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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[373]

Nr. 23.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (9. Fortsetzung.)


Rothe und Ditscha gehen noch immer stumm nebeneinander. „Es ist schön hier,“ sagt sie endlich und bleibt stehen auf einem kleinen Hügel, der mit einem Kiosk geschmückt ist, von dessen Fenster aus man weit hinein schaut in das Land, bis dahin, wo die Türme und Dächer von Bützow aus grünen Bäumen auftauchen.

„Aber sehr einsam,“ erwidert er ernst, neben sie tretend, „und nie habe ich die Leere schwerer empfunden als gestern, als ich von Beetzen kam, aus Ihrem trauten Kreise; und – noch schwerer werde ich sie heute empfinden, wenn Sie wieder gegangen sind, ich werde Sie überall suchen und werde Sie hier stehen sehen, so deutlich, und wenn ich neben Sie treten will, dann werden Sie zerfließen wie ein Schatten und ich – ich werde mir wie ein Narr vorkommen.“

Sie kann nicht antworten, es ist so seltsam, was er spricht.

„Wie ein Narr!“ wiederholt er noch einmal, starr an ihr vorhersehend, „der ich am Ende auch bin, weil ich so etwas zu Ihnen spreche – Sie verstehen mich nicht, können mich nicht verstehen!“

„Nein,“ flüstert sie, den Kopf senkend.

„O, Ditscha täuschen Sie sich nicht! Täuschen Sie sich in diesem Augenblick nicht,“ bittet er. „Sagen Sie nicht, daß Sie mich nicht verstehen. – Sie müssen mich verstanden haben schon immer, schon seit dem Tage, wo wir uns das erste Mal sahen. Es ist noch nicht lange her, aber doch lange genug, um sich klar zu werden – über sein Herz, Sophie! Ich will Sie ja nicht mit der großen Lebensfrage überfallen wie ein Räuber, nur darauf geben Sie mir Antwort, ob Sie mir erlauben wollen um Sie zu werben? Ob ich Ihnen nicht ganz gleichgültig bin? Denn ich liebe Sie, und das mußte ich Ihnen sagen. – – Ich wollte schreiben an Sie, heute, und an Ihren Onkel, ich wollte an Sie beide dieselbe Frage richten. Darf ich werben? Da – als ich mir den Entschluß abgerungen habe, als ich mich an den Schreibtisch setze und nicht weiß, wie ich Sie anreden soll, da kommen Sie selbst wie ein Wunder, ein holdes Wunder – Ditscha, darf ich hoffen?“

Sie sieht ihn nicht an, sie zittert am ganzen Körper. Eine Weile ist es so still zwischen ihnen, daß nur das leise Rauschen in dem Laub der hohen Eichen zu hören ist und sein tiefes schweres Atmen. Dann mit einer plötzlichen Bewegung streckt sie ihm ihre Hand hin.

„Ja!“ sagt sie.

Und als er einen Moment dasteht, als habe er das Ungeheure der Antwort noch nicht begriffen, um sie dann an seine Brust zu reißen, da stemmt sie mit angstvoller Gebärde die Arme gegen seine Brust, das blasse Entsetzen im zurückgebogenen Antlitz.

„Aber! Aber!“ stößt sie hervor. Sie will sagen: Noch ein Wort – ich will Dir erst


Aller Anfang ist schwer.
Nach einer Zeichnung von E. Horstig.

[374] beichten – bitte, höre mich erst, doch kein Ton kommt über die zitternden Lippen.

„Aber –?“ fragt er. „Kein Aber, Ditscha! Du liebst mich – ja oder nein? – Ja? Nicht wahr? Und in der Liebe giebt es kein Aber – ach, Ditscha!“

„Der Onkel,“ stammelt sie, noch immer widerstrebend.

„Glaubst Du, der Onkel wird ‚Nein!‘ sagen, Sophie?“

Sie schüttelt das Haupt. „Sprechen Sie mit ihm,“ fleht sie.

„Er ändert nichts an der Sache,“ antwortet er und küßt ihre Hände. „Es giebt nichts in der Welt, das zwischen uns treten könnte, weder des Onkels, noch eines andern Menschen Wille – nichts! Aber, wenn Du es so willst, so sei es!“

Sie ist einen Schritt zurückgewichen, die Arme hängen ihr schlaff herunter und sie sieht ihn an mit müden todestraurigen Augen. Wird er morgen noch so denken wie jetzt, oder wird sie ihn verloren haben, nachdem Onkel ihre Thorheit erzählt? Sie selbst kann es nicht thun, kann es nicht, und wenn sie sterben sollte auf der Stelle.

Und plötzlich, wie von einer ungeheuren Angst getrieben, ihn zu verlieren, nachdem sie ihn kaum gefunden, schlägt sie die Arme um seinen Hals, und, ihren schönen Kopf an seine Wange schmiegend, flüstert sie: „O, ich habe Dich so lieb! So lieb!“ Und sie selbst küßt ihn, zaghaft, scheu, flüchtig, dann ist sie an ihm vorüber geeilt und er hört sie mit halbverschleierter Stimme rufen: „Achim! Achim!“

Er findet sie nach ein paar Minuten auf den Knieen vor dem wilden Jungen, der ihre Wangen streichelt und fragt: „Hast Du Dir sehr weh gethan, Ditscha?“ Denn er meint, ihre Thränen fließen, weil sie sich gestoßen hat.

„Nein, nein!“ sagt sie, „aber nun komm, wir müssen fort!“




Ditscha weiß gar nicht, wie sie es fertig bringt, ihre Kommissionen in Bützow auszurichten. Sie sieht sich in allerhand Läden, sie geht mit Achim in die Konditorei und läßt ihm ein Baiser geben, und als sie wieder aus der höchst primitiven Konditorstube kommt, flammen durch den Nebel des Herbstabends schon die Oellaternen, die hier zu Lande noch an langen Ketten inmitten der Straße schweben.

Ditscha hat den Wagen an die Apotheke bestellt, wo sie für Hanne die „Ballerjahnsdroppen“ kaufen will, und geht eben über den Paradeplatz, welch stolzen Namen der ungepflasterte Markt Bützows führt, der Officin zu, die, außer dem alten Backsteinbau des Rathauses, das vornehmste Gebäude dieses Platzes ist. Sie ist so in Gedanken versunken, daß sie die Dame nicht beachtet, die, ein kleines Mädchen an der Hand, an ihr vorüber geht, ihr starr ins Gesicht sieht und stehen bleibt, um ihr nachzuschauen. Dann wendet sich die Beobachterin, geht Ditscha nach und wird nahe der Apotheke von einem Reiter eingeholt, der so eilig über den Marktplatz trabt, daß er die kleine dicke Person mit dem riesigen Rembrandthut beinahe übergeritten hätte. Er achtet ihrer gar nicht weiter, giebt Friedrich, der neben dem Wagen steht, das Pferd zum Halten und sieht lächelnd durch die Scheiben in den Laden, um dann ganz unbefangen einzutreten.

Die kleine Dame mit dem Rembrandthüt hat das alles beobachtet. Sie steht jetzt an seiner Stelle und späht durch die Glasthür; sie sieht, wie Ditscha erschrickt, wie sie dann lächeln muß, so innig und glücklich, und wie der Junge ihm in die Arme springt. Der Herr kauft eine Flasche „Kölnisches Wasser“, und dann tritt Ditscha aus dem Laden heraus, geht dicht an der Dame vorüber und besteigt mit dem Kleinen den Wagen; der Herr schwingt sich auf sein Pferd, und an Ditschas Seite reitend, verläßt er den Platz und das Städtchen.

Nun geht auch die Dame in den Laden und fordert für zwanzig Pfennig Pfefferminzkuchen und dabei fragt sie wie beiläufig: „Wer waren die Herrschaften?“

„Das Fräulein von Kronen aus Beetzen mit dem kleinen Bruder.“

„Und der Herr?“

Der Provisor kennt ihn nicht, aber ein altes hustendes Weib, das neben seiner Tragkiepe auf der Bank aus dunkelm Mahagoniholz sitzt und auf eine große Medicinflasche wartet, die eben kunstgerecht mit Goldpapier zugebunden wird, sagt: „Dat is de niee Herr von Dombeck – de Lüd sprecken ja in uns’ Dorp, he geiht frigen um de junge Baroneß ut Beetzen. Na, de kann lachen, denn he het Gald as Heu!“

„Ah so!“ macht die mit dem Rembrandthut, und ihr Kind, ein kleines Mädchen von drei Jahren, ganz in hochroten Flanell gekleidet, an der Hand fassend, verläßt sie, sehr von oben herabgrüßend, die Apotheke.

In einer engen Straße, deren Gebäude vor Alter sämtlich schief stehen und deren Pflaster halsbrechend ist, tritt die Dame in ein Haus, klettert mit dem Kinde eine Hühnerleiter empor, denn viel besser ist die Treppe nicht, und öffnet die Thür eines Zimmers. Es ist sehr ärmlich aber sauber da innen, und der Glasschrank mit den vergoldeten Tassen ist auch noch da. Oll Mutter Busch sitzt am Ofen ihres Witwenstübchens und strickt, und die Eintretende ruft ihr zu: „Zieh’ ’mal das Kind aus, Mutter, ich will nur gleich ’mal ein paar Worte an meinen Mann schreiben.“

Sie wirft den Mantel ab, aber den Hut behält sie auf, holt Tintenfaß, Papier und schreibt:

 „Lieber Alfred!
Ich brauche nur noch ein wenig Zeit, dann werde ich es schon haben – sorge Dich nur nicht. Sieh doch jetzt alle Tage ’mal nach die Verlobungsanzeigen in der Kreuzzeitung, und wenn Du eine findest von hier, so schreibe gleich, ich will dann nach Beetzen und gratulieren. Ich denke auch, achthundert Thaler sind besser als fünfhundert, und ich borge gleich so viel, das Bezahlen kommt ja auf eins heraus. – Mutter ist wohl, und was die Kleine ist, so bleiben die Leute auf der Straße stehen und sagen, so ’was Süßes giebt’s nicht mehr. – Ich kann jetzt noch nicht bestimmen, wann ich retour komme. Es grüßt bis dahin
  Deine Grete.“

Sie trocknet das Geschreibsel, indem sie es über die Petroleumlampe hält, und sieht dabei entzückt das kleine Mädchen an, das, die Händchen auf die Tischplatte gelegt und auf den Zehen stehend, der Mutter Thun beobachtet.

Und in der That, ein idealschöneres Geschöpfchen als dieses giebt es nicht, mit seinem hellblonden Haar und den dunkeln mandelförmigen Augen. „O Gott, o Gott, ich freß Dich noch auf, Du süßes Balg!“ ruft Grete Busch, jetzige Frau „spanische Reitschulstallmeister“ Bröse, und sie küßt erst das Kind und klebt dann den Brief zu. „Nu bleib’ bei Großmutter, ich geh’ man bloß auf die Post; und wart’ nur, später kauf’ ich Dich die schönste Puppe in ganz Berlin mit die feinsten Kleider, und dann gehen wir in den Zoologschen, Du sötes Krabauter!“ –




Ditscha sitzt am folgenden Tage, eiskalt vor Angst und Aufregung, in ihrem Zimmer, die Hände ineinander gepreßt, und wartet – Kurt Rothe ist bei ihrem Onkel.

Er ist ganz ohne Aufsehen gekommen, zu Pferde. Ditscha hat ihn selbst so früh nicht erwartet, sie hatte aber doch so viel Zeit, den Onkel vorzubereiten und mit zitternder Stimme zu bitten, ihm alles, alles zu erzählen, was der mit einem: „Jawohl, Kind!“ versprach. Einen Augenblick ist ihr auch wieder Grete Busch durch den Sinn geschossen, aber, lieber Gott, wer weiß, wo die sein mag, unb ob sie schlecht genug wäre, auszuschwatzen, und ob sie überhaupt je wieder kommen wird, und? – – Aber sie schweigt von dieser Mitwisserin.

Wird er gehen? fragt sie sich – wird Onkel Jochen sie rufen lassen?

In Onkels Stube hat sich die Unterredung, die ungemein feierlich begann, zu einer sehr herzlichen gemütlichen entwickelt. Natürlich hat Onkel Joachim erzählt, daß seine Nichte kein Vermögen besitzt, denn zwanzigtausend Thaler heutzutage – na – wenigstens doch eine Aussteuer! Dann hat er erklärt, er würde sie furchtbar vermissen, und dabei sind ihm ein paar ehrliche Thränen aus den Augen geflossen, und endlich beteuert, ein besser Gemüt gäbe es nicht wie sie. „Ein bißchen ernst, wissen Sie – schwere Erfahrungen – Waise – unser stilles einförmiges Leben – verstehen Sie –“ Und Kurt Rothe hat darauf versichert, daß er Ditscha gar nicht anders wolle, als sie gerade sei, und daß ihn eben dieser Ernst angezogen habe.

Onkel Joachim fehlt die Pfeife, die ihm aus aller Verlegenheit zu helfen pflegt; er sitzt da und dreht die Daumen, und in seinem Hirn wälzt sich ein Chaos von Gedanken, wie er am besten erzählen kann von Ditschas Thorheit. Endlich steht er auf, klingelt [375] und bestellt eine Flasche Rheinwein, setzt sich wieder und kommt dabei zu dem Schluß: I der Deubel, wozu soll denn der das überhaupt wissen, so feierlich aufgebauscht, daß eine lächerliche, längst vergessene Kindergeschichte, wie sie alle Mädels ’mal haben – wenn auch nicht – na ja – – mag sie’s ihm selbst erzählen, wenn sie erst verheiratet ist, und zu einer Stunde, wo sie ’mal gegenseitig aufgelegt sind zu einer Beichte – Schockschwerenot! Das Ding kriegt ja einen ganz eigentümlichen Anstrich, wenn ich jetzt erzähle: Ihre Liebste war ’mal auf dem Punkt durchzubrennen! Und er schreit, des Entschlusses froh, den eintretenden Friedrich an: „Sagen Sie Fräulein Sophie, ich lasse sie bitten, zu mir zu kommen.“

Indes führt er den jungen Mann vor den Stammbaum der Kronens, der fast die ganze Wand einnimmt, und bemerkt: „Die Erste von uns, die einen Bürgerlichen freit – nehmen Sie nicht übel, daß ich das erwähne, denn ich füge hinzu, ich freue mich über die Wahl meiner Nichte, es ist mir eine Ehre.“

„Herr Baron,“ sagt der Bräutigam, „unseres großen Bismarck Mutter war auch eine Bürgerliche –“

Der alte Herr schlägt ihm lachend auf die Schulter und meint, er habe nichts dagegen, wenn ihm ebenfalls ein so glückliches Ergebnis aus adlig und bürgerlich Blut präsentiert werde.

Und dann kommt Ditscha. – Sie sieht erbarmungswürdig aus. Alles Leben liegt in ihren Augen, die mit der Bitte um Verzeihung in die ihres Verlobten blicken. Und er lächelt gerührt, sein ganzes hübsches Gesicht lächelt, und den Arm um sie schlingend, sagt er: „Ich will sie lieben und ehren, wie nur je eine Frau geliebt und geehrt worden ist, Herr Baron“ – Dann haben sie Gläser in der Hand und stoßen an auf eine glückliche Zukunft, und Joachim von Kronen laufen wieder die Thränen aus den Augen, als er Ditscha küßt. Seinen Foulard ziehend, verläßt er das Zimmer, er hat etwas gemurmelt von Cilly und Anna.

Die Beiden sind allein.

„Hast Du mich noch ebenso lieb wie gestern?“ fragt sie leise.

Aber er versteht es nicht. Er ist so überglücklich, er preßt sie an sich, er küßt sie, daß ihre Worte ersticken, die er ja nicht begreift. Und sie weint, sie glaubt mit einem Mal an die große alles überwindende selige Macht der Liebe.

Im linken Flügel schlägt die in aller Gemütsruhe von Joachim vorgetragene Verlobungsanzeige wie eine Bombe ein. Cilly hat hell aufgelacht, Tante Anna ist empört, so empört, daß sie von „Verrücktheit“ redet.

„Was soll nur aus Dir werden, Joachim, ohne das Mädchen?“ fragt sie.

„Ich werde nicht ewig leben, Schwester, und Ditscha ist doch auch nicht gerade für mich auf die Welt gekommen.“

Ob denn durchaus geheiratet sein müsse?

„Durchaus nicht, aber wenn ein paar Menschen sich lieben und zusammen passen –“

Ob denn Jochen mit dem glücklichen Bräutigam – das „glücklich“ dreifach betont – gesprochen habe.

„Zwei Stunden lang!“

Und ob denn der mit allem einverstanden sei.

„Vollständig!“ sagt er, innerlich wütend über das Benehmen seiner Schwester.

Na, das könne auch nur so einer, der durchaus in den Adel hineinheiraten wolle.

„So! Und Cilly erzählte mir, daß ihn unsere sämtlichen Komtessen genommen hätten, wenn er nur Miene gemacht hätte dazu.“

„Ja,“ gesteht die junge Frau ehrlich, „das glaube ich auch noch, aber – wie er gerade auf Sophie kommt?“

„Wie Klaus auf Dich kam!“

Sie lacht wieder und fragt plötzlich höchst interessiert, wann denn die Hochzeit sei.

„Vermutlich bald.“

„Ich gehe nächsten Monat in mein Stift,“ erklärt Tante Anna.

Onkel Joachim überhört es. „Das Brautpaar wird sich Euch zeigen wollen –.“

„Ich habe Migräne heute,“ antwortet sie und erhebt sich.

„Du kannst doch nicht immerfort Migräne haben, bis Du ins Stift reist?“ ruft Cilly lachend. Aber Tante Anna schreitet mit stolz erhobenem Haupt aus dem Zimmer.

„Nun, dann wird wohl Onkel Jochen Ehrendame spielen müssen,“ sagt er, „ein Grund mehr, die Hochzeit zu beschleunigen. Kommst Du zu Tisch, Cilly?“

„Aber, Goldjöching, ich bin ja heute bei Schlüchterns zum Karpfenessen! Du weißt doch, die fischen heute den See und machen mit der Beute ihre ganze gesellschaftlichen Pflichten ab.“

„Nun dann viel Pläsir!“

Onkel Jochen speist diesen Mittag allein mit dem kleinen Jochen.

Ditscha fährt nach Dombeck, um sich der alten Dame als Braut vorzustellen. Sie ist ganz allein, denn ihr Bräutigam reitet voraus, und außerdem wäre es gegen die Etikette, wollte sie mit ihm fahren, sie hat keinen, der die sogenannten Anstandspflichten übernimmt. Tante Anna sieht sie einsteigen und fortrollen und sieht sie allein wiederkommen, fühlt aber kein Mitleid. Ditscha ist ja schon einmal allein gefahren, ein großes Gehabe mit ihr würde nur Komödie sein!

Ditscha empfindet diese Behandlung tief, das Herz ist ihr sehr schwer, als sie abends ihr stilles Zimmer betritt. Und wie Hanne erscheint mit einem Sträußchen von Monatsrosen, Veilchen und Myrten und treuherzig verschämt gratuliert, da schlägt sie in leidenschaftlicher Aufregung die Arme um die alte treue Person und weint zum Herzbrechen.

Das ist Ditschas zweiter Verlobungstag!




Die alte Frau Rothe schreibt einige Tage später in ihrem behaglichen Zimmer auf dem Dombecker Schlosse an ihre jüngste, kürzlich verheiratete Tochter, deren Mann Offizier in den Reichslanden ist.

„Ich kann mir schon denken, wie neugierig Ihr seid, liebe Kinder, Näheres über Kurts Verlobung zu hören, und ich begreife vollkommen Dein Staunen, meine kleine Bertha, über seinen raschen Entschluß. Du kennst ja wie niemand sonst außer mir den großen Maßstab, den er an die Charaktereigenschaften einer Frau legt, besonders groß an diejenigen, die er an seiner künftigen Gattin beansprucht. Nun soll ich Dir schreiben, wie es geschehen ist, und vor allem, welchen Eindruck ich von seiner Braut gehabt habe! Er war vom erstenmal, wo er sie erblickte, hingerissen von ihr, trotzdem hat er mit Zweifeln gekämpft – wird sie die Rechte sein? Er schrieb an mich, bat mich, zu kommen, und ich konnte nur seine Wahl loben, als ich das schöne Mädchen kennenlernte. Aber ich gestehe Dir, daß auch mich Zweifel packte, und zwar: ob er von ihrer Familie das Jawort erhalten werde. Ob sie, die Tochter eines der ältesten schloßgesessenen Geschlechter der Mark, sich als einfache bürgerliche Gutsbesitzersfrau wohl fühlen werde. Es ist ja nur der Name, Kind, denn in allem übrigen kann es unser prächtiger Junge mit jedem Fürsten aufnehmen – na, Du verstehst mich, mein Herz!

Er teilte meine Befürchtungen, aber siehe da, eines Tages – nun vor einer Woche – sind sie heimlich Brautleute, und vierundzwanzig Stunden später erteilt der Onkel, der als riesig stolz bekannte Joachim von Kronen, in herzlichster Weise seinen Segen und noch denselben Nachmittag kommt Sophie zu mir nach Dombeck, von Kurt angemeldet, um, wie sie sagt, sich den Mutterkuß zu holen. Sie kam sonderbarerweise ganz allein! Sie schien glücklich, ja, aber still und zum Weinen geneigt; sie sagte auch etwas zur Entschuldigung – Jochen von Kronen gehe nirgends hin, seitdem er seinen Sohn auf so schreckliche Weise verloren, Tante Anna habe Migräne und die junge Frau sei irgendwo eingeladen. Gott verzeih mir! Ich hatte ein dumpfes Gefühl von Zurücksetzung, aber Kurt merkte nichts oder wollte nichts merken, und doch ist er sonst so empfindlich in dieser Hinsicht.

Kurt ist jetzt täglich drüben in Beetzen, auch ich bin mit ihm hinübergefahren. Der alte Herr ist von gleichbleibender Freundlichkeit, er scheint Ditscha sehr zu lieben. Ich gab bei den beiden Damen meine Karte ab, bevor wir zu Tisch gingen. Es war ein merkwürdiges Diner; von der Verlobung sprach niemand! Ich dachte, Joachim von Kronen würde auf das Glück des jungen Paares anstoßen – keine Spur! Die junge Frau war nett und heiter, die Tante mehr als zurückhaltend, sie verließ noch vor dem Dessert die Tafel.

Nach Tische wurde die Hochzeit von Joachim von Kronen auf den zweiten Januar festgesetzt, um Weihnacht wolle er nicht gern allein sein, sagte er, und Sophie küßte ihm dankbar die Hand. [376] Sie hat etwas merkwürdig Demütiges, etwas, das zu ihrer stolzen Erscheinung gar nicht paßt; auch Kurt gegenüber giebt sie sich so, aber lieb und gut ist das Mädel, sie wird Dir gefallen.

Ich erwarte sie heute wieder bei mir, sie will über ihre Aussteuer mit mir sprechen, weil sie doch keine Mutter hat, wie sie traurig sagt. Die Hochzeit soll sehr still und klein sein, die Kronens haben noch Trauer. Kurt ist damit einverstanden, er meint, man könne später nachfeiern mit Euch allen, wenn Sophie seine Frau geworden. Das denk’ ich auch –.

Eben höre ich einen Wagen vorfahren, sie kommt!“

Ditscha tritt gleich darauf in das Zimmer der alten Dame. Sie ist doch sehr glücklich, man sieht es an dem Glanz ihrer Augen, und sie schmiegt sich mit einer Zärtlichkeit an die liebenswürdige alte Frau, als müsse sie nachholen an Liebe, was sie alle die langen Jahre entbehrt hat.

Kurt trifft sie nicht daheim, er ist auf der Jagd. Sie weiß es und hat sich vorgenommen, mit der Mutter alle möglichen Dinge zu besprechen, die sich auf Ausstattung und Einrichtung beziehen.

Während sie beim Thee sitzen, erzählt Ditscha, daß Onkel ihr ein wundervolles Präsent gemacht habe an Leinen und Damast. Hanne habe es ausgesucht, die Truhen auf Beetzen sind ja so voll davon. Und außerdem habe Onkel ihr zwölftausend Mark geschenkt – es solle seine Hochzeitsgabe sein – zu Möbeln für Ditschas Zimmer. „Aber die Möbel, die wollen wir doch zusammen aussuchen, Kurt und ich – Mutterle – und deshalb müssen wir nach Berlin,“ fügt sie hinzu.

„Aber, Ihr närrischen Kinder, Ihr könnt doch nicht allein nach Berlin,“ sagt Frau Rothe, „und ich alte wacklige Person – ich bin nicht imstande, zu reisen.“

Ditschas Gesicht überfliegt ein Schatten. „Cilly wäre mitgefahren,“ bemerkt sie, „aber Onkel will es nicht, er meint, die ist gar nicht bei der Sache, sie sei keine passende Begleitung. Und Tante Anna lehnt es ab, ich möchte auch nicht mit ihr – ach, Herzensmutter, geht es wirklich nicht?“

„Töchterle, ich will’s versuchen,“ tröstet die alte Dame freundlich, der das arme Kind leid thut – wie geringschätzig wird sie doch behandelt – „aber dann wartet, bis ich überhaupt heimreise, bis zum ersten Advent – ja?“

„Natürlich,“ sagt Ditscha fröhlich, „und man kann recht überlegen bis dahin.“

Sie gehen später durch alle Zimmer, und Ditscha bestimmt, zu welchem Zweck sie dienen sollen und dann schleicht sie sich allein in Kurts Stube und setzt sich voll Andacht auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und streicht wie liebkosend über das Holz, das seine Hand berührt hat, küßt seinen Federhalter und legt eine letzte blasse Rose, die ihr im Gürtel steckt, auf das Löschpapier der Mappe und schreibt daneben mit winzigen Buchstaben mit Blaustift, der ihr zur Hand liegt: „Es grüßt Dich Deine glückliche Ditscha!“

Als sie heimfährt, lehnt sie im Wagen mit einem großen Glücksgefühl im Herzen, gesteigert durch die Güte des Onkels, durch die Liebe der alten Frau, durch das Bewußtsein, einer schönen Zukunft entgegen zu gehen. So hat sie sich noch nie gefühlt; wenn sie Stimme hätte, möchte sie singen, irgend etwas Uebermütiges, einen Jodler oder Jauchzer, wie ihn der Aelpler hinunter schickt ins Thal. Irgend etwas muß sie auch ausführen, aber was denn nur? Etwas Gutes, damit Gott die volle Seligkeit ihres Herzens erkenne. Sie beschließt, der lahmen Margret, der dürftigen Schneiderin, heimlich die Nähmaschine zu bezahlen, die sie sich auf Abzahlung angeschafft hat; die erste Rate ist noch kaum von ihr geleistet, und Ditscha freut sich, wie das blasse Geschöpf sich wundern wird, wenn Kaufmann Gerlach in Bützow das Geld von ihr nicht mehr will, das sie, wer weiß wann? bringen mag. Hundert Mark kann Ditscha gut und gern von dem Ausstattungsgelde nehmen, was schadet es?

Onkel Jochen steht am Fenster, als sie zurückkehrt; neben ihm preßt sich das rosige Gesicht des Kleinen an die Scheiben, sie nickt und winkt ihnen zu. Wie sie sich freuen! Ach, jene beiden werden sie schwer vermissen, und das ist auch ein süßes Gefühl, das sie ebenfalls erst jetzt kennenlernt. Sie eilt rasch die Stufen der Freitreppe hinan und will ebenso rasch in die Zimmer des Onkels, da ruft Hanne, über das Geländer gebeugt.

„Gnä’ Fröln – Fröln Ditscha, in de Lüdstuw is wen, der mit Se sprecken will.“ Und als Ditscha erstaunt aufhorcht, sagt sie. „Ja, Sie werden sick wunnern, gnä’ Fröln, ’s ist Grete Busch, oder wie sie nu heißt, Fru Bröse.“

„Grete Busch?“ wiederholt Ditscha langsam.

„Ja, sie wart’ all an die drei Stundens und hat mich die Ohren vollgeklöhnt, wie slecht sie des nu geht. Sie is bei ihr oll Mutter mit’n Kind, und das annere hat ihr Mann ja woll,“ berichtet Hanne, indem sie die Stufen vollends herunter kommt.

„Dann schicke sie hinaus,“ sagt Ditscha und geht die Treppe empor nach ihrem Zimmer. Es ist ihr zu Mute, als sei jählings aller Sonnenschein gewichen, der eben noch so strahlend auf der Welt gelegen. Sie nimmt Hut und Mantel ab und steht mit aufeinandergepreßten Lippen in der Mitte des Zimmers, als es klopft.

„Herein!“ ruft sie. Eine kleine korpulente Frau schiebt sich durch die Thür, ziemlich ärmlich gekleidet. Kein Rembrandthut, kein Plüschpaletot, alles sehr simpel und unmodern, wenn auch damenhaft; ein einfacher Filzhut mit Schleifen von Band, das sehr oft aufgebügelt sein mag, ein Plaid um die Schultern – prachtvolle Verkleidung; nur das Gesicht, das verschwommene dreiste Gesicht ist echt und zeigt die Farbe einer Person, die die Nächte durchwacht und täglich Schminke und Puder gebraucht. Die schlaffen verlebten Züge deuten auf ungeordnete Lebensweise; geradezu schrecklich frivol, obgleich die Augen sich bemühen, recht demütig und bescheiden zu blicken.

„Kennen gnä’ Fräulein mich noch?“ beginnt sie.

„Ich würde Sie kaum wieder erkannt haben,“ antwortet Ditscha. „Was wünschen Sie von mir?“

„O, gnä’ Fräulein, warum sagen Sie denn ‚Sie‘ zu mir, das thut aber weh!“

„Was wünschen Sie?“ fragt Ditscha noch einmal.

„Allererst hab’ ich Sehnsucht gehabt, gnä’ Fräulein wieder zu sehen; es ist kein Tag und keine Nacht vergangen, in denen ich nicht an Ihnen gedacht hab’, und wie ich las, daß das gnädige Fräulein sich verlobt haben – mein Mann“ – hier thut Grete einen tiefen Seufzer – „schickte mir die Zeitungsnummer mit der Verlobungsanzeige aus Berlin, und da hab’ ich zu meiner alten Mutter gesagt. da muß ich hingehen und gnä’ Fräulein grattelieren, was ich hiermit bestens thue, auch von Muttern, und hab’ gedacht, ich könnt’ gleich ’mal fragen, ob gnä’ Fräulein vielleicht Arbeit für mich hätten. Bei so einer großen Aussteuer giebt’s doch allerlei. Gnä’ Fräulein, ich thu’ recht schön bitten“ – hier sucht Grete nach dem Taschentuch und verzieht das Gesicht zum Weinen – „denn es geht mir recht bitterlich slecht, gnä’ Fräulein.“

Ditscha ist eine so von Grund aus wahrhafte Natur, daß ihr das Schluchzen der Frau nicht einen Augenblick unecht erscheint. „Das thut mir sehr leid,“ sagt sie, „ich will mit Hanne sprechen – es wird sich schon etwas finden, Sie können vielleicht Handtücher besäumen?“

„O gern, gern, gnä’ Fräulein, alles, was Sie haben, damit ich nur nicht ganz und gar Muttern zur Last falle mit dem Gör.“

„Wie viel Kinder haben Sie denn?“

„Zwei – aber das ist schon zu viel, wenn der Mann nichts verdient.“

„Und wie kommt das?“

„O Gott! O Gott!“ beginnt Grete. „Er hat ja so’n großes Malheur gehabt mit zwei Pferde kurz hintereinander; das eine ist auf der Straße gestürzt und hat müssen gestochen werden auf dem Fleck, und mit das zweite im Cir – – wollt’ sagen, in die Manege, und beide soll er bezahlen, weil der Herr sagt, er ist da schuld an. Gnä’ Fräulein, was kann er denn dafür, wenn ihm ein Junge das Pferd mit Knallerbsen wirft, und was kann er dafür, daß das andere ein stätsches Vieh war und den Hals nicht hergeben will, und er es prügeln muß und es sich dann mit ihm überschlägt und auf der Stelle tot bleibt? Das erste ist bezahlt, so viel Geld hatten wir uns ja gespart – dreitausend Mark, gnä’ Fräulein, hat das Vieh gekost, und das andere siebzehnhundert Mark. Das kann er aber nun nicht leisten, und da hat uns der Herr die Sachen pfänden lassen und hat meinem Mann ein schlecht Zeugnis gegeben, und nu gerad’, wo wir dachten, wir könnten uns selbständig machen –“

„Das bedauere ich sehr,“ sagt Ditscha.

„Und nu sucht er nach einer neuen Stelle,“ fährt Grete fort, „und ich bin mit der Kleinen bei Mutter derweil; den Jungen hat er behalten, ich kann doch der alten Frau nicht gleich zwei Gören

[377]

Katharina Cornaro.
Nach dem Tizian zugeschriebenen Gemälde.

[378] aufpacken! O, gnä’ Fräulein, wenn Sie mir doch mit Arbeit helfen könnten!“

„Ich glaube, das versprechen zu dürfen,“ antwortet Ditscha und klingelt, „gedulden Sie sich einen Augenblick.“ Der eintretenden Jungfer befiehlt sie, Hanne zu schicken, und als die resolute kleine Frau eintritt, teilt ihr Ditscha das Anliegen der Frau Bröse mit.

„So–o–o?“ fragt Hanne gedehnt. „Könnt Se denn wat? Monogrammes sticken, un so? Wissen Sie, wer nich fine Arbeit versteiht und man bloß so’n büschen prünen kann, da kriegt kein Stück nich von de Beetzener Utstür in de Hand.“

Grete zählt ihre Kunstfertigkeiten auf, sie kann Hohlsäumen und Weißsticken und präsentiert ein zu diesem Zweck mitgebrachtes Mustertuch, und diesmal wenigstens lügt sie nicht.

„Na, da kommen Sie mit, will’s ’mal versöken mit Ihnen,“ sagt Hanne, „und Ihnen ein paar Dutzend Salvjetten mitgeben.“

Grete verbeugt sich vor Ditscha und geht.

Ditscha fühlt trotz ihres Widerwillens Mitleid mit der Frau, sie hat so bescheiden gebeten und keine Andeutung gemacht an frühere Zeiten. Sie ruft ihr nach: „Wenn Sie vielleicht ein paar Mark gebrauchen, Grete –“

„O, ums Himmelswillen, gnä’ Fräulein, nein, ich danke!“ antwortet sie, und ihr gelbliches Gesicht wird wirklich rot – Ditscha hält es für Scham und entschuldigt sich, und Grete und Hanne verschwinden.

In der Wäschekammer jammert Grete über den schweren Pack, und daß es doch so enge ist im Stübchen von der Mutter, und wie es denn wäre, wenn sie hier nähen thät? Und ob Hanne nicht gnädig Fräulein vorschlagen will, wenn ihre Arbeit zur Zufriedenheit sei, daß sie, Grete, hier in der Nähstube sitzen könnt’ und arbeiten? Eine Schlafstelle fände sich ja auch wohl für sie und das Gör? –

Hanne, die Grete Busch nie hat leiden können, brummt: „Na, dato kann ick nix seggen. Hier is ’n Dutzend Salvietten, daran werden Se sich woll nich dod sleppen, un wenn se fertig sind, dann kriegen Se wedder ’was.“

Ditscha ist beim Abendessen stiller und zerstreuter als seit langer Zeit, so daß der alte Herr sie fragt, ob es einen Liebeszank gegeben habe. Sie verneint lächelnd, in der Nacht aber kommen die alten Erinnerungen furchtbar deutlich, daß sie kein Auge zuthut und ganz elend aussieht am andern Morgen.

(Fortsetzung folgt.)




Katharina Cornaro als Königin von Cypern.

Von Eduard Schulte.
(Mit dem Bilde S. 377.)

Die schöne venetianische Patrizierin, die einst die Königskrone von Cypern trug, wandelt durch die Jahrhunderte in dem verklärenden Strahlenkranz, den die Kunst für sie gewunden hat; wir wollen hier ihre Geschichte so erzählen, wie sie sich nach den neuesten Forschungen in Wirklichkeit darstellt.

Als das seemächtige Gemeinwesen der Venetianer, den Handel ausbreitend und durch befestigte Hafenplätze schützend, im östlichen Mittelmeere festen Fuß faßte, richtete es seine begehrlichen Augen auch auf Cypern. Diese reiche Insel, von Phöniziern und Griechen als Geburtsstätte und Wohnsitz der Liebesgöttin gefeiert, hatte vermöge ihrer Lage zwischen Morgenland und Abendland im Verkehrsleben der Völker früh eine glänzende Rolle gespielt. Sie war dann von den Aegyptern, den Persern, den Römern abhängig gewesen. Während des dritten Kreuzzuges, der von 1189 bis 1193 dauerte, hatte König Richard Löwenherz von England, erbittert über die feindselige Haltung des oströmischen Kaisers, diesem die Insel entrissen. Richard überließ seine Eroberung an Guido von Lusignan, der über das von den Kreuzfahrern errichtete Königreich Jerusalem geherrscht hatte, und nun bestand in Cypern für mehrere Jahrhunderte das Königtum der aus Frankreich stammenden Dynastenfamilie Lusignan. Der jeweilige Herrscher nannte sich König von Cypern, Armenien und Jerusalem. Unter dieser Herrschaft erreichte die Insel, deren Einwohnerschaft übriges zu einem Drittel aus Sklaven bestand, einen hohen Grad von Wohlstand, besonders um die Mitte des 14. Jahrhunderts; in einigen Häfen legten die Venetianer, in anderen die Genuesen Handelshäuser an, und die Genuesen bemächtigten sich sogar der cyprischen Hafenstadt Famagusta. Im Jahre 1458 starb mit Johann II. die Königsfamilie im Mannesstamm aus, und Charlotte, die einzige Tochter Johanns, bestieg nun den Thron. Der Halbbruder dieser Fürstin, ein außer der Ehe geborener Sohn Johanns, Jakob mit Namen, suchte seiner Schwester den Thron streitig zu machen und legte darum das ihm übertragene Amt eines Erzbischofs der cyprischen Hauptstadt Nicosia nieder. Als die Königin seine Verhaftung befahl, flüchtete er zu dem Sultan von Aegypten.

Um diese Zeit konnte dem venetianischen Staate, damals der ersten Seemacht im Mittelmeer, das Schicksal der Insel um so weniger gleichgültig sein, als die Türken inzwischen Konstantinopel erobert hatten und zu einer drohenden Gefahr für das Abendland wurden. Eine abendländische Seemacht, welche Cypern erwarb, gewann nicht nur wichtige Handelshäfen, sondern auch einen Stützpunkt gegen den vordringenden Islam. Gewaltthätiges Eingreifen ersparte sich der bei aller Thatkraft doch vorsichtige Senat von Venedig gern, ebenso der von ihm gebildete Regierungsausschuß, der als der „Rat der Zehn“ berühmt oder richtiger gesagt: berüchtigt geworden ist. Man wollte zunächst den Ausgang der Thronstreitigkeiten abwarten und dann seine Maßregeln treffen. Die Königin Charlotte von Cypern, die sich erst mit einem portugiesischen und nach dessen Tode mit einem savoyischen Prinzen verheiratet hatte, war außer stande, sich gegen ihren Stiefbruder Jakob zu behaupten. Mit Hilfe des Sultans von Aegypten landete er im Jahre 1460 in Famagusta, eroberte die Hauptstadt Nicosia und belagerte die Königin Charlotte mit ihrem Gatten Ludwig von Savoyen in der Seefestung Cerina. Die Königin rief vergebens den Beistand der ihr verwandten Höfe und selbst des türkischen Sultans an; sie mußte mit ihrem Gatten flüchten. Ihr Halbbruder, der dem ägyptischen Sultan einen Tribut zu zahlen hatte, herrschte fortan als König Jakob II. über Cypern. Mit ihm, der sich als der stärkere Teil erwiesen hatte, traten nun die Venetianer in freundschaftliche Beziehungen, um so mehr, als es ihm gelang, ihre Nebenbuhler zur See, die Genuesen, aus Famagusta zu vertreiben. Es wurde der Plan gefaßt, sein Interesse mit dem Venedigs dadurch zu verschmelzen, daß man ihm die eheliche Verbindung mit einer Tochter der venetianischen Adelsgeschlechter vorschlug.

Zu den fürstlichen Kaufleuten der Republik, welche Handelshäuser auf Cypern besaßen und zugleich mit der Königsfamilie befreundet waren, gehörten die Cornaro. Ein Cornaro hatte für Dienste, die er dem König Peter I. von Cypern erwiesen, von diesem das Recht erhalten, das Wappen des Hauses Lusignan in seinen Schild aufzunehmen, und der König war in den Jahren 1363 und 1366 der Gast der Cornaro in deren Palast in Venedig gewesen. Marco Cornaro gewann durch Reichtum, Ansehen und Gewandtheit Einfluß auf König Jakob II. und übte diesen Einfluß in Uebereinstimmung mit den geheimen Weisungen des Senates aus. Cornaros schöne Frau Florenza war eine Tochter des Fürsten Nikolaus von Naxos, aus dessen Ehe mit einer Prinzessin aus dem Kaiserhause der Komnenen. Cornaro und Florenza hatten acht Kinder, und als die schönste unter ihren Töchtern galt die im Jahre 1454 geborene Katharina. Als König Jakob II. nun im Jahre 1468 einen Gesandten nach Venedig schickte mit dem Auftrage, ihm eine Venetianerin zur Gattin auszuwählen, lenkte sich nicht ohne Zuthun des Vaters und des Senates der Blick des Gesandten auf diese damals vierzehnjährige Katharina Cornaro. Die Erzählung, es seien vor dem Gesandten im Dogenpalast 72 Patriziertöchter versammelt worden, unter denen er Katharina als die schönste ausgesucht habe, hat sich als eine Erdichtung erwiesen. Katharina war seit vier Jahren in einem Kloster erzogen und unterrichtet worden und trat jetzt zum erstenmal in die Oeffentlichkeit. Die feierliche Verlobung mit dem König Jakob, der sich dabei durch seinen Gesandten vertreten ließ, wurde im Juli 1468 im [379] Dogenpalast mit großer Pracht gefeiert. Katharina wurde dazu von adligen Damen aus dem Palaste ihrer Eltern abgeholt. Der Doge übergab dem Gesandten einen kostbaren Ring, und der Gesandte steckte ihn im Namen König Jakobs an den Finger Katharinas. Nach der Feier kehrte das junge Mädchen in den elterlichen Palast zurück und lebte dort nach wie vor in stiller Zurückgezogenheit, wurde aber, wenn sie sich einmal auf den Plätzen oder Kanälen der Stadt zeigte, schon jetzt mit den einer Königin zustehenden Ehren begrüßt. Der Senat faßte den Beschluß, die reiche elterliche Ausstattung der Braut durch Juwelen, durch Landgüter auf Cypern und durch eine Mitgift von 100000 Dukaten von Staatswegen zu ergänzen.

Der Hochzeit stellten sich zunächst Schwierigkeiten in den Weg. Die um diese Zeit beginnenden Kämpfe Venedigs gegen die Türken verliefen meist nicht glücklich, die Insel Negroponte ging der Republik verloren. König Jakob von Cypern fing an, sich zweifelnd zu fragen, ob ein engeres Bündnis mit Venedig sich noch lohne und ob nicht eine andere Familienverbindung vorzuziehen sei. Die zahlreichen Feinde und Neider der Republik benutzten diese Stimmung, namentlich der König Ferdinand von Neapel suchte den König Jakob gegen Venedig aufzureizen. Der Senat ließ darauf den König an die Einlösung des Eheversprechens nachdrücklich erinnern und drohte im Weigerungsfalle mit Krieg. Der König gab nach, stellte sich und sein Königreich unter den Schutz des geflügelten Löwen von San Marco und sandte im Sommer 1472 drei Galeeren nach Venedig, um die Braut abzuholen. Unter großem Gepränge ging Katharina mit stattlichem Gefolge zu Schiffe; vier venetianische Galeeren gaben ihr das Geleit. Sie stand damals mit ihren 18 Jahren in der Blüte jungfräulicher Schönheit, hohe volle Gestalt, blendend weiße Hautfarbe, reiches blondes Haar, dunkle Augen und edles Ebenmaß der Züge zeichneten sie aus. Die Dichter sagteu damals: Venus, die Liebesgöttin, die einst von Cypern ausging, kehrt jetzt dahin zurück.

Die Hochzeit des Königspaares wurde unter rauschenden Festlichkeiten, bei denen man den ganzen Glanz des nun dem Untergange zueilenden Rittertums noch entfaltet sah, in Nicosia gefeiert. Acht Monate lebte Katharina an der Seite ihres Gatten, da wurde dieser, während er dem Jagdvergnügen nachgiug, von einem tödlichen Fieber befallen. Die junge Fürstin, welche Mutterhoffnungen hegte, wurde eiligst herbeigerufen und warf sich in namenlosem Schmerz an dem Sterbelager nieder. König Jakob hatte noch Zeit, ihr und ihrem Kinde das Königtum zu übertragen und einen Regentschaftsrat einzusetzen, dann starb er. Man schrieb den 6. Juli 1473.

Viele Zeitgenossen vermuteten, daß der Tod des im rüstigsten Mannesalter stehenden Fürsten kein natürlicher gewesen sei; es wurde von Vergiftung gesprochen. Die Feinde Venedigs behaupteten, die Venetianer hätten sich des Königs, dessen sie nach der Heirat nicht mehr bedurften, entledigen wollen, um durch Katharina freie Hand auf Cypern zu haben. Andere gaben den Anhängern der vertriebenen Königin Charlotte, die jetzt in Rom lebte, schuld an dem schnellen Tode, und noch andere wollten wissen, der König von Neapel habe sich an König Jakob rächen wollen, weil dieser sich nicht hatte abhalten lassen, sich mit den in Neapel verhaßten Venetianern zu verbünden. Keine dieser Beschuldigungen konnte erwiesen werden, am wenigsten die gegen den Senat von Venedig.

Im August 1473 wurde der Königin ein Sohn geboren, der nun als Jakob III. zum König ausgerufen wurde. Die Schwäche der von der Königin und der Regentschaft im Namen eines Kindes geführten Regierung ermutigte die Parteigänger der Königin Charlotte und des Königs von Neapel zu einem Aufstande, an dem sich selbst der Erzbischof von Nicosia beteiligte. Die Aufständischen gewannen in Famagusta, wo die Königin eben weilte, die Oberhand, drangen in den königlichen Palast, töteten mehrere Leute in der Umgebung der Königin, darunter ihren Leibarzt und ihren Oheim Andreas Cornaro, und raubten ihr, während sie sich und den jungen König mit Mühe in Sicherheit brachte, Juwelen, Silbergeschirr und eine Summe von 60000 Dukaten. Der Admiral oder, wie man damals noch sagte, der Generalkapitän der venetianischen Flotte, welche zum Schutze der Fürstin und ihres Sohnes nach Cypern abgeschickt worden war, kam zu spät, um diese Gewaltthaten zu hindern, konnte aber noch einige der Uebelthäter in Haft nehmen. Die am Aufstand beteiligt gewesenen natürlichen Söhne König Jakobs II., Eugen und Johann, wurden ergriffen, nach Padua geschafft und dort bewacht, entkamen aber ihren Hütern und suchten nun an fremden Höfen Hilfe gegen die Venetianer. Da starb der kleine König Jakob III. im Alter von einem Jahr, und nun sahen Eugen und Johann sich zur Erbfolge um so mehr berechtigt, als die Krone von Cypern ohnehin wiederholt an natürliche Söhne der Könige vererbt worden war, auch die Königin Charlotte erneuerte ihre Ansprüche. Um diesen Anfeindungen und Begehrlichkeiten entgegenzutreten, sandte der venetianische „Rat der Zehn“ Truppen nach der Insel, besetzte die wichtigsten Festungen und ließ die Verwaltung des kleinen Reiches durch drei venetianische Senatoren überwachen. Marco Cornaro und seine Gemahlin Florenza begaben sich mit Erlaubnis des Senates nach Nicosia, um ihrer Tochter tröstend und beratend zur Seite zu stehen. Katharina herrschte nun einige Jahre als Königin über die sagenumwobene, für die Abendländer halb märchenhafte Insel, auf der sie zugleich die schönste Frau war.

Doch die Lage, welche durch die Anordnungen des venetianischen Senates auf Cypern geschaffen worden war, erwies sich auf die Dauer als unhaltbar. Katharina sah sich in der Ausübung ihrer königlichen Machtbefugnisse mehr und mehr eingeengt. Anfangs äußerten die venetianischen Bevollmächtigten ihr gegenüber nur Wünsche und erteilten ihr Ratschläge; aber bald erließen sie Verbote und Befehle. Es ist wahrscheinlich, daß der „Rat der Zehn“ die Bevollmächtigten im geheimen angewiesen hat, der Königin das Regieren zu verleiden. Zeitweilig gingen sie darin weiter, als sie sollten, wie denn die Königin und ihr Vater in ihren an den Dogen gerichteten Briefen sich bitter über die Rücksichtslosigkeit der Senatoren beklagten. Diese zahlten ihr nicht einmal die Summe von 8000 Dukaten pünktlich aus, welche ihr von den Landeseinnahmen jährlich zufließen sollten, behinderten sie in der Wahl ihres Aufenthaltsortes und ihrer Spaziergänge und verlangten die Einsicht in alle Briefe, welche sie empfing oder abschickte. Auf ihre wiederholten Klagen sorgte der „Rat der Zehn“ für pünktliche Auszahlung des Jahrgeldes und für größere Rücksicht der Bevollmächtigten im persönlichen Verkehr mit der Königin, aber die Ueberwachung, unter der man sie hielt, verschärfte sich nur. Um die völlige Besitzergreifung der Insel seitens der Venetianer zu hintertreiben, faßten die Feinde der Republik den Plan, die junge königliche Witwe mit einem natürlichen Sohne des Königs von Neapel zu vermählen und dieses Paar unter Ausschluß der Venetianer über die Insel herrschen zu lassen. Vielleicht hat Katharina, der die Bevormundung durch die venetianischen Senatoren immer drückender wurde, dem Plan zugestimmt, eine der Frauen in ihrer Umgebung unterhielt Beziehungen zur neapolitanischen Partei. Aber der venetianische „Rat der Zehn“, der seine Spione überall hatte, erfuhr von der Sache, und nun waren die Tage der Herrschaft Katharinas gezählt. Da ihre Eltern inzwischen nach Venedig zurückgekehrt waren, sandte der Senat ihren Bruder Georg zu ihr mit dem Auftrage, sie zur Abtretung ihres Reiches an den venetianischen Senat zu überreden. Der venetianische Admiral vor Cypern erhielt gleichzeitig den geheimen Befehl, die Königin im Notfall zwangsweise nach Venedig zu schaffen.

Der 26. Februar 1489 war der Tag, an dem die Königin Katharina, den Vorstellungen ihres Bruders nachgebend, auf dem Hafenplatze von Famagusta ihrer Thronrechte feierlich entsagte. Sie überreichte dem Admiral eine venetianische Flagge, die dieser nun auf dem Platze aufhissen ließ. In demselben Augenblicke sank auf allen Festungswerken und Schiffen das Königsbanner der Lusignan für immer nieder und wurde durch das Löwenwappen der venetianischen Republik ersetzt. Am 19. März schiffte sich Katharina nach Venedig ein; schluchzend geleiteten viele Cyprioten ihre schöne blonde Königin, mit der sie ihre Unabhängigkeit verloren, bis an das Schiff.

In der Nähe von Venedig erwarteten dann Hunderte von Galeeren und Gondeln, das Staatsschiff des Dogen an der Spitze, die entthronte Königin. Glockengeläut, Geschützsalven und Beifallsrufe ertönten, als der Doge mit der in schwarzen Sammet gekleideten und mit Juwelen geschmückten Fürstin am Marcusplatze landete. In feierlicher Versammlung erklärte sie noch einmal, daß sie ihr Reich dem venetianischen Staate schenke. Nach einem Prunkmahle kehrte sie in den Palast ihrer Eltern zurück.

Der venetianische Senat ließ der Königin ihre Titel und ihr Jahrgeld und beschenkte sie außerdem mit der reichen, in den [380] Vorbergen der Alpen anmutig gelegenen Herrschaft Asolo, wo sie die Rechte einer Souveränin ausübte. Die Feste, welche sie, gastfrei, lebensfroh und prachtliebend, bald in Venedig, bald in dem von Garten- und Parkanlagen umgebenen Schlosse von Asolo veranstaltete, blieben den Teilnehmern in bewundernder Erinnerung. Der Krieg, den die großen europäischen Mächte zu Anfang des 16. Jahrhunderts gegen Venedig führten, ließ die Fürstin hoffen, Cypern noch einmal wiederzugewinnen; aber die Hoffnung war trügerisch. Nach kurzer Krankheit starb Katharina am 9. Juli 1510 zu Venedig, 56 Jahre alt. In der Salvatorkirche bezeichnet eine lateinische Inschrift die Ruhestätte der Königin Katharina von Cypern, Armenien und Jerusalem.

Maler, Bildhauer, Dichter und Musiker haben bis auf unsere Tage gewetteifert, das Andenken der Königin zu feiern und zu erneuern. Bilder, welche als Abbildungen Katharinas bezeichnet werden, finden sich in allen großen Museen Europas. Nur wenige Bilder entsprechen den begeisterten Schilderungen, welche die Zeitgenossen von der Schönheit der Fürstin entwerfen, und diese wenigen stimmen untereinander nicht überein. Es erklärt sich dies daraus, daß nur zwei der vorhandenen Abbildungen von einem Maler herrühren, der Katharina selbst noch gekannt hat, nämlich von Gentile Bellini, und der malte sie im letzten Jahrzehnt ihres Lebens, als sie bereits eine alternde Frau war. Tizian, dem das Porträt zugeschrieben wird, das sich in den Uffizien zu Florenz befindet und dessen Abbildung diesen Aufsatz begleitet, war ein Schüler Gentile Bellinis und erlebte in seiner Jugend auch noch die Zeit, in welcher die entthronte Königin von Cypern wieder in Venedig weilte und Schloß Asolo mit ihren Festen belebte. Aber daß er sie in dem Alter, in welchem sie unser Bild darstellt, persönlich porträtiert haben sollte, ist schon dadurch ausgeschlossen, daß er erat in der Zeit ihres Todes überhaupt zu künstlerischer Selbständigkeit gelangte.



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Blauweiß.

Novelle von Theodor Duimchen.


Eine Tagereise südlich vom Kap Hatteras furcht ein schlanker Dampfer die dunkelblauen Fluten des Golfstroms. Ueber dem Steuer weht, rotweiß gestreift, in der Ecke die goldenen Sterne auf blauem Grunde, das Banner der großen amerikanischen Union.

Auf dem obersten Promenadendeck sind unter dem Schutze des blendendweißen Zeltdachs, mit dem es achtern überspannt ist, fast alle Kajütenpassagiere versammelt; es ist der einzige erträgliche Aufenthalt, man hat hier oben wenigstens Luft, in den geschlossenen Räumen unten ist die Hitze nicht auszuhalten.

Kinder spielen mit bunten Bällen, die, von einem dünnen Kautschukfaden gehalten, immer wieder in die Hand zurückkehren. Damen liegen, plaudernd oder lesend, lang ausgestreckt in niedrigen Klappstühlen oder sitzen in Schaukelstühlen, die die zierliche Fußspitze in steter Bewegung hält. Einige Herren gehen auf und ab, Cigarren, Cigaretten, oder die kurze gerade amerikanische Shagpfeife im Munde. Die Herren sind sehr wohlerzogen und, wie es scheint, alles befahrene Leute: wer raucht, hält sich auf der Backbordseite, die heute „unter dem Winde“ ist, der, leise von Florida herüberwehend, leicht und angenehm den Dampfer steuerbords trifft.

Ganz hinten am Heck steht ein Herr über das Schiffsgeländer gebeugt und sieht ins Kielwasser hinab, wo die Schraube weiße Schaummassen aufquirlt, die, blitzend und blendend für einen Augenblick, sich gleich darauf wieder auflösen, beruhigen und dieselbe tiefe, satte Bläue annehmen wie zuvor.

Soweit das Auge reicht, dehnt sich das Meer, glatt wie ein Spiegel, leuchtend in Glut und Farbe.

Der junge Mann ist etwa vierundzwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt. Ein schöner Mensch; trotz seiner bequemem, gebückten Haltung sieht man, daß er von ungewöhnlicher Größe ist, die breiten Schultern und Hüften, der sehnige Nacken verraten außerordentliche Körperkraft, in dem fein, aber energisch geschnittenen sonngebräunten Gesicht blitzen hellblaue scharfe Augen. Gekleidet ist er in den Anzug, den New Yorker Schneider von Rang zahlungsfähigen Kunden „aus den vierhundert“ für einen der beliebten Spätherbstausflüge nach Kuba in ganzen oder halben Dutzenden zu bauen pflegen, die weiten Beinkleider und der elegante Sacco sind von feinstem weißen Kaschmir. Eine flache Mütze aus demselben Stoff bedeckt das kurzgehaltene blonde Haar, ihr breiter wagerecht abstehender Schirm aus dünnem Schildpatt schützt die Augen. Die Füße stecken in niedrigen, fast absatzlosen Schuhen aus hellgrauem Waschleder.

Jetzt breht er sich um und richtet sich zu voller Höhe auf. Eine Freude für jeden Beschauer steht er da, der leise Wind schmiegt das faltige, weißseidene Hemd gegen die mächtige Brust und spielt mit den Enden des schwarzen Halstuchs und den Zipfeln einer gleichfarbigen Schärpe, die er als Gürtel trägt. Seine lachenden Augen fliegen über das Deck hin und bleiben an einer schlanken Frauengestalt haften, die, in Spitzen und Musselin gehüllt, im langen Stuhl ausgestreckt, die Arme erhoben und die Hände unter den reizenden Kopf gelegt, ins weite Meer hinausträumt.

In einem Schaukelstuhl neben ihr sitzt eine ältere, grauhaarige Dame mit Lesen beschäftigt, und vor den beiden kauert ein Mulatte. Orangen, Zucker, Gläser und der „Pitcher“, die allgegenwärtige amerikanische Silberkanne mit Eiswasser, stehen auf einer Platte neben ihm. Der schlanke, hellfarbige Bursche scheint sehr an seiner jungen Herrin zu hängen, seine runden, schwarzen Augen verlassen sie fast keine Sekunde. Und so ihres leisesten Winkes gewärtig auf den untergeschlagenen Beinen ruhig dazusitzen, muß ihm eine angenehme Pflicht dünken, ein ungemein vergnügtes Lächeln hat sich auf seinem gelblichen Gesicht dauernd niedergelassen und die blendend weißen Zähne verschwinden höchst selten einmal und dann nur für ganz kurze Zeit hinter den ein wenig dicken, hochroten Lippen. Jetzt fährt sein Kopf herum, denn eben ruft es vom Heck her: „Ich sage Dir, Kate, komm’ doch nur einmal her, dieses niederträchtige Vieh ist wirklich unterhaltend.“

Kate, von allen Freunden der Familie und, was etwas mehr sagen will, sogar von fast allen Freundinnen, nach einem eben in der nordamerikanischen Lesewelt sehr beliebten Roman gewöhnlich Bonny Kate, „Schön Kätchen“, genannt, hebt auf den lauten Zuruf erst den Kopf und dann den Oberkörper. Ein fröhliches Lächeln zieht über ihr Gesicht, als sie ihren Bruder ansieht, sie haben ersichtlich Freude aneinander.

Als sie sich erhebt und langsam auf ihren Bruder zuschreitet, bleiben einige der auf und ab gehenden Herren stehen und folgen ihr dann nach dem Hinterdeck. Auch ihre Gesellschaftsdame, Mistreß Stiffings, und einige andere Damen werden neugierig, trennen sich von ihren bequemen Stühlen und vergrößern die Gruppe.

Kate blickt, neben ihrem Bruder über das Geländer gelehnt, ins Meer.

„Da, da, siehst Du ihn?“ fragt er und deutet mit dem Finger nach einem Hai, der in immer gleich bleibender Entfernung von wenigen Metern dem Schiffe folgt. Dicht unter der Oberfläche schießt das rießge Tier dahin, so dicht, daß zuweilen seine dreieckige Rückenflosse aus dem Wasser auftaucht.

„Beneidenswerte Flossenmuskeln hat das Scheusal,“ sagt Johny, „seit gestern um diese Zeit folgt er uns, genau in der Geschwindigkeit unseres ‚Kolumbus‘.“

„Und leicht, wie’s scheint,“ antwortet seine schöne Schwester lachend, „es würde ihm auf einige Knoten mehr auch nicht ankommen, glaub’ ich.“

„So sieht’s aus, in der That. Neugierig, wann er es satt bekommt.“

„Ueberhaupt nicht,“ fällt einer der andern Herren ein, dem Aussehen nach ein Kubaner. Er hat spanisch gesprochen, das der Amerikaner nicht versteht wie die meisten seiner Landsleute; die mit Kuba Geschäfte machen, nicht ausgenommen. Die Kubaner von einiger Erziehung lernen eben fast alle Englisch. Auch Johnys Nachbar wiederholt sich sofort in tadellosem Englisch, als jener verständnislos aufsieht. „Nicht vor dem Hafen?“ fragt John Arlington, „Sie wollen doch nicht sagen, daß er das bis Havanna aushält?“

[381]

Bettelvolk in Toledo.
Nach dem Gemälde von Ric. de Madrazo.

[382] „Sicherlich will ich das, er wird mit uns den Morro passieren und mit uns in die Bai einlaufen.“

„Nun, vor der Boca wird er schon umkehren,“ meint ein anderer Mitreisender. „Durch die enge Hafenmündung zwischen dem Leuchtturm und der Punta gehen sie doch in der Regel nicht mit.“

„Der alte Herr da ohne Frage,“ erwidert der erste. „Je älter, desto frecher. Er hat es ja viel zu gut bei uns, unsere Küche füttert ihn geradezu, und die Hoffnung verläßt ihn nicht, daß einer von uns oder den Matrosen ein bißchen über Bord fällt.“

„Da kommen ein paar Kohlköpfe angeschwommen,“ ruft ein kleines Mädchen.

Richtig, man hatte sich in der Küche eben wieder von einigen nicht mehr ganz tadellosen Lebensmitteln befreit. Die Schiffsverwaltung hält auf guten Ruf, auch was den Tisch anbetrifft, den sie ihren Fahrgästen deckt, und die Speisen verderben rasch unter der Tropensonnc. In dem Augenblick, wo die Köpfe ins Kielwasser des Schiffes gelangen und in den Schaumwellen der Schraube auf und nieder tanzen, schießt der Hai heran. Im Herankommen legt er sich auf den Rücken, der weiße Bauch glänzt dicht an der Oberfläche des Wassers in der Sonne, der entsetzliche Rachen klappt auf und wieder zu, die Kohlköpfe sind verschwunden und der Hai schwimmt wieder in der Entfernung von vorhin hinter dem Schiff her, als sei nichts geschehen.

„Grotesker Kerl,“ sagt Johny. „Sehr angenehmes Gefühl, nicht neben den Kohlköpfen im Wasser gelegen zu haben.“

„Sicherlich,“ sagt der Herr von vorhin, „er hätte Fleisch dem Gemüse vorgezogen.“

„Ich finde es impertinent, mit dieser beharrlichen Bosheit hinter unserem Schiffe her zu schwimmen, in der Erwartung, daß wir ihm in den Rachen fallen,“ rief ein anderer. „Wollen wir ihm das nicht abgewöhnen? Revolver sind ja wohl genug vorhanden.“

„Werden ihm wenig Schaden thun,“ sagte der Kreole trocken, „höchstens Kugeln in den Bauch oder in den Rachen werden ihn etwas ärgern.“

„Glorreiche Idee,“ rief Johny. „Ein ausgezeichnetes Mittel, die Zeit totzuschlagen, ist es jedenfalls.“ Und zu seiner Schwester gewandt, setzte er hinzu: „Ganz gute Vorübung, auf die Haifischjagd sind wir ja doch ausgezogen, Don Antonio Carvajal sieht dem Kerl da unten vermutlich sehr ähnlich.“

Seine Schwester warf ihm einen schnellen warnenden Blick zu, und während sie ihn ansah, schüttelte sie fast unmerklich den reizenden Kopf, als wollte sie sagen: wie unvorsichtig, wie unvorsichtig wieder einmal, mein bester Johny. Ich bin ja so stolz auf dich, du schöner, braver, ritterlicher lieber Mensch, aber gescheit wirst du doch wirklich nie.

Hätte sie den Blick bemerkt, mit dem der dunkle Herr, der jetzt dicht hinter ihr stand, kurz aufgesehen hatte, als der Name Antonio Carvajal an sein Ohr schlug, sie würde noch besorgter den Kopf geschüttelt haben. Sie bemerkte ihn aber nicht, und als der Herr gleich darauf wieder mit in das Gespräch eingriff und sie sich auf seine Frage, ob die Damen an dem Sport teilnehmen würden, mit einem lustigen „Versteht sich, natürlich“ zu ihm wandte, da war ihm ganz und gar nichts davon anzumerken, daß ihm irgend etwas auch nur entfernt auffällig gewesen wäre.

Man beteiligte sich rege an der Ausführung des Gedankens. Der Hai wird gründlich, abgründlich gehaßt von allen, die auf Salzwasser fahren, und dieser Haß hat soviel Naturwüchsiges, soviel Echtes an sich, daß er sich auch auf die Neulinge sofort überträgt.

Zunächst wurde, wie sich das an Bord gehört, zum Kapitän mit der Anfrage geschickt, ob er etwas dagegen hätte, daß auf des Dampfers treuen Begleiter ein kleines Scheibenschießen veranstaltet würde. Der schwarze Steward, den man mit der Sendung beauftragt hatte, war grinsend abgezogen und Kapitän Nellan, der schleunigst die Erlaubnis persönlich brachte, lachte dabei über das ganze Gesicht.

Die Sache schien ihm übrigens nicht ganz neu zu sein, denn er gab sehr sachkundige Ratschläge.

Die Herren hatten inzwischen die Waffen heraufgeholt. Johny kam mit zwei Pistolen an, einem großen Coltschen Marinerevolver und einem kleineren, zierlicheren und kostbareren, den er seiner Schwester mit einem „Da bist Du“ überreichte.

Die Patronen hatte er lose in die Hosentaschen gesteckt, rechts trug er die für seine Schwester, deren fein gearbeiteten fünfschüssigen Revolver er zuerst lud, dann bediente er sich selbst aus der linken Tasche.

Der farbige Diener der Geschwister, Bob, war dem Kapitän zur Verfügung gestellt worden, der ihn in die Küche, in die Offiziersmesse und die Leutekojen geschickt und ihn dann neben einen Haufen allerlei zusammengeschleppter Dinge vorn im Bug des Dampfers an Backbord aufgestellt hatte.

Den Passagieren gab der alte, ausgewetterte Schiffsleiter genaue Anweisungen: „Also, meine Damen und Herren, Sie stellen sich hier hinten nebeneinander am Geländer auf, so, die Reihe nach Backbord herum, damit Sie die Brise nicht im Gesicht haben; sobald ich ‚Los‘ rufe, wirft der Bursche vorn jedesmal etwas für den Herrn Hai über Bord. Während der Leckerbissen längsseits nach hinten treibt, machen Sie sich fertig; sobald der Kerl schnappt, geben Sie Feuer, die ersten beiden Male aber noch nicht. Da zielen Sie nur alle zur Probe und richten sich hübsch ein, erst müssen wir den Bummler etwas sicher machen, dann wollen wir ihn narren.“

Man ordnete sich. Außer Fräulein Arlington trat noch eine andere junge Dame mit an, die aber durch die Art, wie sie mit ihres Papas Revolver hantierte, gefährlicher für die Nachbarn als für den Hai zu werden drohte; Herren waren es sieben oder acht.

„Reguläre Breitseite,“ schmunzelte Kapitän Nellan, „der alte Herr dahinten wird sich wundern.“

Hinter der „Schützenkette“ standen jetzt alle andern Passagiere und sämtliche Kinder drängten sich dazwischen, mit äußerster Spannung der Dinge harrend, die da kommen sollten.

Kapitän Nellan stellte sich gerade unter der Kommandobrücke auf, die das Promenadendeck noch um etwa zwei Meter überragte. Er konnte von da aus bequem den Mulatten vorn am Bug und seine Passagiere hinten am Heck sehen. Ueber ihm schritt der erste Offizier, der die Wache hatte, auf und ab; wenn er in der Mitte der Brücke hinter dem Mann am Steuerrad vorüberkam, warf er zuweilen einen flüchtigen Blick auf das Kompaßhäuschen, ob er auch stetigen Kurs auf Havanna hielt: Südsüdwestbeisüd. Das war alles, was er thun konnte, denn wie eine Tischplatte lag die dunkelblaue See da, ebenso tiefdunkelblau glühte wolkenlos der Tropenhimmel darüber, kein weißes Segel, so weit das Auge reichte, keine schwarze Dampferwolke bis an den fernen Horizont!

Auch der Offizier auf der Kommandobrücke interessierte sich für den Scherz, der sich unten vorbereitete und dessen Verlauf er noch besser als alle andern verfolgen konnte.

„Los!“ rief jetzt der Kapitän dem Mulatten zu, ein mächtiges Stück Fleisch flog über Backbord in die See und trieb rasch längsseits nach hinten.

„Nicht schießen, nur zielen, meine Damen und Herren,“ rief Nellan nach dem Heck.

Die Schützen gerieten in Bewegung, die Waffen hoben sich. „Da, da!“ schrieen die Kinder, der Hai hatte das Fleisch bemerkt, wie ein Pfeil schoß er darauf zu, die Rückenflosse teilte die Schaumwellen des Dampfers, mit einem Ruck drehte er sich, der weiße Bauch glänzte einen Augenblick dicht an der Oberfläche auf und verschwunden waren Fleisch und Fisch.

„Aha“, sagte Johny Arlington, „den Bissen verzehrt er in Ruhe.“

So war es, der Räuber war in die Tiefe getaucht. Es währte aber kaum zwei Minuten, da war er wieder da. Diesmal dichter am Schiff und schon an Backbordseite.

„Das hat ihm geschmeckt,“ meinte Kapitän Nellan höhnisch, der sich mittschiffs über die Brüstung gebeugt hatte. „Warte nur, wir wollen Dich noch zahmer machen, alter Bursche. Also, Herrschaften, noch einmal nicht schießen.“

„He, Bob, los!“ Wieder flog ein Stück Fleisch ins Meer. Es war noch etwas größer als das erste. Wieder verschlang der Hai es im Nu, wieder schoß er damit in die Tiefe und wieder tauchte er kurz darauf neben dem Schiffe empor, noch näher als vorhin, halb längsseits, gerade unter den Revolvern der Passagiere.

„Nun im Ernst,“ rief jetzt der Kapitän, „Achtung, Bob, los!“

Es klatschte diesmal hohl aufs Wasser, und lautes Gelächter erhob sich am Heck unter Schützen und Zuschauern, als ein Cigarrenkistchen leicht auf dem Wasser herangetanzt kam.

Der Hai war sicher und gierig geworden durch die großen Fleischstücke, die so gefahrlos und so lecker gewesen waren, blind fuhr er auf den neuen guten Bissen los, im Nu lag er auf dem Rücken, der riesige Rachen mit den entsetzlichen Zahnreihen klappte auf – [383] da krachten oben die Schüsse und im Schlunde fühlte er splitterndes Holz, Sägespäne und einige große Nägel, mit denen das Kistchen gefüllt gewesen war.

Er nahm die Treulosigkeit gewaltig übel zur ausgelassenen Freude der schlechten Menschen oben an Bord. Von den Revolverkugeln schien wenigstens ein Teil gut getroffen zu haben, wütend peitschte er mit dem gewaltigen Schwanz die See und verschwand in der Tiefe, begleitet von dem schadenfrohen Gelächter der Passagiere, des Kapitäns, des Offiziers und Bobs. „Hoffe, Sie bald wiederzusehen, Herr Hai,“ hatte ihm Kapitän Nellan nachgerufen. Herr Hai war aber allem Anschein nach allzu empört über das geschmacklose Benehmen dieser Damen und Herren. Man wartete fünf, zehn Minuten, er kam nicht wieder.

Bob mußte noch ein Stück Fleisch und einen großen Kohlkopf über Bord werfen; sie wurden aber verschmäht oder nicht bemerkt. Unberührt trieben sie längsseits, wurden in die Schaumwellen der Schraube gequirlt, trieben weiter im Kielwasser des Schiffes zurück und verschwanden endlich am Horizont.

Man ward des Wartens rasch müde und als nun, um fünf Uhr, der tönende Gong zum Mittagsessen in den Speisesaal rief, da leerte sich das Promenadendeck in wenigen Minuten.

Nur der schwarzbärtige Herr mit den scharfen Zügen, der vorhin Johny spanisch angeredet hatte, blieb etwas zurück mit noch einem andern, der den amerikanischen Typus fast als Karikatur zeigte. Er sah aus, als wäre er aus einem englischen Witzblatt herausgeschnitten, das sich über die zum „Uncle Sam“ personificierten transatlantischen Vettern lustig macht; großkarrierte weite Beinkleider, langen Gehrock und grauen Cylinderhut trug er bei der Hitze, den Cylinderhut weit im Genick. Auch sein Bart war ganz orthodox national geschnitten, Wangen und Lippen aufs sauberste rasiert, der Kinnbart stark entwickelt und wohl gepflegt.

Die beiden waren im Gespräch, der Kreole schien den Amerikaner etwas mit Bezug auf Fräulein Arlington gefragt zu haben, die mit ihrer Frau Stiffings eben die Treppe zum Speisesaal hinunterstieg.

„Jawohl, aus Boston stammen sie. Bin auch aus Boston. Beamter der Bostoncr Eis-Gesellschaft. Revidiere die Filialen in Havanna und Matanzas. Die Arlingtons, ja! Gehören zu den ersten Familien. Schwer reich. Kenne die Leute sehr genau. Frau Stiffings, frühere Erzieherin, jetzt Gesellschafterin von Fräulein Arlington, ist so eine Art Verwandte von mir. Ob die Arlingtons im Handel sind? Natürlich sind sie im Handel. Zuckerraffineure. Hervorragender Mann im Ring, der Alte. – Ob die Firma Interessen auf der Insel hat? Sicher hat sie. Das ganze Kuba arbeitet ja mit amerikanischem Gelde. Die Arlingtons sind bei Ruiz Carvajal y Compania mit einer Million Dollar beteiligt.“

Der Schwarzhaarige schien genug gehört zu haben. „Hübsche Dame Fräulein Arlington,“ sagte er auf der Treppe.

„Hübsch?“ sagte Bruder Jonathan etwas mißbilligend, „schön! Und ein amerikanisch Mädel ersten Ranges ist sie, in der That.“

„Wie konntest Du nur so unklug sein,“ fragte die Besprochene soeben leise ihren Bruder, als er unten an der Tafel neben ihr Platz nahm. „Wie leicht kann irgend ein Bekannter Don Antonios an Bord sein! Daß Du doch nie vorsichtig wirst!“

Ein Schatten flog über ihres Bruders hübsches, energisches Gesicht, gleich darauf aber lachte er schon wieder.

„Möglich, daß meine Diplomatie nicht weit her ist, Bonny Kate, aber ich habe auch keine nötig. Was liegt daran, ob er ein paar Stunden früher erfährt, was er doch sehr rasch merken wird, wenn Papa mit seinem Verdachte recht hat. Ich führe eine feste Hand und habe Augen im Kopf. Für die Bücher habe ich, wenn nötig, Deiner guten Stiffings Vetter. Der ist ja Oberspecialist darin. Nebenvollmacht nach mir hat ihm ‚Pa‘ für alle Fälle ja schon gegeben. Was brauch’ ich mehr?“

*  *  *

Am zweiten Tag darauf gegen Abend ging der „Kolumbus“ in der Bai von Havanna vor Anker.

Havanna ist nie schöner, als wenn man es nach mehrtägiger Seereise zum erstenmal sieht. Es machte einen gewaltigen Eindruck auf die Amerikaner, die Kuba noch nicht kannten. Fräulein Arlington war hingerissen, als ihr Schiff langsam an dem felsigen Vorsprung des Morro und der Punta vorüber und durch den engen „Mund“ des Hafens dampfte, als das weite Becken der Bai sich den Blicken öffnete, völlig umschlossen, auf der einen Seite von der Hügelkette von Guanabacoa, auf der andern von der herrlichen Stadt, die mit ihren weiß, rosenrot und himmelblau schimmernden Häusern zwischen Gärten und Palmenhainen leise anstieg bis zu dem im Hintergrund liegenden Fort El Principe und den Villenvorstädtcn von Cerro, Quemados und Marianao.

Die bevorstehende Ankunft des Postdampfers war durch die Flaggensignale des Hafenforts der ganzen Stadt angezeigt gewesen, und als er beidrehte, schossen von allen Seiten die Boote unter weißen dreieckigen Lateinersegeln heran. Spanische, englische, französische, deutsche Rufe schallten durcheinander, und als die Fallreeptreppe herabgelassen war, lag binnen wenigen Augenblicken eine ganze Flottille von „Lanchas“, dicht aneinander vertäut, am Dampfer und zahlreich drängten Freunde, Bekannte und Verwandte herauf, die Ankommenden zu begrüßen.

Unter den Ersten war eine junge Dame; schon von der Treppe her sandte sie fröhlichen Zuruf vorauf, als sie Fräulein Arlington erblickte, und jubelnd flog sie ihr dann um den Hals.

„Merci, liebste Merci, das ist ja zu nett von Dir, hier heraus zu segeln,“ rief Bonny Kate, als die Küsse sie zu Wort kommen ließen, und grüßte dann höflich nach dem Wasser hinunter, wo die Dueña ihrer reizenden Freundin ruhig unter dem kleinen weißen Leinendach im Boot sitzen geblieben war, dem Rate folgend, den ihr Schützling der schon etwas ältlichen Dame liebenswürdigerweise gegeben hatte. Sie hätte nur über zwei, drei andere Boote hinweg an Bord des Dampfers gelangen können, die früher angekommen, also naher an der Treppe angebunden waren und die nun in den Wellen der Bai auf und ab tanzten, sich stießen und drängten, bald schrittweit auseinander lagen, bald sich hart aneinander scheuerten. Es war sicherer, zu bleiben, wo sie war, und Mercedes Morales durfte man schon ruhig einmal sich selbst überlassen. Sie winkte Kate Arlington, die sie von New York her schon kannte, noch immer lebhafte Grüße hinauf, als diese schon ihren Bruder mit den Augen suchte. Er stand wenige Schritte davon, eben stellte sich ihm in verbindlichster Form ein schlanker junger Herr mit den englischen Worten vor: „Antonio Carvajal hat ohne Zweifel das Vergnügen, Herrn John Arlington zu begrüßen?“

Auf den Ruf seiner Schwester wandte sich der Angeredete aber, sah die beiden jungen Mädchen, machte sich von Herrn Carvajal mit einem kurzen: „Ja, Herr, erfreut, Sie zu sehen, einen Augenblick bitte,“ los und eilte mit ausgestreckten Händen auf Fräulein Morales zu.

Donna Mercedes und ihr Bruder waren in New York erzogen worden, Mercedes in derselben Pension wie Kate Arlington, bei Mademoiselle Arnaud. Aus jener Zeit stammte die Freundschaft der Geschwisterpaare. Merci – ihr Spitzname war auch im Institut Arnaud erfunden worden – und Johny schienen sehr gute Freunde zu sein, nach der Lebhaftigkeit zu urteilen, mit der sie sich begrüßten.

„Ist sie nicht noch hübscher geworden?“ fragte Kate ihren Bruder.

„Kein Gedanke,“ antwortete er, „wäre vollkommen unmöglich gewesen.“

Mercedes lachte. „Sie sind ein Schmeichler geworden,“ sagte sie. „Ich hätte das nie für möglich gehalten an dem Tage, da ich Sie zum erstenmal sah. Erinnern Sie sich noch des ersten Fußballkampfes, auf der ich Ihrer Schwester zu Gefallen die blauweißen Farben Ihres Klubs trug? Sie großer Junge waren schön grob zu mir armem kleinen Mädchen, als ich nicht gleich begreifen konnte, weshalb und nach welchen Regeln sich die vielen Menschen herumbalgten.“

„Nun, ich habe mich aber doch damals Ihrer Erziehung in lobenswertester Weise angenommen.“

„Unzweifelhaft, ich bin Ihnen auch ewig dankbar dafür. Ich habe meinen Bruder zu entschuldigen, er kommt erst heute abend von Veracruz zurück. Wir hofften, der mexikanische Dampfer würde vor dem Ihrigen hier sein. Mein Bruder wollte Sie dann mit empfangen. Nun müssen wir es umgekehrt machen. Wir holen ihn nachher ab, der ‚Juarez‘ ist ebenfalls schon signalisiert und muß jeden Augenblick eintreffen.“

„Reizend,“ rief Bonny Kate. „Euer Havanna ist so wunderschön, wir steigen in Dein Boot und segeln so lange in der Bai.“

„Jawohl,“ sagte Mercedes, „so hatte ich es auch mit Papa überlegt. Unsere Wagen warten am Hafenquai, dicht am Zollamt. Euer Gepäck geht voraus, unser Diener Pedro ist mit einer [384] eigenen Lancha da, Dein Bruder muß ihm die Papiere geben. Sobald Enrique ankommt, fahren wir dann alle zusammen hinaus.“

„Nur meine Schwester und Frau Stiffings werden von Ihrer Gastfreundschaft Gebrauch machen können,“ sagte John Arlington, „ich muß leidiger Geschäfte wegen in der Stadt wohnen. Im ‚Hotel Telégrafo‘ sind Zimmer für mich bestellt, Bob bleibt bei mir.“

„O, schade,“ sagte Mercedes, „Papa hatte fest darauf gerechnet, daß ... und es ist doch viel gesünder, Sie wohnen draußen.“

Ihrem Gesichtsausdruck nach schien Fräulein Mercedes anzunehmen, daß ihr Papa es ganz ungemein schmerzlich empfinden würde, daß der Sohn eines alten Freundes nicht bei ihm im Hause wohnen wollte. John Arlingtons Antlitz aber hellte sich daraufhin merkwürdigerweise außerordentlich auf und er sagte schnell: „Wenn sich die Geschäftsangelegenheiten rasch abwickeln, erlauben Sie mir vielleicht, daß ich später noch einige Zeit hinausziehe zu Ihnen.“

Und als die junge Dame eifrig erwiderte: „Aber ja, gewiß, das ist ein sehr guter Gedanke, wir rechnen bestimmt darauf,“ da wurde sein Gesicht noch etwas vergnügter.

„Schön, abgemacht,“ schloß Johny, „dann will ich schnell das Nötige besorgen.“ Und damit verließ er grüßend die beiden jungen Mädchen, wandte sich zunächst mit Pedro, den seine junge Herrin herangewinkt hatte, nach der Luke, wo die Gepäckstücke der Passagiere aus dem Raum heraufgewunden wurden, und nachdem er dort den Diener angewiesen hatte, sah er sich wieder nach Don Antonio Carvajal um.

Als er ihn vorhin verlassen hatte, um Mercedes zu begrüßen, war der schwarzhaarige Herr mit dem spitzen Kinnbart, der unter den Mitreisenden von New York gewesen war, an den jungen Herrn herangetreten mit den Worten: „Guten Tag, Antonio, hüte Dich vor dem Yankee da. Wenn er uns sieht, kennst Du mich nicht. Vorsicht, Vorsicht, ich bin heute abend bei Dir.“

Don Antonios Gesicht war um einen kleinen Schatten gelber geworden, aber keine Muskel hatte darin gezuckt, und als John Arlington jetzt an ihn herantrat, blieb er gleichgültig an der Brüstung lehnen und schnitt die Entschuldigungen des jungen Amerikaners höchst verbindlich und ganz ruhig ab: „Aber ich bitte, Damen gehen immer vor. Namentlich, wenn sie so schön sind,“ fügte er hinzu. „Es scheint, daß ich auch darauf verzichten muß, Ihnen Wohnung in meinem Junggesellenheim anzubieten. Doch ich erkenne bereitwillig an, daß ich zurückzustehen habe.“

„Meine Schwester und Frau Stiffings werden allerdings ihre Wohnung sogleich im Cerro aufschlagen, ich aber will erst in einigen Tagen folgen. Für morgen und übermorgen habe ich mir im ‚Hotel Telégrafo‘ Zimmer bestellt, um Ihr Kontor näher zu haben.“

„Bis dahin werden wir unsere geschäftlichen Angelegenheiten vollkommen beendet haben,“ erwiderte Carvajal, sich höflich aufrichtend. „Ich bitte, jetzt sich durch mich durchaus nicht stören zu lassen. Haben Sie die Güte, sich völlig Ihren Damen zu widmen, denen mich vorzustellen ich Sie demnächst bitten werde. Morgen früh um zehn Uhr, wenn es Ihnen recht ist, werde ich mir erlauben, Sie im ‚Telégrafo‘ abzuholen.“

„Sie sind sehr gütig, ich …“ erwiderte Johny.

„O bitte, bitte,“ unterbrach ihn der Kubaner, und mit einer Verbeugung und grüßender Handbewegung zog er sich zurück.

Kurz darauf sah man ihn in seiner Lancha absegeln, allein. Johny machte seine Schwester auf ihn aufmerksam. „Das ist unser Don Antonio,“ sagte er.

„Ah,“ fiel Mercedes ein, „Don Antonio Carvajal,“ und sie setzte leise hinzu: „man spricht sehr viel von ihm in der Gesellschaft. Er soll ein wilder Spieler und Schlimmeres sein. Seit seines Vaters Tode ist es sehr arg geworden, hör’ ich. Papa fand es dringend nötig, daß einer von Euch einmal hier nach dem Rechten sähe. Das soll Johny wohl besorgen?“

„Allerdings, kleine Weisheit,“ antwortete ihr Kate, „aber wir Mädchen wollen uns darum lieber vorläufig nicht bekümmern und jetzt uns alle beeilen, ins Boot zu kommen. Euer Pedro ist mit dem Gepäck fertig. Da segelt er eben hin mit unserem Bob.“

Bald darauf stieß auch das Boot mit den Freundinnen, den beiden alten Damen und John Arlington ab und Mercedes ließ in der Bai auf und ab kreuzen, um den neuen Ankömmlingen alle Schönheiten des großartigen Landschaftsbildes zu zeigen, bis der mexikanische Postdampfer mit ihrem Bruder ankommen würde.

(Fortsetzung folgt.)




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Die Regenmacher der Neuzeit.

Von M. Hagenau.

Es giebt Wünsche des Menschengeschlechtes, die von Jahrtausend zu Jahrtausend fortleben, obwohl sie niemals in Erfüllung gegangen sind. Ein solcher Wunsch war das kühne Vorhaben, den Flug der Vögel nachzuahmen und sich in die Lüfte emporzuschwingen. Jahrtausendelang wurde an der Lösung dieser Aufgabe ohne den geringsten Erfolg gearbeitet und die „Verständigen“ schauten mit aufrichtigem Mitleid auf die Schwärmer herab, die ihre ersten Flugversuche gleich dem Ikarus der Sage mit ihrem Leben büßen mußten. Aber die jahrtausendelange Arbeit des Menschengeschlechtes hat doch Früchte gezeitigt, und es unterliegt heute keinem Zweifel, daß einmal eine Zeit kommen wird, in der geflügelte Menschen und das lenkbare Luftschiff sicher durch die Lüfte kreuzen werden. Ja, der Mensch, der Beherrscher von Land und Wasser, schickt sich an, auch das Luftreich zu erobern! Ein anderer uralter Wunsch des Menschengeschlechtes geht noch weiter. Der Mensch möchte auch den Wolken, die da hoch am Himmelszelt jagen, gebieten, das ewig wechselnde Wetter regeln, Regen und Sonnenschein nach Belieben verteilen! Im Laufe der Jahrtausende ist dieser vermessene Wunsch ein frommer, unerfüllbarer geblieben, aber trotzdem hat er an seiner das Innere des Menschen bewegenden Gewalt nichts eingebüßt; denn auch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt man sich lebhaft mit der Kunst, Regen zu machen. Der Erfolg ist auf diesem Gebiete bisher völlig ausgeblieben, aber ein Fortschritt ist doch zu verzeichnen; man hat im Laufe der Jahre der Natur so viele Rätsel abgelauscht, hat auch die Natur des Regens besser erkannt und man ist in der Lage, über den Wert vieler der vorgeschlagenen Mittel ein sicheres Urteil abzugeben. Dadurch ist es uns möglich geworden, die Erörterungen über das Regenmachen zweckmäßiger zu gestalten, und in diesem Sinne möchten wir heute auch den Lesern der „Gartenlaube“ einen Ueberblick über die Bestrebungen der modernen Regenmacher bieten. Zunächst aber müssen wir uns vergegenwärtigen, wie der natürliche Regen zustande kommt.

Der allgemeine Kreislauf des Wassers auf Erden ist jedem aus der Schule bekannt: das Wasser der Meere, Seen, Teiche, Flüsse etc. verdunstet und zerteilt sich als Wasserdampf in der Atmosphäre, hier verdichtet es sich zu Nebel und Wolken und fällt wieder als Tau, Regen, Schnee oder Hagel zur Erde. Wie kommt es aber, daß nicht jede Wolke Regen bringt, wie kommt gerade diese Naturerscheinung zustande? Das sind Fragen, die schon ins Einzelne gehen, nicht in jeder Schule erläutert werden und darum auch nicht allgemein bekannt sind. Und doch muß man über diese Fragen eine gewisse Klarheit erlangt haben, bevor man daran geht, Pläne zur künstlichen Erzeugung des Regens zu entwerfen.

Von Bedeutung ist es für unsere Zwecke zunächst, die Beziehungen der Luft und des Wassers zu einander kennenzulernen. Was geschieht, wenn ein Wassertropfen vor unseren Augen verdunstet? Das tropfbar flüssige Wasser verwandelt sich in gasförmiges Wasser, in Wasserdampf, der sich in der Luft zerteilt. Dieser Wasserdampf ist aber völlig klar und durchsichtig und durchaus verschieden von den weißen Wölkchen, die dem kochenden Wasser entsteigen, und die wir im gewöhnlichen Leben Wasserdampf nennen.

Das Vermögen der Luft, Wasserdampf aufzunehmen, ist jedoch beschränkt. In einem Kubikmeter Luft kann sich nur eine bestimmte Menge Wasser in Dampfform auflösen, und zwar hängt diese Menge von der Wärme der Luftmasse ab. Durch genaue Versuche hat man ermittelt, daß 1 cbm Luft bei 0° C. höchstens 4,9 g Wasser aufnehmen kann; ist dies geschehen, dann hört die Verdunstung auf. Je wärmer nun die Luft ist, desto mehr Wasserdampf vermag sie aufzunehmen, so ist sie z. B. bei + 15° C. erst dann gesättigt, wenn in 1 cbm 12,8 g Wasser verdampft sind, und

[385]

Schiffelbord-Spiel an Bord eines transatlantischen Dampfers.
Nach einer Originalzeichnung von Emil Limmer.

[386] bei + 20° C. kann 1 cbm Luft bereits 17,2 g Wasserdampf aufnehmen. Kühlen wir nun 1 cbm 20° C. warmer mit Wasser gesättigter Luft auf 15° C. ab! Was wird alsdann geschehen? Die kälter gewordene Luft wird nicht mehr 17,2 g, sondern nur 12,8 g Wasserdampf behalten können und 4,4 g Wasser werden aus ihr in tropfbar flüssiger Form ausgeschieden. Führen wir diesen Versuch in einer verschlossenen Flasche aus, so sehen wir, daß das überschüssig gewordene Wasser nicht etwa in Form eines Regens auf den Boden niederfällt, sondern sich an den Wänden der Flasche oben und unten niedersetzt, das ganze Innere der Flasche wie mit Tautropfen beschlägt. Wir erfehen daraus, daß das Wasser bei seinem Uebergang aus dem gasigen in tropfbar flüssigen Zustand sich mit Vorliebe auf feste Körper niederläßt. Demselben Gesetze folgt auch das Wasser in der Atmosphäre, auch dort schlägt es sich an festen Körpern nieder. Das klingt beim ersten Anschein unglaublich, denn Hunderte und Tausende von Metern über der Erde giebt es nur Luft, also nur gasige Körper. Mit nichten! In der Luft ist überall Staub vorhanden, überall in ihr, selbst über den höchsten Bergen schweben unendlich viel kleine und kleinste Staubteilchen. In einem Kubikmeter der reinsten Luft, die man bis jetzt auf Bergeshöhen untersucht hat, sind noch Millionen solcher Staubteilchen enthalten. Wir erinnern die Leser der „Gartenlaube“ an die nähere Darlegung der „Rolle des Staubes in der Natur“ im vorigen Jahrgang, S. 192 u. f.

Nehmen wir nun an, daß ein 20° C. warmer mit Wasserdampf gesättigter Luftstrom von der Erde emporsteigt und in den oberen Regionen sich um einige Grade abkühlt! Der überschüssige Wasserdampf wird sich verdichten, ausscheiden müssen und diese Ausscheidung vollzieht sich an der Oberfläche der zahllosen Staubteilchen, die immer in der Luft schweben; nun ist jedes dieser Teilchen mit einer Wasserschicht überzogen und so sind zahllose Wasserkügelchen entstanden, deren Kern stets aus einem Staubteilchen besteht. Diese Anhäufung von Wassertröpfchen erscheint uns, wenn wir sie aus der Ferne betrachten, als Wolke und als Nebel, wenn wir uns mitten in ihr befinden.

Je nach der Menge des Wassers, die sich um den Staubkern niederschlagen konnte, sind diese Tröpfchen bald größer, bald kleiner. Sie sind natürlich schwerer als die Luft und haben an sich das Bestreben, zu fallen, aber die kleineren von ihnen sind ein Spiel jedes Lufthauchs, von dem sie ähnlich wie die Sonnenstäubchen in unseren Zimmern emporgewirbelt werden können. Kommen nun diese Gebilde in wärmere oder trockenere Luftschichten, so kann das Wasser wieder verdunsten und die Wolke löst sich auf, verschwindet, wie wir das so oft an heiteren warmen Tagen am Himmelszelt beobachten können. Nimmt aber die Abkühlung zu, dann schlagen sich auf den Stäubchen immer größere Mengen Wasser nieder; diese größeren Tröpfchen fallen nun rascher, treffen auf andere, mit denen sie sich vereinigen, und gelangen schließlich als Regen auf die Erde.

Nachdem wir diese Bemerkungen über das Wesen der Wolken und des Regens vorausgeschickt haben, wollen wir nun untersuchen, welche Vorgänge in der Atmosphäre zur Entstehung des Regens führen.

Die erste und bei weitem wichtigste Ursache der Regen sind ansteigende Luftströme, weil dieselben stets mit einer Abkühlung der Luft verknüpft sind. Während die Luft emporsteigt, dehnt sie sich aus und verbraucht Wärme. Man hat berechnet, daß die infolge dessen eintretende Abkühlung der Luft für je 100 m Erhebung fast 1° C. beträgt. Es wird also ein aufsteigender Luftstrom, der an der Oberfläche der Erde 20° C. Wärme aufwies, in einer Höhe von 500 m mit einer Temperatur von etwa 15° C. anlangen und, falls er mit Feuchtigkeit gesättigt war, zu Wolkenbildung und auch Regenfall Anlaß geben können.

Solche aufsteigende Luftströme entstehen z. B. an windstillen Tagen infolge der Erwärmung der Luft durch Sonnenstrahlen; sie erheben sich nahezu senkrecht über der Erde und sind in der That die Ursache örtlicher Regen am Nachmittag in vielen Gegenden der heißen Zone und in manchen Thälern mittlerer Breiten.

Ferner beobachtet man ansteigende Luftströme in Cyklonen, also Wirbelwinden, selbst wenn dieselben nur äußerst schwach sind und nicht im entferntesten an einen Wirbelsturm erinnern. Viele Gegenden der gemäßigten und heißen Zone verdanken ihre ergiebigsten Regen dieser Ursache.

Schließlich entstehen ansteigende Luftströme, wenn eine wagerechte Luftströmung eine Bergkette trifft und an dieser sich staut und dann emporwälzt. Die Regen, welche durch diese Ursache entstehen, sind oft sehr ergiebig und die regenreichsten Orte der Erde befinden sich auf einem Bergabhange oder am Fuße eines Abhanges, welcher gegen ein wärmeres Meer gekehrt ist.

Außerdem kann Regen bei der Mischung von zwei Luftströmen, die beide ganz oder fast ganz gesättigt sind, aber verschiedene Temperatur haben, entstehen. Der berühmte Meteorolog Woeikoff stellt für diese Art Regenbildung die folgende Berechnung auf: es seien zwei Luftmassen vorhanden, beide 1000 m mächtig und mit Wasserdampf gesättigt, die eine habe eine Temperatur oben 20°, unten 25°, die andere oben 5°, unten 10°. Die mittlere Temperatur der Mischung wird etwa 16° betragen und es wird ein Niederschlag von 0,45 mm dabei entstehen, d. h. es werden 0,45 kg Wasser auf 1 qm Fläche fallen. Dauert aber der kalte Luftstrom fort, d. h. werden immer neue kalte Luftmassen zugeführt, bis die gesamte Luftmasse sich auf 7,5° abgekühlt hat, dann entsteht ein Niederschlag von 11,9 mm; dabei müßte sich jedoch jeder Kubikmeter warmer Luft mit 405 cbm kalter mischen! Also können wohl bedeutende Wassermassen bei der Mischung gesättigter Luftströme fallen, aber es ist eine lange Zeit dazu nötig. Selbst im Winter fallen die ergiebigeren Regen bei Cyklonen, während die Mischung der Luft verschiedener Temperatur feine, sogenannte Nebelregen ergiebt.

Wenden wir uns jetzt der Betrachtung der künstlichen Erzeugung des Regens zu! Auf Erfolg könnte man selbstverständlich nur bei denjenigen rechnen, welche die natürlichen Ursachen der Regenbildung zu ersetzen vermögen.

In jüngster Zeit wurde diese Frage am lebhaftesten in Nordamerika erörtert und Alexander Macfarlane, Professor der Physik an der Universität Texas, hat infolgedessen einen höchst interessanten Vortrag über das „Regenmachen in Amerika“ gehalten, in welchem die verschiedenen in Vorschlag gebrachten Methoden näher beschrieben wurden. Wir stützen uns im Nachfolgenden auf die Angaben des Vortrages, der auch in deutschen meteorologischen Zeitschriften veröffentlicht wurde.

Da finden wir zunächst Vorschläge, welche darauf ausgehen, aufsteigende Luftströme zu erzeugen. Zweifellos sind dieselben in ihrem grundsätzlichen Kern richtig, denn das Emporsteigen der Luft ist ja eine der wichtigsten Regenursachen. Es ist nur die Frage, ob unsere Kraftmittel genügen, um solche Ströme in genügender Mächtigkeit zu erzeugen. In erster Linie empfahl man zu diesem Zwecke, große Feuer anzuzünden, und zu Anfang dieses Jahrhunderts trat der amerikanische Professor Espy für diese Art der Regenerzeugung mit vieler Wärme ein. Nebenbei gesagt, war dieser Kunstgriff schon damals nicht neu; denn viele Naturvölker waren gleichfalls seit undenkbarer Zeit der Ansicht, daß man durch große Feuer Regenwolken herbeilocken könne, während allerdings andere Naturvölker dasselbe Mittel zum Zerteilen und Verscheuchen der Regenwolken bei übermäßigem Regen empfahlen. Wenn man verschiedenen Berichten aus älterer Zeit Glauben schenken will, so soll es in der That in einigen Fällen durch Anzünden von trockenen Rohrdickichten gelungen sein, Gewitter herbeizuführen. Als Vorbedingungen, unter denen das Experiment zutraf, werden heiße, schwüle und windstille Tage angegeben. An solchen Tagen ist nun die Luft der unteren Schichten stark mit Feuchtigkeit beladen und kann, wie wir bereits erwähnt haben, sehr wohl örtliche Regen erzeugen, sobald sie emporsteigt. Im Jahrgang 1879 der „Gartenlaube“ (S. 537) sind einige solcher Kunstregen, die Kapitän Mackay in Florida gemacht hat, beschrieben. Wir wollen nicht rechten, wieviel zu jenen Regengüssen die Sonne und wieviel das von Menschenhand angefachte Feuer beigetragen hat, soviel steht jedoch fest, daß dieses Mittel nur unter seltenen Umständen sich nützlich erweisen könnte. Riesenfeuer entstehen oft durch Zufall. Namentlich zu Zeiten der Dürre pflegen Dörfer und Wälder zu brennen, die Erfahrung lehrt aber, daß durch diese Brände kein Regen hervorgerufen wird; die Dürre dauert fort, bis in dem Zustand der Atmosphäre ein Umschwung erfolgt. Im Kulturlande, wo man keine Rohrdickichte oder Urwaldstücke abbrennen kann, würde dieses Mittel außerdem auch sehr kostspielig werden. Man müßte Kohlen in ungeheuren Mengen verfeuern.

Man hat die ansteigenden Luftströme auch in der Weise nachmachen wollen, daß man vorschlug, an der Spitze eines hohen Turmes ein Luftrohr zu befestigen, das bis zur Erde hinabreichte. Dann sollte man durch Zubläser oder Ventilatoren die Luft aus der Tiefe in die Höhe treiben. Sollte diese Maschinerie irgend [387] welchen Erfolg zeigen, so müßte der Turm doch einige hundert Meter hoch sein. Alsdann könnten sich unter günstigen Umständen aus jedem Kubikmeter Luft, der mehrere hundert Meter hoch getrieben wurde, einige Gramm Regen bilden. Es wären dies aber sicher recht teuere Tropfen.

Interessant ist ferner folgendes von Pitkin in Kansas-City ausgedachte Projekt. Ein großes Stück Segeltuch wird in mittlerer Lufthöhe an Ballons befestigt, und zwar im rechten Winkel zu einer feuchten Luftströmung; die unteren Zipfel des Segeltuches sind an Drähten befestigt, welche zur Erde niedergehen; vermittelst derselben kann die Segeltuchfläche so gerichtet werden, daß sie als geneigte Ebene wirkt. Die Luftströmungen, welche gegen diese geneigte Ebene streichen, werden von ihrem Wege abgelenkt und aufwärts geführt. Während des Ansteigens werden sie sich ausdehnen und unmittelbar in Berührung mit der oben befindlichen kälteren Luft treten. Diese sollte Regen verursachen. Wie wir sehen, ist in diesem Vorschlag der aufsteigende Luftstrom an Bergabhängen nachgeahmt. Daß er oft Regen verursacht, wissen wir wohl. Der Projektmacher hat nur eins außer acht gelassen: der anstreichende Luftstrom übt einen gewaltigen Druck aus; Bergrücken können ihn aushalten, das geneigte Segeltuch würde aber durch denselben sofort niedergedrückt werden.

Es ist also vorläufig nichts mit dem Hervorrufen aufsteigender Luftströme; in dieser Hinsicht sind wir nicht weiter gekommen als die Urvölker, die, um Regenwolken herbeizulocken, große Feuer anzündeten.

Man wollte auch die zweite der natürlichen Hauptursachen des Regens, die Mischung kalter und warmer Luftströme, zur künstlichen Erzeugung des Regens benutzen. Das Verdienst, einen Apparat zu diesem Zwecke ausgedacht zu haben, kann wiederum Pitkin für sich in Anspruch nehmen. Vermittelst Lüstschläuchen, Dampfmaschinen und Luftballons sollte man die kalte Luft aus etwa 600 m Höhe in die wärmere in 300 m Höhe hineintreiben. Sehr treffend bemerkt Macfarlane dazu, daß die unter günstigen Bedingungen hierdurch zum Niederfallen gebrachte Regenmenge nicht einmal hinreichen würde, die Dampfmaschine zu treiben.

Das größte Aufsehen verursachte jedoch eine andere Methode, die darauf abzielte, den trockenen Himmel mit Pulver und Dynamit zum Regnen zu zwingen. Schon im Jahre 1870 stellte der Amerikaner Edm. Powers die Behauptung auf, daß Schlachten Regen verursachen. Er hat die Behauptung durch keine annehmbaren Gründe bewiesen, aber er hat mit seinen Ausführungen Aufsehen erregt und der Kongreß der Vereinigten Staaten veranlaßte eine nähere Untersuchung der Frage seitens der wissenschaftlichen Beiräte des Landwirtschaftsministeriums. Diese berichteten, daß kein Grund für die Ansicht vorhanden sei, daß Schlachtentage in irgend einer Weise mehr von Regen begleitet wären als Tage ohne Schlacht. Aber die Theorie, Regen durch Erschütterung der Luft zu erzeugen, wurde dadurch keineswegs abgethan. Im Jahre 1880 ließ sich Daniel Ruggles ein Verfahren, Regen hervorzubringen, patentieren. Es sollten demnach mit Dynamit, Schießbaumwolle, Schießpulver u. dergl. beladene Luftballons aufgelassen und vermittelst elektrischer Leitung in hohen Luftschichten zur Explosion gebracht werden. Darauf sollte Regen folgen. Von wissenschaftlicher Seite konnte zu gunsten der Erschütterungstheorie nur folgendes ausgesagt werden: wenn die Luft völlig frei von Staubteilchen ist, dann fehlen bei ihrer Abkühlung die festen Kerne, um welche sich der überschüssige Wasserdampf niederschlagen könnte; die Luft bleibt alsdann mit Dampf übersättigt und dieser schlägt sich erst dann nieder, wenn die Luft plötzlich erschüttert wird. Da man aber bis jetzt in der reinsten Luft doch noch Millionen Staubteilchen auf einen Kubikmeter gefunden hat, so kann man wohl annehmen, daß eine völlig staubfreie Luft in der Natur nirgends oder höchst selten vorhanden ist, und konnte von vornherein die Explosionen in der Höhe als nutzlos bezeichnen. Trotzdem gelang es General Dyrenforth, Mittel zu solchen Versuchen zu erlangen, und auf Kosten der Vereinigten Staaten wurden in den Jahren 1891 und 1892 derartige Explosionen wirklich in Scene gesetzt. Obwohl aber mehrere tausend Pfund Sprengstoffe verknallt wurden, wurde doch kein Erfolg erzielt.

Bevor wir nunmehr von den amerikanischen Regenmachern scheiden, möchten wir noch hervorheben, daß der Senator Farwell in Chicago ein zweifellos wirksames Mittel zur Regenerzeugung erdacht hat: Er rät, feuchte Luftströme in entsprechender Höhe dadurch abzukühlen, daß man in ihnen flüssige Kohlensäure verdampft. Die Folge davon würde zweifellos ein Regenschauer sein. Schade nur, daß derselbe wiederum sehr teuer zu stehen kommen würde. Um auf einer englischen Quadratmeile einen mäßigen Regenfall hervorzubringen, müßte man laut einer Berechnung Macfarlanes flüssige Kohlensäure im Werte von 1600000 Mark verdampfen.

Unsere Leser wundern sich vielleicht, daß wir bis jetzt noch nichts über Regenerzeugung mit Hilfe der Elektricität berichtet haben. Diese Wunderkraft ist ja zu allem möglichen gut. In der That ist in der neuesten Zeit ein solcher Vorschlag vom Oberstlieutenant Baudouin gemacht worden. An Einfachheit übertrifft er alle vorher erwähnten; denn er besteht darin, gegen die wasserhaltenden Wolken einen elektrischen Papierdrachen oder einen Fesselballon loszulassen, dessen Kabel einen Konduktor darstellt.

Jede Gemeinde, meint Baudouin, würde einen besonderen Apparat besitzen können, in derselben Weise, wie sie eine Feuerspritze hat. In Fällen der Trockenheit würde sie somit ein sicheres Mittel haben, die Ländereien ihrer Einwohner mit Wasser zu versorgen. Zur Bedienung des Apparates würden der Lehrer und einige seiner Schüler genügen.

Die Ausführungen Baudouins über die Elektricität in den Wolken sind durchaus nicht derart, daß man ihnen ohne weiteres zustimmen könnte. Wohl aber verdient die Prüfung des Einflusses der Elektricität auf die einzelnen Teilchen der Wolken die größte Beachtung. Die meteorologische Zeitschrift „Das Wetter“ hat neuerdings einen Artikel von G. Pelissier über die „Wirkung der Elektricität auf den Wasserdampf und die künstliche Erzeugung von Regen“ veröffentlicht, in dem die Vorschläge Baudouins zurückgewiesen werden, der aber dafür u. a. folgende Mitteilungen enthält. Wenn man einen Luftraum, der mit Rauch und Staub gefüllt ist, elektrisiert, so sieht man alle Teilchen sich gegeneinander bewegen und sich zu Tafeln und Fädchen anordnen; die Luft wird sogleich gereinigt sein, sei es durch die Anziehung der Seitenwände des Gefäßes, sei es durch die alleinige Wirkung der Schwere. Dieselbe Erscheinung kann man bei sichtbarem Wasserdampf beobachten, der den Wolken und dem Nebel ähnlich ist; eine Wolke, welche man auf diese Weise einem nichtgleichmäßigen elektrischen Felde aussetzte, würde man also in Regen auflösen können. In einem gewissen Sinne regnen ja die Wolken stets, denn die Wasserkügelchen fallen fortwährend in der Luft; nur die Schnelligkeit des Falles ist so gering, daß die aufsteigenden Luftströme mehr als das Gleichgewicht halten, oder es verdunsten die Wassertropfen auf ihrem Wege. Damit sie die Erde erreichen, braucht man nur ihren Fall dadurch zu beschleunigen, daß man ihre Größe vermehrt; dieses kann die benachbarte Elektricität bewirken, indem sie die kleinen Tröpfchen zu Tropfen vereinigt, welche dann in der Form von feinem Regen zu fallen beginnen und gegenseitig aufeinander prallen; kommen sie nahe an einem elektrisierten Körper vorbei, so wird ihr Zusammenstoß ihre Vereinigung veranlassen und es nimmt dann die Fallgeschwindigkeit zu.

Diese Versuche werfen ein helles Licht auf die Beziehungen, welche zwischen dem Regen und dem elektrischen Zustande der Atmosphäre bestehen können; sie machen es wahrscheinlich, daß die Witterung viel stärker durch die elektrischen Verhältnisse beeinflußt wird, als man bisher glaubte. Und wenn künstlicher Regen jemals auf die eine oder andere Weise erzielt werden könnte, so wäre dies durch die Einrichtung von großen Maschinen, welche Elektricität von hoher Spannung in einem bestimmten Sinne lieferten; vielleicht würde man Elektricitäten von entgegengesetzten Vorzeichen einander nähern müssen, um die nötige Ungleichheit des Feldes herzustellen, denn eine vollständige Gleichmäßigkeit desselben wäre bestrebt, die Kügelchen getrennt zu lassen, und würde Nebel verursachen.

Sollte aber auch die Kunst, Regen zu erzeugen, wirklich von den Menschen erfunden werden, dann würde sie allein ihn doch nicht befriedigen. Dürre Sommer würden für ihn keinen Schrecken mehr haben, aber nach wie vor würde er unter nassen Jahren leiden. Was der Landwirt mit Recht fürchtet, sind Extreme der Witterung, und es würde für ihn von größtem Vorteil sein, wenn gerade diese vermieden werden könnten. Dieses Ziel ist aber leichter zu erreichen als die künstliche Erzeugung des Regens; durch zweckmäßige Wald- und Wasserwirtschaft könnten Dürren und Ueberflutungen, die heute so viele Gebiete der Erde heimsuchen, zu großem Teil vermieden werden. Hoffentlich wird eine Zeit kommen, in welcher dieser hochwichtigen Kulturaufgabe mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.




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Blätter und Blüten.



Der Drachenfels am Rhein. Mit leichten, doch kräftigen Strichen ist die Rheinlandschaft festgehalten, die wir heute dem Skizzenbuch Otto Strützels entnehmen. Wer selbst einmal in schöner Sommerzeit mit dem Dampfer bei Königswinter vorbeigefahren ist, wo sich der Blick auf die hochgewölbten waldbedeckten Höhen des Siebengebirges und den ihm vorgelagerten Drachenfels erschließt, wer hier den Dampfer verließ und zur schönen Aussichtsterrasse unterhalb der alten Burgruine emporstieg, dem wird die Skizze in der Erinnerung Stunden wachrufen, in denen ihm die Poesie der rheinischen Landschaft und des Lebens am Rhein in reichster Entfaltung aufging. Die Romantik alter Heldensage verklärt den Ruhm dieser Gegend. In einer Felswand auf halber Höhe des Drachenfelsberges klafft der Eingang zu einer Höhle, in welcher dereinst der Drache gehaust haben soll, den jung Siegfried mit dem selbstgeschmiedeten Balmung erlegte und in dessen Blut er sich zum Gewinn der schützenden Hornhaut dann badete. Zur Erinnerung daran heißt der in der Nähe wachsende Wein Drachenblut und wer in diesem die Seele badet, bekommt sie auch für eine Weile gefeit vor Unbill und Ungemach. Seitdem die Zahnradbahn zu der Burg und dem Terrassengasthof hinaufführt, läßt sich freilich mancher Besucher ein behagliches Weilen auf diesem herrlichen Aussichtspunkt, von dem man bis Bonn und Köln zu sehen vermag, bedauerlicherweise entgehen. In dem modernen Schloßbau auf halber Höhe, der neuen Drachenburg, hat der romantische Ruhm der Gegend künstlerische Gestaltung gefunden. Auch das schöne Bild von Frank Kirchbach, welches die „Gartenlaube“ in Nr. 1 des Jahrgangs 1891 gebracht hat, „Der Streit zwischen Kriemhild und Brunhild vor dem Münster zu Worms“ findet sich hier im Original als Wandgemälde.

Der Drachenfels am Rhein mit Königswinter.
Nach einer Zeichnung von Otto Strützel.

Bettelvolk in Toledo. (Zu dem Bilde S. 381.) Spanien ist das Land der Gegensätze. Wir sehen sie, wohin wir blicken, und sie zeigen sich uns in vollster Deutlichkeit auch auf dem Bilde R. de Madrazos. Der Künstler versetzt uns nach Toledo, in eines der großartigsten Gebäude der an solchen so überreichen Stadt: in das Kloster von San Juan de los Reyes. Neben der in dem vollendetsten gotischen Baustil ausgeführten Pforte, welche einen Einblick in den Klostergarten gewährt, sehen wir eine Gruppe von Vertretern des modernsten Spanien, von Bettlern in der teils resignierten, teils stolzen und gleichgültigen Haltung, die ihnen in jenem Lande eigen ist. Die Armen betrachten die im allgemeinen sehr lohnende und einträgliche Bettelei als einen Erwerbszweig, zu dessen Betrieb sie ein historisches Recht haben. Einerseits hat sie allerdings in Spanien immer bestanden und alle Versuche, die seit der Zeit des aufgeklärten Königs Karl III. gemacht worden sind, dieses Uebel auszurotten, haben sich als fruchtlos erwiesen; anderseits führen die Bettler selbst König Philipp II. als ihr Vorbild an. Wenn dieser, sagen sie, als er seine Soldaten nicht mehr bezahlen konnte, in allen Kirchen seines Landes für diesen Zweck betteln ließ, weshalb sollen wir nicht ein Recht haben, dasselbe zu thun? Weshalb sollen wir arbeiten, wenn der Staat uns den Ertrag unserer Mühe und unseres Fleißes in der Form von zahllosen Steuern raubt und uns die Mittel zum Unterhalt auf solche Weise entzieht? Dies ist allerdings einer der Hauptgründe der Bettelei, die besonders dem Ausländer auffällt und die gerade die fremden Reisenden, welche in ihrer Heimat daran nicht gewöhnt sind, in hohem Grade belästigt. Sie ist aber nirgends größer und zeigt sich nirgends widerwärtiger als an den besonders von den Touristen besuchten Stätten einstiger längst verschwundener Größe, an den Orten, in denen es an Gewerbfleiß fehlt. In Kastilien vollends, dessen massenhafte Ketzerverbrennungen dazu beitrugen, das Land zu entwalden, seinen Boden unfruchtbar zu machen und vor allem ihn seiner besten Arbeitskräfte zu berauben – in Kastilien, das sich einstmals durch Unterwerfung aller anderen Staaten das Recht der Vorherrschaft erwarb, gelangte überdies die Anschauung des Adels zu allgemeiner Geltung: daß die Arbeit entehre. Selbst unter dem äußeren Schein des größten Glanzes verbirgt sich dort oft nur mühsam das Elend, das sich uns unverhüllt an den Kirchenthüren zeigt. G. Diercks.     

Das Schiffelbord-Spiel (Zu dem Bilde S. 385.) Seitdem die Größe und bessere Ausstattung unserer deutschen Schnelldampfer, die den Passagierverkehr über den Ocean vermitteln, den Aufenthalt an Bord viel angenehmer als früher gestaltet haben, ist den Reisenden auch mehr Raum für allerlei Unterhaltungsspiele geboten. Unser Bild veranschaulicht ein Spiel, das sich am Bord der Hamburger und Bremer transatlantischen Dampfer fest eingebürgert hat und wegen seiner Verwandtschaft mit unserem altheimischen Kegelspiel sich besonders bei den deutschen Kajütpassagieren großer Beliebtheit erfreut. Es handelt sich bei dem Spiel darum, runde Holzscheiben (Teller) mittels hölzerner Schaufeln (Schippen, Schiffeln) so vorwärts zu treiben, daß sie innerhalb der auf dem Deck gezeichneten Felder eines Zahlensystems möglichst günstig zu liegen kommen. Das Zahlensystem besteht aus einem zu den Spielern waagerecht liegenden Quadrat, das in neun Felder gleichmäßig geteilt ist und die Zahlen 1 bis 9 enthält; an der vorderen und hinteren Seite desselben in der Mitte befindet sich je ein weiteres Viereck mit der Zahl 10. Nur die vordere Zehn wird als Fehler gerechnet, alle übrigen Zahlen werden dem Gewinn zugezählt. Es spielen immer zwei Parteien gegeneinander, die Scheiben, mit denen die eine und die andere spielt, sind verschieden bezeichnet. Die nachschiebende Partei hat das Recht, die günstig geworfenen Scheiben der andern durch scharfen Anwurf aus ihren Feldern zu verdrängen. Haben beide Parteien auf diese Weise ihre Scheiben geworfen, wird das Ergebnis gebucht. Die Abrechnung ist sehr ähnlich der beim Parteln auf vielen deutschen Kegelbahnen. Um das Wesen des Spiels, seine Schwierigkeit und die Fülle von heiterer Anregung und Zerstreuung, die es den Spielern wie den Zuschauern bietet, recht zu begreifen, muß man aber im Auge behalten, daß es am Bord eines auch bei ruhiger See noch auf und nieder schwankenden Schiffs gespielt wird. Ein guter Spieler muß die Wirkungen des Schiffsgangs genau berechnen können; daß dies nicht gar leicht ist, beweist während des Spiels gar mancher unerwartete „Pudel“, der auch jenen nicht erspart bleibt, die daheim auf ihrer Kegelbahn als treffsichere „Stecher“ sich nie eines Fehlwurfs schuldig machen.


Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (9. Fortsetzung). S. 373. – Aller Anfang ist schwer. Bild. S. 373. – Katharina Cornaro als Königin von Cypern. Von Eduard Schulte. S. 378. (Mit dem Bilde S. 377.) – Blauweiß. Novelle von Theodor Duimchen. S. 380. – Bettelvolk in Toledo. Bild. S. 381. – Die Regenmacher der Neuzeit. Von M. Hagenau. S. 384. – Schiffelbord-Spiel am Bord eines transatlantischen Dampfers. Bild. S. 385. – Blätter und Blüten: Der Drachenfels im Rhein. Mit Abbildung. S. 388. – Bettelvolk in Toledo. S. 388. (Zu dem Bilde S. 381.) – Das Schiffelbord-Spiel. S. 388. (Zu dem Bilde S. 382)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.