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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[517]

Nr. 31.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Vater und Sohn.

Wahrheit und Dichtung.
Von Adolf Wilbrandt.
(4. Fortsetzung.)


7.

Volkmar lag am Nachmittag auf seiner Chaiselongue; er hatte, wie er es gewohnt war, fast eine Stunde geschlafen, dann aber schon eine geraume Zeit mit wachen Sinnen dies und das durchdacht. Es war aber eine seiner Eigenheiten – woher kommen sie? wie entstehen sie? – daß er nach dem Erwachen die Augen oft noch lange geschlossen hielt, bis irgend ein unbewußter Reiz sie öffnete; dann erst fiel ihm ein: ich wache ja schon lange! – Es erging ihm auch heute so. Als er die Lider endlich hob und in das sinkende, dämmernde Licht sah, erschrak er fast: wenige Schritte von ihm stand sein Sohn, bei der Hängelampe am Tisch. Die jungen Augen waren auf ihn geheftet; sonderbar gespannt leuchteten sie aus dem farblos bleichen Gesicht. Es war, als stünd' er schon lange so. Was ist –? fragte Volkmar.

In die Sommerfrische am Starnberger See.
Originalzeichnung von W. Püttner.

[518] Verzeih, lieber Vater! sagte Rudolf langsam. Ich sehnte mich so sehr … Aber natürlich wollt’ ich Dich nicht stören; bin ganz leise hereingeschlichen – die Thür war nur angelehnt – und hab’ gehorcht, ob Du noch schläfst. Mir schien’s so, als wachtest Du schon. Ich wußt’ es aber nicht gewiß.

Ja, ich wachte schon, erwiderte Volkmar. Was hat’s gegeben, mein Junge? Du kamst nicht zu Tisch –

Das wollt’ ich Dir zunächst erklären, Vater; mich entschul­­digen. Mir ging so was – ganz Besonderes im Kopf herum; ich hätt’ nicht so ruhig dasitzen können neben Tante Sophie und Dir. Ich mußt’ es auch erst zu Ende denken … Da bin ich zu den Tannen und zum Jäger hinausgelaufen –

In dem Schneetreiben?

Es war nicht mehr so schlimm. Und wenn’s auch noch so gewesen wäre – mir war’s grade recht. In mir trieb und jagte es auch; aber so wunderbar –!

Er lächelte und hob die Augen.

Junge! sagte Volkmar, sich aufrichtend. Wie siehst Du aus. Furchtbar blaß –

Das thut nichts, lieber Vater. Mir ist sehr – sehr gut. Beim Jäger haben sie mir ein paar Eier gekocht; ’s war auch Schinken da. Dann stürmte ich wieder in die Stadt, zur Schule; noch zur rechten Zeit. Und nun –

Er zauderte, er stockte. Er hatte etwas in den Augen, das dem Vater auf die Nerven ging.

Was willst Du mir sagen? fragte Volkmar.

Bitte, sag Du mir erst … Wär’ Dir’s recht, Vater, wenn ich mir einen andern Beruf wählte, weil’s mich dazu treibt? – Das heißt, was hab’ ich denn? Ich hab’ ja noch keinen Beruf. Ich will nur so zur Universität gehen und herumversuchen. Ich gelte für besonders begabt, so im allgemeinen; vielleicht bin ich’s gar nicht. Und jeder soll thun, nicht wahr, wozu es ihn im Innersten treibt –

Wozu treibt es Dich?

Glücklich zu machen, Vater. Etwas wahrhaft Gutes zu thun –

Wem?

Bitte, hör’ mich ruhig an. Ich fühle – ich fühle so tief, daß es das Rechte ist. Einem genialen Menschenkind, das aber wie gefangen ist – das hoch, hoch empor will, aber sich allein nicht helfen kann – dem mit allen Kräften helfen, Vater!

Thea Schüler! dachte Volkmar plötzlich; es ging wie ein Schlag durch ihn hin. – Er verlor aber die Fassung nicht. Was wär’ das für ein Menschenkind? fragte er mit äußerer Ruhe.

Nicht erschrecken, Vater. Thea. – Ja, ich weiß, was Du denkst: verliebt! – Glaub’ mir, von dem kommt’s nicht. Bei meinem Gott, dem ich meine Seele – – bei meiner Liebe zu Dir – ich will nur meine Pflicht thun, Vater; denn ich hab’ die Ueberzeugung: das ist meine Pflicht! Ich will ihr mein sogenanntes Lebensglück zum Opfer bringen, um sie zu erretten. O hätt’st Du sie auch gesehen und gehört, als ich heut bei ihr war … Es ist so viel Unglück in ihr – aber auch ein so hohes Streben. Sie sitzt wie im Käfig. Wenn jemand kommt und ihr aufmacht, so kann sie emporfliegen – etwas Großes werden, etwas Herrliches – für die Menschen, Vater – und auch für den Einen. Und er hat dann seine Pflicht gethan … Steh mir bei, lieber Vater! Du bist so still; Du sagst mir nichts; Du schaust mich nur an. Laß mich Thea helfen!

Volkmar starrte auf seinen Sohn, dem nun endlich die bleichen Wangen etwas röter wurden, und dann in die Luft. Ja, dachte er, indem es ihn überlief – so geht’s den Vätern! Es kommt über jeden; so oder so. Ueber diesen schwärmerischen Sohn kommt ein solcher Unsinn … Nur nicht die Ruhe verlieren. Nicht wild werden; nicht mit Gewalt … Mein Gott, wie ein Rausch, wie ein Wahnsinn sieht’s ihm aus den Augen. Um wen? Um solch ein Geschöpf!

Vater! wiederholte Rudolf jetzt. Steh mir bei! Ich kam mit solcher Hoffnung zu Dir. Laß mich Thea helfen!

Wie wolltest Du ihr denn helfen? fragte Volkmar und stand auf.

Wie? – Sie von diesem Theater wegnehmen –

Du?

Bitte, hör’ mich noch ’ne Weile an! – Denk’, sie würde auch Dein Kind – Deine künftige Tochter, mein’ ich – Deine Schwiegertochter. Wir heiraten natürlich erst nach Jahren, Vater … Du reistest vielleicht mit uns – sie und mich zu bilden – einen besseren Bildner und Lehrer als Dich gäb’s ja nicht für uns. Dann ginge sie zu einem großen Meister ihrer Kunst – und nicht eher wieder zur Bühne, als bis sie von allen Besten das Beste gelernt hätte –

Und Du?

Ich würf’ mich auf irgend was, das mich in ein paar Jahren so weit brächte, mich zu ernähren, und wenn’s noch not thät’, auch sie!

Und wovon lebtet ihr bis dahin?

Ich rechnete auf Deine Güte, Vater. Nein, auf Deine Liebe. Soll ich das nicht mehr? – Es ist ja auch eine Summe da, die ihr mir nach und nach geschenkt habt – zuerst noch meine Mutter – dann Du. Wohl an viertausend Mark. Wenn Du mir die während dieser ersten Jahre – neben meinem „Wechsel“ –

Viertausend Mark! Guter Junge! Was sind viertausend Mark für so Eine wie Die!

Vater! rief Rudolf aus.

Volkmar faßte sich wieder; die Erregung hatte ihn fortgerissen. Er ging geflissentlich langsam durchs Zimmer, um die beiden Tische herum, die in der Mitte standen. Als er wieder zu Rudolf kam, legte er ihm eine Hand auf die Schulter; Rudolf zuckte leise. Wir wollen das in Ruhe besprechen, sagte er; und wie Freund und Freund. Nur daß ich der ältere bin, mehr Erfahrung habe – und keinen Spektakel hier in der Brust. Thea Schüler! – Nehmen wir einmal an, sie hätte viel Talent. Nehmen wir auch an, sie hätte auch Ehrgeiz und Charakterkraft genug, um an sich zu arbeiten, bis sie fertig ist. Aber Du weißt doch wohl – – zum mindesten gilt sie für eine „leichte Person“. Für die „Freundin“ des Herrn von Fellenberg – und wer weiß, wessen sonst noch. Kurz, mir deucht, mein geliebter Junge, zur Schwiegertochter taugt sie nicht!

Rudolf war heftig errötet; als thäte er’s für Thea, als dächte er, sie stände dort neben ihm. Vater! sagte er nun, mit etwas bebender Stimme. Sie „gilt“ dafür … Wie oft hast Du selbst gesagt: Niemand wird so tüchtig verleumdet wie Die vom Theater! Die leben eben herzhaft drauf los, kümmern sich nicht viel um den Schein und um das Kopfschütteln der Philister! – – Aber freilich – hier übergoß ihn eine neue Röte – wie die wohlerzogenen Mädchen, ganz so ist sie nicht. Sie hat mir ja selber gesagt – rührend offen, Vater – daß in ihrem Leben „eine große Dummheit ist“ … Gott weiß, daß ich wollte, sie wär’ nicht darin! Als ich draußen in den Tannen ging, mir war plötzlich so, als müßt’ ich mich in den Schnee werfen und nicht wieder aufstehn … Aber das war schwächlich. Künstlerinnen wie Thea, darf man denn die mit der Bürger-Elle messen? Haben sie nicht auch wie die Studenten eine Art von Vorrecht? Sind sie nicht wie Studenten? Und wenn sie das Eine durch ein großes Leben wieder gutmachen will, soll man ihr nicht helfen und sie nicht erretten?

Ist Herr von Fellenberg ihre „große Dummheit“? fragte Volkmar.

O nein. Die war früher. Alles andre, was man sagt, von dem glaub’ ich nichts. Denn sie selber sagt: „es war die einzige“ … Und die ist zu stolz, um zu lügen, Vater!

Mag sein, Rudolf; aber vielleicht sind ihr all die andern kleinen Romane keine „Dummheiten“. – Doch nehmen wir einmal an, Du hättest recht, und die Leute verleumdeten sie. Was ist Thea dann? Eine hübsche, lustige, auch anmutige kleine Schauspielerin, mit etwas Leichtsinn, etwas mehr Talent und noch mehr – Gemütlichkeit; die daher das, was man erarbeiten muß, nie erreichen kann; und die ein sehr viel besserer Mensch durch ein riesiges Vergrößerungsglas betrachtet – und der das thut, ist mein Sohn! – Rudolf! Herzenssohn! An so ein Mädel Dein Leben hängen! – Ich will jetzt von Deinen neunzehn Jahren nicht reden – noch nicht einmal neunzehn sind’s – und daß Du nichts bist, nichts kannst –

Weiß ich denn das nicht, Vater? rief Rudolf mit schmerzhafter, erregter, hoher Stimme aus. Nur um ihr helfen zu können, will ich ja –

Willst Du Dein junges Leben an das ihre ketten!

Weil sie es wert ist, Vater! Weil sie – – Du bist doch sonst nicht wie die Andern, Vater. Aber jetzt – Du kennst sie nicht – Du hast sie ein einzig Mal spielen sehn – aber ruhig [519] sagst Du: die ist nichts, die wird nichts. Ein kleines, unbedeutendes, charakterloses, faules ... Du weißt alles. Vater –!

Nun ja, sagte Volkmar, so ganz umsonst hab’ ich wohl nicht gelebt, ich seh’ mehr als Du. Ob jemand etwas mehr oder etwas weniger klein ist, dazu braucht’s wohl längeres Hinschauen; aber ob einer etwas wahrhaft Großes ist ober nicht, das fliegt in die Augen – wenn man sie groß aufmachen gelernt hat. Rudolf Volkmar aber, der noch vor dem mündlichen Schulexamen steht, will nach einer Plauderstunde – wie sagtest Du – „sein Lebensglück zum Opfer bringen, um diese Thea zu retten“! – Junge! Du, der Schwärmer für alles Edle und Große – dem kaum die Menschheit groß genug war, unn sich ihr zu opfern – der „in seinem Gott“ lebte – der schon als Knabe so oft in seinem Tagebuch – – da liegt’s noch. Ich hab’ noch gestern wieder drin gelesen. Und die Stellen, die mir am besten gefielen, hab’ ich rot angemerkt – so wie die andern, die „verliebten“, blau. Denn Dein Tagebuch macht Dir auch Ehre, Rudolf. Ich kenn’ keinen jungen Menschen, der so früh und mit so warmem Herzen seinen Idealen, seinem Gott – – Lies zum Beispiel das!

Er nahm das Buch vom Bildermappentisch und blätterte, bis er die erste rot angezeichnete Stelle fand. Da warst Du etwa fünfzehn Jahr’ und ein halbes; hattest wieder den „himmlischen Don Carlos“ Deines „großen Schiller“ gelesen. „O, dieser edle Marquis Posa“ – – Bitte, lies. Aber laut. Daß wir’s beide hören!

Aber, Vater –

Nur zu!

„O dieser edle Marquis Posa“, begann Rudolf mit klangloser, unlustiger Stimme, „er hat mich mit seinen freien, großen Ideen zu einem neuen Feuer angefacht, Freiheit der Gedanken, reinen Gottglauben zu verbreiten, zu meinem Lebenszweck zu machen!“

Ein etwas verunglückter Satz, sagte Volkmar. Das thut nichts. Bitte, da unten auf der nächsten Seite!

„Ja, wie es auch werde, Großes, Edles, Freies will ich thun in meinem Leben, will immer Gott in meinem Busen wohnen lassen und immer thun, was er gebietet!“ – Nun ja, Vater – das will ich auch jetzt. Ich glaube, ich fühle, daß er mir’s gebietet –

Und hier! sagte Volkmar, der ihm das Vuch aus der Hand genommen und mit seinen geschwinden Fingern wieder geblättert hatte. Etwas später; nicht viel. Als Du Marie noch liebtest ... Da lies!

Warum, Vater? – Laß; ich mag nicht –

Nun, so les’ ich! – „Der heutige Tag war schön, aber wieder habe ich ihn für mich hingebracht, nicht für meine Brüder! O wenn doch endlich ein Funke in meine Seele fiele, der zu schaffen gäbe, schaffen will ich!!!“ – Dann ein paar Seiten später: „Auch habe ich Lessings ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ wieder gelesen, das mir viel zu denken giebt. – – – Wer Gott hat, ist nie allein, und niemals kann Unglück den beugen, der Gott im wahren Sinne kennt! der Gott vertraut, in ihm das höchste Gut besitzt und sein Gebot erkannt hat: Schmerzen und Leiden sollen Dich läutern und zu Gott erheben aber unglücklich sollst Du nicht sein, um Gottes und der Menschen, Deiner Brüder willen!“ – Für einen Fünfzehnjährigen keine üblen Gedanken, Rudolf. Und dies hier, zwei Seiten weiter, das gehört dazu. „Mein kurzes Gebet, das ich jetzt oft vor mich hinspreche, und mit dem ich alles Schlechte und Gemeine von mir banne, heißt: Mein Gott, ich bin bei Dir!“

Rudolf, der sich gesetzt hatte, wand sich unruhig auf seinem Stuhl. Aber wozu soll ich das hören, Vater, sagte er mit einem Anflug von bitterem Lächeln. Bin ich denn nicht mehr bei Gott? Hab’ ich Gott verlassen? – Wie wenn ich jetzt „Schlechtes und Gemeines“ wollte –

Nein, das nicht. Das wirst Du nie. Aber Unsinniges!

So sagst Du. Und damit gut! – Du weißt, wie hoch ich Dich ehre, Vater – Dich und Deine Gedanken – aber irren kann jeder; Du auch! – „Für meine Brüder schaffen“ – für die Menschheit leben ... Ja, so hab’ ich als Knabe geträumt. Da dacht’ ich noch Wunder, was ich wäre. Wie viele überschätzen sich; ich hab’s auch gethan. Jetzt sag’ ich mir: wer bin ich denn? Wo sind meine großen Geistesgaben, meine Talente, mein hoher Beruf? Ich irre so herum. Was hab’ ich vor den andern voraus? Nichts als etwas höheres Streben – auch wohl mehr wirkliche Menschenliebe ... Die will ich ja auch bewähren, Vater. Nicht an Allen, wie ich in meinem kindlichen Größenwahn dachte, sondern zunächst nur an einem Menschen – aber da auch ganz! mit dem ganzen Herzen!

Ja, ja, sagte Volkmar und nickte, das ist Menschenart. Weil jetzt dieser eine Gedanke Dich hat, so machst Du Dich mit Gewalt kleiner, als Du bist!

Woher weißt Du das? Du weißt so viel – aber für Deinen Sohn bist Du doch wohl auch etwas vaterblind! – Du hast mir immer so hohe Gedanken gegeben, hohe Ziele vor mich hingestellt; dadurch kam’s wohl auch, daß ich eine so hohe Meinung von mir kriegte – und Du, Vater, auch. Weil Du es wünschtest, und weil ich Dir nachsprach, darum glaubtest Du’s ... Aber was in meinem Herzen gut ist, das vergeht ja nicht! Und mit „meinem Gott“ bin ich so einig wie je. Du hast mich zur Freiheit erzogen, wie Du neulich sagtest; daß ich meine eigenen Gedanken, meinen eigenen Sinn haben soll, nach dem innersten Fühlen und Bedürfen leben soll, das in mich gelegt ist. Vater, das thu’ ich ja heut! Wie mein Gott mir’s gebietet! Laß mich doch! Wehr’ mir’s nicht!

Wie er seine Sache zu führen weiß, dachte Volkmar zwischen Bangen und Freude. Die Geistesgaben, die er sich abspricht, fehlen thun sie noch nicht! – Er fühlte aber stärker und stärker, so daß es ihn beklemmte: mit dem werd’ ich durch Worte nicht fertig. Durch Neinsagen auch nicht. Was hat sie ihm angethan? Wie ist ihm das so mitten in das Herz gegangen? Wie ist da zu helfen?

Du antwortest mir schon gar nicht mehr, sagte Rudolf endlich – er war wieder aufgestanden – nach einem langen, schmerzlichen Atemzug. Nur Deine Augenbrauen spielen so – wie ich’s an Dir kenne – so unzufrieden; als verwürfst Du alles, was ich sage. Dann nur noch drei Worte, Vater! Ermüden und belästigen will ich Dich ja nicht. Wenn ich ähnlich bin wie Du – ich, Dein Sohn – das wird Dich doch nicht wundern! Du selber, Du hattest immer Deinen eigenen Sinn; hast von frühen Jahren an ganz nach Deinem Kopf, nach Deiner „inneren Stimme“ gelebt; das weiß ich nicht nur von Dir, auch von Andern. Nun, Dir hat es nicht geschadet, nicht wahr ... Ich hab’s von Dir geerbt. Ich hab’ auch so ein Muß in mir, das dann sagt: ich will! Und wenn ich auch vielleicht weicher bin als Du – aufgeben kann ich das nicht, was in mir so spricht, so laut, – wie mit Gottes Stimme. Ich hatte gedacht, Du, mein Vater, mein Vorbild, Du, von dem ich das erbte, Du wirst mich sogleich verstehn; wirst mit Deiner himmlischen Liebe – – aber Deine Augen bleiben starr und stumm. Gut. Verstoß mich, Vater! Jag mich in die Welt hinaus! Vielleicht bricht mir das Herz dabei, ich weiß es nicht; aber das, was ich –

Ach, Du dummer Junge, unterbrach ihn Volkmar, dem wieder todblassen Jüngling etwas näher tretend. Wie wird Dein Vater das thun; brauch’ nicht solche Worte. Da bist Du wieder der kleine Bub, der, wenn die Mutter oder ich ihm seinen Willen nicht thaten, manchmal trotzig schmollte: „dann will ich weit, weit fort!“ – Damals „zischte“ Dir auch schon das Herz, wie Du’s einmal nanntest, als Du an Deine erste Liebe dachtest; die Dir „in den Kopf gedreht“ hatte, wie Du nach Deiner eigenen Grammatik sagtest. – Kennst Du Deinen Vater noch nicht? Wird Dich der verstoßen?

Was wirst Du denn thun? fragte Rudolf, auf Volkmars verschlossenem Gesicht herumforschend.

Was ich thun werde? – Ich – –

Ein jäher, überraschender Gedanke war in Volkmar aufgestiegen; ein verwegener; aber vielleicht der rechte in so ernstem Fall. Er hielt inne, um ihn geschwind zu betrachten; er legte ihn sich gleichsam auf die Hand, wie eine Goldmünze: ist sie echt? kann man das dafür kaufen, was man haben will? – Ja, dachte er, für ein Herz wie das meines Jungen ist es wohl das Rechte. Für diesen Vater und diesen Sohn!

Ich will Dir sagen, was ich thun werde, nahm er wieder das Wort; hab nur noch einen Augenblick Geduld. Selbstverständlich denk’ ich, daß Du noch nicht den Wahnsinn hattest, Dich mit ihr zu verloben. –

Nein, Vater, warf Rudolf dazwischen. Hieltst Du das für möglich? – Sie sagte mir selbst: „reden Sie nicht mehr!“ Und ich – vor meiner Seele stand’st Du: mit dem Vater reden –

Nun, das hast Du gethan. Und es hat sich gezeigt: wir sind gar nicht einig; so uneinig waren wir noch nie. Es muß aber damit endigen wie immer, daß wir einig werden! – Du hast mich beschuldigt,

[520]

Mac Mahons Flucht durch Fröschweiler am 6. August 1870.
Originalzeichnung von H. Huisken.

[521] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [522] daß ich über Thea Schüler abgeurteilt habe, ohne sie genügend zu kennen. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Damit fängt die Sache an! Ich lerne sie also besser kennen. Ich besuche sie. Ich, als Rudolf Volkmars Vater. So lange, bis ich sagen kann –

Vater! Das willst Du thun?

Unter einer Bedingung! Daß Du mir eine Woche volle Freiheit giebst. Mit andern Worten: daß Du mir gelobst, eine Woche lang Thea nicht zu sehen; weder hinzugehen, noch ihre Wege zu wandeln, noch zuzuschauen, wenn sie spielt. Ihr auch nicht zu schreiben. Eine Woche ist sie für Dich wie auf dem Mond. Du lebst so lange nur für die Schule und für Dein Examen!

Gewiß, Vater, sagte Rudolf zögernd, etwas unsicher. Wenn Du –

Wenn ich unterdessen mich meiner Aufgabe widme, Thea besser kennenzulernen. Ja, das werd’ ich thun! – Ich hab’ meinen Jungen nie getäuscht, das weißt Du; auch nicht aus Erziehungsjesuiterei. Wie Du Wahrhaftigkeit lernen solltest, hast Du sie empfangen ... Also abgemacht. Ich lese das Buch Thea; mit redlicher Gründlichkeit. Du lies’st Homer und Horaz. Nach einer Woche sprechen wir uns wieder.

Vater! Vater! Du bist –

Statt schwache Worte zu sagen, die ihm nicht genügten, warf Rudolf sich dem Vater an die Brust und umschlang ihn mit aller Kraft seiner Turnerarme. Verzeih! stieß er dann ungelenk heraus. Daß ich einen Augenblick zweifeln konnte ... Du, mein bester Freund!

Abwarten, wie es endet, mein Alter! sagte Volkmar, voll Liebe lächelnd. Wir werden beide thun, was wir können. Nun verlaß mich aber, ich hab’ viele Briefe zu schreiben und auch sonst zu schaffen! (Fortsetzung folgt.)


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Theaterdirektor der alten Schule.

Nichts ist ruhebedürftiger als das Theater, nichts vergeßlicher als das Publikum! Daher verschwinden so rasch die Namen der Intendanten und Direktoren, welche eine Zeit lang in aufdringlicher Weise fast alltäglich die Blätter füllen, und vielgenannten Künstlern und Künstlerinnen geht es nicht besser, wenn nicht namhafte Schriftsteller ihr Charakterbild in ihren Werken aufbewahren. Heutzutage lebt zwar ein Laube, ein Dingelstedt noch im Gedächtnis der Zeitgenossen; aber von andern gleichzeitigen Direktoren weiß die Chronik der Gegenwart nichts mehr zu erzählen; sie hat zu viel über die Bühnenleiter zu berichten, welche jetzt das Steuerruder in der Hand haben und durch ihre Unternehmungen, ihre Thaten und Leiden die Tagespresse beschäftigen. Wenn ich so das Album der von mir persönlich gekannten Theaterdirektoren durchblättere, so taucht das Bild eines jetzt fast vergessenen Mannes vor mir auf, der seiner Zeit viel genannt und viel gescholten wurde, aber viel besser war als sein Ruf Er gehörte zu den gefürchteten Direktoren, und viele Musenjünger schlugen ein Kreuz, ehe sie sich ihm anvertrauten: ich meine Arthur Woltersdorff, der länger als zwei Jahrzehnte das Theaterscepter in der Pregelstadt Königsberg schwang. Die Blütezeit seiner Direktion war ihr erstes Jahrzehnt, vom Beginn der vierziger bis zu demjenigen der fünfziger Jahre. damals, etwa seit 1845, stand ich ihm eine Zeit lang als junger Dramaturg zur Seite. Ich hatte mein juristisches Doktorexamen gemacht, aber aus politischen Gründen nicht die Erlaubnis erhalten, Vorlesungen an der Universität ankündigen zu dürfen. So nahm ich diese Stellung an, durch welche ich gründlich in das Theaterwesen eingeweiht wurde; denn ich war als Dramaturg nicht das fünfte Rad am Wagen, wie das bei heutigen Dramaturgen oft genug der Fall ist; ich hatte nicht bloß die neu eingehenden Stücke zu lesen, sondern auch die Leseproben zu leiten, mich an den Theaterproben zu beteiligen und den Direktor in seiner Abwesenheit zu vertreten, was für einen zweiundzwanzigjährigen jungen Mann immerhin keine leichte Aufgabe war.

Arthur Woltersdarff entstammte einer vermögenden Königsberger Patricierfamilie, deren kaufmännisches Ansehen anfangs noch von seinem Vater und seinem Onkel aufrecht erhalten wurde. Die drei stattlichen Figuren, besonders wenn sie festlich mit hohen weißen Halsbinden erschienen, bildeten ein imponierendes Kleeblatt. Unsere jetzigen Direktoren sind, abgesehen von den Hoftheaterintendanten, zu denen ja mit wenigen Ausnahmen nur Kavaliere gewählt werden, meistens aus dem Kreise der Künstler selbst hervorgegangen: wir brauchen hier nur an Stägemann, Claar, Angelo Neumann, Barnay, Possart zu erinnern, oder es sind Schriftsteller wie L’Arronge, Blumenthal, Brahm und Müller-Guttenbrunn. Daneben giebt’s an kleineren Bühnen noch allerlei Sorten von Geschäftsmännern, die jetzt den Thespiskarren kutschieren, Agenten, Restaurationsbesitzer etc. Woltersdorff war weder Künstler, noch Schriftsteller; er war früher in keiner Weise mit dem Theaterleben verwachsen gewesen; er hatte die Rechte studiert und war wohlbestallter Referendar, als er die Leiwng der Königsberger Bühne in die Hand nahm, nur als Theaterfreund und aus Neigung für die selbständige Verwaltung irgend eines größeren Unternehmens. Eine vollkommene akademische Bildung war damals eine Seltenheit bei Theaterleitern und ist es auch noch heutzutage. So hatte er auch Vertrauen in sein eigenes Urteil und damit hing einer seiner Vorzüge zusammen, den er vor vielen Direktoren voraus hatte: er las die eingehenden Stücke selbst, und wenn ihm eines gefiel und er sich Erfolg versprach, so ließ er es alsbald in Scene gehen, ohne erst hinzuhorchen, ob dasselbe an dieser oder jener „tonangebenden“ Bühne gegeben worden und welche Aufnahme es dort gefunden habe. Er hat, besonders in der Blütezeit seiner Direktion, manches Stück zuerst zur Aufführung gebracht, welches nachher die Runde über die Bühnen machte. Vor den namhaften dramatischen Schriftstellern hatte er großen Respekt und suchte sie bei seinen Reisen durch Deutschland gern persönlich auf. Er wurde zwar von vielen Seiten als ein uncivilisierter Bär verschrieen, aber er war im Grunde ein sehr gebildeter Mann und konnte darin vielen seiner Kollegen, die sich eines weit besseren Rufes erfreuten, einige Punkte vorgeben.

Jene üble Nachrede des Bärenhaften hatte er sich wohl am meisten durch die Art seines Verkehrs mit den Schauspielern zugezogen. Er verkehrte mit ihnen weder als wohlwollender Vater, noch als gleichstrebender Freund, sonderm ausschließlich als unbeschränkter Herrscher, nur die rauhen gleichsam zottigen Seiten seines Wesens stellte er ihnen gegenüber ans Licht. Es war dies teils Grundsatz, denn er meinte, so mit den Herren und Damen von der Kunst, von denen er keine sonderlich hohe Meinung hatte, am besten auszukommen, teils lag’s in seiner Eigenart, sich in seinen oft etwas gewaltthätigen Launen behaglich gehen zu lassen. Auch fühlte er sich als reicher Mann, als zahlende Großmacht den bezahlten, in seinen Taubenschlag herein- und wieder aus ihm herausflatternden Kunstjüngern sehr überlegen. Alle Chikanen, jeden sich auflehnenden Eigensinn glaubte er mit eisermem Fuß niedertreten zu müssen. Da war sein Ton oft kurz angebunden und barsch, und nach einigem Stottern kam es dann zu der beliebten, fast sprichwörtlich gewordenen Schlußwendung seiner Reden: „Am Ende aller Enden“. Doch blieb er im ganzen stets gerecht und unparteilich und hatte über die Leistungen seiner Schauspieler und Sänger ein gutes Urteil. Die hervorragenden wurden von ihm öfters des Abends zum Thee in seine Junggesellenwirtschaft eingeladen. Sein Kopf war immer voll von Plänen, neuen Stücken, neuen Besetzungen, neuen Gastspielen, und er liebte es, darüber in diesem Kreise sich auszusprechen. Der Thee wurde manchem durch kritische Bemerkungen über seine letzten Leistungen nicht gerade versüßt.

An diesen Abenden zeigte es sich, daß er ganz im Theater aufging, nur gelegentlich schweifte die Unterhaltung auf das Gebiet der Tagespolitik ab. Auch hier war er unabhängig in seinem Urteil und ließ sich durchaus nicht von der ostpreußischen liberalen Bewegung mit fortreißen. Am interessantesten wurde die Unterhaltung, wenn berühmte Gäste zugegen waren. Und daran fehlte es niemals an der Königsberger Bühne. Woltersdorff wußte sie heranzuziehen. Wen haben wir nicht damals, im ersten Jahrzehnt von Woltersdorffs Direktion, in der Pregelstadt gesehen! Die geniale Schröder-Devrient, Emil Devrient, den Liebling der Musen und Grazien, seinen Bruder Karl, dessen Spiel so reich war an [523] großartigen Zügen, Düring mit dem kecken Wurf seiner komischen Genrerollen, die imposante Edwine Viereck, die leidenschaftliche Antonie Wilhelmi, die reizende Tänzerin Fanny Cerrito, die es liebte, auf dem gartenumhegten Königsberger Schloßteich umherzurudern, die schlanke Grisi und andere Ballettköniginnen . . . alles, was damals Ruf und Namen hatte! Vor diesen Sternen am Kunsthimmel zog dann auch der schroffe Direktor liebenswürdigere Saiten auf; doch behauptete die böse Fama, daß diese Liebenswürdigkeit in auffallender Weise nachließ, wenn die Gastspiele keinen klingenden Erfolg hatten, und daß da bisweilen auch den auswärtige Ehrengästen gegenüber der Bär zum Vorschein kam.

Woltersdorffs Eigenart brachle es mit sich, daß um sein Haupt ein Kranz von Anekdoten sich bildete, in denen Wahrheit und Dichtung oft in einer schwer zu sondernden Weise verschmolzen. Dieser Anekdotenkranz bietet viel Ergötzliches; doch ist dabei das Mißliche, daß ein charakteristischer Zug desselben die volkstümliche Derbheit ist, deren sich der Direktor befliß, wenn er in unbewachten Augenblicken seinem Humor die Zügel schießen ließ. Einige kleinere Proben mögen indes Striche zum Charaktergemälde des ostpreußischen Bühnenleiters geben.

Wie alle Direktoren von Stadttheatern, die aus eigener Kasse wirtschaften, war auch Woltersdorff sehr auf Ersparnisse bedacht; er machte indes daraus kein Hehl wie manche andere Bühnenleiter, welche derartige geschäftliche Rücksichten unter den hochtönenden Wendungen eines „künstlerischen Programms“ zu verschleiern suchen. Für das Gleichgewicht des Etats zu sorgen, war er eifrig bemüht, und jeder Finanzminister hätte sich an ihm ein Muster nehmen können. Lange Jahre war an seinem Theater ein Musikdirektor angestellt, dessen Frau eine vorzügliche Chorsängerin war, eine gute Stimme hatte und stets in erster Linie stand. Eines Tages ließ Woltersdorff ihn zu sich kommen, sagte ihm, er habe sich viele Jahre lang gequält, sei stets fleißig gewesen und habe stets seine volle Zufriedenheit erlangt. Deshalb habe er beschlossen, ihm fortan für den Monat sechs Thaler Zulage zu geben; Dank verlange er nicht dafür. Hochbeglückt geht der Musikdirektor nach Hause, wo die Kunde von der Gehaltserhöhung große Freude bereitet. Einige Tage darauf wird die Frau aufs Direktionsbureau bestellt; Woltersdorff nimmt seine gestrenge Miene an und sagt sehr kurz angebunden zu ihr: „Liebe Frau, Sie thun zwar immer noch Ihre Pflicht, aber ich muß ein paar jüngere Chorsängerinnen annehmen, mit den alten geht’s nicht mehr. Wenn Sie also bleiben wollen, muß ich Ihnen sechs Thaler monatlich abziehen.“ Und so war das Gleichgewicht des Etats gerettet.

Sein Ansehen suchte sich Woltersdorff stets zu wahren und wenn er auch einmal im Dunkeln tappte, so ließ er sich doch nichts davon merken, sondern trat mit gewohnter Sicherheit und Unfehlbarkeit auf. Eine neu engagierte Sängerin kam zu Anfang der Saison ins Theaterbureau und beschwerte sich über eine Rolle, die sie erhalten habe, aber nicht singen wolle, da sie ihr nicht liege und dies auch nicht ihr Fach sei. „Gerade für dies Fach habe ich Sie engagiert,“ erwiderte Woltersdorff, „bitte, gehen Sie nach Hause und studieren Sie diese Rolle.“ Als die Künstlerin das Bureau verlassen hatte, fragte er den Sekretär, wer denn die Dame gewesen sei.

Nichts konnte ihn mehr außer sich bringen als ein Zweifel an seiner Gerechtigkeitsliebe. Ein Komiker, der sich in keinen günstigen Verhältnissen befand, wurde auf Grund der Theatergesetze in Strafe genommen. Als dieser sich bei Woltersdorff darüber beschwerte, erhielt er von ihm zur Antwort: „Mein Theater ist wie eine Lokomotive; da muß ein Rad ins andere greifen; dasjenige, welches den Dienst versagt, rangiere ich aus!“ Darauf erwiderte der aufgebrachte Komiker: „Sehen Sie sich nur vor, daß Ihnen nicht einmal solch ein Rad in den Nacken springt, Sie Blutsauger!“ Ueber diese empfindliche Kränkung konnte sich der Direktor nicht beruhigen; er ließ den Kapellmeister und alle die ersten Angestellten zu sich kommen; sie mußten einen Schein unterschreiben, daß er kein Blutsauger sei.

Uebrigens war Woltersdorff einer der ersten und der wenigen Theaterdirektoren, welche durch einen Titel seitens der Regierung ausgezeichnet wurden. Anlaß dazu gab ein Gastspiel seines Opernpersonals am Berliner Hoftheater, bei welchem er die Opern von Dittersdorf und andere Spielopern des vorigen Jahrhunderts zur Aufführung brachte, die er vorher in Königsberg seinem Repertoire einverleibt hatte. Es war dies jedenfalls ein Verdienst und zeugte von der tonangebenden Selbständigkeit seiner Direktionsführung. Er erhielt den Titel „Geheimer Kommissionsrat“. Auch als Schriftsteller hat sich Woltersdorf versucht, indem er wie Heinrich Laube einen eingehenden gewissenhaften Bericht über seine Theaterführung veröffentlichte.

Woltersdorff war ein sehr fleißiger Direktor. Er las, wie erwähnt, nicht nur alle Stücke, er diktierte auch alle Briefe selbst und hatte darin große Fertigkeit: es kam alles klar zu Tage und der Stil geriet nirgends ins Stolpern. Nur bei den Aufführungen selbst kam er etwas aus dem Gleichgewicht; er vermochte es nicht, in seiner Loge auszuhalten; wenn ihn etwas aufregte oder ihm mißfiel oder auch in minder wichtigen Scenen trottete er hinter den Coulissen in einer Art von nervöser Unruhe hin und her, korrigierte Zettel oder schrieb eigenhändig die Proben auf der schwarzen Tafel auf. Seine Bühnenleitung war keine ruhmsüchtige; sie ging nicht auf Experimente aus, von denen in den Blättern gesprochen würde; ihr Ziel war, das einfach Tüchtige hinzustellen, gute Vorstellungen gut ausgewählter Stücke – und in jenem ersten Jahrzehnt war das Repertoire in der That vortrefflich. Zu Hilfe kam die damalige Blüte dramatischer Dichtung. Welch ein köstliches Weinjahr für das Theater war z. B. dasjenige von 1847. Da kamen in einer Saison Laubes „Karlsschüler“, Gutzkows „Uriel Acosta“, Freytags „Valentine“ zur Aufführung! In der Leitung des Theaters unterstützten den Direktor zum Teil sehr tüchtige Kräfte; wir erwähnen nur August Wolf, den späteren Direktor des Burgtheaters, und Vollmer, der lange Zeit mit anerkannter Tüchtigkeit das Theater in Frankfurt am Main geleitet hat. Die frische geistige Bewegung, welche damals Königsberg zu einer politischen Leuchte für Deutschland machte, kam auch dem Theater zu gute: es regte und rührte sich alles am Pregel und Geister und Herzen waren empfänglich für Darbietungen der Kunst. Auch das Jahr 1848 mit seinen Straßenaufläufen und Volksversammlungen schädigte das Theater nicht allzusehr. Woltersdorff machte der Volksstimmung einige Zugeständnisse, obwohl ihm die Bewegung gegen den Strich ging. Ich selbst stand derselben näher. Es hatte sich eine Bürgerwehr gebildet und das Altstädtische Bataillon hatte mich zum Kommandeur gewählt, eine Auszeichnung, die ich neben meiner politischen Gesinnung meiner Dienstzeit bei den Berliuner „Neuschatellern“ (den Gardeschützen) verdankte. Durch mich kam auch das Theater in Beziehung zu jener Bewegung, allerdings nicht das Direktionsbureau, sondern die Garderobe, denn ich muß es nachträglich bekennen, daß der Säbel, den ich am breiten schwarzrotgoldenen Gurt trug, aus dieser Garberobe entlehnt war.

Das Königsberger Theater war damals im Sommer oft eine Wanderbühne; die Gesellschaft Woltersdorffs suchte einzelne Hauptstädte der Provinz heim, besonders Elbing und Memel, das äußerste Thule der preußischen Monarchie. Es gab noch keine bequemen Eisenbahnverbindungen: dafür hatte die Romantik des schauspielerischen Wanderlebens ihren eigenartigen Reiz. Zu Lande ging’s mit der Post oder im Mietswagen; Dampfer trugen uns über das Frische und das Kurische Haff. Das letztere besonders machte einen etwas ungastlichen Eindruck, nicht wegen seiner oft vom wandernden Sand heimgesuchten Nehrung, sondern besonders wegen der unbequemen Landungsstelle. Die von Memel kommenden Dampfer konnten, wegen der am Ufer sehr seichten Flut, nicht an dasselbe heranfahren; kräftige Fischer und Dorfbewohner mußten deshalb, durchs Wasser watend, die Passagiere an Bord tragen. Es war dies für die erste Liebhaberin, die Primadonna und die andern Künstlerinnen immerhin etwas Neues und die hilfeflehenden Gesichter der getragenen Schönen, zwischen Aengstlichkeit und Koketterie schwankend, ließen fast vergessen, welche gefährliche Brandstifterinnen sich unter ihnen befanden. Woltersdorff selbst machte diese romantischen Fahrten nicht mit; er erschien später, um seine vorgeschobenen Truppen zu besichtigen. Auch fanden sich oft in seinem Gefolge angesehene Königsberger Theaterfreunde ein, welche beobachten wollten, wie sich die Kunst der Hauptstadt in der Provinz ausnahm, und nebenbei den Künstlerinnen eifrig und ungestörter als dort den Hof machten.

So blühte die Romantik des Theaters auch unter dem Scepter der gestrengen Woltersdorffschen Direktion. Ich schreibe hier nicht die Chronik derselben; später versandete bisweilen ihre frische Strömung, und durch Gründung des Wilhelmstheaters, noch mehr aber durch diejenige des nach Woltersdorff benannten Berliner Theaters geriet [524] er in das Gebiet der modernen Theaterspekulation. Auch wollte ich keineswegs das Musterbild eines Theaterdirektors entwerfen, zu welchem die heutigen als zu einem nachahmenswerten Vorbild emporblicken sollten; ich wollte bloß eins der Originale unseres Theaterlebens zeichnen und die tüchtigen Seiten eines Mannes hervorheben, der bei Lebzeiten über Gebühr verkannt worden ist. In einer Hinsicht kann Woltersdorff allerdings den Direktoren der Gegenwart zur Nachahmung empfohlen werden: in Bezug auf die Stetigkeit und Ausdauer seiner Direktion. Fünfundzwanzig Jahre lang Direktor eines und desselben Stadttheaters: ist dies nicht an sich ein glänzendes Lob? Hat dies nicht etwas Sagenhaftes in unserer raschlebigen Zeit, in welcher ein Direktor, der fünfundzwanzig Jahre lang ein und dasselbe Theater leitet, in ein Museum für Naturmerkwürdigkeiten gehört? Rudolf v. Gottschall.     


Der Sieg von Wörth.

(Mit dem Bilde S. 520 und S. 521.)

Auf den blutgetränkten Schlachtfeldern Frankreichs erstritt sich vor fünfundzwanzig Jahren Deutschland die heißgeliebte, die so lange vergeblich umworbene Braut: die Einheit. Jetzt, im silbernen Jubeljahr dieser weltgeschichtlichen Ereignisse, blickt unser deutsches Volk dankbar frohen Herzens zurück auf jene große Zeit, von der vorahnend der Dichter gesungen: Es wird eine Zeit der Helden sein!

Jeder deutsche Truppenteil hat sich einen Gedenktag erlesen, den er festlich begeht, einen Schlachttag, an dem seine Fahnen den herrlichsten Ruhmeskranz gewonnen. Durch unser Volk, soweit es noch beseelt ist von rechter Vaterlandsliebe, soweit es noch Herz und Verständnis hat für ideale Errungenschaften, geht wieder ein Hauch der flammenden Begeisterung, die in den denkwürdigen Julitagen von 1870 alle Seelen erfüllte. Möchte doch dieser frische Hauch die Freude an dem damals Gewonnenen aufs neue mächtig beleben und das heute die Wehrkraft Deutschlands bildende Geschlecht stark machen in dem Voraatz: stets bereit zu sein, für die Erhaltung des Deutschen Reiches mit derselben Hingebung einzutreten, mit der die Kämpfer von damals für seine Verwirklichung tapfer das Leben eingesetzt haben!

Unser Bild führt uns lebendig eine Episode aus den ersten großen Kämpfen vor, die den Feldzug glückverheißend eröffneten: „Mac Mahons Flucht durch Fröschweiler.“ Das brennende Dorf, eben noch der letzte Stützpunkt der verzweifelt ringenden Franzosen – von allen Seiten sausen und prasseln die deutschen Granaten hinein, mit dröhnendem Krachen ihre tödlichen Sprengstücke entsendend. Betäubend, sinnverwirrend die Flammen, der Qualm, das Gebrüll der Schlacht, die Schreckensrufe der Fliehenden, die Klagen der Verwundeten „Rette sich wer kann!“ ist die einzige Losung dieser unglücklichen Flüchtlinge, „nur zurück, nur heraus aus diesem Höllenfeuer, gleichviel wohin!“ Auf keuchendem Schimmel der gefeierte Marschall, der Sieger von Magenta, neben ihm zusammenbrechend, Roß und Reiter von todbringendem Geschoß getroffen, einer seiner Adjutanten. Kürassiere, Infanteristen in wildem, unentwirrbarem Knäuel dahinstürmend, solange die hageldicht schwirrenden Geschosse sie verschonen. „Panique, désastre, débâcle“ haben’s die Franzosen selbst genannt; ihr einziger Trost die landläufige, zum Ueberdruß wiederholte Redensart: „Wir sind verraten!“ – –

Nach der frevelhaften, beispiellos überstürzten französischen Kriegserklärung hatte die deutsche Heeresleitung plangemäß und zielbewußt ihre Streitkräfte versammelt, ohne einen Tag, ohne eine Stunde zu verlieren. Dagegen bei den Franzosen fiebernde Hast, planloses Tasten, bodenlose Verwirrung infolge der mangelhaften Organisation, des schlecht geregelten Verkehrswesens, der überall fehlenden Kriegsausrüstung und Verpflegung. Dabei die ungeduldigen, wilderregten Pariser, unter den Klängen der Marseillaise „à Berlin!“ brüllend und höchlich entrüstet, daß die unbesiegbaren Soldaten unter ihren schlachtberühmten Generalen noch nicht einmal in Mainz waren. Da mußte Rat geschafft werden, es galt, um jeden Preis einen Erfolg zu erringen. Der Kaiser, selbst ratlos und ohne Vertrauen zur eigenen Heerführung, ordnete eine große Rekognoszierung an und Frossard vertrieb mit drei in voller Schlachtordnung entwickelten Divisionen vier preußische Konnpagnien aus Saarbrücken, während Napoleon und Prinz Lulu äußerst befriedigt dieser Heldenthat zuschauten. Der „Sieg“ vom 2. August wurde nach Möglichkeit aufgebauscht, um den Brocken, den man dem gloiregierigen Publikum hingeworfen, recht schmackhaft zu machen.

Doch nun kam die Reihe an die Deutschen. Moltke meldete: „Fertig!“ und König Wilhelm kommandierte: „Vorwärts!“ Mit Hurra überschritt des Kronprinzen III. Armee die Grenze und warf sich auf die nach Weißenburg vorgeschobene Division Abel Douay. Die Bayern nahmen das befestigte Weißenburg, die Königsgrenadiere samt ihren preußischen Kameraden erstürmten todesmutig die starke Geisbergstellung. „Unser Fritz“ hatte seinen ersten Sieg über die Franzosen errungen und Preußen und Bayern jubelten dem ritterlichen Königssohn zu, dem kannpfesfrohen blonden Recken mit seiner herzgewinnenden Leutseligkeit. Da war’s, wo ein zutraulicher Bayer dem Kronprinzen zurief: „Ja, Königliche Hoheit, wenn Sie uns 1866 konnmandiert hätten, würden wir die Malefiz-Preußen sakrisch verhauen haben!“

Doch Weißenburg war nur ein Vorspiel.

Hinter dem Sauerbach, den Marktflecken Wörth vor der Mitte seiner Front, hatte Mac Mahon mit fünf Divisionen eine starke Höhenstellung eingenommen, in welcher er auch den Angriff überlegener Kräfte abzuweisen hoffte, zumal der Angreifer den sumpfigen Grund des Sauerbaches zu durchschreiten hatte. Der Marschall hatte sogar die Absicht, zum Angriff überzugehen, sobald er alle verfügbaren Kräfte der ihm unterstellten drei Corps beisammen haben würde. Der Kronprinz beabsichtigte für den 6. August noch keinen ernsten Angriff. Aber schon am Abend des 5. August waren sich die Gegner so nahe auf den Leib gerückt, daß sie bei erster Gelegenheit aufeinander platzen mußten. In der Nacht bissen sich bereits die beiderseitigen Vorposten miteinander herum und am 6. früh hielt es der Führer der 20. Brigade (vom preußischen Corps) für geboten, sich des dicht vor ihm liegenden Sauer-Ueberganges zu bemächtigen. Die dort nach Wörth führende Brücke war zerstört, die prenßischen Schützenlinien durchwateten das Flüßchen und besetzten den Ort, der vom Feinde frei war. Nun aber gerieten sie in das mit Heftigkeit entbrennende Feuer der französischen Höhenstellung und das Gefecht wurde voriäufig abgebrochen. Doch hatten die beiderseiagen Artillerien die Konversation so laut geführt, daß die bayrische Division Hartmann, von Langensulzbach vorgehend, sich in ein lebhaftes Gefecht mit dem linken Flügel der Franzosen verwickelte, freilich zunächst ohne entscheidenden Erfolg. Das Eingreifen der Bayern bestimmte nun wieder den Kommandierenden des 5. Corps, General von Kirchbach, die Franzosen bei Wörth ernstlich anzufassen. Die Artillerie wurde vorgezogen und um 10 Uhr standen über hundert deutsche Geschütze im Feuer. Bis an die Brust im Wasser durchwateten die Compagnien die Sauer, vermochten sich aber nur mit größter Mühe auf dem jenseitigen Ufer zu behaupten.

Vom Kronprinzen war nochmals die Weisung eingegangen, heute die Schlacht zu vermeiden. Aber „Unheil, du bist im Zuge, nimm welchen Lauf du willst“, mußten die deutschen Kämpfer sich sagen; General von Kirchbach entschloß sich, auf eigene Verantwortung den Kampf weiterzuführen. Auch das 11. Corps, durch den immer lauter und anhaltender erschallenden Kanonendonner in seinen Biwaks alarmiert, hatte sich in Marsch gesetzt und strebte dem Kampfplatze zu. Der Kronprinz, in stürmischem Ritt den Weg von seinem Hauptquartier zum Gefechtsfelde durchmessend, traf zur rechten Zeit ein, um die Leitung der schon im voller Wut tobenden Schlacht zu übernehmen. Die Regimenter des 11. Corps, teils gegen den rechten Flügel der Franzosen vorstoßend, teils des Feindes rechte Flanke umfassend, greifen mit frischem Nachdruck in das Gefecht ein. Die schwarzen Wüstensöhnne, die Turkos, empfangen sie mit wilden Geheul und rasendem Feuer; doch bald müssen sie weichen. Da stürzt sich, die dem rechten Flügel drohende Gefahr erkennend, die Kavalleriebrigade Michel, Kürassiere und Lanciers, auf die Infanterie des 11. Corps. Das Regiment 32,

[525]

Verhoffender Rehbock.
Zeichnung von L. Voltz.

[526] eben bei Morsbronn in der Rechtsschwenkung begriffen, sieht die Reiterscharen auf sich losbrausen; rasch ballen sich die Compagnien, die Halbbataillone zusammen, schleudern auf nächste Entfernung den in wilder Jagd daherstürmenden Kürassieren ihr vernichtendes Schnellfeuer entgegen – und alsbald stürzen Rosse und Reiter übereinander, in wilder Hast jagen die zerschmetterten Geschwader von dannen, doch nur, um den schneidigen Husaren Nr. 13 in die Hände zu fallen, die mit Macht auf die Flüchtlinge einhauen.

Nun dringen in lebhaftem Gefecht die Regimenter des 11. Corps durch den Niederwald vor, ihnen zur Rechten schließen sich die Streiter des 5. an, das brennende Elsaßhausen wird erstürmt, das Gehölz südlich Fröschweiler genommen. Auch die Bayern gehen von neuem mit Nachdruck zum Angriff vor, mehr und mehr werden die Verteidiger bedrängt. Noch einmal sucht Mac Mahon durch kräftigen Vorstoß sich Luft zu schaffen; aber die einen Augenblick zurückgedrängten Angreifer werden sofort wieder vorgeführt und stürmen unaufhaltsam vorwärts. Die Kavalleriedivision Bonnemains wirft sich mit dem Mute der Verzweiflung auf die deutsche Infanterie, wird aber von demselben Geschick ereilt wie vorher die Brigade Michel. Jetzt, am späten Nachmittage, rücken von Süden her auch die Württemberger an und stürzen sich mit schwäbischer Tapferkeit in den Kampf; General von Bose, obwohl erheblich verwundet, sammelt die verfügbaren Abteilungen seines 11. Corps und führt sie zum Sturm auf das brennende Fröschweiler – – jetzt ist kein Halten mehr: in der Mitte durchbrochen, beide Flügel umfaßt und geworfen, ergreifen die Franzosen die Flucht und wälzen sich im wüsten Durcheinander der Flucht auf Reichshofen und Niederbronn. Keine Möglichkeit, den zurückflutenden Massen eine bestimmte Richtung anzuweisen, fast alles strömt auf Zabern zu. Eigentümlich berührte es uns Deutsche, daß die französischen Flüchtlinge beim Passieren eines Dorfes unaufhörlich nach „Zuckerwasser“ riefen. Bayern und Thüringer würden ihren Durst auf andere Weise zu löschen wünschen.

Hätte die deutsche Kavallerie rechtzeitig zur Stelle sein können, so wäre Mac Mahons Armee völliger Vernichtung anheimgefallen. Aber auch so verlor sie 12 000 Tote und Verwundete und ließ 200 Offiziere, 9000 Mann als Gefangene in den Händen der Sieger, außerdem 33 Geschütze und 2000 Beutepferde. Die Deutschen hatten den entscheidenden Sieg mit einem Verlust von fast 500 Offizieren und 10 000 Mann erkauft.

Trotz Chassepots und Mitrailleusen, trotz des „élan“ der Zuaven und des Geheuls der Turkos hatten die Deutschen gesiegt. Unzweifelhaft hatten sich die Franzosen tapfer geschlagen; aber das einheitliche Zusammenwirken der von allen Seiten herbeieilenden deutschen Heeresabteilungen hatte die Entscheidung herbeigeführt. Der Tag von Wörth war der erste glänzende Triumph der deutschen Kampfeseinigkeit: Preußen, Thüringer, Hessen, Bayern und Schwaben hatten sich in brüderlichem Wettstreit die Hand gereicht. In opferwilliger Waffenbrüderschaft waren Führer und Truppen ohne Zaudern dem Schlachtfelde zugeeilt, folgend dem eigensten Antriebe, auf den Kanonendonner losmarschierend, gehorchend dem Kampfruf der Kameraden. Die Schlacht bei Wörth, improvisiert durch die Kampflust der Truppen, wurde zum Siege durch das verständnisvolle Eingreifen der Führer und durch die geniale obere Leitung, die zu rechter Stunde mit klarem Blick die Zügel erfaßte und den Kampf, den sie anfangs nicht beabsichtigt, zum glücklichsten Ausgang führte.

Der Sieg von Wörth, der daheim im deutschen Vaterlande jubelnde Begeisterung erregte, war nicht nur ein glänzender Erfolg der deutschen Waffen, gab nicht nur dem deutschen Heere und dem deutschen Volke frohe Siegeszuversicht, sondern er hatte vor allem auch die folgenschwere Bedeutung, daß nunmehr Süddeutschland gesichert war gegen den Einbruch des Feindes. Rheinpfalz, Baden und Schwaben brauchten jetzt nicht mehr zu fürchten, daß Turkos und Gums als „Kulturträger“ der großen Nation sich bei ihnen einstellten; im Gegenteil war jetzt die Mahnung des Dichters: „Alldeutschland in Frankreich hinein!“ volle Wahrheit geworden, zumal an demselben Tage auch bei Spichern ein ruhmvoller Sieg errungen ward, so daß beide Flügel der deutschen Heere festen Fuß gefaßt hatten in Feindesland.

Ueberwältigend, niederschmetternd wirkte die Kunde von Weißenburg, von Wörth, von Spichern in Paris. Noch am 6. August hatte eine falsche Siegesnachricht die Pariser in einen Freudentaumel versetzt, so daß wieder einmal die Marseillaise aus voller Brust gesungen wurde. Da kam wie ein kaltes Sturzbad die Schreckensbotschaft und Schmerz und Wut bemächtigten sich der Bevölkerung. Die fremden Barbaren unaufhaltsam hineinströmend über die Grenzen, überflutend den Boden des Vaterlandes, wohl gar auf Paris vordringend, auf Paris, die heilige Metropole der civilisierten Welt! Im Gesetzgebenden Körper brach ein furchtbarer Sturm los, das Ministerium stürzte und die Kaiserin als Regentin berief als Retter in der Not den Grafen Palikao, der sollte helfen. „Alle Mann zu den Waffen, Paris in Verteidigungszustand!“ lautete das Feldgeschrei – so schlug der deutsche Sieg von Wörth seine Wellen bis in das Herz Frankreichs hinein.

Wir aber gedenken dankerfüllten Herzens der deutschen Tapferkeit und Waffenbrüderschaft, die uns jenen Siegeskranz geflochten, gedenken schmerzbewegt der schweren Opfer, die der blutige, ruhmvolle Kampf uns auferlegt, gedenken in tiefer Wehmut und nie verlöschender Verehrung und Bewunderung des unvergeßlichen Siegers von Wörth, des uns allzufrüh entrissenen Kaisers Friedrich, dessen herrliche Gestalt dem deutschen Volke allezeit wie eine Verkörperung des lichten Siegfried der Heldensage erscheinen wird, gleichwie unser Heldenkaiser Wilhelm I. im Volksgemüt die Stelle Barbarossas eingenommen hat, doch überlegen dem staufischen Kaiser in seiner schlichten Pflichttreue und beispiellosen Selbstlosigkeit. P. v. S.     


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Ein tirolisches „Haberfeldtreiben“.

Von Arthur Achleitner.

So oft zur Habererzeit Mitteilungen über irgend ein besonders „solenn“ verlaufenes „Treiben“ in die Oeffentlichkeit gelangten, erregte es meine Verwunderung, daß man in der nächsten Nachbarschaft, z. B. jenseit des Inn auf tirolischem Boden, niemals etwas hörte von einem ähnlichen Femgericht. Wenn auch politisch getrennt und zwei verschiedenen Staatswesen angehörend, haben die Unterinnthaler in Sprache, Sitte und im gegenseitigen Verkehr so viel Berührungspunkte, so viel Gleiches im Leben, daß es seltsam wäre, wenn die tirolischen Unterinnthaler so gar nichts Gemeinsames mit den bayrischen Unterinnthalern auch in Bezug auf nächtliche Femgerichte haben sollten. Wohl wird, wie ich in Nr. 2 dieses Jahrgangs berichtet habe, im bayrischen Unterinnthale ab und zu „getrieben“ und die tirolischen Nachbarn nehmen an solchen Veranstaltungen großes Interesse, aber daß sie selber sich an solchen Nachtspektakelscenen beteiligen, hat man nicht gehört.

Und dennoch existiert eine tirolische Abart des oberbayrischen Haberfeldtreibens, richtiger gesagt, sie hat existiert. Der betreffende, kulturhistorisch hochinteressante Brauch ist in der Kufsteiner Gegend, der sog. Ebbser Schranne (Gemeindegebiet), zu einer Zeit üblich gewesen, als die Dörfer an den Jnnauen gegen die bayrische Grenze zu noch die Stätten regen Gewerbfleißes waren und es neben Hufschmieden hier zahlreiche Nagelschmieden, Kupfer- und Pfannenschmieden, ja sogar Waffenschmieden gab. Der Pferdebeschlag erfolgte stets in Ebbs, dessen Hufschmiede weitum im tiroler Land großen Ruf genossen, und mancher Fuhrmann wartete mit dem Neubeschlag, bis er das freundliche Dorf Ebbs erreichte, das durch den Zuzug fremder Gesellen bald zu einem lärmenden Gemeinwesen wurde, insbesondere dadurch, daß die Dorfburschen jedes Eindringen fremder Elemente in ihren Kreis abwehrten und dabei rasch von den Fäusten Gebrauch machten. Zu jener gewerbsfrohen Zeit, die längst vorüber ist und eine Kirchhofsruhe in diesen Jnndörfern zurückgelassen hat, bestand auch das Sittengericht auf tirolischem Boden in Uebung: die Puchlmusik, das tirolische Haberfeldtreiben.

Das Dialektwort Puchl stammt von puchen, und dieses heißt so viel wie pochen, stampfen, sich trotzig aufblähen, auflehnen. Der „Puch“ bedeutet Stolz, Trutz, daher Puchlmusik so viel wie Trutzspektakel: der Brauch besitzt die Tendenz einer Rüge für eine das allgemeine Sittlichkeitsgefühl verletzende Handlungsweise. Dieser Brauch der Puchlmusik ist besonders im Gebiete der Ebbser Schranne üblich gewesen, allmählich aber erstorben, wenigstens tritt er längst nicht mehr so stark in den Vordergrund wie zur Verzweiflung der Beamten das Haberfeldtreiben auf bayrischem Boden.

Die Puchlmusik ist die lärmendste Veranstaltung tirolischer Sittenrichter gewesen.

Ebenso wildlärmend wie das oberbayrische Haberfeldtreiben ist eine „Katzenmusik“, mit welcher man Wucher und Geiz, unmoralischen Lebenswandel rügt oder Solchem Feme ansagt, der eine allseits mißbilligte Ehe eingeht. Nach altem Brauch ist die Puchlmusik immer am Abend eines Bauernfeiertages oder an Sonntagen abgehalten worden, und Aenderungen gehörten zu den Ausnahmen. Die Veranstalter eines Puchlkonzertes lieben recht dunkle Nächte ohne Sternenschein, und je schärfer der Wind von den Felsen des „Zahmen Kaisers“ herabstreicht, desto lieber ist es den Puchlern. Wenn die Uhr vom Ebbser Kirchturm in langsamen feierlichen [527] Schlägen die elfte Stunde verkündet, wird es zwischen den weitverstreuten Gehöften lebendig. Schwarze Gestalten huschen umher, immer dichter wird das Gewimmel nach einer bestimmten Richtung hin; aufgeschreckte Hofhunde schlagen an und heulen auf, wenn Steinwürfe sie getroffen.

Ein dichter Menschenwall steht vor einem Hause, dem Konzertplatz in finsterer Nacht, stumm, bewegungslos. Ein leises Kommando ertönt – dann fällt ein Schuß, der den nächtlichen Spektakel einleitet, Fackeln flammen auf, aus zahlreichen Gewehren wird ein regelrechtes Pelotonfeuer eröffnet, grollend verhallt der Geschützdonner in den Bergwänden. Ein entsetzlicher ohrenzerreißender Lärm bricht nun los: Ratschen kreischen, Windmühlen klappern in rasenden Drehungen, Kuhglocken bimmeln, Hafendeckel scheppern, Trommeln dröhnen, Böller krachen – die Hölle scheint los zu sein. Entsetzt eilen die Dörfler aus ihren Häusern: es wird gepuchelt! Aber die Vorposten lassen niemand in die Nähe des Platzes. Plötzlich schweigt die „Musik“, der Höllenlärm ist verstummt. Eine Fistelstimme verliest nun Knittelverse, ganz ähnlich wie es beim Haberfeldtreiben vom Baß des Haberermeisters geschieht, und jeder Absatz findet rasenden Beifall und wird mit Flintenschüssen begleitet. Der Sünder, welchem dieses gräßliche Katzenkonzert gilt, wird meist aus dem Hause geholt; ist er in Vorahnung flüchtig gegangen, so werden seine „Sünden“ dennoch verlesen. Immer fragt der Anführer, ob das alles auch wirklich „wahr“ sei, und der nächtliche Chorus brüllt das „Ja!“, worauf die Katzenmusik immer wieder beginnt. Den Schluß bildet die Anheftung des „Programmes“, der Abschrift des gereimten Sündenregisters, an die Hausthüre des Verfemten.

Daraufhin verschwindet die vermummte Schar spurlos und mit einer Geschwindigkeit, daß man glauben könnte, die Lärmmacher habe die Erde verschlungen; die Puchlmusik hat ein Ende …

Mit unverhohlener Freude aber wurde im Dorfe das Ereignis eines Puchlkonzertes dann besprochen, wenn das Rügegericht nach allgemeiner Auffassung dem Rechtsgefühl des Volkes Ausdruck gegeben hatte, wenn die nächtliche Katzenmusik die richtige Antwort auf thatsächliche Verfehlungen, unmoralischen Lebenswandel und namentlich Geiz und Wucher gewesen war.

So war es vor nicht zu langer Zeit in der Ebbser Schranne in Uebung.


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Unser Drückeberger.

Aus meinem Kriegstagebuch vom Jahre 1870.
Von Fred Vincent.

     (Schluß.)

Mit dem 28. Juli nahmen die Reisemärschc und die guten Quartiere ihr Ende, denn das kleine Rülzheim (in der Nähe von Germersheim) hatte unserer ganzen Brigade Unterkommen zu gewähren, und zwar bis zum 2. August. Dieser Zeitraum, in welchem sich der Aufmarsch der Dritten Armee vollzog, deren Oberbefehl der Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen am 30. Juli übernahm, wurde von uns gewissenhaft ausgenutzt: morgens Exerzieren, nachmittags Felddienst! So waren wir am 2. August abends soeben erst von einer solchen Uebung eingerückt, da jagte, „daß Kies und Funken stoben“, eine Husarenordonanz mit dem in solchen Momenten üblichen †††-Brief vor das Brigadestabsquartier und unmittelbar darauf bereiteten die vier Signalnoten „Das Ganze!“ unserem militärischen Stillleben ein jähes Ende.

Mit einbrechender Dunkelheit trat das Regiment seinen Marsch an; Artillerie, Kavallerie und andere Jnfanterietruppen, die neben der Straße aufgestellt waren, deren Abzeichen wir aber nicht mehr zu erkennen vermochten, schlossen sich an und in unabsehbarer Kolonne ging es auf steinigen Feldwegen in die Nacht hinaus, der französischen Grenze zu. Einzelne Ortschaften wurden passiert, deren Häuser erleuchtet waren, und vor den Thüren standen die Bewohner und sahen mit wachsendem Staunen auf die unendliche Reihe von Soldaten, Pferden, Geschützen und Wagen, die schweigend in dem engen Lichtkreis vor ihnen erschienen und ebenso wieder verschwanden. Kaum ein Kommando oder Zuruf wurde laut, weiter ging es, immer weiter – niemand außer den höchsten Führern kannte das Ziel des Marsches.

Mitternacht war vorüber, da zeichnete sich am helleren Horizont ein Walddunkel ab und zu beiden Seiten bogen die Truppen von der Straße ab, marschierten auf, und während einzelne Compagnien noch auf verschiedenen Wegen bis in den Wald vorrückten, wurden die Gewehre zusammengesetzt und das Gepäck neben denselben abgelegt. Wir waren in unserem ersten Kriegsbiwak in der Gegend von Rohrbach und nahe der Grenze angelangt. Eine Weile hörten wir noch hinter uns auf den Feldern das schwere Rollen der Geschütze, das vereinzelte Wiehern der Pferde, dann aber wurde es ruhig über dem dunkeln Lager – Feuer durften nicht angezündet werden – dem letzten Lager auf deutschem Grund und Boden.

Leuchtend klar stieg die Sonne am nächsten Morgen am blauen Augusthimmel empor und spiegelte sich in den Tausenden von blanken Helmen, in den blitzenden Waffen der gewaltigen deutschen Armee, die hinter dem dunkeln Grenzwalde aufmarschiert war, um den frevelhaften Angriff auf deutsche Ehre, auf deutsches Gebiet blutig zurückzuweisen. Und jeder einzelne in dieser Armee kannte nur einen Wunsch, nur einen Gedanken: Vorwärts! an den Feind! Um selbst zu erproben, ob der gefürchtete Elan der kriegsgewohnten Troupiers des Kaisers Napoleon deutscher Tapferkeit in Wirklichkeit so weit überlegen sei!

Allein der Befehl zum Vorgehen ließ auf sich warten. Immer höher stieg die Sonne und sandte ihre Strahlen auf die schattenlosen Felder herab, auf welchen wir noch immer im Biwak lagen und stundenlang der Wasserträger harrten, die von allen Seiten in langen Reihen zu den wenigen Brunnen der umliegenden Ortschaften gezogen kamen und nur nach langem Warten das erquickende Naß erlangen konnten. Mittag war vorüber und wir hatten abgekocht, Appell gehalten etc. und nur langsam schlichen die Stunden vorüber. Wohl ritten Kavallerie-Abteilungen auf den Wegen in den Wald vor uns hinein und kamen in kurzem Trab zurück, aber nichts verlautbarte, immer noch nichts! Der Feind ließ sich nirgends blicken und der Befehl für uns blieb aus. Am Nachmittag endlich hieß es, wir würden voraussichtlich bis zum nächsten Morgen in unseren Stellungen bleiben, und nun gingen wir daran, uns aus Aesten und Zweigen Schutzhütten zu bauen, denn nach dem heißen Tage begannen sich Gewitterwolken zu zeigen. Der Himmel umzog sich immer dichter, allein noch fiel kein Tropfen und da es auch nicht viel kühler wurde, so saßen wir noch lange in der schwachen Beleuchtung einzelner kleiner Kochfeuer, bevor wir unter unsere Laubdächer krochen.

Es war noch so dunkel, daß man nicht die Hand vor den Augen erkennen konnte, als es in unserem Lager anfing lebendig zu werden, denn wir hatten eine im Biwak wenig beliebte Zugabe erhalten – Regen. Daß aber gegen einen richtigen Landregen ein leichtes Laubdach auf die Dauer keinen ausreichenden Schutz gewährt, ist eine Erfahrung, die wir in den frühesten Morgenstunden des 4. August sehr rasch zu unserem Leidwesen machen mußten. Auch die Hütte, welche die sämtlichen Offiziersdienstthuenden unserer Compagnie mit Einschluß des Feldwebels beherbergte, machte von der allgemeinen Regel durchaus keine Ausnahme, vielmehr schienen die dicken auf den Blättern sich ansammelnden Tropfen mit unheimlicher Sicherheit stets den empfindlichsten unbedeckten Körperteil der Schläfer, das Gesicht, sich auszusuchen, um mit derbem Klatsch darauf hinabzustürzen. So traf auch den Feldwebel Schmidt ein solcher sogenannter Tropfen – „der reine Wasserfall“ klagte der Getroffene nachher – an einer Stelle, die ganz besonders empfindlich gegen Wasser war; er fiel dem Schnarchenden nämlich zwischen den leicht geöffneten Lippen hindurch direkt in den Hals. Die Wirkung war geradezu zauberhaft, denn laut pustend und schnaubend sprang der korpulente Herr mit ungeahnter Gewandtheit auf die Füße, und da er dabei an eine der Hauptstützen der Hütte anrannte, so entlud sich eine derartige Traufe auf uns andere, daß wir schleunigst seinem Beispiel folgten.

Es war gerade ein Uhr, als wir unser triefendes Obdach im Stich ließen, und die Situation in der stockfinsteren Nacht und im strömenden Regen zeichnete sich trotz der schwülen Temperatur nicht durch Gemütlichkeit aus, allein sie wäre ohne die Findigkeit von Tilmanns sicher noch ungemütlicher gewesen. Der Gefreite hatte sich am Abend eine Hofthüre „ausgebeten“ – die erste kriegsgemäße Umschreibung für das Requirieren aus eignem Antrieb in diesem an solch humoristischen Schlagworten so reichen Feldzug – um dieselbe als Dach gegen den erwarteten Regen zu benutzen. Als derselbe dann wirklich eingetreten, war ein in der Dunkelheit ruhelos Umherirrender auf das Dach und mit diesem auf den Gefreiten gefallen, der nun eingesehen, daß ihm ein weiteres gedecktes Dasein nicht gegönnt werden würde. Dennoch wurde die Thüre ihrer anfänglichen Bestimmung nicht ganz entfremdet, denn jetzt [528] loderte unter ihrem Schutze ein Feuer auf, das so erfolgreich genährt wurde, daß das Kaffeebrauen bald in höchster Blüte stand und wir rasch genug über die nächsten zwei Stunden hinwegkamen. Das Signal „An die Gewehre!“ machte kurz nach drei Uhr der Situation und dem Humor gleichzeitig ein Ende, denn wir waren zur Avantgarde befohlen und mußten sofort antreten.

Immer noch im strömenden Regen ging es nun unaufhaltsam vorwärts auf sandigen Waldwegen, über aufgeweichte Feldwege, durch Dörfer hindurch wieder in den Wald hinein, in einem Eilmarsche, der uns endlich gegen 9 Uhr bei der Bienwaldshütte an die Lauter und damit an die französische Grenze brachte. Schon seit einiger Zeit hatten wir geglaubt, von der rechten Flanke her Geschützfeuer zu hören, als wir aber jetzt mit jubelndem Hurra die Grenze mit ihrem Flüßchen und den dahinter liegenden, gut ausgebauten merkwürdigerweise aber nicht vom Feinde besetzten Erdwerken überschritten hatten, da scholl deutlich der Kanonendonner aus der Gegend von Weißenburg zu uns herüber. Die rechte Flügelkolonne unserer Armee, die Bayern, mußte dort auf den Feind gestoßen sein. Doch wir wollten auch dabei sein, und als wir nun die große Lauterburg-Weißenburger Landstraße erreicht hatten, ging es ohne nur einmal anzuhalten im Geschwindschritt eine gute Stunde lang auf den Lärm der Schlacht zu.

Hier auf der vorzüglich gehaltenen breiten Staatsstraße war es uns Zugführern erst wieder möglich, uns etwas näher um den Zustand unserer Leute zu bekümmern, und wir bemerkten zu unserer Freude, daß sie sämtlich mit Ungeduld dem ersten Zusammentreffen mit dem Feinde entgegensahen. Zwar hatte der forcierte Marsch bei der großen Hitze – denn seit ungefähr acht Uhr hatte der Regen aufgehört und die Augustsonne stach erbarmungslos herab – sehr hohe Anforderungen an ihre Leistungfäigkeit gestellt und die körperliche Abspannung war deutlich auf manchem Gesicht zu lesen, aber trotzdem blieb kein Einziger zurück. Auch Tilmanns nicht, der am wenigsten seine große Ermüdung verbergen konnte und beständig die eine Hand unter den gerollten Mantel geschoben hielt, um den Druck desselben auf die Brust zu lindern. Ich war sofort neben ihm und sprach ihm ermutigend zu:

„Geben Sie mir ’mal Ihr Gewehr her, Tilmanns, und nehmen Sie den schweren nassen Mantel ab, der schnürt Ihnen ja den Atem weg. Nur immer Courage, Mann. Sie werden mir doch heute nicht ausspannen wollen?“

„Gewiß nicht, Herr Lieutenant! So lange mich meine Beine tragen bleibe ich nicht zurück!“

„Na, na,“ mischte sich der Feldwebel mißtrauisch ein, „die Beene, die werden doch woll nicht! Denen ist doch heute sicher keine pfälzer Weinstütz’ zu nah’ gekommen?“

„Es geht jetzt auch schon wieder viel besser, Herr Feldwebel. Nur der Mantel, der hat mich so furchtbar gedrückt!“ Und wirklich schien sich der Gefreite zusehends zu erholen, seitdem ich ihm die Flinte trug und er nach Abnehmen des quälenden Ausrüstungsstückes wieder freier atmen konnte.

Links ab von der Landstraße bogen wir jetzt, und nach einem weiteren Marsch von einer halben Stunde bergauf über Felder und zuletzt mit einer scharfen Rechtsschwenkung durch einen Busch hindurch, traten wir in Angriffskolonnen-Formation auf den freien Hügelkopf hinaus. „Gewehr ab! Nieder!“ kam das Kommando! Vor uns lag ein weites Thal, in dessen Grund sich die französischen Schützen längs einer Straße eingenistet hatten, und uns gegenüber auf zwei Anhöhen sahen wir ihre Kolonnen massiert, Geschütze und Mitrailleusen aufgefahren. Wir hatten den rechten Flügel der feindlichen Aufstellung umgangen, denn die Höhen vor uns waren der mit Weinbergen bestandene Schafbusch und dahinter der von starken Gebäuden, einem Gehöft und einem festungsähnlichen Schloß gekrönte Geisberg. Von Weißenburg selbst war nichts zu sehen, wohl aber konnten wir aus dem heftigen Geschütz- und Gewehrfeuer auf das hitzige Gefecht schließen, welches dort entbrannt war.

Viel Zeit, um Terrainstudien zu machen, wurde uns übrigens nicht gelassen, denn die Herren Tirailleure da unten hatten uns bemerkt und benutzten die Gelegenheit, ihre überflüssigen Patronen möglichst schnell los zu werden. Das war wenigstens der ganze Erfolg, den sie mit ihrem Schnellfeuer erzielten, mit welchem sie auf mindestens 1500 Meter Entfernung das „Herschießen“ eröffneten. Verluste verursachte uns dasselbe nicht, dagegen hätte es den Vorteil fur uns, daß unsere Leute sich an das unheimliche Pfeifen der Kugeln gewöhnten und rasch die Ueberzeugung gewannen, daß Schießen und Treffen zwei sehr verschiedene Dinge sind. Da indes von einem „Hinschießen“ unsererseits bei dieser Entfernung keine Rede sein konnte, so befanden wir uns bald im vollen Avancieren, wobei die ganze Compagnie ausgeschwärmt war.

Als droben am Waldrand der Befehl zum Vorgehen gegeben wurde und ich bei dem „Auf!“ unseres Premiers vor die Mitte meines Zuges eilte, war plötzlich hinter mir einer meiner Leute zusammengebrochen. Beim Umwenden hatte ich eben noch gesehen, wie sich der Lazarettgehilfe über den regungslos daliegenden Gefreiten Tilmanns beugte, dann waren wir vorwärts gestürmt. Wenige Minuten später – wir waren gerade in einem kleinen Hohlweg angelangt, wo wir die Tornister ablegten – hatte uns der Lazarettgehilfe wieder eingeholt, was mich in der Annahme bestärkte, daß wir den unglücklichen Gymnasiallehrer als ersten Gefallenen auf die Verlustliste würden setzen müssen. Der erste Gefallene! – ein nicht zu beschreibendes Gefühl durchrieselte mich vom Kopf bis zu den Füßen bei dem Gedanken, wie viele weitere am heutigen Tage dem ersten noch zugesellt werden würden, vielleicht ich selbst.

„Tot?“ fragte ich halblaut.

„Ohnmächtig, Herr Lieutenant!“ kam laut und bestimmt die Antwort.

„Was?“ fragte ich nochmals, aber scharf. „Ohnmächtig! Nicht einmal verwundet?“

„Keine Spur! Nicht angekratzt; glatt ohnmächtig!“ Fast hätte ich mich meiner Gefühlsanwandlung geschämt, als ich in die mir wie belustigt zugekehrten Gesichter meiner Leute blickte; da aber brach der Feldwebel los:

„Jawoll, Herr Lieutenant, einfach ohnmächtig! Da haben Sie den Drückeberger, Herr Lieutenant! Aber ich habe es Ihnen gleich gesagt, Herr Lieutenant, sobald es knallt, fällt Der um und bleibt liegen. Das ist die richtige Sorte, so feine Herren haben zarte Nerven, Herr Lieutenant ....“

„Donnerwetter, Feldwebel, lassen Sie mich zufrieden mit Ihrem ewigen Herr Lieutenant! Ich wollte ....“ Was ich eigentlich wollte, wußte ich wohl selbst nicht recht, aber ich glaube, ich hätte dem Tilmanns mit dem größten Vergnügen eine derartige Portion einer Mitrailleusenladung in den Leib gewünscht, wie er sie nur irgendwie hätte vertragen können, ohne daran zu sterben, nur um dem Feldwebel mit seinem unvermeidlichen „Drückeberger!“ nicht recht geben zu müssen.

Die vorderste französische Schützenkette hatte sich auf die zweite an der Chaussee zurückgezogen, sobald unsere Zündnadeln angefangen hatten, kräftig unter ihr aufzuräumen, und manche Rothose war auf dem Felde liegen geblieben. Aber auch auf dem Abhang, den wir im sprungweisen Vorgehen heruntergekommen waren, konnte man deutlich die dunklen Körper bemerken, welche den von uns zurückgelegten Weg bezeichneten. Jetzt lagen wir in leidlicher Deckung im Feuergefecht höchstens 200 Schritt vor der starken feindlichen Position und warteten auf das Herzukommen unserer Soutiens, um dieselbe mit Sturm zu nehmen, als Schmidt, der sich nach rückwärts umgeblickt hatte, plötzlich ausrief: „J, da soll mich doch ...! Ich will dem Napolium heute noch die großen Stiebel ausziehen, wenn da nicht unser Drückeberger ankommt! Na, ich sage kein Wort mehr, Herr Lieutenant!“

Es war in der That Tilmanns, der mit vollem Gepäck abwechselnd im kurzen Laufschritt und im Schritt halbwegs zwischen uns und den mit schlagenden Tambours geschlossen anrückenden Soutiens über das vom heftigsten feindlichen Feuer bestrichene Feld herankam. Als er mich erkannte, ging er mit angefaßtem Gewehr ruhig auf mich zu; offenbar wollte er sich vorschriftsmäßig bei mir melden. Das aber war mir doch, trotzdem ich mir selbst eine gute Dosis kaltblütiger Ruhe zutraute, zu arg, und ich schrie ihn an:

„Donnerwetter, Herr, sind Sie toll geworden? Scheren Sie sich in die Deckung hinein und legen Sie Ihren Tornister ab!“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“ und damit blieb er stehen und fing ohne besondere Eile an, die Tornisterriemen loszuhaken.

„Schock Schwerenot, Herr! In die Deckung sollen Sie sich hinein scheren! Haben Sie mich verstanden?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant! Aber das lohnt sich doch kaum mehr der Mühe. Wir gehen ja eben zur Attacke vor.“

Seine Gelassenheit machte mich ganz wild; allein er hatte recht, die geschlossenen Halbbataillone waren in gleicher Höhe mit uns angelangt und im „Marsch-Marsch! Hurra!“ ging’s zum

[529]

Ein Wunderkind.
Zeichnung von Georg Schöbel.

[530] Sturmangriff über, dem die Franzosen trotz tapferer Gegenwehr nicht stand zu halten vermochten. Die Landstraße mit ihren Schützengräben befand sich in unseren Händen, während der Feind in fluchtartigem Rückzug durch die Weinberge seine Hauptposition auf den Höhen des Geisberges zu gewinnen suchte.

Unsere nachdrängenden Schützenzüge wurden in der Verfolgung sehr dadurch behindert, daß die Weinbergpfähle reihenweise oben durch Querstangen verbunden waren, während die Franzosen die Gelegenheit offenbar besser kannten und sich rasch durch vorher gebrochene Lücken und Durchgänge zurückzogen. Eine Zeit lang wechselten wir noch Schüsse mit ihnen, dann waren sie außer dem Bereich unserer Gewehre und verschwanden mit unbegreiflicher Geschwindigkeit. Ich hatte gerade zu meinem großen Aerger die unangenehme Entdeckung gemacht, daß mein Zug in diesem heimtückischen Weinberg gänzlich auseinander gekommen war, als mir der Feldwebel zurief, daß er einen Durchgang gefunden habe. Schleunigst rief ich von meinen Leuten herbei, was sich gerade in der Nähe befand – es waren allerdings wenig mehr als ein Dutzend Mann – und gemeinsam mit Schmidt führte ich sie in voller Hast vorwärts.

Mehrere hundert Schritt waren wir fast im Laufschritt dem ansteigenden Weg gefolgt, als wir plötzlich am Rand einer schmalen, grasbewachsenen Mulde standen, die sich nach dem Geisberg hinüberzog. Mir war sofort klar, daß diese günstige Bodenfalte unseren Gegnern die beste Gelegenheit geboten, sich schnell und unbemerkt rückwärts zu konzentrieren, denn unmittelbar vor uns befand sich ein Trupp von mindestens 60 französischen Infanteristen in beschleunigtem Rückzug. Einen Augenblick stutzten sie bei unserem unerwarteten Erscheinen, dann aber gingen sie sofort zum Angriff über, dessen Ausgang bei unserer bedeutenden Minderheit kaum zweifelhaft sein konnte. Von beiden Seiten knallten Schüsse – zwei meiner Leute fielen und ich wurde an der linken Hand verwundet – en avant! à l’attaqne! feuerte ein alter Sergeantmajor seine Kameraden an und mit aufgepflanztem Yatagan stürzten sie sich auf uns. Jetzt kam uns zu statten, was uns vorher beim Avancieren so sehr hinderlich war, denn die miteinander verbundenen Weinbergpfähle machten es den Franzosen schwierig, uns zu umzingeln, so daß wir dem ersten Anprall stand zu halten vermochten. Ein wilder Kampf entspann sich an dem schmalen Weinbergzugang, den unser kleines Häuflein besetzt hielt – ein Kampf mit der blanken Waffe, Mann gegen Mann. Die Erbitterung auf beiden Seiten hatte den Höhepunkt erreicht. Wir wehrten uns wie die Verzweifelten, doch konnte es nur noch Sekunden dauern, bis wir der Uebermacht unterliegen mußten. In diesem Augenblick krachte aus nächster Nähe eine kleine aber wohlgezielte Salve den Franzosen so wirksam in die Flanke, daß sie sich nach dem neuen Gegner umsahen, allerdings nur einen Augenblick lang, aber dieser war entscheidend. Blitzschnell hatte ich den Revolver herausgerissen und den Sergeantmajor, unseren entschlossensten Feind, zusammengeschossen, während der Feldwebel einen anderen niederstach. Eine zweite Salve folgte und unmittelbar danach brach in der Mulde eine meinem Häuflein nicht sehr überlegene Abteilung meines Zuges mit lautem Hurra auf die Ueberraschten ein, und als nun auch unser Hurra erscholl, da warfen die Franzosen die Gewehre weg und baten mit aufgehobenen Händen um Pardon.

Der Führer der kleinen Abteilung, die so zur rechten Zeit eingegriffen hatte, war mein Flügelunteroffizier, Sergeant Brückner, dessen Umsicht und Tüchtigkeit mir so wohl bekannt waren, daß ich mich nicht über sein geschicktes Vorgehen wunderte. Trotzdem wollte ich ihm meine Zufriedenheit aussprechen, war aber sehr erstaunt, als er mich unterbrach: „Daran bin ich wirklich ganz unschuldig, Herr Lieutenant; das hat alles unser Schulmeister, der Gefreite Tilmanns, veranstaltet!“

„Waas? Der Gefreite Tilmanns? Der Dr ....“ Der Feldwebel sprach den Schmeichelnamen nicht aus, so maßlos war seine Ueberraschung.

„Jawohl, Herr Feldwebel. Er hat den Schleichweg der Franzosen ausgekundschaftet und mich gebeten, mich ihm mit ein paar Mann anzuschließen. Ich hatte weiter nichts zu thun, als die alten Herren da zu sammeln, die nicht so rasch hatten nachkommen können, und hinter ihm herzumarschieren. Und weil der Weg wirklich so hübsch bequem war, sind wir eben auch zur rechten Zeit oben gewesen. Der Tilmanns hat auch gewußt, daß der Herr Lieutenant und der Herr Feldwebel mit den anderen hier herüber sind und daß sie hier mit den Rothosen zusammentreffen mußten, und da haben wir uns denn tüchtig geeilt, damit wir nicht zu spät zum Rendezvous kamen.“

„Tilmanns, erzählen!“ rief ich diesem nun zu, und mit kurzen Worten berichtete dieser, wie er unten in den Weinbergen beinahe zum zweitenmal ohnmächtig geworden wäre und sich auf einen Grenzstein hätte setzen müssen, von wo aus er ganz in seiner Nähe einige der rothosigen Herren sehr rasch und fast ganz gedeckt zwischen den Weinbergen hätte Hinschlüpfen sehen. Dadurch hätte er eine ähnliche Mulde wie wir entdeckt, die sich hier oben mit der unsrigen vereinigen mußte, und als er uns so schnell nach jener Richtung vorgehen sah, hatte er den Sergeanten und die von diesem gesammelten Leute, meistens meinen „Unausgebildeten“ angehörig, schleunigst dorthin geführt.

„Das haben Sie brav gemacht, Tilmanns,“ sagte ich, als er geendet hatte. „Aber jetzt können Sie sich auch ’mal nach einer anderen Richtung hin auszeichnen. Geben Sie mir ’mal Ihre stets gefüllte Feldflasche; ich falle fast um vor Durst!“

„Das thut mir sehr leid, Herr Lieutenant, aber es ist kein Tropfen mehr darin!“ erwiderte er errötend. „Wie es mir da drunten zum zweitenmal grün und schwarz vor den Augen werden wollte, da habe ich die ganze Flasche auf einen Zug ausgetrunken; das hat geholfen!“

„Na, na,“ meinte der Feldwebel, der bisher mit stummem Kopfschütteln zugehört hatte, „die ganze Flasche auf einen Zug? Werden denn das … Ihre Beine vertragen können?“ Es lag aber diesmal keine ironische Betonung auf seinen Worten.

„Hoffentlich halten sie noch aus, bis wir den Sieg sicher haben,“ war die einfache Antwort.

Und sie hielten aus, bis der Geisberg erobert, die feindliche Armee in voller Flucht war und bis „Das Ganze – Halt!“ am Nachmittage nach zwei Uhr unserem ersten Schlachttage ein Ende machte.

Als ich nach eingebrochener Dunkelheit vom Verbandplatze wieder bei der Compagnie eintraf, fand ich den Gefreiten in tiefem Schlaf auf einem Bund Stroh liegen und in seiner Nähe saß Schmidt auf einem Holzblock, seine Pfeife rauchend und den Schlafenden mit einem eigentümlichen Gemisch von Zärtlichkeit, Staunen und Aerger betrachtend. Als er mich kommen sah, ging er mir entgegen und sagte: „Der arme Junge! Ich habe drunten in Riedselz eine Ochsenzunge und ein paar Brötchen ergattert; davon hat er essen müssen. Und eine ganze Flasche Wein hat er dazu getrunken!“ Damit deutete er auf zwei leere Weinflaschen, die neben dem Strohbund lagen.

„Und die andere?“ fragte ich lächelnd.

„Eine er und eine ich! Ich glaube wirklich, er wird noch einmal mit der Zeit ein ganz braver Soldat!“

„Das ist er schon heute, Feldwebel. Verdanken wir ihm doch beide sozusagen unser Leben!“

Daß unsere heute gewonnene Ansicht über den Gefreiten Tilmanns die richtige war, bewies er bereits zwei Tage später in der blutigen Schlacht von Wörth, die unserem Regiment so schwere Verluste brachte, wie sie wohl kaum ein anderer Truppenteil während des Feldzuges an einem Tage erlitten hat. Allerdings verlor ich Tilmanns bereits am frühen Morgen des 6. August aus den Augen, doch wußte mir der Feldwebel, in dessen Nähe er während der ganzen Schlacht geblieben, nicht genug Rühmliches über ihn zu erzählen. Wir hatten auf Vorposten gelegen, als wir von den Franzosen schon gegen halb acht Uhr überraschend angegriffen wurden. Wir hatten die Angreifer in den Niederwald zurückgetrieben, waren jedoch in dem nun folgenden, stundenlang andauernden, äußerst hartnäckigen und verlustreichen Waldgefecht gegen die Turkos, jene wilden afrikanischen Horden des zweiten Kaiserreichs, auseinander gekommen. Den ganzen Tag über hatten wir mit Mannschaften der verschiedensten Regimenter, wie sie der Zufall gerade zusammengeführt, in treuer Waffenbrüderschaft Schulter an Schulter gekämpft, so daß wir erst spät abends, teilweise auch erst am nächsten Tage unsere Versprengten wieder sammeln und unsere furchtbaren Verluste feststellen konnten. Da erfuhr ich denn vom Feldwebel, wie Tilmanns den tödlich verwundeten Premier auf seinen Mantel gebettet, ihn mit Hilfe von Schmidt und zwei Musketieren aus dem Wald und unter dem furchtbarsten feindlichen Feuer über eine freie Wiese in Sicherheit gebracht hatte. Ich hörte, wie er sich an diesem und jenem gefährlichen Punkte vorzüglich benommen, kurz wie er sich derart [531] ausgezeichnet hatte, daß ihn unser Major zur Beförderung zum Unteroffizier vorschlug und später zum Eisernen Kreuze eingab.

Die Beförderung konnte ich ihm einige Tage später selbst überbringen, denn ich war infolge der Schlacht von Wörth Bataillonsadjutant geworden, und als sie morgens beim großen Rendezvous durch Regimentsbefehl bekannt gegeben worden war, suchte ich sogleich meine alte Compagnie auf, um Tilmanns persönlich Glück zu wünschen. Ich konnte ihn nicht gleich finden, und so fragte ich den Feldwebel, der mir gerade in den Wurf kam:

„Sagen Sie ’mal Schmidt, wo ist denn unser ‚Drückeberger‘? Ich wollte ihm etwas sagen, kann ihn aber nirgends sehen. Sollte er vielleicht gerade mit der Chausseegrabenverzierung beschäftigt sein?“ Meine gutgemeinte Anspielung fand jedoch keinen Beifall, denn er antwortete mir steif militärisch mit mürrischem Ton: „Einen Drückeberger besitzt die Compagnie nicht! Wenn aber der Herr Lieutenant den Gefreiten Tilmanns meinen ...“

„Nein, Herr Feldwebel, ich meine diesmal den Unteroffizier Tilmanns!“

„Den Unteroffizier Tilmanns?“ und sein grämliches Gesicht fing an sich aufzuheitern. „Na, das freut mich, freut mich sehr, Herr Lieutenant. Der arme Junge! Ihm wird’s auch ein Trost sein. Na, verdient hat er’s jedenfalls!“

„Wo steckt er denn aber? Ich will es ihm selbst sagen und gratulieren. Wo finde ich ihn nur?“

„Auf dem Wagen, Herr Lieutenant!“ und Schmidt zog wieder sein grimmigstes Gesicht.

„Was? Auf dem Wagen? Haben Sie ihm also doch noch Achsen und Räder unter machen müssen? Und nun heißt’s wohl: Zurück zum ‚Schwamm‘! und zwar so fix als möglich?“

„Ja, leider, Herr Lieutenant, leider!“ er war ganz traurig geworden. „Es wird nichts andres übrig bleiben. Der arme Junge! Er ist krank, schon seit zwei Tagen. Dysenterie! Er hat sich nichts merken lassen wollen und hat sich mitgeschleppt – ich habe ihm abends immer Glühwein und Bouillon gebracht, aber es hat nichts geholfen, er hat’s nicht bei sich behalten können. Heute ging’s nicht mehr, wir haben ihn auf den Wagen legen müssen, und morgen früh muß ich’s dem Stabsarzt melden. Dann heißt’s: Zurück! – er mag wollen oder nicht!“

Bisher hatte ich nicht an etwas Ernsthaftes geglaubt und hatte scherzen können, jetzt aber wurde ich besorgt.

„Gehen Sie rasch zu ihm, Schmidt. Ich hole den Stabsarzt!“

Wir fanden den neuernannten Unteroffizier auf dem Wagen in Krankendecken gehüllt, fürchterlich schwach, sonst aber in munterer Stimmung.

„Ich habe doch noch meine eigene Equipage bekommen, Herr Lieutenant,“ meinte er mit mattem Lächeln, als ich ihm die Hand schüttelte, „und, nicht wahr, Herr Stabsarzt, Sie schicken mich nicht zurück zum Ersatzbataillon? In einem, höchstens zwei Tagen bin ich wieder gesund!“ Allein der Arzt schüttelte den Kopf: „Wollen sehen – wollen sehen! – Gratuliere übrigens zum Unteroffizier. – Komme heute abend nochmal nachsehen im Quartier.“

Am anderen Morgen standen der Feldwebel und ich Abschied nehmend neben dem Leiterwagen, welcher den Unteroffizier Tilmanns zurück nach dem ersten Lazarett bringen sollte.

„Nun muß ich also doch zurück zum ‚Schwamm‘!“ sagte der Kranke traurig. „Sie haben recht behalten, Herr Feldwebel!“

„Machen Sie sich nichts daraus, Herr Unteroffizier. So tüchtige Leute, wie Sie, können sie auch beim Ersatz gut brauchen,“ tröstete dieser und „Auf Wiedersehen in Mainz!“ grüßte ich, denn der Wagen zog an.

„Ich komme wieder!“ klang noch seine schwache Stimme durch das Rollen der Räder, dann war „unser Drückeberger“ verschwunden.

Wiedergesehen habe ich ihn im Laufe des Feldzuges nicht mehr, denn wenn er auch wieder zur Compagnie kam, als das Regiment vor Paris lag, so war doch ich damals abkommandiert und im Januar 1871 wurde er bei einem Nachtgefecht verwundet, so daß er zum zweitenmal nach Mainz geschickt wurde und den Rückmarsch nicht mitmachte. Als sich aber am Morgen des 8. Juli 1871 das Regiment am Chausseehaus zu Mariaborn zum feierlichen Einzug in seine alte Garnison Mainz aufstellte, da war auch der Vicefeldwebel der Reserve Tilmanns erschienen, um in den Reihen der Compagnie, mit welcher er ausgerückt war, an den Ehren der Einzugsfeierlichkeit teil zu nehmen.

Am Abend desselben Tages aber saßen drei mit dem Eisernen Kreuze Dekorierte noch sehr spät bei einer guten Flasche echten alten Rheinweins beisammen, und diese Drei waren der Feldwebel Schmidt, meine Wenigkeit und der Vicefeldwebel Tilmanns, welch letzterer am nächsten Tage abreisen wollte, um seine unterbrochene Lehrthätigkeit wieder aufzunehmen. Heute indes bewies er uns noch, daß Schmidt nicht unrecht gehabt, wenn er von einem strammen Soldaten verlangte, daß er auch „’nen strammen Schtiebel“ vertragen müsse. Mein letzter Trinkspruch damals aber hatte gelautet: „Auf das zukünftige Wohlergehen unseres lieben wackeren Drückebergers mit dem Eisernen Kreuze!“ Meine späteren Erinnerungen sind nicht ganz klar, und wenn ich auch bestimmt weiß, daß der alte Feldwebel noch eine sehr lange Rede gehalten hat, so kann ich doch über deren mutmaßlichen Inhalt keinerlei Aufzeichnungen in meinem Kriegstagebuch finden.



BLÄTTER UND BLÜTEN.


Wieder ein Wort für Jugend- und Volksspiele. „Die Zeit ist hoffentlich nahe, wo die Beschaffung großer Spiel- und Uebungsplätze als gleich wichtig und gleich notwendig erscheinen wird wie Wasserleitung und Kanalisierung, erscheinen wird als eine Ausgabe, die durch Hebung der Gesundheit, der Arbeitskraft und der Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes reichliche Zinsen zum Wohle des Ganzen tragen wird!“

Wie treffend wird durch diesen Ausspruch des verdienten Bonner Arztes Dr. F. A. Schmidt die Bedeutung der Bewegungsspiele in Gottes freier Natur gekennzeichnet! Fürwahr, die großartigen Wasserleitungs- und Kanalisationsanlagen schützen uns nur vor den Verheerungen einiger epidemischen Krankheiten, wie Typhus und Cholera; sie sind darum äußerst wertvoll und unentbehrlich, aber man muß dabei nicht vergessen, daß auch in einer mit dem besten Trinkwasser, mit den größten Reinigungsanstalten versorgten Stadt die Schwindsucht an dem Marke der Bevölkerung nagen, die Bleichsucht Tausende jugendlicher Einwohner schwächen und das Heer der Nervenleiden das Glück so vieler Familien zerstören kann. Das moderne Kulturleben, namentlich in den Städten wird verhängnisvoll durch seinen entnervenden Einfluß, es zeitigt die Leiden, die eine sitzende Lebensweise, Aufenthalt in weniger reiner Luft mit sich bringt; es macht die Menschen frühzeitig alt und siech. Dagegen giebt es kein anderes Heilmittel als die Bewegung in freier Natur.

Das hat unser nervös und bleichsüchtig gewordenes Geschlecht wohl erkannt, und wenn der Sommer kommt, da fliehen Tausende und Abertausende aus den Städten in die Stille der Wälder und auf Bergeshöhen oder an den brandenden Meeresstrand. Wie wichtig und segensreich die Erholung in der Sommerfrische ist, für das Volkswohl erweist sie sich unzulänglich; denn erstens können nicht alle Ferien machen und zweitens genügt sie nicht für die volle Erhaltung der Spannkraft und Frische: nicht das, was wir während vier und sechs Wochen im Jahre thun, sondern wie wir in jeder Woche des Jahres leben, bedingt unser Wohlsein. Darum sollte der Kulturmensch in jeder Woche, zu allen Jahreszeiten an den Jungbrunnen gehen und Stärkung suchen: durch reichliche Bewegung in freier Luft. Ein Ausflug, ein Spaziergang bringt schon viele Vorteile, aber durch das Gehen werden nur einzelne Muskelgruppen in Thätigkeit versetzt – das genügt wieder nicht: denn der ganze Körper verlangt Bewegung, Uebung und Erfrischung und das kann nur durch Bewegungsspiele erzielt werden.

Es ist darum durchaus keine Uebertreibung, wenn man von der Einführung der Jugend- und Volksspiele die leibliche Wiedergeburt unseres Volkes erhofft und in ihnen das beste Schutzmittel gegen den entnervenden Einfluß des modernen Kulturlebens erblickt. Die vor dreizehn Jahren eingeleitete Bewegung für Einführung dieser Spiele hat erfreulicherweise an Stärke und Ausdehnung zugenommen und ist vor allem der Schuljugend vieler Städte zu gute gekommen. Wir sind aber noch über die ersten hoffnungsvollen Anfänge nicht hinaus. Darum sollten wir in dem Bestreben, diese Spiele zur Volkssitte zu machen, nicht erlahmen und dieselben in immer weitere Kreise tragen.

Jüngst hat nun der „Central-Ausschuß zur Förderung der Jugend- und Volksspiele in Deutschland“ einen Aufruf an die deutsche Studentenschaft zur regeren Beteiligung an diesen Bestrebungen erlassen, dem wir den besten Erfolg wünschen. Außerdem hat er „Allgemein unterrichtende Mitteilungen“ über diesen Gegenstand herausgegeben, in welchen unter anderem auch die Notwendigkeit der Heranziehung der gewerblichen sowie kaufmännischen Jugend zu diesen Spielen betont wird. In der That ist diese Jugend in gewissem Sinne eine verlassene und mehr als jede andere während der Feiertagszeit den mannigfachen Verführungen des städtischen [532] Lebens preisgegeben. Dabei bedarf sie nicht minder wie die Schuljugend der stärkenden Erholung in frischer Luft. Zweifellos wäre es vom grüßten sozialen Vorteil, wenn man diese Jugend an Sonntagen auf Spielplätzen versammeln wollte. Die Lösung dieser Aufgabe ist allerdiugs schwierig: die Jugend, auf die man einwirken will, ist zerstreut, es fehlt hier das Bindeglied der Schule, auch die Leitung der Spiele dürfte mit Schwierigkeiten verknüpft sein. Außerdem kommen vielfach örtliche Verhältnisse und Gewohnheiten in Frage. Bei einigem guten Willen könnte jedoch auch diese Jugend für eine bessere Ausnutzung der freien Zeit gewonnen, aus der Kneipe auf den Spielplatz übergeführt werden. Geschieht es, dann wird man erst sagen können, daß das Bewegungsspiel wirklich volkstümlich werde. Es würde darum mit Freuden zu begrüßen sein, wenn an möglichst vielen Orten Kaufleute und Meister mit Unterstützung erfahrener Lehrer Vereine oder Ausschüsse bilden wollten, die das Ziel verfolgen würden, die kaufmännische und gewerbliche Jugend für das Bewegungsspiel im Freien zu gewinnen. *  

Die Jubiläums-Ausgabe der „Illustrierten Geschichte des Krieges 1870/71“. Die begeisterungsvolle Jubiläumsstimmung, welche der Rückblick auf die großen kriegerischen Ereignisse, die vor 25 Jahren die Gründung des Deutschen Reiches anbahnten, allenthalben im Vaterlande weckt, spiegelt sich naturgemäß auch in unserer Litteratur. Dieser Strömung verdankt das schöne illustrierte und wahrhaft volkstümliche Prachtwerk seine Entstehung, dessen erste Lieferungen (Verlag der Union, Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart) uns vorliegen und das sich als Jubiläums-Ausgabe der einst noch während des Kriegs in Stuttgart erschienenen „Illustrierten Geschichte des Krieges von 1870/71“ darbietet. Die volle Unmittelbarkeit und Frische der Darstellung in Bild und Wort, welche dieses Werk von Beginn an in so hohem Maße auszeichnete, daß es schon bei seinem ersten Erscheinen alle ähnlichen Unternehmen weit überflügelte und zu einem wahrhaften Hausschatz der Nation wurde, ist auch dieser in jedem Betracht neuen und vermehrten Ausgabe gewahrt worden. Ebenso die praktische Anordnung des Stoffes, welche neben der eigentlichen Geschichte des Kriegs, die fortlaufend erzählt wird, Einzeldarstellungen aller Schlachten, Gefechte, Belagerungen und eine Galerie der hervorragendsten Persönlichkeiten des Kriegs in einzelnen ihre Porträts begleitenden Biographien aneinander reiht. Doch ist, wie die Prüfung ergiebt, der ganze Text einer historisch strengen Ueberarbeitung unterworfen worden, so daß alle Angaben vollständig auf der Höhe der heutigen kriegsgeschichtlichen Forschung stehen. In ähnlicher Weise ist der reiche Schmuck an Illustrationen und Karten dem Stande der vorgeschrittenen Technik angepaßt und in geschmackvoller interessanter Weise ergänzt worden. Und so ist diese umfassende Chronik des Kriegs in ihrem neuen Gewand ganz hervorragend geeignet, einem neuen Geschlecht von gleichem Werte zu sein, wie es die erste Ausgabe denen war, die jene Zeit des Triumphes deutscher Nationalbegeisterung und deutscher Waffengemeinschaft im Feld und in der Heimat bewundernd miterlebten.

In die Sommerfrische! (Zu dem Bilde S. 517.) Der glückselige langersehnte Tag ist da, wo die Schulthüren geschlossen werden und die Massenwandernng aufs Land beginnt. Wer an diesem Morgen den Starnberger Bahnhof in München betrachtet, wo Scharen auf Scharen von reisefertigen Schuljungen mit Schmetterlingsnetz, Angel, Rucksack und Bergstock ankommen, während die Mädchen Körbe und Taschen von allen Größen tragen und die Eltern ebenfalls schwer bepackt nachfolgen, wer dann die hochaufgestapelten Lastwagen voll des vielgestaltigsten und wunderbarsten Familiengepäckes sieht, welche hintereinander den Bahnsteig entlang geschoben werden, der versteht, wieviel Mühsal hier erduldet ist, bis endlich, endlich der riesenlange Zug sich zur großen Halle hinauswindet. Aber was nun weiter folgt, ist eitel Lustbarkeit. Denn gegenüber der Station Starnberg schaukelt schon auf den lichtgrünen klaren Wellen die prächtige „Bavaria“ mit dem fahnentragenden goldenen Löwen und der großen Laterne am Vorderende und nun dringt es in dichtem Strom über die Landungsbrücke, hinein und hinauf aufs Verdeck, wo man im frischen Lufthauch und Morgenglanz die Ufer ringsum liegen sieht. Ebensoviel Ziele der Fahrt als Dörfer: Possenhofen, Feldafing und Leoni, die bekanntesten Aussichtsplätze, wo im Hochsommer das letzte Bauernhäuschen voll Stadtmenschen steckt, weiter oben das nicht weniger bevölkerte Tutzing, Bernried mit seinem herrlichen Park, das Strandidyll von Ambach, Ammerland mit Wald und Villen. Und über allen diesen als Hintergrund aufragend, die lange lichtblaue Alpenkette und drunten der weitgedehnte grüne See, ein Bad ohnegleichen, der außer den großen Dampfern von zahllosen Ruder- und Segelbooten durchkreuzt wird. Ja, die Münchener Schulkinder haben es gut, denn der Starnberger See ist überwiegend von Münchenern bevölkert. Aber auch wer weiter herkam und seine Sommerwochen dort verlebte, dürfte diesen lieblichsten Voralpensee nicht wieder vergessen! Bn. 

Verhoffender Rehbock. (Zu dem Bilde S. 525.) Es war Juli, ein Tag so heiß, so schwül und gewitterschwanger, daß uns nur die Aussicht auf einen guten Bock die erschlaffende Wirkung des Wetters nicht fühlen ließ. An geeigneten Stellen des Waldes stellten mein Freund, ein Forstmann, und ich uns mit dem Rücken gegeneinander an einen Baum, damit wir ringsum alles überblicken konnten, und einer von uns nahm ein Buchenblatt an die Lippen und hauchte auf demselben ein schmelzendes Piu! piu! piu! durch den Forst, den Tou, mit dem das in Liebessehnsucht schmachtende Schmalreh den Bock zu sich heranruft. Wir hatten auch schon Glück gehabt. In einem Buchenstangenorte kam flüchtig auf die für ihn so verhängnisvollen Liebesseufzer ein Gabelbock gesprungen, und aus einem Dickicht, vor dem wir „blatteten“, steckte ein Fuchs sein rotes Spitzbubengesicht, dem durch die Kugel meines Freundes der Appetit anf Rehkitzbraten für immer gestillt ward.

Jetzt standen wir an einer von Fichtenhochwald und Dickung umkränzten, mit langen Schmielen überwachsenen Blöße, und wieder klang das schmachtende Piu! piu! piu! durch die lautlose Stille des Forstes. Plötzlich regt sich etwas. 150 Schritte von mir, an einer Stelle, wo die schönste Schmuckpflanze des Waldes, der rote Fingerhut, seine langen Blütenähren in dichten Horsten aus den Schmielen streckt, steht ein Stück, fast ganz verborgen in der dichten Pflanzenwucherung; aber der Hals und Kopf und das starke Gehörn mit den „weißgefegten“ Endenspitzen schauen darüber hervor und verraten, daß der kapitale Bursch den Liebesseufzern des Pseudo-Schmalrehs seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt hat. Was bringt doch die Aussicht, auf einen solchen Bock zu Schuß zu kommen, für ein stürmisches Hämmern in die Brust des Jägers und ein Zittern, eine Aufregung in den ganzen Körper, daß es nicht möglich ist, den richtigen Ton auf dem Blatte zu finden! Und jeder falsche Ton „vergrämt“ den mißtrauischen, vorsichtigen Burschen – er wird „verblattet“, wie es die Weidmannssprache nennt – und laut „schmälend“ geht er dann flüchtig ab auf Nimmerwiedersehen. Aber bald ist der Rausch des Jagdfiebers verschwunden, und wieder erklingt der verführerische Lockton, der mit Zaubermacht den Bock heranzieht. Langsam, immer sichernd, tritt der schlaue Geselle vorsichtig näher – nicht geradeswegs, sondern in einer Richtung, als wollte er siebzig Schritt von uns in den Hochwald treten. Jetzt ist er dicht vor den Fichten – langsam hebt sich das Büchsenrohr – aber so vorsichtig es auch geschah, der Bock hat doch etwas bemerkt, er wirft auf und „verhofft“ nach der verdächtigen Stelle hin, bereit, in der nächsten Sekunde mit mächtiger Flucht zwischen den Bäumen zu verschwinden. Das ist der Augenblick, den der Künstler festgehalten hat. Die Flucht in die Fichten macht der Bock auch noch — — aber mit der Kugel im Herzen. Karl Brandt. 

Ein Wunderkind. (Zu dem Bilde S. 529.) Arme Kleine! Am frischen schönen Morgen, wo glücklichere Kinder im Garten spielen, muß sie den Geigenkasten und die Notenmappe schleppen, muß in dem heißen Zimmer ihres Lehrers drei Treppen hoch üben, was die kleinen Finger vermögen, und warum alles dieses? Um zu beweisen, was niemand bezweifelt: daß man ein musikalisches Kind durch vorzeitiges schonungsloses Drillen zum Konzertspielen abrichten kann. Hätte der Himmel diesem Kinde mit den tiefen Augen und dem frühen Leidenszug um das kleine Mündchen eine gute, vernünftige Mutter verliehen, statt der eiteln und gedankenlosen, welche so aufmunternd lächelnd neben dem Töchterchen herschreitet, so stünde ihm wohl eine glücklichere Jugend und ein künftiges besseres Los bevor, als das „Wunderkind“ sie finden wird, trotz aller frühen Kränze und lobender Zeitungsartikel! … Der Künstler, welcher uns dieses beherzigenswerte Zeitbild vorführt, hat mit feiner Empfindung die beiden Zuschauer charakterisiert, die sich über den seltsamen Anblick ihre Gedanken machen: den alten Geiger, der das Geschäft kennt und voll mitleidigen Bedauerns die ahnungslose Kleine vorübergehen sieht, und die frische junge Magd, die ihren Korb mit starken Armen trägt und von der gesunden Arbeit weg halb staunend, halb belustigt das arme kleine Wundertierchen betrachtet. Dies Bild spricht Wahrheit, so frei erfunden es auch sein mag, möge es viele und aufmerksame Betrachter finden! Bn. 


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werde nicht berücksichtigt.)

G. G. in Andernach. Sie müssen zwei Sammlungen unterscheiden. Als der „Pharus am Meere des Lebens“ wegen seiner Reichhaltigkeit und seiner zweckmäßigen Anordnung so großen Anklang fand, ließ der Verfasser Carl Coutelle eine „Neue Folge“, ganz im Geiste der ersten, aber mit neuen Sprüchen, erscheinen. Jene erste Sammlung hat bereits über zwanzig, diese zweite bereits die zwölfte Auflage erlebt (Leipzig. Jul. Bädeker). Beide zusammen bilden eine fast unerschöpfliche Fundgrube von Sprüchen der Lebensweisheit, eine richtige „Anthologie für Geist und Herz“.

F. H. in D.. Leider nicht verwendbar.




In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen:

Illustriertes Lehrbuch
des
Skatspiels.
Mit allen älteren und neueren Spielarten.
Von K. Buhle,
Verfasser der Allgemeinen Skatordnung.
Dritte verbesserte Auflage.
Elegant gebunden in Originaleinband. Preis 3 Mark.
Das illustrierte Lehrbuch des Skatspiels, dessen Verfasser den Lesern der „Gartenlaube“ durch seine in der Spielecke veröffentlichten interessanten Skataufgaben längst bekannt geworden ist, hat sich viele Freunde erworben und wird allgemein als das hervorragendste und gründlichste Lehrbuch auf dem Gebiete des Skatspiels anerkannt, als welches es nicht nur dem Anfänger, sondern auch dem geübteren Spieler dient, von dem es gern als Hand- und Nachschlagebuch in allen das Skatspiel betreffenden streitigen und zweifelhaften Fragen zu Rate gezogen wird. Die neue, vielfach verbesserte dritte Auflage ist wiederum in 2 Ausgaben, und zwar in einer solchen mit deutschen und einer mit französischen Kartenbildern erschienen, und kann durch die meisten Buchhandlungen bezogen werden. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die Verlagshandlung von
Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 

Inhalt: Vater und Sohn. Wahrheit und Dichtung. Von Adolf Wilbrandt (4. Fortsetzung). S. 517. – In die Sommerfrische am Starnberger See. Bild. S. 517. – Mac Mahons Flucht durch Fröschweiler am 6. August 1870. Bild. S. 520 und 521. – Ein Theaterdirektor der alten Schule. Von Rudolf v. Gottschall. S. 522. – Der Sieg von Wörth. Von P. v. S. S. 524. (Mit dem Bilde S. 520 und 521.) – Verhoffender Rehbock. Bild. S. 525. – Ein tirolisches „Haberfeldtreiben“. Von Arthur Achleitner. S. 526. – Unser Drückeberger. Aus meinem Kriegstagebuch vom Jahre 1870. Von Fred Vincent (Schluß). S. 527 – Ein Wunderkind. Bild. S. 529. – Blätter und Blüten: Wieder ein Wort für Jugend- und Volksspiele. S. 531. – Die Jubiläums-Ausgabe der „Illustrierten Geschichte des Krieges 1870/71“. S. 532. – In die Sommerfrische! S. 532. (Zu dem Bilde S. 517.) – Ein Wunderkind. S. 532. (Zu dem Bilde S. 529.) – Verhoffender Rehbock. S. 532. (Zu dem Bilde S. 525.) – Kleiner Briefkasten. S. 532.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.