Kaunitz Goldsachen gestohlen und, um die Spur seiner That zu verwischen, die Leiche zum Teil verbrannt hatte.

Der „Prozeß Görlitz“ wurde damals als „denkwürdigster Kriminalfall“ bezeichnet und in der That ist er für die Geschichte der gerichtlichen Medicin von hoher Bedeutung, da während der Verhandlungen die höchst sonderbare Lehre von der Selbstverbrennung des menschlichen Körpers, die beinahe zwei Jahrhunderte lang von Gerichtsärzten und Richtern geglaubt worden war, zu Grabe getragen wurde.

Von verschiedenen Seiten wurde anfangs behauptet, daß die Gräfin von Görlitz durch „Selbstverbrennung“ ums Leben gekommen sei. Was verstand man wohl unter dieser Selbstverbrennung? Im Jahre 1663 tauchte zuerst die Nachricht auf, daß ein Mensch sich von selbst entzündet habe und verbrannt sei. Seit jener Zeit bis zum Jahre 1850, also im Laufe von 187 Jahren, wurde die gerichtsärztliche Litteratur durch 45 „wohlverbürgte“, sehr umständlich mit Nennung der Namen, des Ortes und der Personen, des Jahres und des Tages erzählte Fälle von Selbstverbrennung bereichert.

Wir wollen nur kurz beispielshalber einige der berühmtesten Selbstverbrennungen erzählen:

Ein italienischer Priester, Namens Bertholi, ging auf den Markt in Filetto, um Geschäfte daselbst zu besorgen, er übernachtete bei einem seiner dort wohnenden Schwäger; in seinem Zimmer ließ er sich ein Sacktuch zwischen Schulter und Hemd legen und nachdem er allein war, begab er sich an das Lesen seines Gebetbuches beim Lichte einer Oellampe. Einige Minuten darauf hörte man ein ungewöhnliches Geräusch und den Priester schreien. Einige Leute, die nun herbeieilten, fanden Bertholi auf dem Boden liegen und umgeben von einer leichten Flamme, die sich mit der Annäherung der Leute entfernte und zuletzt verschwand. Bei der Untersuchung des Verletzten fand sich die äußere Haut des rechten Armes und der Fläche von den Schultern abwärts bis zu den Lenden von dem Fleische abgelöst. Die Schultern, welche von dem Sacktuch geschützt waren, waren nicht verletzt, das Sacktuch selbst zeigte keine Spur von Brand, an allen beschädigten Teilen war das Hemd vom Feuer verzehrt und überall, wo die Kleidungsstücke nicht verbrannten, war auch am Körper kein Brandmal zu bemerken. Ueber diesen von einem italienischen Bader, Namens Battaglia, verbürgten Fall wurden lange Abhandlungen geschrieben und als Ursache der Erscheinung „menschliche Elektricität“ angenommen, an die brennende Oellampe hat keiner der Gelehrten des achtzehnten Jahrhunderts gedacht!

In einem zweiten Falle handelte es sich um eine achtzigjährige Frau, die gar nichts mehr trank als Branntwein, sie fing an zu brennen, auf einem Sessel sitzend, und verbrannte, obwohl man reichlich Wasser auf sie goß, bis alles Fleisch am Körper verzehrt war; es blieb nur das Skelett, im Sessel sitzend, zurück. Ein Pfarrer, Namens Boineau, erzählte in einem Schreiben vom 22. Februar 1749 von diesem Ereignis; er selbst wohnte der Verbrennung nicht bei und sah die Flamme nicht.

Einer dritten Person begannen die Finger der rechten Hand von selbst zu brennen, welche bei Berührung die Beinkleider und die Finger der linken Hand entzündeten; dieses Feuer brannte fort im Sande und konnte durch Wasser nicht gelöscht werden.

In den meisten Fällen, in welchen Selbstverbrennung vorgekommen sein sollte, hatte niemand den Vorgang des Verbrennens selbst beobachtet, sondern man hatte in der Regel nur die verbrannten Leichen gefunden und auf Selbstverbrennung geschlossen. So fand man auch im Jahre 1725 die Ueberreste der Frau eines Einwohners von Reims, Namens Millet, verbrannt in der Küche, anderthalb Fuß von dem offenen Kamin entfernt. Es erhob sich gegen den Mann der begründete Verdacht, er sei der Mörder seiner Frau, aber Sachverständige erkannten eine menschliche Selbstverbrennung und Millet wurde als unschuldig freigesprochen.

Die absonderliche Idee der Selbstverbrennung entstand zu

[621]

Der Veteranen-Appell auf dem Tempelhofer Felde bei Berlin.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Pape.

[622] einer Zeit, da man über das Wesen und die Ursache der Verbrennung überhaupt eine ganz falsche Vorstellung hatte. Was bei einer Verbrennung überhaupt vorgeht, ist ja erst vor etwas mehr als hundert Jahren durch Lavoisier ermittelt worden. Vor der Begründung der chemischen Wissenschaft tappte man in den Versuchen, die Feuererscheinungen zu erklären, völlig im Dunkeln und so läßt es sich erklären, daß die Lehre von der Selbstverbrennung des menschlichen Körpers von Gerichtsärzten anstandslos angenommen wurde. Nachdem sie nun einmal vom Katheder verkündigt und in Lehrbücher aufgenommen worden war, bildete sie für das jüngere Geschlecht eine Art Dogma und ließ sich nur schwer ausrotten.

Da man an die Möglichkeit des Vorgangs glaubte, so konnte man ihn auch „wissenschaftlich“ erklären und begründen. Durch die gewöhnliche Flamme und Hitze wird der menschliche Körper gar nicht so leicht zerstört, das wußte man damals ebensogut wie heute; bei der Selbstverbrennung mußten also andere Verhältnisse vorliegen, entweder war der Körper anders beschaffen oder die Flamme eine andere. Man lehrte also, daß der Leib der Säufer mit Spiritus derart versetzt werde, daß er mit Leichtigkeit sich anzünden lasse; man nahm an, daß durch gewisse noch unbekannte krankhafte Zustände die Säfte des Körpers in leicht oder gar selbstentzündliche Verbindungen verwandelt werden können, und was die besondere Art von Feuer anbelangt, so nahm man seine Zuflucht zu der wunderbaren, rätselhaften Elektricität, die ja die eigenartigsten Licht- und Wärmeerscheinungen erzeugt. Die Führer der fortschreitenden Naturwissenschaft mußte ein Grauen erfassen, als sie den Wust phantastischer Annahme lasen, der mitunter sogar vom Lehrstuhl einer Universität herab verteidigt wurde, und so zog sechzig Jahre nach Lavoisiers Tode der Reformator der Chemie, Justus Liebig, in einer besonderen Schrift gegen die Lehre von der sogenannten Selbstverbrennung des menschlichen Körpers zu Felde, bewies klar die Unhaltbarkeit derselben und kennzeichnete sie als ein albernes Märchen. Die älteren Anhänger dieser Lehre vermochte er allerdings nicht zu überzeugen, und in der Schrift, die gelegentlich des Prozesses gegen den Grafen von Görlitz entstanden war, erwiderte Medizinaldirektor Dr. Graff, indem er den berühmten als Arzt und Chemiker überall geachteten Orfila citierte: „Der menschliche Körper kann verbrennen, einige seiner Teile können in Asche verwandelt werden, durch eine Ursache, die nicht leicht zu erkennen ist und die man bis jetzt einem eigentümlichen Zustande des Organismus zuzuschreiben hat. Diese mit dem Namen Selbstverbrennung bezeichnete Erscheinung muß trotz ihrer Unerklärbarkeit angenommen werden.“ Dieser Ausspruch wurde in dem „Handbuch der gerichtlichen Medicin“ Orfilas im Jahre 1849 (!) gedruckt, und indem Dr. Graff noch eine Anzahl anderer Autoritäten anführte, schloß er seine Erwiderung mit den Worten: „und wenn ich darum die historisch bis jetzt gebotenen höchst seltenen Thatsachen in fraglicher Beziehung nicht zu verwerfen vermag, so sehe ich mich wenigstens immer noch in sehr guter und achtbarer Gesellschaft.“ Erst langsam verschaffte sich die gesunde Anschauung Liebigs unbestrittene Geltung; denn der berühmte Gerichtsarzt Johann Ludwig Casper schrieb noch in der vierten Auflage seines „Praktischen Handbuchs der gerichtlichen Medizin“: „Es ist betrübend, daß in einem ernsten wissenschaftlichen Werke im Jahre 1864 noch von der Fabel der Selbstverbrennung die Rede sein muß, die niemand je gesehen, niemand beobachtet hat, deren angeblich beweisende Thatsachen sämtlich auf Aussagen von ganz unglaubwürdigen Laien, auf Weitererzählungen, zum Teil auf Zeitungsgeschichtchen beruhen und die allen bekannten physikalischen Gesetzen Hohn sprechen.“ In der That lassen sich die bekannt gewordenen Fälle von Selbstverbrennung viel einfacher und natürlicher durch zufällige Unglücksfälle und fein gesponnene Schandthaten erklären.

Es müssen aber doch einige merkwürdige und wahre Thatsachen im Laufe der Zeit bekannt geworden sein, die wenigstens scheinbar zu der Annahme berechtigten, daß der animalische Körper brennbare Stoffe entwickeln könne. Liebig erwähnt solche wirklich verbürgten Beobachtungen. Da hat z. B. ein Metzger in Neuburg einen Ochsen gehabt, der krank und sehr angeschwollen war, er tötete und öffnete ihn und es strömte aus dem Bauch eine brennbare Luft, die sich anzünden ließ und mit einer fünf Fuß hohen Flamme brannte. Dieselbe Erscheinung beobachtete Morton an einem toten Schweine und Ruysch und Bailly an menschlichen Leichnamen, welche durch Luftentwicklung ganz ungewöhnlich angeschwollen waren. Auf diese Thatsachen gestützt, nahmen die Verteidiger der Selbstverbrennung an, daß sich in dem Körper des Menschen durch Krankheit ein Zustand erzeugen könne, in welchem er ein brennbares Gas entwickle, das sich im Zellgewebe ansammle und, durch eine äußere Ursache oder einen elektrischen Funken entzündet, die Verbrennung desselben bewirke. Liebig erklärte nun auf Grund seiner Erfahrungen, daß solche Gase im tierischen und menschlichen Körper nur nach dem Tode desselben als Folge der Zersetzung sich bilden könnten. „Was erzählt wird von Flammen, die aus dem Halse Betrunkener herausschlagen, ist alles völlig unwahr,“ meint er, „niemand hat dergleichen Flammen je gesehen, immer hat es der Erzähler gehört.“

Hierin hat nun Liebig nicht völlig recht gehabt, denn es können sich nach unseren heutigen Erfahrungen auch im lebenden kranken Körper brennbare Gase bilden. Wiederholt wurde diese seltene Erscheinung bei Magenkranken beobachtet, man hat diese Gase, die durch Zersetzungen im kranken Magen entstehen, chemisch untersucht und gefunden, daß sie aus Kohlenwasserstoffen, zumeist aus Gruben- oder Sumpfgas bestehen. Ein solcher Kranker leidet auch an Aufstoßen und so konnte es denn geschehen, daß, wenn er z. B. seine Cigarre oder Pfeife anzünden wollte und mit dem brennenden Zündholz dem Munde nahe kam, die Gase sich entzündeten; dann gab es eine schwache Explosion und vor dem Munde des Kranken wurde eine Flamme sichtbar. Diese Thatsache ist unbestreitbar; diese Entzündungen brennbarer Gase sind jedoch äußerst schwach, dauern nur einen Augenblick und vermögen kaum eine leichte Rötung der Haut, geschweige denn eine Verbrennung oder Verkohlung derselben zu verursachen. Im Volke, das die gelehrten Abhandlungen gar nicht kennt, sind in vielen Gegenden Erzählungen über Kranke, denen Flammen aus dem Munde herausschlugen, verbreitet. Zweifellos haben sie ihren Ursprung in der sehr selten vorkommenden Bildung von Grubengasen im kranken Magen. Auf diese Kleinigkeit schrumpft, im Lichte der heutigen Wissenschaft betrachtet, die einst so „geist- und sinnreich“ begründete Lehre von der Selbstverbrennung des menschlichen Körpers zusammen.

Was nun die „menschliche Elektricität“ anbelangt, so weiß heute jedermann, daß unter gewissen Umständen aus dem menschlichen Körper elektrische Funken springen können; vielfach sind ja diese Erscheinungen während der Gewitter, namentlich auf hohen Bergen, wie z. B. auf den meteorologischen Hochwarten, beobachtet worden. Sehr oft wandeln dort die Meteorologen und auf Besuch heraufgestiegene Touristen mit einem „Heiligenschein“ um das Haupt umher, aber keiner von ihnen ist versengt, geschweige denn verbrannt worden.

Die Selbstverbrennung des Menschen, sei es durch Bildung brennbarer Gase oder durch die Wunderkraft Elektricität, ist sicher ein Märchen; die neueste Wissenschaft hat aber inzwischen gezeigt, daß unter Umständen die Lebensprozesse derart gesteigert, derart heiß werden können, daß sie Selbstentzündung verursachen. Mit der Betrachtung dieser merkwürdigen Erscheinungen wollen wir unsere Mitteilungen schließen.

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Gärtner und Landwirte wissen wohl, daß Gährung und Zersetzung Wärme erzeugen; um in der kalten Jahreszeit den Boden zu erwärmen und früheres Wachstum der Pflanzen zu veranlassen, bereiten sie Mistbeeterde; sie wissen auch, daß der festgestampfte Mist bei ruhigem windstillen Wetter sich derart zu erhitzen vermag, daß aus ihm Rauch und Flammen hervorschlagen. Daß frisch gemähtes Gras sich gleichfalls erwärmt, weiß jedes Bauernkind, und im erhitzten Heu nimmt der Tiroler im Herbste sein „Heubad“, in dem er tüchtig schwitzt. Kein Landmann zweifelt daran, daß Heu, wenn es feucht eingefahren wurde, sich von selbst entzünden kann, und er wunderte sich wohl, als die hohen Gerichtshöfe noch vor dreißig Jahren Sachverständige vernehmen ließen, ob dies denn überhaupt möglich sei.

Da steht ein großer Heuschober und verbreitet den aromatischen süßlichen Duft; er steht schon einen Monat da und wird sich wohl über den Winter halten. Eines Tages aber bemerken wir an ihm nicht mehr den schönen Heuduft, sondern einen unangenehm brenzligen Geruch. Sehen wir zu, was in ihm vorgeht. Außen ist das Heu wohl erhalten, von grünlich gelber Farbe; nehmen wir aber die obersten Lagen weg, so stoßen wir auf bräunlich [623] gewordenes Heu und merken, daß dieses bedeutend wärmer ist als die Luft. Je tiefer wir nun eindringen, desto brauner, dunkler ist das Heu, desto größer die Hitze, und nun dampft es aus dem Haufen; noch ein paar Gabelstiche, da stoßen wir auf verkohltes Heu, das schwarz aussieht, und nun schlagen uns Rauch und Flammen entgegen.

Wie hat sich hier das Heu von selbst entzündet? Nun, ein kleines Wesen hat den Brand gestiftet, und wer ein Mikroskop besitzt, kann es mit Leichtigkeit betrachten. Es ist ein Bacillus, ein stäbchenförmiges bewegliches Gebilde, das man mit dem Namen Heubacillus belegt hat, da es stets auf Gräsern und im Heu vorkommt. Wird nun das Heu nicht gehörig getrocknet, zu großen Mieten oder Haufen zusammengestapelt, dann lebt der Bacillus in der Feuchtigkeit fort auf Kosten der Reste der Grassäfte. Er zersetzt sie dabei, und indem er atmet, erzeugt er Wärme. Im Innern des Heuhaufens, wo Milliarden und Milliarden der Bacillen wuchern, kann die Wärme nicht verfliegen; denn das Heu ist ein schlechter Wärmeleiter und läßt die Wärme nicht nach außen dringen. So steigt die Temperatur im Herzen des Heuhaufens auf 50, ja 70 Grad Celsius und die Bacillen leben noch in dieser Hitze fort, als ob sie „Heißluftatmer“ wären. In dieser Wärme beginnen nun die Bestandteile der Grashalme sich zu zersetzen, und auch diese chemischen Prozesse erzeugen Wärme, nun steigt die Hitze auf 100 Grad Celsius und darüber. Jetzt sterben die Bacillen in der Glut, die sie selbst angeregt haben, aber der Zerfall der Grasfasern schreitet vorwärts. Sie verkohlen schließlich, werden schwarz, bestehen fast aus reiner Kohle, obwohl man an diesen schwarzen Massen noch deutlich die feine Struktur jedes Hälmchens und jedes Blättchens sieht. Diese neu entstandene Kohle ist nun in hohem Grade porös und wie frisch geglühte Holzkohle saugt sie begierig und verdichtet die Gase, die sich bei der Zersetzung gebildet haben. Da entsteht neue Wärme durch Verdichtung und die verkohlten Fasern beginnen zu glühen. So frißt der Brand im Heuhaufen weiter, bis er an die Oberfläche gelangt, dann genügt ein leiser Luftzug, um die glimmende Masse in hellen Flammen auflodern zu lassen. So haben in diesem Falle winzige Lebewesen den Anstoß zur Selbstentzündung gegeben und dieselben Heubacillen sind auch, wie Prof. Cohn in Breslau nachgewiesen hat, die Brandstifter der so oft qualmenden Misthaufen.

Wir ersehen aus dieser Darstellung, daß nur große Heumieten, in welchen die Wärme sich ansammeln kann, der Gefahr der Selbstentzündung ausgesetzt sind; die Landwirte haben das lange, bevor man die Heubacillen entdeckte, gewußt und wußten auf verschiedene Weise sich vor diesen Unfällen zu schützen. Man setzt das Heu in kleineren von allen Seiten freien Haufen auf, oder legt im Innern der größeren Schächte an, die ins Freie münden. Durch diese Kanäle streicht die Luft und nimmt Wärme fort, der Haufen kann sich darum in seinem Innern nicht in gefährlicher Weise erhitzen. In Holland sucht man der Selbstentzündung der Heuhaufen vorzubeugen, indem man Salz zwischen Heu streut. Salz zieht Feuchtigkeit an und ist ein gährungswidriges Mittel; es macht also in der That den brandstifterischen Heubacillen das Leben schwer. Vielfach werden auch die Heuhaufen mit eisernen Stangen untersucht, ob sie sich im Inneren erhitzt haben; man kann, wenn man die Erwärmung frühzeitig wahrnimmt, das Heu auseinanderwerfen und umarbeiten, wodurch die Entzündung verhütet wird. Von außen läßt sich die Gefahr nicht bemerken; denn die äußerste Schicht ist noch kühl, während im Inneren ein Brandherd mit einer Glut von 300 Grad Celsius lodert – so schlecht leitet Heu die Wärme.

Wir haben vor den Augen unserer Leser ein eigenartiges Gebiet wissenschaftlicher Forschung entrollt, Fragen berührt, die für all und jeden von Interesse und Bedeutung sind, und wir schließen diese Skizzen mit den wahrheitsvollen Worten Dr. L. Häpkes: „Gesetze und Verordnungen, die doch nur zu häufig übertreten werden, helfen (bei Verhütung von Brandschäden) wenig. Viele Unglücksfälle entstehen aus Leichtsinn, noch viel mehr aber aus Unwissenheit. Das wirksamste Gegenmittel besteht in Belehrung sowie Schärfung der Aufmerksamkeit und des Gefühls der Verantwortung. Die zahllosen Entdeckungen, die in unseren Tagen auf dem Gebiete der Naturwissenschaften gemacht sind und der Menschheit den Kampf ums Dasein erleichtern, finden immer mehr Anwendung im praktischen Leben. Es ist daher ein dringendes Bedürfnis, das Verständnis für dieselben zu wecken und die Kenntnisse der elementaren Begriffe der Physik und Chemie im Volke zu verbreiten, damit die häufigen Unglücksfälle nicht bloß bei Selbstentzündungen, sondern überhaupt vermieden werden.“


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Die braune Marenz.

Erzählung von Charlotte Niese.

     (1. Fortsetzung.)

Am andern Morgen, als ich über die Straße ging, lief Marenz plötzlich hinter mir her.

„Hör, hörmal, ich muß Dich mal was fragen!“

Atemlos stellte sie sich vor mich hin und strich sich die Haare aus der Stirn.

„Weißt nich vielleich von ein Mann, der Geld, einen Berg Geld verloren hat? In Laden haben die Leute mal sowas gesnackt!“

„Gewiß weiß ich davon!“ nickte ich. „Herr Dorning hat einen Beutel mit achthundert Speziesthalern verloren und kein Mensch hat ihm das Geld wiedergebracht! Mitten im Schnee war es!“

Marenz seufzte.

„Achhunnert Thalers! Darum war’s auch so bannig swer! O, was’n Hümpel Geld!“

„Hast Du den Beutel gefunden?“ rief ich in großer Erregung und Marenz lachte.

„Nu, natürlicheweise! Als ich gestern von mein Brottour nach Hause gehen wollt, hab ich ein kleinen Umweg gemach! –“ Sie stockte ein wenig, ehe sie weiter sprach.

„Da is nämlich ein Swester von Johann Kühl, die dient bein Bauern in Rixdorf und ich wollt ihr gern mal sehen. Abers wie ich hinkam, so is da gerade Slachterei und sie hatt kein Zeit for mir, so daß ich man flinkemang mit mein klein Wagen nach Hause fuhr. Oltensch is gräsig, wenn ich mir verspäten thu, ganzen gräsig und so bin ich so snell ich konnte, den Weg lanker gefahren. Abers da hab ich den Graben nich gesehen, weil der Snee da über lag und mit einmal sack ich ein und mein Wagen sackt auch ein und ich stoß mein Bein an ganz was Hartes, was tief in Graben lieg! Na, als ich mir aufrappel, seh ich nach, was das Harte is, und da is es ein Beutel mit forchbar viel Geld ein! Oha – was’n Schreck! Kaum, daß ich ihm bören[1] und auf’n Wagen setzen konnt! Denn liegen lassen mocht ich ihm doch nich, weil daß ich gehört hatt, daß jemand ein Beutel mit was ein verloren hatt, und sowas is ja woll doch unangenehm! So bin ich denn mit ihn nach Hause gefahren und das alte Ding war swer genug auf’n Wagen, kann ich Dich sagen! Ich hab da orrentlich bei geswitzt, und nahstens wußt ich gar nich, wo ich ihm verwahren sollt, weil daß ich ja gar nich weiß, was die Leutens mit ihre Geldbeutels thun! Gieb ihn man den besten Platz, hab ich bei mich gedach und so hab ich ihm denn in mein Bett genommen und denn habe ich mir gräsig gegrault, weil daß ich ümmer an Diebens denken mußt, an die ich in meinen irdischen Leben noch niemalen gedach hab. Und was hab ich slecht geslafen! Du mein Heiland, was haben die Reichens es slecht! Uemmer, wo ich lag, wollt das alte Ding auch liegen, und wenn ich ihm anrührte, denn klirrt er, as wenn er über mir lachte. Er wußt woll, daß er inn verkehrten Bett lag. Was freut ich mir, as es Tag wurde! Kann ich ihm nich snell wieder loswerden?“

„Loswerden?“ wiederholte ich. „Willst Du das Geld nicht behalten?“

Sie sah mich entsetzt an.

„Was soll ich mit den Klimperkram? Meinst, daß ich noch einmal so slecht slafen will? Und denn gehört es mich ja, Gott sei Dank, nich!“

Jürgen und ich hatten abgemacht, wenn wir das Geld fänden, dann wollten wir es behalten und uns etwas Wunderbares dafür kaufen. Wir hatten uns schon auch darüber gezankt, denn unsere Ansichten über das Wunderbare gingen manchmal etwas auseinander. – –

[624] „Wo soll ich das alt Kram hinbringen?“ fragte Marenz ungeduldig, und ich fuhr aus meinen Gedanken auf.

„Bringe das Geld, wenn Du es wirklich nicht behalten willst, an Großvater. Der wird wohl davon Bescheid wissen!“

„Wo soll ich das hinbringen?“ Marenz ihre Augen öffneten sich weit vor Entsetzen. „Zun Herrn Jostizrat? Mit den soll ich snacken? Marenz, ausn Armenhause? Nee, mein Beste!“

„Aber Marenz, Großvater thut Dir nichts!“

„Das kannst leicht sagen! Dich thut er woll nix, abers mir, mir steckt er ins Loch, wenn ich mit einmal bei ihm ankomm! Oha – wenn ich man bloß das alt Klöterkram inn Graben gelassen hätt!“ Sie seufzte tief auf und ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

„Ich glaube nicht, daß Du bestraft werden wirst!“ meinte ich endlich und Marenz schüttelte den Kopf.

„Das kann man allens nich wissen! Ins Armenhaus sagten sie auch immer: man nix mit die Pollerzei und sowas zu thun haben! Da kann man grasig bei anbacken, und kommst in Loch und weiß nich, wie man reingekommen is!“

Da aber kam mein Bruder Heinrich des Weges. Der war viel verständiger als ich, und als er erfahren hatte, um was es sich handelte, versicherte er, daß Marenz nicht ins Gefängnis käme, wenn sie das Geld gleich abliefere. Wenn sie aber den Beutel länger behielte, dann könnte sie wohl bestraft werden.

„Länger behalten? Ganzen gewiß nich!“ Marenz schüttelte sich. „Kein Wink Slaf in mein Augcns und denn hat mich das Ding auch noch gedrück – ich kann nich begreifen, wie die reichen Leutens slafen mögen!“

„Sei nur nicht ängstlich, Marenz!“ tröstete Heinrich sie.

„Geh heute nachmittag zu Großvater und bringe das Geld mit! Um fünf Uhr ist er im Kontor und vielleicht ist Herr Dorning auch da. Weil heute nämlich Donnerstag ist und die Herren in die Stadt kommen. Großvater thut Dir nichts – ich werde schon mit ihm sprechen!“

Marenz stöhnte. „Was’n Unglück! Was hab ich auch for’n Mallöhr! Is es denn ganzen gewiß, daß ich nich in Prisong komme?“

„Heute noch nicht!“ versicherte Heinrich. „Aber wenn Du bis morgen wartest –“

„Gott soll mir bewahren! Was war es gut, mein Heine, daß ich Dir getroffen hab! Was bist Du einmal klug! Na, denn will ich den Beutel heut hinfahren; abers Du sollst dabei sein, mein Heine, und ein gut Wort for mir einlegen!“

Heinrich versprach ihr seine Gegenwart mit sehr viel Würde, und um fünf Uhr nachmittags standen wir zwei vor der Thür des großelterlichen Hauses, denn auch ich hielt es für angemessen, dieses große Ereignis mit meiner Gegenwart zu verschönen.

Langsam kam Marenz mit ihrem Handwägelchen vor die Thür gefahren, und dann schleppten Heinrich und sie den schweren Beutel auf den erleuchteten Hausflur, wo er hingesetzt wurde.

„Nu Adjüs!“ murmelte Marenz, deren Gesicht blaß vor Angst war; Heinrich hielt sie aber am Rock fest.

„Nun man herein ins Kontor!“ rief er, und ehe Marenz sich viel wehren konnte, stand sie schon in der kleinen Schreibstube, in der Großvater saß. Er war nicht allein. Herr Dorning saß neben ihm und beide Herren sahen erstaunt auf, wie sich plötzlich drei Menschen unangemeldet zu ihnen hineindrängten. Einer besondern Erklärung bedurfte es übrigens nicht. Mühsam hatte Heinrich den schweren Beutel hinter sich hergezogen und im Kontor auf die Erde gestellt. Beim Klang des Silbers fuhr Herr Dorning in die Höhe und kniete bald vor seinem Eigentum. Er prüfte die Siegel, mit dem der Beutel geschlossen war, fühlte die schmutzige und feuchte Leinwand an und nickte äußerst zufrieden.

„Kuck mal an! Das is ja mein Geld! Das is nett!“

Marenz lehnte kreideweiß an der Thür und ihre Kniee schlotterten so, daß sie sich an mir festhielt. Die dunkle Schreibstube mit ihren Aktenbündeln mußte einen furchtbaren Eindruck auf sie machen. Ihr versagten denn auch die Worte und wir mußten erzählen, wie alles gekommen war. Daß wir eine sehr deutliche Darstellung der Thatsachen gaben, kann ich mir kaum denken; aber unser Großvater verstand uns doch. Er war auch der einzige, den die Geschichte interessierte; Herr Dorning hatte seinen Beutel geöffnet und zählte die Speziesthaler. Ihm schien es einerlei zu sein, wo sie gewesen waren.

Als Großvater alles begriffen hatte, nickte er Marenz freundlich zu. „Das hast Du gut gemacht! Du bist ein braves Mädchen!“

Die also Belobte sah sehr überrascht aus; aber das Zittern ihres Körpers ließ nach und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Nun wandte Großvater sich zu Herrn Dorning, der noch immer an seinen Thalern zählte, und sagte ihm halblaut einige Worte.

Der Hofbesitzer fuhr etwas in die Höhe und faltete die Stirn.

„Nu ja, gewiß, gewiß, Herr Justizrat!“

Er grub mit seinen dicken Fingern erst in der linken, dann in der rechten Westentasche, holte endlich ein Geldstück heraus und überreichte es Marenz.

„Hier, mein Deern!“ sagte er mit einer gewissen eindrucksvollen Feierlichkeit. „Ueb immer Treu und Redlichkeit bis an Dein kühles Grab! Da hast auch ein Belohnung!“

Stumm und ergriffen drängten wir uns mit der Beschenkten wieder aus dem Kontor, und als wir auf dem Hausflur standen, schluchzte Marenz laut auf.

„Aber Marenz!“ riefen wir, „Du bist ja gut davongekommen, weshalb weinst Du nur?“

Sie kauerte sich auf die Treppe und ihr ganzer Körper bebte. Endlich fand sie wieder Worte.

„Nee doch! wie einmal schön! Was war es rührend und was war Herr Jostizrat süß! O, was’n Mann! Und hat kein einzig Mal von Loch gesprochen, wo ich doch so Angst vor hatte! Der Andere abers –“ sie schluchzte wieder etwas – „daß der mich auch gleich was von mein Grab sagen mußte! Gott o Gott! Kommp man da eher ein, wenn man Geld findet?“

„Sieh doch nach, was er Dir geschenkt hat!“ rief Heinrich ungeduldig und Marenz öffnete zögernd ihre bis dahin krampfhaft verschlossene Hand. Mein Bruder griff hastig nach dem Geldstückn das darin lag, und legte es dann langsam wieder an seinen Platz.

„Ein halber Bankthaler[2]!“ sagte er mit dem Ausdruck größter Enttäuschung. Darauf drehte er sich kurz um und verließ das Haus.

Marenz sah ihm erstaunt nach und trocknete allmählich ihre Thränen.

„Was is doch mit Heine los? Is er böse, weil daß ich weinte? Da kann ich doch nix vor, wenn die Leutens so gut gegen mir sind, wo ich das doch nich verdiene! Wo ich doch in Armenhaus groß geworden bin und es mich ümmer stecht gehen muß, wie mein Ohlsch, die Oltcnsch, sagt. – O – was sah er einmal geruhig und gesund aus!“

„Wer?“ fragte ich.

„Nu, der Mann mit all die Thalers! Mein Gott, wo kann man so gesund aussehen und auch noch rote Backens haben, wenn er jedwede Nach, die Gott giebt, auf seine Thalers passen muß! – Sonst abers ein netten Mann! Gieb mich orrentlich ein Geschenk!“

Sie besah sich den halben Thaler von allen Seiten und wurde immer heiterer.

„So viel Geld auf einmal! Da will ich mich abers was Feines for kaufen zum Andenken an den netten Mann. Bloß, daß er das mit das kühle Grab sagte, war ein büschen wehleidig! Ich mag noch nich sterben!“

„Nun kannst Du Dir ein Schultertuch kaufen, Marenz!“ meinte ich. Denn über den Wert des Geldes hatte ich bis jetzt nur unbestimmte Ahnungen.

Diese schüttelte den Kopf. „Ich glaub, das krieg ich nich dafor! In Februarmonat kann man sich auch nix Warmes mehr kaufen – da singen die Lerchens mannigmal schon! Nee – ich denk mich was Feines aus!“

Allmählich ging Marenz wieder nach Hause. Sie war äußerst vergnügt geworden und sagte noch öfters, daß sie nicht gedacht habe, Großvater könne so süß sein. Auf der dunklen Straße hörte ich sie dann noch singen.

Von den achthundert Speziesthalern, die Marenz Herrn Dorning wiedergebracht hatte, wurde in unserer Familie viel gesprochen. Was die Erwachsenen darüber sagten, erfuhr ich nicht recht; Heinrich aber drückte sich sehr verständlich aus. Er sagte, Herr Dorning habe sich ungemein schäbig benommen, und wenn er die achthundert Spezies gefunden hätte, dann würde er sie ihm einzeln an seinen dicken Kopf, und zwar immer an dieselbe Stelle, geworfen haben.

Jürgen erfand ein neues Spiel, das er „Herr Dorning“ nannte. Er versteckte einige Backpflaumen, die ihm geschenkt worden waren, und ich mußte sie suchen und ihm wieder bringen. Zur Belohnung

[625]

Waldbrand im fernen Westen.
Zeichnung von Hans Bohrdt.

[626] erhielt ich einen Pflaumenkern, und als ich in heller Entrüstung eine ganze Pflaume verlangte, sagte er:

„Ueb immer Treu und Redlichkeit, bis an Dein kühles Grab! Und magst Du nicht darüber sein, so saug an einem Pflaumenstein!“

Da weinte ich gerade so bittere Thränen, wie Marenz sie vergossen hatte. Aber ich wurde bald wieder heiter – wartete meiner doch ein sehr angenehmer Auftrag.

Die Großen waren plötzlich gegen Marenz freundlicher gesinnt geworden und ich durfte ihr ein Paket hinbringen, in dem sich nicht allein ein nettes Schultertuch, sondern auch eine fertige rosa Kattunjacke befand, wie sie bei uns die Dienstmädchen viel tragen.

An einem Sonnabendnachmittag, an dem, wie ich wußte, Marenz zu Hause war, erschien ich bei ihr mit meinen Gaben.

Sie war eben auf dem Boden des kleinen, winzigen Bäckerhauses und scheuerte die Fußdiele. Als ich ihr triumphierend mitteilte, weshalb ich gekommen sei, ließ sie den Scheuerbesen vor Ueberraschung fast hinfallen und sah wortlos, mit hochroten Wangen, zu, wie ich alles auspackte.

„Allens for mir?“ fragte sie immer wieder. „Warraftig for mir? Und ’ne rosa Kattunjack! Rosa!“

Sie hielt die Jacke so, daß das Licht der kleinen Lampe darauf fiel, und dann schüttelte sie wieder halb ungläubig den Kopf.

„Ein Jack, wie die ganzen feinen Dienstmädchens, die bei Herrschaftens dienen! Und was forn Tuch! Was giebt es doch for gute Menschens!“

„Du kannst die Jacke auch noch umtauschen, wenn Du etwas anderes dafür haben willst!“ bestellte ich, aber Marenz schüttelte den Kopf.

„Umtauschen! Was sollt ich sowas Prachvolles woll umtauschen! Vielen, vielen Dank!“

Sie scheuerte schon wieder eifrig; aber die Freudenthränen liefen ihr über das Gesicht.

„Was hast Du Dir denn für den halben Bankthaler gekauft?“ fragte ich; „oder hast Du ihn in Deinem Strumpf verwahrt?“

Sie wischte sich die Thränen aus den Augen und lachte.

„Nee – Geld in Bettstroh mag ich nich mehr haben – da släft man zu slecht von. Ich hab mich abers was gekauft –“ sie scheuerte mit strahlendem Gesicht weiter. „Willst ihm mal sehen?“

Sie stellte den Besen in die Ecke und drängte mich in ihr kleines Zimmer, wo sie von der Garderobe einen winzigen Käfig nahn: und mir hinhielt.

„Da is er ein! Js er nich nüdlich?“

Ein kleiner graugelber Kanarienvogel hüpfte in dem Käfig hin und her und sagte fortwährend Piep. Er sah struppig aus und hatte überhaupt etwas Fremdartiges an sich.

„Einen Swanz hat er nich!“ sagte Marenz entschuldigend. „Alle Vögelns brauchen ja auch keinen Swanz, und er kann da nix for, daß er sich den Swanz mal abgestoßen hat!“

„Singt er denn schön?“

„Singen?“ Marenz wurde rot. „Nu ja – denn und wenn sagt er Piep! O, was klingt das einmal süß! Alle Vögelns können ja auch nich singen, und wenn er singen könnte, hätt Sneider Lehmstuhl ihm auch nich fliegen lassen wollen. Der hat nämlich ein Vogelheck, und as ich da neulich Herr Olten sein Rock hinbringen that, sagt er gerade, er wollt diesen Kanalljenvogel fliegen lassen! Nu bei die Kälte und in Februarmonat! Er sagt, er hätt genug Weibchens – die fräßen so viel! Du lieber Gott, was kann so’n Vogel dafor, daß er ein Weibchen is und hungerig is! Herr Lehmstuhl, sag ich, schenken Sie mich den Vogel! Abers er sagt, verschenken thät er ihm nich – er hätt schon so viel Futter gekriegt! Nu, weil ich es war, hat er ihn mich billig gelassen, forn halben Bankthaler mit Bauer wo zwei Stöcke ein sind!“

„Aber das Bauer ist schrecklich klein!“ bemerkte ich und Marenz sah sehr nachdenklich aus.

„Wenn ich man bloß Geld hätt for’n neues Vogelbauer! Abers wenn ich nu in Maimonat mein Lohn krieg, denn muß ich den beinah allens zun Schuster bringen, wo ich so viel Toffeln brauche. Fünf Bankthalers krieg ich denn; abers weg geht es allens wieder!“ – Sie hatte den Käfig mit dem piependen Weibchen wieder fortgestellt und besah sich noch einmal die rosa Kattunjacke.

„Rosa Kattun!“ sagte sie zärtlich und dann fuhr sie liebkosend mit den Fingern über das Kleidungsstück.

„Sowas hab ich in meinen ganzen Leben nich gehab un wer mich das ins Armenhaus gesagt hätt, daß ich noch mal so’n Jack kriegen sollt, dem hätt ich ausgclach! Abers –“ sie schob die Jacke von sich und sah nach dem Vogelbauer. „Sie is zu fein for mir! Viel zu fein! Dein Mutter hat gesagt, ich durft ihr umtauschen – dürft’ ich da woll das Geld for kriegen?“

„Das Geld? Was willst Du mit dem Gelde anfangen?“ fragte ich, nicht gerade angenehm berührt.

Marenz war blaß geworden und man merkte, daß sie einen Kampf kämpfte, aber sie bezwang ihre zitternde Stimme.

„Ich mein, daß ich den kleinen Kanalljenvogel ein Bauer geben muß, wo er sich in umdrehen kann. Er is ja bloß ein Weibchen – abers Weibchens können auch fühlen! – Vielleich, daß er noch’n Swanz krieg, wenn er in ein großes Bauer springen kann! Meinst nich auch? Und’n Swanz is doch mehr wert wie’n Jack, nich?“

Glücklicherweise wußte ich, daß bei uns auf dem Boden ein altes Vogelbauer stand – das versprach ich an Marenz und sie schrie darauf so laut vor Freude, daß Frau Olten unten aufwachte und mit lautem Schelten die Bodentreppe erklomm. Ich versteckte mich hinter einem Balken und konnte später unbemerkt entkommen.

Marenz-bekam auch das Vogelbauer, obgleich mir bei dieser Gelegenheit bedeutet wurde, daß selbst die Sachen der Rumpelkammer nicht von mir verschenkt zu werden brauchten; aber das lustige Gesicht von Marenz stimmte selbst die Erwachsenen weich und das Weibchen ohne Schwanz wurde sogar in einer Gesellschaft besprochen.

Nun kam der März und mit ihm hin und wieder ein Frühjahrslüftchen. Die Sonne begann ganz kräftig zu scheinen und in den alten Kirchhofslinden saßen die Stare und schwatzten sehr lange und lustige Geschichten. Marenz kam an einem dieser Sonnentage zu uns, um sich bei meiner Mutter für die rosa Jacke zu bedanken. Wir Kinder saßen gerade auf der Treppe, die, ganz in der Nähe unseres Hauses, zum Kirchhof hinauf führte, und wir ließen uns von der warmen Sonne mit dem angenehmen Gefühl bescheinen, es werde nun Sommer. Zu gleicher Zeit hatten wir noch Muße genug, Herrn Dorning zu beobachten, der vor unserer Hausthür stand und sich ein paar dicke wollene Handschuhe anzog.

Er hatte etwas mit unserem Vater zu besprechen gehabt; nun blinzelte er zu uns herüber und rief einige Scherzworte, die wir natürlich beantworteten. Plötzlich schwieg er still und blickte zu Marenz hin, die von der Stadtscitc herangegangen kam. Sie hatte entschieden auch gedacht, es sei Sommer – denn sie trug nur den braunen Rock mit der rosa Kattunjacke, und der helle Sonnenschein stand ihr sehr gut.

Ihre Haare glänzten goldig, ihre Augen blitzten, und die ganze zierliche Gestalt hatte selbst für unsere Kinderaugen etwas Anziehendes.

Jürgen und ich standen auf und gingen ihr entgegen.

„Du siehst gar nicht aus wie die braune Marenz!“ bemerkte mein Bruder. „Nun sollst Du die rosa Marenz heißen!“

Sie sah ihn freundlich an.

„Laß mir man die braune Marenz bleiben! In mein braunen Kleid bin ich so lustig, wo ich nu den süßen Vogel hab und das feine Bauer!“

Herr Dorning hatte starr auf Marenz geblickt; jetzt kam er hastig auf sie zu.

„Was bist Du for ein?“ fragte er im befehlenden Tone des reichen Mannes, Marenz aber antwortete nicht und sah verlegen zur Seite.

„Kennst Du Marenz nicht mehr, Herr Dorning?“ fragte Jürgen. „Sie hat doch Deine achthundert Speziesthaler gefunden und Dir alles ehrlich wiedergebracht. Du schenktest ihr einen halben Bankthaler; weißt Du das nicht mehr, Herr Dorning?“

Der Hofbesitzer schien ein schlechtes Gedächtnis zu haben. Er Wurde nur etwas röter als er schon war, und murmelte einige verdrießliche Worte vor sich hin. Dann aber griff er erst in die eine, darauf in die andere Westentasche, holte ein Geldstück hervor, besah es, seufzte, steckte es wieder weg und behielt die Finger dann halb unschlüssig in der kleinen Tasche.

Marenz hatte seine Bewegungen nicht bemerkt. Sie hatte die Augen gar nicht aufgeschlagen und zupfte an ihrer weißen Schürze. „Ich bedank mir auch noch vielmals for das schöne Geschenk!“ stotterte sie. „So viel Geld – ich hab mir da gräsig über gefreut, wenn ich mir damals auch nicht bedankte. Abers –“ sie stockte und Herr Dorning zog das Geldstück wieder aus der Westentasche.

[627] „Hier is ein ganzen Thaler!“ sagte er würdevoll. „Gut, daß Du Dir noch bedanken magst! Heutzutage kann man lange gehen und auf Dank warten; da freut es mir, wenn Du weißt, daß Du mich Dank schuldest! Wo bist Du in Dienst?“

Aber Marenz war so sprachlos über das ihr in die Hand geschobene Geld, daß sie alles Antworten Jürgen und mir überließ. Erst, nachdem Herr Dorning Abschied genommen hatte, wobei er ihr ein wenig die Wangen streichelte, fand sie die Worte wieder. „Was’n Mann!“ rief sie bewundernd. „O, was’n Mann! Mich gleich noch ein Thaler zu geben, wo ich doch nix for ihm that!“

Dann schlug sie die Hände zusammen.

„Kinners, nu kann ich Ostermontag zu Ball! Mit Johann Kühl! Zweimal hatt er mir all eingeladen und ich konnt nich, weil daß meine Schuhens kaput waren! Nu kann ich mich neue kaufen!“

„Geht Hannes denn auch auf den Ball?“ fragten wir und Marenz zuckte die Achseln.

„Das kann woll sein! Mich is das einerlei – is er abers da, denn tanz ich mit ihn Galopp!“

Sie wiegte ihren schlanken Körper hin und her, während sie sprach.

„Magst Du Johann Kühl oder Hannes am liebsten leiden?“ fragte Jürgen, und Marenz wurde rot.

„Ach Kinners, da versteht Ihr doch nix von!“ rief sie eilfertig.

„Hannes hat eine silberne Uhr!“ bemerkte ich.

„Und er tanzt Galopp!“ setzte Jürgen hinzu, der Hannes sehr gern leiden mochte. Aber Marenz lachte nur.

„Ostermontag geh ich zu Ball mit ein Paar neue Schuhens!“ rief sie fröhlich; dann verschwand sie in unserer Hausthür, während wir draußen blieben und „Bankthaler“ spielten. Denn der schwere Abschied, den Herr Dorning von seinem Bankthaler genommen, hatte uns mit Wonne erfüllt.

Es blieb wirklich einige Zeit gutes Wetter, was in unserem Klima eine Merkwürdigkeit ist. Wir trieben uns daher viel im Freien herum, suchten Veilchen, beobachteten Vogelnester und hatten so manches zu thun, daß wir nicht viel an Marenz denken konnten.

Wir sahen sie auch wenig. Nur einmal, als ich Zwieback bei Olten kaufte, stand sie hinter dem Ladentisch und bediente. Aber sie konnte nicht mit mir sprechen, weil Herr Dorning im Laden war, der eifrig auf sie einredete. Was er sagte, konnte ich nicht hören; es war mir auch einerlei, ich lief sehr bald wieder fort und dachte nicht mehr an Herrn Dorning. Später holte Jürgen einmal etwas im Oltenschen Laden. Da war Herr Dorning auch dort gewesen. Er hatte aber nicht mit Marenz, sondern mit Frau Olten gesprochen, die einen Knix nach dem andern gemacht hätte. Früher war Herr Dorning niemals bei Oltens gewesen, wenigstens hatten wir es nicht gesehen; aber wir machten aus, daß das Brot von Bäcker Olten ihm wohl gut schmecke.

Einmal, als wir an einem windigen Frühlingstage am Hafen waren, sahen wir Johann Kühl. Er stand ans Bollwerk gelehnt und sah mit ernsthaften Augen in die Ferne. Er sah stattlich aus in seinem blauen Seemannsanzug und wir begrüßten ihn freundlich.

„Kannst Du eigentlich so gut Galopp tanzen, wie Hannes?“ fragte ich ihn und er sah mich finster an.

„Nee!“ sagte er dann; „so gut wie Hannes kann ich nich tanzen! Abers darum –“ er stockte plötzlich und murmelte nach einer Weile ein Wort, das wie „verdammter Jung!“ klang.

„Magst Du Hannes Bergmann nicht leiden?“ fragten wir. „Marenz mag ihn sonst gern; sie sagt, er tanze so schön Galopp!“

„Denn kann sie ihn ja heiraten und mit ihn Galopp durchs Leben tanzen!“ lautete die höhnische Antwort.

Ich war überrascht. Erstens deswegen, weil ich Johann Kühl noch niemals so böse gesehen hatte, und dann, weil ich doch auch dachte, daß man sich im Ehestande mit etwas anderm als Galopptanzen beschäftigen könne.

„Sie darf auch Hannes seine Uhr aufziehen und nach ihr sehen!“ berichtete ich weiter.

„Nu kuck mal an!“ rief Johann. „Denn kriegt sie ja das reine Paradies auf Erden!“

Wir hatten Johann noch niemals so unterhaltend gefunden und wir beschlossen, noch etwas länger mit ihm zu sprechen. Daher setzten wir uns auf ein umgestürztes Boot, das in seiner Nähe lag, und fragten ihn nach allen möglichen Dingen. Er antwortete aber schlecht und sah dabei so mürrisch aus, daß wir uns sehr über ihn wunderten.

„Hast Du eigentlich Ostermontag getanzt?“ fragte Jürgen und Johann nickte.

„Ging es gut mit Marenz zu tanzen?“ fragten wir weiter und der junge Seemann blickte finster nach dem blauen Festlande in der Ferne.

„Ich bin hingeslagen mit sie!“ sagte er plötzlich. „Mitten in Saal – alle haben mir ausgelacht!“ setzte er nach einer Pause hinzu und seine sonst so verschleierten Augen blitzten zornig.

„Mit Marenz bist Du hingefallen? Hatte sie denn nicht die neuen Schuhe von Herrn Dorning an?“ fragte Jürgen, und Johann richtete sich ein wenig höher auf.

„Die neuen Schuhens von Herr Dorning? Is das der dicke alte Kerl, der da ümmer bei Oltens herumlungert? Und von den läßt sie sich was schenken? Is sie all so weit? Na – denn –“ er murmelte einige unverständliche Worte und ging mit langen Schritten davon. Auf diese Weise erfuhren wir gar nicht, wie Johann Kühl es gemacht hatte, mit Marenz hinzuschlagen, was, wie wir sehr gut wußten, ein Beweis davon war, daß er nicht tanzen konnte. Wir nahmen uns vor, Marenz nach den Einzelheiten dieser traurigen Begebenheit zu fragen, aber wir sahen sie lange nicht.

Und dann, es war wohl im Mai, – kam Heinrich sehr erregt aus der Schule.

„Denkt Euch, es passiert etwas Merkwürdiges! Herr Dorning will die braune Marenz heiraten! Sie hat noch nicht Ja gesagt, aber Christoph Olten sagte, seine Mutter würde sie schon dazu kriegen. Gestern hat Frau Olten sie bereits eingesperrt und sie hat nichts zu essen bekommen, weil sie Dorning keinen Kuß geben wollte. Heute soll sie hungern, wenn sie sich nicht verloben will!“

Das war wirklich eine Neuigkeit, und die Erwachsenen, regten sich mehr über sie auf als wir Kleinen. Mit fliegender Eile hatte sich das Gerücht von Herrn Dornings Werbung um Marenz in der ganzen Stadt verbreitet und der Bäckerladen wurde nicht leer von Leuten, die „Stuten“ und „Maulschellen“ kaufen und dabei sich die glückliche Braut ansehen wollten. Aber die war nirgends zu sehen und wer nach ihr fragte, der erhielt von Frau Olten die mürrische Antwort, Marenz sei ein dummes Ding und gar nicht wert, daß man nach ihr früge!

Wir Kinder sprachen eifrig über diese Geschichte und jeder hatte seine besonderen Ansichten darüber. Besonders darüber, ob man lieber hungern oder Herrn Dorning einen Kuß geben wollte.

Wir waren für das letztere – denn hungern mochten wir nicht, aber da wir auch Schularbeiten zu machen hatten, so konnten wir nicht immer über solche Sachen nachdenken. (Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.


Die Berliner Veteranenfeier auf dem Tempelhofer Felde. (Zu dem Bilde S. 621.) Die Kriegs-Erinnerungsfeier der Kriegervereins-Verbände von Berlin, welche am Vormittag des 19. August gegen 15 000 Veteranen auf dem Tempelhofer Felde festlich vereinte, hatte sich der Gunst herrlichen Wetters zu erfreuen. Die Aufstellung der meist in bürgerlichem Festanzug erschienenen Teilnehmer erfolgte in offenem Viereck, das von der reichgeschmückten Tribüne für den Sängerchor der Kriegervereine geschlossen ward, vor deren Mitte sich eine Kanzel und ein von Lorbeer umgebener Altar mit Kruzifix und Leuchtern erhob. Gegen 150 Fahnen gaben der Aufstellung ein festlich-kriegerisches Gepräge. Im Vordergrunde, in der Nähe der Kanzel, hatten die Vertreter der Geistlichkeit und eine größere Anzahl von Ehrengästen, zahlreiche höhere Offiziere, Vertreter des Staats und der Stadt Platz gefunden, auch der Großherzog von Baden, der in der Uniform eines Generalobersten der Kavallerie erschienen war. Der Kaiser, welcher Generalsuniform trug und von großer Suite begleitet war, erschien gegen zehn Uhr und nahm links vor der Kanzel Aufstellung.

Den kirchlichen Teil der Feier eröffnete der Sängerchor, vom Spiel der anwesenden Gardekapellen begleitet, mit dem Choral „Nun danket alle Gott“, welchem Ansprachen des protestantischen Militär-Oberpfarrers Wölfling und des katholischen Militär-Oberpfarrers Vollmar folgten. Während weiterer Gesangsvorträge von patriotischem Inhalt vollzog sich [628] die Umwandlung der Formation der Kriegervereine in ein langgestrecktes Rechteck, um so die Besichtigung durch den Kaiser entgegenzunehmen. Derselben folgte dann die feierliche Ansprache des Kaisers. Unser Bild zeigt einen Teil der Festversammlung, wie sie sich während des Feldgottesdienstes darstellte. Es giebt in malerischer Wirkung eine lebendige Anschauung der bei der Feier vereinten Elemente. Wir sehen den Kaiser und sein Gefolge, den protestantischen Geistlichen bei der Predigt, dahinter die Kriegervereine mit ihren Fahnen, neben Kanzel und Tribüne allerlei geistliche und weltliche Ehrengäste, vor allem aber solche Veteranen, die als Invaliden des Gehens nicht mehr fähig sind und meist in ihren Krankenstühlen der Feier beiwohnen mußten. Auch eine der braven Samariterinnen aus dem Kriegsjahre, das rote Kreuz auf weißer Binde am Arm, hat Platz auf dem Bilde gefunden. Mit treffsicherer Kunst hat es der Maler verstanden, eine Zahl charakteristischer Veteranenköpfe mit Porträttreue wiederzugeben. Untenstehend finden die Leser zwei weitere bei der Gelegenheit gezeichnete Porträtskizzen Papes.

Das Hahnreiten in der Mark. (Zu dem Bilde S. 613.) Wenn die letzte Aehre in der Scheuer geborgen ist und der Landmann sich des reichen Erntesegens freut, erklingt der Jubel über die vollbrachte schwere Arbeit allenthalben und aller Hände regen sich, um das Erntefest zu bereiten nach echter alter deutscher Sitte. In den Dörfern des Osthavellandes feiert man es durch einen besonders hübschen Brauch, welchen wir heute im Bilde wiedergeben: durch das sogenannte Hahnreiten. Blumengewinde zieren den Festplatz und sonntäglich geputztes fröhliches junges Volk mischt sich lachend und scherzend mit dem bedächtigeren Alter, dessen Herz aber mit der Jugend und ihren Spielen wieder jung und frisch wird.

Alles drängt zu gegebener Stunde nach dem Schauplatz dieses län[dl]ichen Turniers hin. An einer bekränzten Stange ist ein Querholz mit einem auf einer Spindel festgedrehten hölzernen Vogel befestigt, der allerdings mehr an einen Adler als an einen Hahn erinnert. Die Spindel ragt weit über den Kopf desselben hinaus. Nun kommen die jungen Burschen des Dorfes herangeritten und schlagen beim raschen Vorüberreiten mit der Hand gegen den Vogel. Ist der Hieb gewaltig genug und trifft er mit voller Handfläche, so wird der Vogel in eine derartige Drehung versetzt, daß er oben von der Spindel abfliegt. Das gelingt aber selten. Viele schlagen vorbei, und zwar einige mit solcher Wucht, daß sie gleich darauf ihren Sitz auf dem Pferde verlieren und am Boden liegen, zum Hauptspaß für die Zuschauer. Die Sieger werden dann zu einer Bude mit Preisgeschenken geführt und dürfen Taschentücher, Tabakspfeifen u. dergl. sich als Preise aussuchen, um dann, geschmückt mit den Trophäen des Sieges, sich mit der erkorenen Dame ihres Herzens in lustigem Reigen zu drehen.

Vom Berliner Veteranen-Appell.
Studienköpfe von W. Pape.

Ein letzter Rat. (Zu dem Bilde S. 617.) Viele Ratschläge werden in den Wind geschlagen; aber der „letzte Rat“, der von einem Kranken- und Totenbette aus erteilt wird, hat stets ein besonderes Gewicht und gerät viele Jahre, oft ein ganzes Leben hindurch, nicht in Vergessenheit. Auf dem Bilde von T. E. Duverger sieht man den tiefen Eindruck, den des sterbenden Vaters Rat auf den Sohn hervorruft. Noch einmal hat der Alte seine Lebenskräfte zusammengerafft, um mahnend und warnend dem Sohn ins Herz zu reden. Hinter solcher Mahnung steht der Tod mit seinem furchtbaren Ernst; bald wird die Hand starr und fühllos daliegen, die sich noch einmal erhoben hat, um einem Irrenden den rechten Weg zu zeigen. Und dieser steht zerknirscht und reuig am Sterbelager. Nicht gering mag seine Schuld sein; er hat nicht für die Seinen gesorgt, ist mit leichtfertigen Genossen verderbliche, vielleicht bis an den Rand des Verbrechens führende Bahnen gewandelt. Frieden und Glück hat sich an seinem häuslichen Herd nicht niedergelassen; man braucht nur in das sorgenvolle Antlitz seiner Gattin zu sehen, die mit dem kleinsten Kind auf dem Schoß kein Wort des Sterbenden zu verlieren scheint. Auch die kleine Tochter horcht gespannt hinüber; nachdenklich steht ihr ältester Sohn da, während der jüngste nicht weiß, was da vor sich geht, und neugierig auf die Gruppe blickt. Neben dem Ermahnten steht sein Bruder, aufmerksam zuhörend, aber mit dem beruhigenden Gefühl, daß ihm die ernsten Mahnworte nicht gelten, zu denen er keinen Anlaß gegeben hat. Die alte Mutter aber, treu besorgt, daß kein unberufenes Ohr erlausche, was hier im Kreise der Familie vor sich geht, versichert noch einmal die Thüre durch den Riegel. Das Bild ist ein stimmungsvolles Familiengemälde, das an eine Landschaft erinnern mag, die von den Strahlen der scheidenden Sonne beleuchtet wird. †     

Waldbrände. (Zu dem Bilde S. 625.) Dürre und heiße Sommertage sind über das Land gekommen. Wir schreiten durch den duftenden Nadelwald, trocken ist die Waldstreu und das dürre Gestrüpp bricht knisternd unter unsern Tritten zusammen. Zu solchen Zeiten bildet der kühle Wald eine gewaltige Ansammmlung des feuergefährlichsten Materials. Nur ein geringer Anlaß, ein kleiner Funken ist nötig, um eine der furchtbarsten Naturerscheinungen, den Waldbrand, hervorzurufen. Da saust das Dampfroß durch den Forst, ein Funken entsprüht der Lokomotive und das glühende Kohlenstückchen wird weit in den Wald hineingeschleudert. Wie Zunder glimmt die ausgedörrte Waldstreu, ein Rauchwölkchen entquillt dem Boden und bald züngeln Flämmchen an dem Gestrüpp empor. Vom Winde getrieben, breitet sich der Brand in sprungweisem Vorwärtsdrängen am Boden aus, seine glühenden Arme immer weiter nach rechts und links ausstreckend. Die Bäume bleiben noch verschont, vorderhand hält sich das Lauffeuer im Waldesgrunde, die dürre Bodendecke verzehrend. Lawinenartig wächst es jedoch von Minute zu Minute; mit zunehmender Geschwindigkeit schreitet es vorwärts, es läuft und rennt endlich im wahren Sinne des Wortes und immer länger wird die feurige Linie, die in den herrlichen Wald hineinstürmt. Höher werden zugleich die Flammen. Nun ergreifen sie die dürren Aeste der niedrigen und zuletzt der höheren Bäume, dunkelrot züngeln die Flammen an den Nadelhölzern empor und wüten zuletzt in den Baumkronen; zu dem Lauffeuer hat sich das Wipfelfeuer gesellt. Die Flammenglut facht der Wind an; Feuergarben fliegen empor und hoch über den Baumkronen schwingt sich das Flugfeuer, entfernte Waldbestände in Brand setzend.

Die Schnelligkeit, mit welcher jetzt die Feuersäulen fortschreiten, wird geradezu unheimlich; nicht nur der Wald ist bedroht; auch Mühlen, Gehöfte, Dörfer und selbst kleinere Städte, die inmitten der Wälder liegen, schweben in höchster Gefahr. Vergebens sucht der Mensch durch Ziehen von Gräben, durch Fällen von Bäumen Lücken im Walde zu schaffen, vergebens will er die Flammen durch Flammen bekämpfen und durch Gegenfeuer, die er vor dem fortschreitenden Brande anzündet, seinem Fortschreiten eine Schranke setzen. Unaufhaltsam tobt die furchtbare Gewalt vorwärts, alles mit Dampf und Qualm erfüllend und einen heulenden Sturmwind erzeugend.

In Ländern mit fortgeschrittener Forstkultur sind derartige ungeheure Waldbrände gottlob seltener; hier pflegt der Forstmann durch Anlage von Schneisen, durch Unterbrechen großer Nadelwaldungen durch Laubholzbestände im voraus einem etwaigen Waldbrande Grenzen zu ziehen und das Rettungswerk zu erleichtern. Anders aber liegen die Verhältnisse in Waldländern, die erst der Kultur erschlossen werden, wo inmitten unermeßlicher Urwälder Weiler und Dörfer aus leicht gezimmerten Häusern bestehen. In ihnen können Waldbrände die schwerste Prüfung über den Menschen verhängen. Er muß ihnen weichen, muß Haus und Hof, Hab’ und Gut der Flammenglut preisgeben und noch dem Himmel danken, wenn er das nackte Leben zu retten vermag. Dann ist der Wald der Schauplatz herzzerreißender Scenen, wie eine solche aus den Hinterwäldern Nordamerikas so meisterhaft von Hans Bohrdt wiedergegeben wurde. Der Anblick dieses Bildes erinnerte uns an die ergreifende Schilderung des Waldbrandes in Wisconsin, die im Jahrgang 1871 (Seite 783) der „Gartenlaube“ von einem Augenzeugen gegeben wurde. Innerhalb einer Woche stand dort eine Waldstrecke von tausendfünfhundert englischen Quadratmeilen in Flammen und ihre unerbittliche Glut verzehrte nicht nur Dörfer und Städte, sondern raffte auch über tausend Menschenleben dahin. Wenn auch bei uns in Deutschland solche Schreckensscenen seit Menschengedenken nicht vorgekommen sind, so ist doch der Schaden, der durch Waldbrände alljährlich verursacht wird, ein sehr bedeutender. Das wirkungsvolle Bild H. Bohrdts wird durch die „Gartenlaube“ Millionen Lesern vor Augen kommen. Möchte doch sein Anblick den vielen Tausenden, die so gern in des Waldes kühlen Schatten bei schwüler Sommerhitze sich retten, als Mahnung dienen, daß man im Walde mit dem Feuer vorsichtig umgehen und auf den Genuß des Rauchens in der würzigen Luft überhaupt verzichten sollte! Wie viele herrliche Tannen sind durch achtlos fortgeworfene Cigarrenstummel in traurige verkohlte Baumstümpfe verwandelt worden! Wir verlangen, daß die grünen Hallen des Waldes dem Volke zur herrlichsten Erholung geöffnet bleiben; da hat aber auch der Gast im Walde die Pflicht, den Forst zu schonen! *      


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Herrn A. F. in München. In der That besteht in Siebenbürgen ein Verein, der die dort ansässigen Deutschen zusammenfaßt. Der genaue Name desselben lautet: „Verein Angehöriger des Deutschen Reiches in den siebenbürgischen Teilen des Königreiches Ungarn zu Hermannstadt“, Vorsitzender ist Herr Buchhändler Georg Meyer daselbst. Der Zweck des Vereins, seine in Siebenbürgen wohnenden oder durchreisenden hilfsbedürftigen Landsleute nach Kräften zu unterstützen, verdient gewiß Ihre Teilnahme, da der Zuzug von unterstützungsbedürftigen Landsleuten, welche in den unteren Donauländern und dem Orient Arbeit suchen, gerade in diesem östlichsten Gebiete deutschen Volkstums ein sehr großer ist.


Inhalt: Sturm im Wasserglase. Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Von Stefanie Keyser (3. Fortsetzung). S. 613. – Das Hahnreiten in der Mark. Bild. S. 613. – Ein letzter Rat. Bild. S. 617. – Gesprächige Frauen. Von Rudolf Kleinpaul. S. 618. – Die Frage der „Selbstentzündung“. Von C. Falkenhorst. II. S. 620. – Der Veteranen-Appell auf dem Tempelhofer Felde bei Berlin. Bild. S. 621. – Die braune Marenz. Erzählung von Charlotte Niese (1. Fortsetzung). S. 623. – Waldbrand im fernen Westen. Bild. S. 625. – Blätter und Blüten: Die Berliner Veteranenfeier auf dem Tempelhofer Felde. S. 627. (Zu dem Bilde S. 621.) – Das Hahnreiten in der Mark. S. 628. (Zu dem Bilde S. 613.) – Ein letzter Rat. S. 628. (Zu dem Bilde S. 617.) – Waldbrände. S. 628. (Zu dem Bilde S. 625.) – Kleiner Briefkasten. S. 628.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. heben.
  2. etwa eine Reichsmark.