Die Gartenlaube (1895)/Heft 24
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Nr. 24. | 1895. | |
Haus Beetzen.
Die Tage gehen hin, Rothe kommt täglich und täglich. Ditscha erkennt die treue starke Liebe seines Herzens mehr und mehr; es ist eine heiße Leidenschaft mit der ehrfürchtigsten Anbetung verbunden, so ritterlich, so zart und – so leicht verletzlich. Er ist schon verstimmt, wenn der derbe Onkel Ditscha neckend fragt: „Wieviel Küsse waren es heute? Hast Du gezählt? Fällt keiner mehr ab für den alten Onkel?“ Und kann nicht begreifen, daß Ditscha sich nicht beleidigt fühlt dadurch.
„Aber Kurt, der alte Mann ist wie mein Vater!“
„Ich liebe nicht,“ sagt er, „daß über solche Dinge, die mir heilig sind, Witze gemacht werden.“
„Aber Kurt – die Küsse –“
„Sind mir heilige Küsse,“ beharrt er, „wie Du mir heilig bist und unser Verhältnis es ist.“
„Du Idealist, Du lieber!“ sagt sie innig.
„Um Gotteswillen, Ditscha, Du lächelst? Thue es nicht, es berührt mich peinlich – in solchen Dingen verstehe ich keinen Scherz. – Und Du doch auch nicht, nicht wahr, Ditscha?“ fährt
[390] er fort, „Du würdest nie über ein frivoles Wort lächeln können, nie! – oder einen unstatthaften Blick lächelnd ertragen? Siehst Du, Sophie, darin bin ich – nicht normal. Ich würde zum Beispiel nie eifersüchtig werden. Othelloscenen brauchst Du also nicht zu fürchten, aber ich würde Dich nicht mehr verstehen, würde irre werden an Dir und Dich schließlich nicht mehr achten können, und das, Liebste, wäre schlimmer, als Dich tot wissen.“
Dann küßt er sie und streichelt wie eine Mutter über das seidige Haar. „Ach Du mein Herz, meine Königin, wozu sage ich Dir das, Du Beste, Reinste von allen!“
Das sind Momente, wo ihr vor Angst das Herz zerspringen will, wo sie vor ihn niedersinken möchte und fragen: Ja, weißt du denn nicht? Hat dir Onkel nicht gesagt, daß ich schon einen andern geküßt? Aber immer bleibt sie stumm. Ach, und dieser andere neben ihm! Wie konnte sie nur – was dachte sie nur damals? Erst allmählich beruhigt sie sich nach solchen Scenen wieder und vermag sich dem Glücksgefühl hinzugeben.
Und die Tage verstreichen in Arbeit und Erwartung.
Grete Busch stickt daheim fleißig und wandert den weiten Weg mit den fertigen Sachen hin nach Beetzen, und Ditscha bezahlt sie aus Mitleid immer reichlich, denn Grete trägt jedesmal eine sorgenvolle Miene zur Schau, noch einmal so hoch wie andere Nähterinnen, und Grete stickt wirklich gut. Selbst Hanne söhnt sich aus mit dem „verschrobenen Dirt“, wie sie die leichtsinnige Gärtnerstochter von ehedem nennt. Und eines schönen Tages – es ist nun November geworden – kommt die alte Frau in die Wohnstube, wo Onkel Jochen, Ditscha und Rothe in der Dämmerung sitzen und sagt:
„Gnä’ Fröln, es ist eigentlich gar keine dumme Idee nich’, wenn wir die Grete gleich hier behielten. Sie verläuft sich viel Zeit, und man kann sie doch die großen Stücken auch nicht gut mitgeben in die kleine Stube von oll Mutter Buschen: sie verschmiert einem ja nur die Tischtücher in dem Finkennäpfchen. Wenn Herr Baron nichts dagegen hätten, daß sie hier loschiert mit ihrer kleinen Deern, könnt’ sie ja in der einfenstrigen Stube, in der ich früher ’mal geschlafen habe, neben die Bettkammer wohnen?“
„Meinetwegen, Du alte Schraube,“ sagt der Baron, der von seiner Zeitung aufsieht, „und mach’ keinen s’on Schnack darum. – Was Ihr braucht – braucht Ihr.“
„Na, da kann ihr morgen früh der Milchwagen mitbringen,“ sagt Hanne, „ich will’s den Pächter wissen lassen.“ Damit geht sie.
Ditscha überfällt ein unheimliches Gefühl dabei, aber was soll sie thun? Wäre doch diese Zeit erst vorüber, brauchte sie erst diese Person nicht mehr zu sehen, deren bloßer Anblick sie erniedrigt! Mein Gott, welcher Dämon hatte damals Macht über sie gehabt! Könnte sie die Erinnerung auslöschen, die sie mit Grete Busch verknüpft, könnte sie ungeschehen machen diese häßliche Episode, Jahre ihres Lebens gäbe sie darum.
Sie hört jetzt, wie Onkel Joachim leise etwas zu Rothe sagt, und wie der antwortet: „Ihre Toleranz begreife ich nicht ganz, Herr Baron.“ Es klingt sehr kühl, fast verletzend, dann erhebt er sich und tritt zu Ditscha ans Fenster und zieht sie an sich. Es ist stark dämmerig, auf Park und Rasenplätzen schimmert der erste leicht silberglänzende Schnee.
„Vielleicht wird Schlittenbahn,“ sagt er, „dann fahren wir mit Achim zum Weihnachtsmann, Sophie, ich versprach es dem kleinen Kerlchen schon lange.“
„Kurt,“ kommt es statt der Antwort von ihren Lippen, „hast Du mich sehr lieb?“
„Ja, mein Herz!“
„Mit allen meinen Fehlern!“
„Mit allen! Nur habe ich bis jetzt noch keine an Dir entdecken können!“
„Aber, wenn Du sie finden wirst?“
„Ich vergebe sie Dir alle – alle – denn Du kannst keinen haben, der nicht liebenswürdig wäre,“ ist seine freundliche Antwort.
Sie nimmt rasch seine Hand und drückt sie an ihre Wange.
Grete ist seit acht Tagen im Hause und hat ihr Kind
mitgebracht, ein kleines Mädchen, so schön, wie Murillo seine
Engelsgestalten zu malen pflegte. Die Mutter lehnt jedes Lob bescheiden
ab, verhält sich still in der Nähstube und stichelt den ganzen Tag;
das Kind aber trippelt überall umher, Cilly ist begeistert von
demselben und Achim spielt mit ihm auf dem großen Teppich in der
Kinderstube. Cilly amüsiert sich in diesen stillen Novembertagen
mit der kleinen Ella wie mit einer Puppe. Sie näht ihr sogar
Kleider, und eines Tages erscheint das Kind im Zimmer seiner
Mutter in einem blaßblauen seidenen „Kate Greenaway“-Kostüm,
das Cilly aus einem alten Ballkleide zurechtgebastelt hat.
„O, Du mein süßes Gör,“ schreit Grete entzückt, „als ’ne Prinzeß so schmuck bist Du! Wart’ man, Deine Mama kauft Dir noch viel schönere Kleidchens, wart’ man noch ein büschen.“ Zu Hanne aber sagt sie eine Stunde später vorwurfsvoll: „Sie verwöhnen das Kind hier, so’n armes Gör, das noch weiter nichts auf dem Leib gehabt hat wie Barchent!“
Eines Tages, es ist in der vierten Nachmittagsstunde, bekommt Grete einen Brief. Sie stickt gerade an dem Monogramm eines köstlichen Tischtuches, hört aber auf, als sie den Brief gelesen, und beginnt, sich die Augen zu reiben, zu schluchzen, und eine halbe Stunde später klopft sie mit geröteten, geschwollenen Lidern an Ditschas Thüre. Das junge Mädchen arbeitet an einem Teppich für ihren Bräutigam, den sie ihm zu Weihnacht schenken will, denn dieses Weihnachtsfest soll ja das erste wirklich schöne für sie werden.
„O Gott, o Gott, gnä’ Fräulein, so’n Kummer – so’n Unglück!“ schluchzt Grete.
„Was ist geschehen?“ fragt Ditscha erschreckt.
„O, mein armer Mann! Nu’ wollen sie ihn ja auch von die neue Stelle wegjagen, wenn er nicht bezahlt, und sein ganz büschen Gehalt haben sie ihm auch einbehalten und nu’ weiß ich ja gar nicht, was werden soll, wenn ich nich’ Geld schaffe! – O Gott, o Gott, gnä’ Fräulein, erbarmen Sie sich doch un’ leihen Sie mir die paar hundert Thalers – ich will Sie auf den Knieen dafür danken –“
Ditscha sieht sie verwundert an. „Aber – ich kann doch nicht – –“
„O, gnä’ Fräulein, so wahr ich hier stehe – in einem halben
Jahr haben Sie das Geld zurück.“ Und die Frau schluchzt und
jammert erbärmlich.
Ditscha besitzt noch das Ausstattungsgeld vom Onkel, denn da sich niemand fand, der sie nach Berlin begleiten konnte zum Einkaufen – das Mutterle ist ganz plötzlich abgereist, weil ein Enkelchen erkrankte, und Tante Anna residiert im Stift Eichenhagen – hatte das junge Paar beschlossen, die Einrichtung auf der Hochzeitsreise zu besorgen.
„Er nimmt sich’s Leben – er nimmt sich’s Leben!“ schluchzt Grete – meisterhaft macht sie es.
„Wieviel brauchen Sie?“
„O Gott, o Gott – es ist ja zu schrecklich, und ich sag’s auch nur, weil wir es ehrlich wiederbezahlen werden, gnä’ Fräulein – achthundert Thalers – –“
Ditscha erschrickt. Darf sie das, ohne Onkel zu fragen? „Ich werde mit dem Herrn Baron reden,“ sagt sie.
Da stürzt ihr Grete zu Füße. „O, nur nich’, nur das nich, gnä’ Fräulein, lieber stürz’ ich mich mit die Ella ins Wasser – o, nur nich’!“
Ditscha macht ihr Kleid aus der Hand Gretes los, geht in das Schlafzimmer und kehrt nach ein paar Minuten mit einer Handvoll Kassenscheine zurück.
Grete schreit vor Glückseligkeit auf, will Ditscha die Hände küssen und bedankt sich überschwenglich unter strömenden Thränen und schluchzt, sie habe es ja immer gewußt, das gnä’ Fräulein sei gut, und das gnä’ Fräulein habe sie nicht vergessen, und gnä’ Fräulein wisse doch auch ganz gewiß, daß Grete Busch verschwiegen ist wie das Grab und daß sie nie und nie und nimmer, zu keiner Sterbensseele jemals ein Wort von damals gesagt habe – – –
Ditscha stützt sich plötzlich auf den Rand des Tisches und ist leichenblaß geworden. Die Katze hat angefangen mit der Maus zu spielen!
„Und die Menschen und ja so slecht,“ fährt Grete fort, und wenn da einer ’von hörte, Sie hätte stundenlang Rendezvous in unserer guten Stube gehabt, da nähm’ ja kein Hund ein Stück Brot von Ihnen, gnä’ Fräulein. – Und nu’ grad’ jetzt, wo Sie verlobt sind, mit so’n schmucken Herrn – aber die Herrens, gnä’ Fräulein, die sind in so ’was so snurrig –. O, liebes gnä’ Fräulein, ich dank’ auch vielemal, und wie ein Grab bin ich – so schweigsam wie ein Grab –“
Ditscha starrt ihr nach, als habe sie einen grausen Spuk gesehen, als habe ein Blitz ihr den Abgrund enthüllt, an dessen Rande [391] sie gewandelt. Und plötzlich schlägt sie die Hände vor das Gesicht und ein Schütteln geht durch ihren Körper. „Mein Gott,“ sagt sie laut, „wie furchtbar strafst Du mich!“ Und dann sitzt sie und schaut auf einen Fleck, bis es dämmerig geworden, ja endlich dunkel, und sie schreckt erst empor, als es an ihre Thür klopft und das Stubenmädchen meldet, Herr Rothe sei soeben gekommen.
„Dörte – ich – kann nicht hinuntergehen – ich habe so heftiges Kopfweh,“ sagt sie, „ich lasse um Entschuldigung bitten.“
Sie sinkt wieder zurück in den Stuhl. Nur niemand sehen jetzt, niemand, am allerwenigsten ihn.
Dann hört sie auf der Treppe und im Korridor etwas schlürfende Tritte und gleich darauf einen Schlag gegen die Thür, und herein tritt der Onkel. Ditscha kann ihn nicht erkennen, sie weiß aber, daß er es ist.
„Na, da brate mir einer – – weshalb sitzt Du so im Dunkeln, Kind? Wo bist Du denn? Mach’ doch, um aller Barmherzigkeit willen, Licht – bist Du denn so krank? Und wo steckst Du denn? Wenn ich Dir Dein Tackeltüg und Deine Plünnen vom Tisch reiße, kann ich nichts dafür,“ redet er in die Dunkelheit hinein.
Ditscha zündet Licht an und wendet sich dem alten Herrn zu.
„Du siehst wirklich krank aus! Alle Wetter, Ditscha, was hast Du denn?“ fragt er. „Du stichelst zu viel! Daß Ihr Weiberzeug Euch immer vor der Hochzeit krank machen müßt mit Eurer Wäsche und sonstigem Zeugs. Kannst Du denn nicht hinunter kommen, nur einen Augenblick, damit Rothe sieht, daß Du noch lebst? Er ist ganz wie vor den Kopf geschlagen. – Nun, geht es nicht? Na, komm doch nur!“
„Onkel,“ sagt sie plötzlich entschlossen und tritt vor den alten Herrn mit blassem, zuckendem Gesicht, „Onkel, ich habe Dich schon immer fragen wollen –“
„Du bist ja ganz heiser, Deern, laß Dir von Hanne ’mal in den Hals gucken – hast Du Hitze?“
Sie wehrt seine Hand ab, die den Puls suchen will. „Ich habe Dich schon immer fragen wollen, Onkel,“ wiederholt sie, „hast Du eigentlich an unserem Verlobungstage die Geschichte von mir und Hans Perthien Kurt erzählt, wie Du versprachst?“
Er wird sehr verlegen. „Fang’ doch von dem alten Blech nicht immer wieder an!“ schnarrt er ärgerlich.
„Also, Du hast es nicht gethan?“ forscht sie.
„Zum Donnerwetter – nein!“ schreit er zornig. „Wozu denn auch? Kannst’s ihm erzählen, wenn Ihr ’mal silberne Hochzeit macht!“
Sie antwortet nicht. – Er geht heftig in der Stube auf und ab, sodaß das Licht flackert, hustet, räuspert sich, will sprechen und unterläßt es und fragt endlich: „Na, wirst Du hinunterkommen, oder nicht – Ditscha?“
„Ja, in einer Viertelstunde bin ich unten.“
„Na also – und hör’ endlich auf von der dämlichen Geschichte! Wenn man so etwas feierlich erzählt, so sieht’s ja aus wie ein Drama, und es war doch nur eine Posse, ein lächerliches Nichts. – Komme bald, er denkt sonst, Du liegst im Sterben.“ Und er geht.
„Eine Viertelstunde“ hat sie gesagt – an diese Viertelstunde aber wird sie denken, so lange sie lebt. Sie will ihn noch einmal sehen heute, noch einmal haben, ehe sie ihm das Geständnis macht, ihn vor eine Entscheidung stellt. – Ganz wie sonst soll es sein, denn morgen wird sie ihm schreiben, alles, auch das von Grete Busch, rückhaltlos, nichts beschönigend, wird ihn bitten, er soll bestimmen – Tod oder Leben, denn so kann es nicht weiter gehen. Mit einem Gefühl im Herzen, begiebt sie sich hinaus, wie es Jephthas Tochter ähnlich bewegt haben mag, als man ihr noch drei Tage ihres jungen Lebens gönnte, bevor sie sterben mußte.
Er kommt ihr schon an der Schwelle des Zimmers entgegen, ängstlich und besorgt sie anschauend. „O, Ditscha, werde nicht krank,“ bittet er, „jetzt nicht, wo ich noch nicht das Recht habe, Dich zu pflegen!“
Sie sieht ihn groß an. Wird er morgen auch dies Recht noch wollen?
Achim ist da, er spielt Domino mit dem Onkel Jochen. Der kleine Mann, der das Spiel noch nicht erfaßt, macht die wunderlichsten Schnitzer, und Onkels Lachen schallt jeden Augenblick durchs Zimmer. Ditscha und ihr Bräutigam sitzen im Erkerfenster auf der altertümlichen Holzbank, Hand in Hand wie alle Tage ihrer Verlobungszeit. Er plaudert und fragt und bedauert sie ihres Kopfwehs wegen, und sie solle nur ja nicht, ja nicht sprechen, und zum Essen werde er auch nicht bleiben. Er komme dafür morgen eine Stunde zeitiger.
„Bitte, bleib,“ sagt sie flehend, „es ist mir wirklich schon besser.“
Er thut es ja nur zu gern.
„Mir hat geträumt,“ erzählt sie dann weiter, „Du liebtest mich nicht mehr.“
„O, Du thörichte Ditscha!“
„Ich habe – ich hatte im Traum etwas gethan, früher, ehe ich Dich kannte – ich glaube es war etwas Schreckliches – das erzählte ich Dir, und da ließest Du meine Hände los und wandtest Dich ab –“
„Was hattest Du denn angestellt, Ditscherle,“ sagt er gutmütig, in seinen schlesischen Dialekt verfallend.
„Rate!“
„Gestohlen?“
„Nein, Kurt.“
„Neugierig gewesen?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Onkel Jochen geärgert, oder Hanne?“
„Nein!“
„Oder in Deinem Innern geklagt: Ach Gott, nun ist die schöne freie Mädchenzeit bald vorbei, und ich höre die Ketten schon klirren, die unlösbaren Ketten, die mich an den häßlichen alten philiströsen Kurt fesseln sollen?“
„Nein!“
„Dann weiß ich nichts, Liebchen,“ gesteht er.
„Es giebt doch noch etwas! Mir träumte, ich erzählte Dir, daß ich einen andern Mann einmal früher zu lieben glaubte.“
Er läßt sie thatsächlich los, hastig, daß es beinah’ aussieht, als stoße er sie zurück.
„Ach, siehst Du!“ sagt sie leise.
Eine ganze Weile bleibt es still zwischen ihnen; endlich faßt er ihre Hand und zieht sie an die Lippen. „Verzeihe mir,“ bittet er, „was kannst Du dafür, wenn Du so dumm träumst, denn weiter willst Du doch damit nichts sagen, nicht wahr?“
„Ich weiß nicht – natürlich nicht –“ stammelt sie und fühlt, wie ein Zittern durch ihren Körper läuft, und sie atmet auf, als Cilly herein tänzelt, die seit ewiger Zeit schrecklich häuslich geworden ist und dafür Unmengen von Briefen schreibt.
Sie verkündet, daß sie in ein paar Tagen ihre Weihnachtsbesorgungen in Berlin machen werde, wozu der große Jochen etwas Unverständliches brummt und der kleine zu betteln anfängt: „Darf ich nicht mit, Mama? Ja, darf ich mit?“
„I Gott bewahre, wo soll ich Dich denn lassen? Besuche muß ich doch auch machen!“
„Bringe mich doch so lange zu Onkel Bredow,“ schlägt er vor.
Cilly wird sehr rot und fordert ihn energisch auf, sie mit solchen Dummheiten zu verschonen, verspricht ihm aber dafür, etwas Wunderschönes mitzubringen.
Dann meldet Friedrich, daß serviert sei, und man geht zu Tische. Cilly ist lustig, und Onkel Jochen läßt sich von ihr aufheitern. Rothe ist verstimmt, und Ditscha sitzt da wie ein Automat. Man spricht von Weihnacht; das Kind giebt keine Ruhe, seitdem es gehört, daß Mama den Knecht Ruprecht in Berlin sehen wird. Onkel verspricht, einen kleinen Schlitten beim Christkind für ihn zu bestellen.
„Vergiß nicht, Onkel Kurt!“
„Nein, mein Junge.“
„Onkel, was schenkst Du der Ditscha? Sag’ mir’s leise,“ bittet er. Und das Kerlchen steht auf und neigt sein Gesicht gegen das Ohr des Mannes, der ihm etwas zuflüstert.
„Ah!“ staunt er, „aber da kann sich Ditscha freuen – das ganze Schloß?“
„Nun hast Du es aber schon verraten, Bösewicht,“ sagt Rothe scheinbar ernst, und halblaut setzt er hinzu: „Ja, denk’ Dir, das ganze Schloß mit allem, was darin ist, und mich selbst dazu!“
Ditscha kann ihre Thränen kaum zurückhalten. – „Und sich selbst dazu!“
„Laß mich Dich bis ans Parkthor begleiten!“ bittet sie, als er nach Tische aufbricht.
„Aber – Ditscha!“
„Ach bitte, bitte! Die Luft wird meinem Kopfe gut thun.“
Er wickelt sie auf dem Flur in den Pelzmantel, schickt den Wagen voraus und beide wandeln langsam durch die Wege.
[392][393] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [394] Es ist ein windstiller klarer Frostabend, und die Sterne funkeln am dunkelblauen Himmel. Am Gärtnerhause vorüber bis zur Einfahrt geht sie mit, und dort giebt sie ihm beide Hände und sagt: „Verzeih’, wenn ich Dir weh’ that, ich wollte es nicht, denn ich habe Dich sehr lieb.“
Dann hat sie sich rasch gewendet, ohne ihm den Mund zum Kuß zu bieten, und ihn kopfschüttelnd und verwirrt stehen gelassen. – Droben in ihrem Zimmer setzt sie sich zum Schreiben. Zwanzig und mehr Bogen zerreißt sie und längst ist Mitternacht vorüber, bis es ihr gelungen ist, den schrecklichen Brief zu verfassen:
„Lieber Kurt!
Ehe wir uns verlobten, habe ich Onkel gebeten, Dir etwas aus meinem Leben zu erzählen, das Du notwendig wissen mußt, bevor Du Dein Geschick an das meine knüpfst. Aber Onkel hat Dir nichts gesagt, wie ich jetzt erst erfahre und fast immer schon geahnt habe. Laß es mich denn jetzt thun, ehe es zu spät ist – –
Ich war schon einmal verlobt mit einem Manne, der weder meinem Vater noch meinem Onkel als der rechte für mich erschien. Sie verweigerten ihre Zustimmung, und wir beschlossen deshalb – zu fliehen. Onkel hat mich wenig Stunden nach meiner Entfernung aus Beetzen wieder – eingefangen. Er hat mich vor einem Unglück bewahrt – um mich vielleicht noch unglücklicher werden zu lassen – –.
Ich weiß nicht, ob Du mich nun noch lieben kannst. Jedenfalls bin ich Dir Wahrheit schuldig. Aber wenn Du das Mädchen nicht mehr lieben kannst und achten, das bereit war, etwas Unwürdiges zu thun für einen Mann, den sie nicht einmal liebte, so versage ihr wenigstens nicht Dein Mitleid.
Es giebt ein paar Menschen, die um diese Angelegenheit wissen und von denen Diskretion nicht zu erwarten ist, denn sie sind ungebildet und habsüchtig – Grete Busch, die Tochter unseres früheren Gärtners, und ihr Mann, ein gewisser Bröse. Auch dies, was selbst Onkel nicht weiß, teile ich Dir mit. – Ich wage auch nicht, zu hoffen, daß Du mir verzeihst, denn ich weiß, wie Du denkst, und Du denkst mit Recht so. Jahre meines Lebens gäbe ich, wäre dieser Schritt unterblieben, und könnten Thränen etwas wegwaschen, es wäre alles ungeschehen. Sophie von Kronen.“
Sie couvertiert den Brief; am andern Morgen soll Franz ihn hinübertragen. Völlig erschöpft wirft sie sich auf ihr Lager und wünscht, ein Morgen möchte gar nicht kommen.
Drunten hat Cilly auch geschrieben, auf rosa Papier, zwölf Seiten lang, an Herrn von Bredow, und eine Stelle lautet:
„Gott sei Dank, daß die Zeit der Komödie und sogenannten Anstandsfrist nun bald vorüber ist. Ich finde – drei Jahre Witwe zu sein, ist doch wirklich alles, was die peinlichste Etikette von mir verlangen kann, besonders, wenn man die Verhältnisse berücksichtigt, die ja, Gottlob! keinem bekannt sind außer Dir und mir!
Wir beide, die sich lieben seit der Zeit, als Du Lieutenant warst und ich Backfisch, und die keinen Dreier hatten, um sich heiraten zu können! – Und dann, ehe ich mich recht besinne, bin ich die Frau Deines Kommandeurs geworden.
Daß Dich der gute Klaus auch gerade zum Adjutanten aussuchen mußte!
Und Dich alle Tage sehen und Dich immer lieber haben müssen und doch gefesselt sein – – wahrhaftig, Du ahnst nicht, wie mir das Herz jedesmal klopfte, wenn Dein Klingeln erscholl – ich kannte sie genau, die Art Deines Klingelns. – Ach, mein Herzensschatz, es war eine Situation, zum Verrücktwerden geschaffen. Wenn nicht der Himmel ein Einsehen gehabt und die Franzosen rabiat gemacht hätte, wie wär’s dann geworden? Ich mag nicht darüber nachdenken. –
Weißt Du noch, wie Du mir ‚Lebewohl!‘ sagtest in dem kleinen blauen Zimmer? Ich konnte das Weinen nicht lassen, und Du sahst so blaß aus, und da lagen wir uns plötzlich in den Armen, und ich war noch mitten im Schluchzen und Beben, da trat Klaus ein und glaubte in seiner Gutmütigkeit, ich weine um ihn! Der arme Mensch! – Ach Gott, und als Du wiederkamst, und ich Witwe – und all’ die Zeit, die darauf folgte – ein Zehntel so traurig und neun Zehntel so süß!
Ich will auf Klaus nichts reden, er war ein so guter vornehmer Mann, und eigentlich – betrogen habe ich ihn doch nicht – habe ich? Nein? – –
Und nun bald Dein! Was wird Jochen sagen? Armer Mensch! Nachher so allein mit der sauertöpfischen Anna und der alten Hanne. Ditscha wird ja wohl von Dombeck aus ihre Arme schützend über sein Alter breiten.
Aber, Herz, was wird aus Achim, während wir ein Jahr lang umherschwärmen? Ach, wie freue ich mich darauf! – Ja, was wird aus Achim? Ich habe noch gar nicht daran gedacht.
Also, sei pünktlich bei Leontine in Berlin. Der guten Seele kann man ja vertrauen; ich komme um zwölf Uhr auf dem Anhalter Bahnhof an. Deine glückliche Cilly.“
Cilly drückt ihren zierlichen Wappenring auf das längliche Couvert, küßt den Brief noch ein paarmal, dann stellt sie sich vor den Spiegel, nickt ihrem niedlichen Bilde zu und geht, ein Liedchen trällernd, zu Bette, nicht im geringsten beschwert in ihrem Gewissen, obgleich sie beschworene Treue gebrochen hat. Und droben quält und zerhärmt sich Ditscha um etwas, an dem andere mehr schuld sind als sie, und hat doch für niemand einen Vorwurf als für sich selbst. – –
Ganz früh muß Franz den Brief wegtragen; er reitet hinüber. Und Cillys Schreiben besorgt Grete Busch, die mit ihrer Kleinen auf dem Milchwagen nach Bützow fährt; sie muß doch einmal nach der alten Mutter sehen.
Noch ehe der reitende Bote zurückkommt, hat Ditscha ein Schreiben von Kurt Rothe:
„Der Kleine meiner Schwester ist gestorben, liebe Ditscha, ich reise noch heute nacht zwölf Uhr ab. – Wie geht es Dir? Gieb mir bald Nachricht, ich reise in großer Sorge um Dich ab, mein Herz. Werde nicht krank – – Kurt.“
Um zehn Uhr kehrt Franz zurück und erzählt, er habe den Brief des gnädigen Fräulein durch den Diener auf Herrn Rothes Schreibtisch legen lassen, der Herr sei plötzlich abgereist.
Ditscha ist unschlüssig, was sie thun soll. Franz hinüberschicken, damit er den Brief zurückhole? Sie weiß nicht, ob sie den Mut finden wird, ihn ein zweites Mal abzusenden. Ein anderes Schreiben desselben Inhalts ihm nachschicken? Zu seinem Leid am Sarge des Kindes noch diesen Schlag hinzufügen? O nein! Sie beschließt, das Schreiben dort zu lassen, er mag es finden, wenn er zurückkehrt. –
Und nun kommen seine Briefe, seine Briefe, die von Zärtlichkeit und Liebe überströmen. Am Sarge des Kindes schreibt er, wo er zur Beruhigung der Mutter Wache hält, weil sie meint, der Liebling sei nur scheintot, und abends in seinem Zimmer, wenn er den trauernden Eltern Gesellschaft geleistet hat bis tief in die Nacht, neben dem Lehnstuhl des Mutterle, die Ditscha tausendmal grüßt – jedes Wort wie in Sehnsucht getaucht.
Und Ditscha vermag nicht zu schreiben, darf nicht schreiben, wie sie möchte. Sie verlebt eine Zeit, die nur mit Todesqualen zu vergleichen ist. – Endlich wird er besorgt ob ihrer kurzen seltsamen Kärtchen – wenn er nur fort könnte, er käme ja gleich. – Ob sie nicht wohl sei? Sie sollte es ihm doch sagen, denn dann werde er trotz alledem reisen.
Sie schreibt ihm, sie sei wohl, er solle sich nicht ängstigen. Aber trotzdem kommt ein Brief, der seine Rückkehr meldet, dann und dann – also übermorgen. Hanne bringt Ditscha den Brief ins Wohnzimmer, wo sie mit dem Onkel und Achim sitzt wie alle Tage.
Hanne kann nicht gehen, ohne zu schimpfen über dies verrückte „Dirt“, die Grete. Auf einmal weg zu bleiben mitten in der Arbeit! Schreibt da vor zehn Tagen als Entschuldigung, sie müsse zu ihrem Mann, der krank geworden sei. Wird ja auch nicht gleich sterben. Wenn’s nur nicht gerad’ das schöne Damastgedeck wär’, an dem sie nun so plötzlich aufhört zu arbeiten! –
Ditscha ahnt, warum sie gegangen, sie bringt das Geld in Sicherheit. „Es kann ja jemand anders fertig sticken,“ sagt sie zerstreut, „es eilt ja nicht.“
„Eilt nicht? Gott bewahr’, gnä’ Fröln Ditscha, in vertein Dagen is Hochtid, und – es eilt nich? Ne, dat is putzig.“
Ditscha antwortet nicht, sie sieht starr auf denselben Fleck, dann springt sie auf und läuft hinaus. Da giebt’s Stimmen in ihr, so süß schmeichelnde Stimmen: „Geh’, Ditscha, hol’ den Brief zurück, mach’ den braven Mann nicht unglücklich, Du hast nichts Unehrenhaftes gethan; Onkel sagt’s ja auch. Du hast kein Recht, Dich und ihn unglücklich zu machen.“ Ihr Herz klopft bei dem Gedanken an ein Wiedersehen mit ihm; eine Sehnsucht, so brennend, so ungestüm packt sie, daß sie an den Schreibtisch flüchtet, um dem Diener auf Dombeck mitzuteilen, sie erbitte den Brief zurück, den sie vor einiger Zeit an Herrn Rothe geschrieben; sein Inhalt sei jetzt wertlos, es habe sich irgend etwas geändert.
[395] Aber, wozu eine Entschuldigung? Sie fordert einfach nur den Brief zurück, das ist genug. Morgen früh wird sie ihn holen lassen.
Sie geht etwas gefaßter zum Abendessen hinunter. Cilly neckt sie ob ihrer Blässe und geröteten Augenränder. Die junge Frau ist höchst vergnügt aus Berlin zurückgekehrt, es ist himmlisch da gewesen und sie hat neue Toiletten mitgebracht und einen unsinnig großen Koffer voll Weihnachtsgeschenke; ein Hochzeitsgeschenk für Ditscha ist auch darin, riesig reich und elegant. – Und wenn Cilly allein ist in ihrem Zimmer, träumt sie von vielen Küssen und von reizenden Blumensträußen und ganz närrisch entzückenden Zukunftsplänen. Sie und er – Monte Carlo, Nizza, Florenz, Venedig, Rom, Neapel! Ein Wort, das Gewissen heißt, giebt’s nicht für die reizende Frau. Ç’est la vie! Wie kann sich ein Mensch in das langweilige Gespenst, die Ditscha, verlieben! Freilich muß sie ja zugestehen, daß das Gespenst wunderbare Augen hat, Augen, von langen Wimpern umrahmt, in denen eine Tiefe, eine Liebe, eine Trauer liegt, wie sie sie noch nicht gesehen hat bei einem Menschen; aber sie fürchtet sich ein wenig davor, sie versteht sie nicht!
„Nun, Ditscherle – und übermorgen kommt das Kurterle, um mit dem ‚Mutterle‘ aus der ‚Schlesing‘ zu reden?“ fragt sie lustig das blasse Mädchen. Und als Ditscha bejahend nickt, fügt der Onkel hinzu: „Es ist auch die höchste Zeit, das Kind sieht ganz krank aus. Ja, ja, mein altes Herz, nun rückt die Zeit näher und näher, in der Du uns verläßt.“
„Ditscha, bleib’ doch hier,“ sagt Achim weinerlich. Cilly lacht.
„Onkel Rothe kann ja hierher ziehen,“ behauptet er.
„Oder, Du gehst mit nach Dombeck,“ schlägt Cilly eifrig vor. „Möchtest Du das?“
„Nein, ich will bei Onkel Jochen bleiben,“ sagt das Kind.
Der alte Herr greift zum Taschentuch und schneuzt sich laut, denn die Zuneigung des kleinen Wichtes rührt ihn stets.
„Von mir sagt er gar nichts,“ bemerkt Cilly. „O, Du häßlicher Junge!“
„Was soll ich denn sagen, Mama?“ erklärt er. „Ich kann lange in Deiner Stube sitzen, Du merkst’s nicht ’mal, weil Du immer schreibst. Und als Du mir gestern eine Schnur an die Peitsche knüpfen solltest, hast Du gesagt, ich sollte Dich doch um Gotteswillen zufrieden lassen. Und Mademoiselle ist auch so ungefällig, ich kann sie gar nicht mehr leiden. Ditscha macht mir immer gleich, um was ich sie bitte, und Ditscha soll hier bleiben.“
„Da hast Du es,“ sagt Cilly zu Ditscha, „schreib’ nur dem Rothe ab!“
Ditscha antwortet nicht.
Von Kiel nach Brunsbüttel.
Die letzte Hälfte des verwichenen Winters hat die schleswig-holsteinische Ostseeküste mit ihrem deutschen Reichskriegshafen bis in den März hinein in festen Eisesbanden gehalten und die vier Kriegsschiffe, die just am Geburtstag des Kaisers sich vor den aus See herdrängenden Treibeismassen ins Winterlager, nahe am Düsternbrooker Ufer, hatten zurückziehen müssen, konnten sich sechs Wochen lang nicht von der Stelle rühren. Dann freilich kam der neue Frühling auch mit um so siegreicherer Gewalt ins Land gezogen und nun zeigt sich die Kieler Föhrde wieder im vollen Schmucke ihrer landschaftlichen Schönheit und ihrer imposanten Kriegsherrlichkeit, fix und fertig als Schauplatz für die Junifeste der Kanaleröffnung und der damit verbundenen internationalen Flottenschau. In lang hingestreckten Ketten liegen zwischen den goldgrünen Uferhöhen auf stahlblauer Flut die Panzerkolosse dreier Klassen, die hochgetakelten Schulfregatten, die schlanken Avisos, die eleganten Rennjachten und mitten dazwischen der weiß schimmernde Rumpf der Kaiserjacht „Hohenzollern“, die schon einmal in diesem Jahre dem obersten Kriegsherrn als schwimmende Residenz gedient hat.
Indessen diesmal galt des Kaisers Interesse nicht wie sonst in erster Linie den ihn umgebenden Schiffen und Fahrzeugen der Marine. Nicht an den Masten der Panzerschiffe ließ er seine goldgelb schimmernde Standarte hissen, um an der Spitze der Geschwader zu taktischen Uebungen in See hinauszufahren; sondern was das Reichsoberhaupt während der ersten Apriltage in Kiel beschäftigte, das war immer und immer wieder die neugeschaffene Wasserstraße zwischen Ostsee und Nordsee und der Plan, dieselbe in würdiger Weise vor den Augen der ganzen Welt zu eröffnen.
Der Nordostseekanal steht gegenwärtig im Mittelpunkte des öffentlichen Interesses, und früher als in den letzten Jahren hat in diesem Frühling der Zug der Touristen begonnen, welche, um einen Begriff von der Größe des Bauwerks zu erhalten, den Kanal entweder auf seiner ganzen, 98,65 Kilometer langen Linie oder doch wenigstens auf der bereits seit Jahren von fahrplanmäßigen Dampfern befahrenen östlichen Strecke, von der Mündung bei Holtenau bis zur ehemaligen schleswig-holsteinischen Festung Rendsburg, zu bereisen. Ist doch die Jahreszeit für solche Fahrt gerade jetzt die günstigste: in entzückender Jugendschönheit präsentiert sich die schleswig-holsteinische Frühlingslandschaft und auf dem glatten Wasserspiegel und auf den Ufern der neuen Verkehrsstraße brennt noch nicht die erschlaffende Glut der Sommersonne. Aber auch im Geist aus der Ferne wird der freundliche Leser gern uns auf solcher Maienfahrt durch den Nordostseekanal begleiten.
In einer kleinen halben Stunde bringt uns der stündlich von Kiel nach der Festung Friedrichsort abgehende Föhrdedampfer zur Holtenauer Mündung. In anfangs nordnordöstlichem, dann nördlichem Kurs dampfen wir zum inneren, engeren Hafen hinaus; vorüber zur Rechten an den Panzerschiffen des Manövergeschwaders, die nun nicht mehr nötig haben werden, den weiteren und gefährlicheren Weg um Skagens Felsenküste zu nehmen, wenn sie im Spätsommer die Wilhelmshavener Reede aufsuchen, um in den Verband der Herbstübungsflotte einzutreten. Zur Linken aber zieht die Frühlingspracht des Düsternbrooker Ufers vorüber, in die Lichtfülle der Morgensonne getaucht; in lauschigen Gärten freundliche Villen, von Zeit zu Zeit ein öffentliches Bade- und Wirtschaftsetablissement, solide Landungsbrücken für anlegende Dampfer und schwanke Stege für Ruder- und Segelboote, belebt von buntfarbiger Menschenmenge, die sich des Lenzes freut; und hinter dem allem emporwachsend die frischgrünen Buchenwaldhöhen von Bellevue und Umgebung. Hinter dem hohen Ufervorsprung von Bellevue aber tritt plötzlich das gleichzeitig fast auf das Niveau des Ostseespiegels abfallende Gestade [396] westwärts zurück, um erst etwa fünf Kilometer weiter nördlich wieder zum Leuchtturm von Friedrichsort sich zu wenden, an welchem die enge, durch mächtige Festungsanlagen auf beiden Ufern verteidigte Ausfahrt vom Binnenhafen auf die Außenreede östlich vorbeiführt. Fast genau auf der Mitte dieser hinter Bellevue im flachen, mehrfach geknickten, westwärts ausschweifenden Bogen von Süd nach Nord führenden Küstenlinie liegt, die letztere im rechten Winkel schneidend, die Ostmündung des neuen Kanals, von See her unsichtbar und daher durch kein Geschoß feindlicher Kriegsschiffe erreichbar, wohlgeborgen im Innern eines Hafens, der durch seine natürliche Beschaffenheit und die an seinen Ufern drohenden Forts so ausgiebig geschützt ist, daß nach dem Urteil maßgebender Autoritäten an ein Erzwingen der Einfahrt schlechterdings nicht gedacht werden kann.
Jeder Laie sieht auf den ersten Blick, von welcher strategischen Wichtigkeit die Einführung des Nordostseekanals in das gesicherte Bassin des inneren Kriegshafens sein mußte. Man denke sich zum Beispiel diesen sowie die Elbmündung blockiert; es gelingt aber einem von Wilhelmshaven aus operierenden deutschen Geschwader, die letztere zu erzwingen und die Kanaleinfahrt bei Brunsbüttel zu gewinnen, dann wird es, die neue, 98,65 Kilometer lange Wasserstraße benutzend, in kurzer Zeit im Kieler Hafen sein und mit der dort postierten Flottenmacht vereinigt die Blockade eines nicht gar zu übermächtigen Feindes sprengen können, ehe dieser von den Vorgängen in der Nordsee und der plötzlichen Verstärkung seines Gegners auf der Kieler Föhrde eine Ahnung hat. In dieser Möglichkeit, die deutsche Flottenmacht, vom Feinde ungestört und unbeobachtet, je nach Bedarf in der Nordsee oder in der Ostsee verstärken zu können und dabei jedes in dem einen oder anderen Meere verwundete Schiff auf der Werft zu Kiel reparieren, beziehungsweise mit allem Kriegsmaterial, Kohlen und Proviant ausstatten zu können, darin liegt wie jedem einleuchtet, der große militärische Vorzug, welcher die heute thatsächlich hergestellte Kanallinie vor allen früheren Projekten auszeichnet.
Die Geschichte hat uns deren, soweit sie je zu ernstlicher Erwägung gezogen sind, im ganzen sechzehn überliefert, von denen die ältesten, dem 16. und 17. Jahrhundert angehörig, die Verbindungsstraße zwischen den beiden Meeren viel weiter nördlich, quer durch das Herzogtum zu legen gedachten. Erst 1774 gelangte eines der nachfolgenden Projekte zur Ausführung. In diesem Jahre that König Christian VII., der Freund Struensees, den ersten Spatenstich zum sogenannten Eiderkanal. Erst in der Zeit der schleswig-holsteinischen Erhebungskriege tauchten neue Kanalprojekte auf, und jetzt war man ziemlich allgemein der Ueberzeugung, daß die Westmündung des neuen Kanals an der Unterelbe liegen müsse. Aber während man schon 1848/49 die Kieler oder Eckernförder Bucht als östlichen Ausgangspunkt ins Auge faßte, zielten sämtliche Projekte der sechziger Jahre auf eine Verbindung der Elbe mit der für Lübecks Handel gelegeneren Travemünder Bucht ab. Da war es denn im Jahre 1878 der um die Ausführung des Kanalbaues sehr verdiente Hamburger Reeder H. Dahlström, der in seiner Schrift über „Die Ertragsfähigkeit eines Schleswig-holsteinischen Seeschiffahrtskanals“ die Linie Brunsbüttel-Kiel als einzig rationelle empfahl und, da einmal nach vollständiger Einrichtung und Armierung des Reichskriegshafens dieser nach Ansicht der Regierung unbedingt zu berücksichtigen war, die Erlaubnis zur Ausführung der Vorarbeiten erhielt. Das auf Grund der letzteren festgelegte Projekt wurde im Jahre 1886 von Bundesrat und Reichstag, Herrenhaus und Abgeordnetenhaus unter der Bedingung angenommen, daß von den auf 156 Millionen Mark veranschlagten Kosten ein knappes Drittel von 50 Millionen durch preußische Mittel aufgebracht werden sollte. Am 3. Juni 1887 legte Kaiser Wilhelm I. den Grundstein zum großen nationalen Bauwerke; und seitdem hat auf der ganzen Strecke von Holtenau über Rendsburg nach Brunsbüttel ein rastloses Zusammenarbeiten intellektueller, physischer und mechanischer Kräfte geherrscht, wie es in gleicher Intensität von einem Bauwerk moderner Kultur bisher nicht erfordert wurde.
Ein kurzer Abriß der Entstehungs- und Baugeschichte des Nordostseekanals wird in der Gedächtnis- oder, wie der Volksmund sagt, „Ruhmeshalle“ dort im Parterre des neuerrichteten Leuchtturms in Erz verewigt werden, an dessen anmutiger Silhouette wir uns, während wir von Bellevue aus die Wiker Bucht überqueren, immer von neuem erfreuen. Zu ihm wenden wir auch, [397] den am Nordufer der Kanalmündung anlegenden Dampfer verlassend, zunächst unsere Schritte. Der wohlgefügte neu angelegte Quai, der zu dem für Handelsschiffe bestimmten Vorhafen gehört, erstreckt sich in direkt östlicher Richtung bis zu einer bastionartig aufgeschütteten Bodenerhebung, hinter welcher die Uferlinie fast rechtwinklig nach Norden in der Richtung auf Friedrichsort abbiegt. Hart in dem Winkel, am Kanal- und Föhrdeufer zugleich, ist der neue Leuchtturm (s. S. 395) auf der Bastion erbaut, die Einfahrt in die Wasserstraße markierend. Sein Fundament reicht tief durch die Erdaufschüttung hindurch bis auf den ehemaligen Meeresgrund; denn wo heute der Leuchtturm steht, da spülte noch vor vier Jahren der von Südost getriebene Wellenschlag über Muscheln und Seetang an das damals bedeutend weiter zurückliegende Gestade.
Der Turm wird von seiner Sohle bis zur Spitze der ihm noch fehlenden Lampe reichlich fünfzig Fuß hoch sein und somit die nur drei knappe Kilometer lange Ansegelungslinie vom Friedrichsorter Leuchtturm bis zur Kanalmündung leicht beherrschen. Im übrigen dient er, wie bereits angedeutet, neben seiner nautischen Bestimmung auch monumentalen Zwecken und ist demgemäß ornamental ausgestattet. Steigt man von der erst später freizugebenden, am östlichen Fuß der Bastion in die Kieler Föhrde hinein gebauten neuen Dampferbrücke aus die breite Freitreppe zum Plateau empor, dann sieht man auf gleicher Höhe mit der den breiteren achteckigen Unterbau nach oben hin abschließenden Galerie die Bugfigur eines Wikingerdrachen aus dem Gemäuer heraustreten, der, grimmig gen Norden züngelnd, die breiten Pranken weit auseinander krallt; zwei Delphine, zum Schiffsbug emporschnellend, werden die unter dem letzteren anzubringende Gedenktafel halten. Das ganze Werk, aus Bronze hergestellt, wiegt vierzehn Centner und ist in der Kunstgießerei von Spinn u. Sohn in Berlin angefertigt.
Auf der diesem Schmuckwerk entgegengesetzten südlichen Seite des Hauptgebäudes ist diesem ein kleiner runder Treppenturm angeklebt, in welchem der Aufstieg bis zur Galerie erfolgt. Dadurch wurde es ermöglicht, den ganzen Unterbau für die einfach, aber würdig ausgestattete Gedächtnishalle zu verwenden. Ueber dem von Osten in das Gewölbe führenden Portal ist das Bogenfeld außenseits durch ein Bronzerelief von der Hand des Berliner Bildhauers E. Herter ausgefüllt: zwei charakteristisch entworfene Meerestöchter, die Ostsee und die Nordsee darstellend, welche einander die Hände reichen und somit die Vereinigung beider Meeresteile zu symbolischer Versinnlichung bringen. Von demselben Künstler stammen die drei dem Portal gegenüber im Innern angebrachten Medaillons der am Kanalbau beteiligt gewesenen ersten deutschen Kaiser aus dem Hohenzollernhause, unter deren jedem eine rechteckige Nische noch der Einfügung einer bronzenen Votivtafel harrt und von denen zwei am Tage der Eröffnung enthüllt werden sollen. Nördlich vom Leuchtturm, zwischen diesem und der auf demselben Plateau erbauten freundlich ausgestatteten, mit Veranden rings umgebenen Wartehalle, hat man den Boden für den Schlußstein ausgeschachtet, der ursprünglich in den mosaikartig ausgelegten Estrich der Gedächtnishalle eingefügt werden sollte, nun aber auf persönlichen Wunsch des Kaisers an dieser Stelle in den Boden versenkt werden wird: frei sichtbarlich für die Tausende, welche am 21. Juni in unmittelbarer Nähe des Kaisers auf dem Plateau oder von den westlich und nördlich am Abhang desselben im Ban begriffenen Riesentribünen aus dem feierlichen Akt zuschauen werden. Dieser Bau sowie die Herstellung von nicht weniger als acht, nur für die Ausschiffung der Festgäste bestimmten provisorischen Landungsbrücken hat in den letzten Wochen nahezu tausend Arbeiter in geschäftigster, ein überaus bunt bewegtes Bild darbietender Betriebsamkeit erhalten. Nordwärts pflanzt sich das am Bootshafen wimmelnde Arbeitsleben auf die Baustätte des Lotsenhauses fort, in welchem, ebenso wie in Brunsbüttel, vorläufig zwanzig bereits angestellte und gegenwärtig auf den Panzerschiffen des Manövergeschwaders zwecks Orientierung über deren Manövrierfähigkeit installierte Kanallotsen Station nehmen.
Nahe am Bauplatz sieht man, in drei Blöcke zerlegt, den verwitterten, flechtenbewachsenen Obelisken im Sande liegen, der einst an der Mündung des alten Eiderkanals zum Gedächtnis König Christians errichtet wurde und nunmehr voraussichtlich zu neuen Ehren kommen und auf dem Plateau Aufstellung finden wird, unweit der Drei-Kaiser-Gedächtnishalle an der Einfahrt des neuen Nordostseekanals.
Das südliche Ufer des Vorhafens erstreckt sich – von den Schleusen aus gerechnet – nur ungefähr halb so weit ostwärts zur Föhrde wie das nördliche, um dann plötzlich in spitzem Winkel nach Südsüdwest abzubiegen und hier den 280 Meter [398] langen Marinequai zu bilden, der, durch eine Reihe kräftiger Dalben geschützt, sich in gleicher Richtung als 61/2 Meter breite Mole fortsetzt, hinter welcher der von drei Seiten durch Land begrenzte, nach Süden offene neue Torpedobootshafen ausgeschachtet wird. Der Hafen, dessen Herstellung noch eine Bodenbewegung von rund 50000 Kilometern erfordert, wird sechs Meter tief und soll einer vollzähligen Torpedobootsflottille Aufnahme gewähren, während an der Außenseite der Mole, bezw. des Marinequais, in elf Meter tiefem Wasser die größten Panzerschiffe Kohlen aufnehmen können. Auf dem freien Raum zwischen dem Nordufer des Torpedobootshafens und dem südlichen Quai der Kanalmündung, der später zum Kohlendepot für die Marine eingerichtet wird, herrscht augenblicklich, wie auf dem eigentlichen Festplatz am Nordufer, das lebendigste Arbeitstreiben. Denn hier wird das Gebäude für das große Kaiserdiner in Gestalt einer Fregatte errichtet, nach dem Modell der alten „Niobe“, welche, 1843 in England erbaut und 1862 für die deutsche Marine angekauft, dieser 28 Jahre hindurch als Kadettenschulschiff gedient hat.
Vom Leuchtturm westwärts blickend, haben wir hinter dem Vorhafen die weltberühmt gewordenen Schleusen bereits liegen sehen, denen wir nun schnell unseren Besuch abstatten. Ueber das längst zugeschüttete Bett des alten Eiderkanals und das vielfach zerhackte und verwühlte Terrain der jahrelangen Bauarbeitsstätte hinweg gelangen wir an das interessante Werk, das freilich während des Baues einen überwältigenderen Eindruck machte als heute. Denn nur wer gesehen hat, welche ungeheure Kraftmassen angestrengt wurden, um die Schleusengruben auszuschachten und auszumauern, welche riesenhaften Mengen von Schotter und Beton zur Festigung der Fundamente verwendet sind, welche komplizierte Pumpanlagen Tag und Nacht arbeiteten, um das eindringende Grundwasser mittelst der auf unserem Bilde, S. 396 noch sichtbaren Holzrinnen abzuleiten, und welches labyrinthisch verwirrende Baugerüst, dessen Rest wir ebenfalls hinter den halb geöffneten Thorflügeln erblicken, die Baugruben füllte, ehe das aus besten Ziegeln, Klinkern und Granit scheinbar für alle Ewigkeit gefügte Bauwerk fertig dastand: nur der vermag heute zu beurteilen, was für ein Kolossaldenkmal menschlichen Kulturfortschritts und menschlicher Thatkraft diese beiden, parallel nebeneinander liegenden, je 217 Meter langen Schleusenkammern sind, die heute mit Wasser gefüllt sind und darum auch des früheren Eindrucks ihrer gähnenden Tiefe entbehren. Bei 25 Metern Breite stellt jede der Kammern, sowohl in Holtenau als auch bei dem Brunsbütteler Werke, eine nutzbare Länge von 150 Metern zur Verfügung, so daß zwar nicht mehr die allergrößten unter den heutigen Oceandampfern, wohl aber unsere schwersten Panzerschiffe durchgeschleust werden können. In Holtenau ist die Durchschleusung nur an durchschnittlich 25 Tagen im Jahr erforderlich, da der Wasserspiegel des Kanals auf gleichem Niveau mit dem Mittelwasser der Ostsee gehalten ist und auf dieses eine regelmäßige Ebbe und Flut nicht einwirkt. Ist einmal der Wasserstand der Ostsee bei dauerndem Nordwind höher als derjenige im Kanal, so werden die ostwärts sich öffnenden und im geschlossenen Zustande ebendahin konvergierenden, höheren Flutthore benutzt, im entgegengesetzten Fall gelangen die nach Westen sperrenden niedrigeren Ebbethore zur Verwendung. Ein Ebbe- und ein Flutthor befinden sich jedesmal hart hintereinander, und zwar an jedem Ende der Schleusenkammer, sowie außerdem inmitten derselben, wo sie, als Gitterthore mit mählich zu öffnenden Schützen versehen, die Funktionen von Sperrschleusen für den Fall übernehmen, daß die allzu abnorme Differenz der Wasserstände nach der einen oder anderen Seite hin eine zu heftige Strömung erzeugen würde. Im übrigen wird die gewöhnliche Differenz ohne Benutzung der Sperrthore durch einen, wie auf unserem Bilde zu sehen ist, außerhalb der Schleusenkammern an deren beiden Enden auf jeder Seite ausmündenden Umlauf ausgeglichen, von dem eine Anzahl Stichkanäle rechtwinklig abzweigt und somit auf der ganzen Länge das Wasser gleichzeitig und unter gleichmäßiger Druckverteilung in die Schleusenkammer einführt. Machen Reparaturarbeiten einmal die Entleerung der Schleusenkammern nötig, so wird an den Enden derselben je ein schwimmender Verschlußponton in die dem Mauerwerk eingearbeiteten, im Vordergrund des Bildes ebenfalls erkennbaren Leitrillen eingelassen. Diese Pontons von der Höhe der Flut-, bezw. der Ebbethore sinken, indem sie sich selber vollpumpen, durch die zunehmende Wasserschwere mit dem Kiel bis auf den Grund, bilden einen hermetischen Verschluß für die Kammermündungen und beginnen nun das beiderseits fest abgeschlossene Bassin mit Maschinenkraft leer zu pumpen.
Wenn man sieht, mit welcher spielenden Leichtigkeit ein 2200 Centner wiegender Flutthorflügel sich öffnen und schließen läßt, so ahnt man, daß auf ihn eine gewaltige Kraft wirken muß. Der Wasserdruck, der den gesamten Mechanismus bewegt, wird in dem am südlichen Ufer neben dem selbstthätigen Wasserstandspegel erbauten Maschinenhause durch drei starke Hauptmaschinen erzeugt und von dort nach dem die beiden Schleusenkammern trennenden Mittelpfeiler übertragen, in dessen Innerem die mechanischen Einzelwerke zum Oeffnen und Schließen der Thore, zum Regulieren der Schotten in den Umlaufskanälen und zum Aufziehen und Niederlassen der Schützen in den Gitterschleusen aufgestellt sind, um, wenn wirklich einmal eine Unregelmäßigkeit in dem wunderbar exakt arbeitenden Betriebe eintreten sollte, durch ein auf der Plattform des Pfeilers von Menschenhand dirigiertes Spillwerk ersetzt zu werden.
Doch inzwischen ist unser Dampfer in der Schleuse, in welcher reichlich ein Dutzend seinesgleichen Platz haben würde, angelangt. Noch lassen wir uns schnell vom Schleusenmeister einige Aufklärunugen erteilen und erfahren, daß drüben am nördlichen Ufer das eben im Bau begriffene Gebäude zur Unterbringung des Hafenamts bestimmt ist, während man diesseits in den Maschinenhäusern mit der Aufstellung der Dynamos für die gegennwärtig auf der ganzen Kanallinie in der Einrichtung begriffene elektrische Beleuchtung beschäftigt ist. Die Schleusenanlagen von Holtenau und Brunsbüttel, wo ebenfalls die gleiche Anzahl von Dynamomaschinen aufgestellt wird, erhalten je zwölf Bogenlampen, während auf der ganzen Strecke zwischen beiden Endstationen nahezu tausend Pfähle errichtet werden, deren jeder vier Meter hoch ist und eine fünfundzwanzigkerzige Glühlampe trägt.
Das Westthor der Schleuse an Bord des Dampfers passierend, gelangen wir zunächst in den Binnenhafen, dessen im wesentlichen rechteckige Wasserfläche bei 500 Metern Länge und 200 Metern Breite etwa zehn Hektar groß ist. Starke Dalben schützen die Quaimauern an beiden Ufern, während in Verlängerung der Schleusenpfeiler sich eine auf Rammpfählen ruhende Brückenkonstruktion noch eine Strecke weit in das Hafenbassin hineinerstreckt, welche gleichzeitig als Leitwerk und als Wartebrücke für aus- und eingehende Schiffe dient. Der Binnenhafen, der dem Wechselverkehr mit dem Lande gewidmet ist, verschmälert sich westwärts, bis sein Wasserspiegel nur noch die normale Breite desjenigen des eigentlichen Kanals, nämlich 70 Meter bei mittlerem Stande, besitzt. An dieser Stelle ist die Einfahrt in das eigentliche Kanalbett noch zum größten Teil durch die mitten in demselben liegenden Reste der alten Friedrichsschleuse, der ersten im ehemaligen Eiderkanal, gesperrt, doch ist man emsig beschäftigt, die Tausende von Fundamentpfählen durch Maschinenkraft einzeln aus dem Grunde zu ziehen, um dann mit der Wegbaggerung der noch inselartig über den Wasserspiegel hervorragenden Bodenmassen zu beginnen. Dicht hinter dieser [399] sehr lebhaften Arbeitsstätte passieren wir die Pontondrehbrücke, welche die Landstraße von Kiel nach Friedrichsort über den Kanal führt, und gewinnen nun vorläufig das Fahrwasser der heute fertigen Strecke.
Die Partie zwischen Holtenau und dem „adligen Gut“ Knoop hat, wie sich auf dem Bilde S. 397 erkennen läßt, noch heute ihre landschaftlichen Reize, mußte aber doch in ihrer wunderbaren Lieblichkeit erhebliche Einbuße erleiden. Wo vormals zur Linken aus frischgrüner Wiese sich die buchenbewaldeten Hügel emporhoben, da haben jahrelang Hunderte von Arbeitern im ausgerodeten Gehölz geschaufelt und die Kreuzhacke geschwungen; da rissen die ächzenden, rummelnden Trockenbagger ein Stück Land und zugleich Poesie nach dem andern vom Ufer, da rollten die langen Lowriezüge fauchend und pfeifend hin und wieder, schwer beladen mit dem weggebaggerten Erdgute, das draußen vor der Kanalmündung abgelagert wurde und den Grund schuf, auf dem sich heute der Leuchtturm erhebt. Der vielbesuchte Wirtschaftsgarten an der vormaligen Knooper Schleuse ist verschwunden, und über die Stelle, wo das Wirtshaus selber stand, da fahren wir just eben rücksichtslos hinweg. Johann Gottfried Seume hat, als er auf seiner Kopenhagener Reise in Kiel weilte, oftmals in dieser Naturlieblichkeit gesessen und ausgeruht und „selten habe ich“ – so sagt er – „eine fröhlichere Mahlzeit gehalten als das Frühstück dort am Kanal im Wirtshause. Fast ward, welches nur selten geschieht, die Stimmung meiner Seele idyllisch“. Ja! mit der Idylle ist’s heute vorbei für alle Zeiten; aber freilich! damals hätten keine stolz getakelten Vollschiffe den armseligen Kanal passieren, geschweige denn einander begegnen und unbehindert vorbeifahren können. Das aber ist in dem nun vollendeten durchweg neun Meter tiefen, auf der Sohle 22 Meter breiten Nordostseekanal in der That möglich, selbst wenn der Wasserstand ein ausnahmsweise niedriger sein sollte. Nur die sehr tief gehenden, schweren Kriegsschiffe machten die breiter angelegten, sogenannten Ausweichen erforderlich, deren wir sechs auf der ganzen Kanalstrecke treffen.
Von Knoop bis Levensau machte ehedem der Eidercanal einen weiten, durch eine dritte Kastenschleuse unterbrochenen Bogen, der heute durch den nach dem anliegenden, von der Kanalkommission angekauften Gute „Projensdorf“ genannten Einschnitt ersetzt ist, einen gewaltigen, breiten und tiefen, zunächst schnurgerade verlaufenden Schlitz, der an der höchsten, 34 Meter über der Kanalsohle liegenden Stelle seiner Böschung von der Levensauer Hochbrücke überspannt wird. Daß die Kiel-Flensburger Eisenbahn das Kanalbett hier nicht, wie ursprünglich geplant, auf einer Drehbrücke, sondern mittels eines weit großartigeren Bauwerkes überschreitet, ist der persönlichen Initiative des Kaisers zu danken. Denn er war es, der den Gedanken des Baus einer Hochbrücke nach dem Muster der an einer mehr nach der Nordsee zu gelegenen Stelle des Kanals, in Grünenthal, bereits fertiggestellten anregte und dazu am 21. Juni 1893 den Grundstein legte. Weithin ist die Brücke ins holsteinische und schleswigsche Land hinein sichtbar; und von weitem schon sehen auch wir auf unserer Kanalfahrt den leichten luftigen Bogen von Ufer zu Ufer sich spannen. Aber je näher wir ihm kommen, desto bewunderungswürdiger wird uns das Werk, das sich immer weiter und weiter auswächst, ohne an kühner Grazie der Konstruktion einzubüßen. In der letzteren der Grünenthaler Brücke ähnelnd, unterscheidet sich der Levensauer Bau von ihr dennoch in manchen Einzelheiten. Während hier wie dort die lichte Höhe des Bogens über dem normalen Wasserstande 42 Meter beträgt, so daß auch Schiffen mit höheren Masten, als sie der auf unserem Hauptbilde passierende 9757 Tons-Panzer „König Wilhelm“ führt, die unbehinderte Durchfahrt gestattet ist, übertrifft die Levensauer Brücke diejenige von Grünenthal an Spannweite noch um 7,5 Meter. Denn 156,5 Meter beträgt bei dieser, 164 aber bei jener die direkte Entfernung zwischen den beiden Widerlagern, mächtigen Pfeilerbauten, auf denen die von den Bogen getragene Fahrbahn mit ihren Enden aufliegt und welche von je zwei architektonisch wirksamen Türmen gekrönt und seitlich durch ebensoviele Reichsadler, in Riesengröße reliefartig in Sandstein gehauen, geschmückt sind. Die Fundamente der Widerlager liegen hart am Fuße der nach dem Kanal hin schräg abfallenden Rampen des Eisenbahn- und Chausseedammes, welche mit den Brückenpfeilern, in Grünenthal durch einen Bogettbau, in Levensau hingegen durch ein nach allen Seiten geschlossenes, einen kapellenartigen Raum bildendes Gewölbe verbunden sind.
Hat der Dampfer in Levensau zu löschen oder zu laden, so hat man allenfalls Zeit, von der Kanalböschung aus in einem der Türme die Wendeltreppe emporzusteigen, um von der Galerie aus einen Rundblick ins Land und auf das Bauwerk selber zu werfen, das übrigens dort oben bei weitem nicht den imposanten Eindruck macht wie vom Dampfer aus. Im anderen Falle dürfen wir uns nicht aufhalten, sondern müssen zwecks genauerer Besichtigung gelegentlich mit der Bahn von Kiel aus einen Ausflug zur Brücke machen, an der seitens der Direktion der Kiel-Flensburger Eisenbahn neuerdings eine Haltestelle errichtet worden ist. Unmittelbar hinter der Brücke macht der Kanal eine seiner schärfsten Kurven; der Kapitän läßt die Dampfpfeife erschallen um etwaige hinter der Biegung ansegelnde Galeassen zu warnen; dann geht’s weiter nach Landwehr, der vierten Schleuse des ehemaligen Eiderkanals, der damit die Wasserscheide zwischen Ostsee und Nordsee erklommen hatte und nun durch weitere zwei Schleusen bei Königsföhrde und Kluvensiek zur Eider hinabgeführt wurde. Das Wasserreservoir zur Speisung des alten Kanalgebietes bildete der gleich hinter Landwehr auch vom Nordostseekanal angeschnittene Flemhuder See, bei welchem wir die erste Ausweichstelle antreffen. Da der Wasserspiegel dieses Sees volle sieben Meter über dem Mittelwasser der Ostsee und somit auch über dem Niveau des neuen Kanals lag, so hat er um diese erhebliche Differenz gesenkt werden müssen, ein Stück Arbeit, daß mit technischer Genialität ausgeführt ist, ohne daß die umliegenden ausgedehnten Wiesenländereien durch Wasserentziehung irgendwie entwertet worden wären. Man zog nämlich rings am Ufer hin einen gegen den inneren See abgedämmten Kanal, der nach wie vor alle Zuflüsse aus dem Gelände aufnimmt und noch heute denselben Wasserstand hat wie früher, während das ganze übrige innere Becken in der That um sieben Meter gesenkt wurde. Von dem Ringkanal aber fällt das dort überschüssige Wasser über ein breites Wehr kaskadenartig in das Becken des Sees herab, um von dort in den Kanal abzufließen, wenn es der Ausgleich des Niveaus erfordert.
Später erst wurden die folgenden Abschnitte von Landwehr bis Steinwehr eröffnet, welche, fast eine gerade, von Ost zu West laufende Trace bildend, den vielfach gewundenen Weg, den der Eiderkanal zwischen diesen Ortschaften machte, ganz bedeutend abkürzen. Landschaftlich reizvoll liegt auf der Strecke, auf der man wie fast überall auf der ganzen Kanallinie noch einzelne das Bett austiefende Schwimmbagger arbeiten sieht, das größere Dorfs Sehestedt mit seiner [400] aus unbehauenen Feldsteinen erbauten Kirche, die, eine der ältesten in der Provinz, verwundert genug in den Wasserspiegel hineinschauen mag, an den sie urplötzlich hart herangerückt wurde. Der Ort ist vom Kanal mitten durchschnitten, so daß die in der nördlichen Hälfte wohnhaften Kinder eine hier wie an so vielen Stellen der ganzen Linie den Verkehr vermittelnde Fähre benutzen müssen, um zu der im südlichen Teil des Dorfs gelegenen Schule zu gelangen. Nach viertelstündiger Fahrt gelangt man von Sehestedt bei der genannten Ortschaft Steinwehr in das Gebiet der Obereiderseen, in denen der Kanalbau nur geringe Mühe gemacht hat, da es sich fast ausschließlich um Ausbaggerungen handelte, die im Audorfer See allerdings eine Wendestelle betrafen, auf der die größten Kriegsschiffe mit Bequemlichkeit drehen können.
Bei der Stadt Rendsburg, 36,6 Kilometer von der Holtenauer Mündung entfernt, wird es den Kapitänen kleinerer Fahrzeuge fortan freistehen, ob sie die neue Wasserstraße nach Brunsbüttel oder, wie bisher, die Eider nach Tönning benutzen wollen, um die Nordsee zu erreichen. Denn mit der Untereider ist der Nordostseekanal am sogenannten Kronwerk im nördlichen Teile der Stadt durch eine bequeme Schleuse in Verbindung gesetzt, welche, erheblich breiter und tiefer als die frühere, für 550000 Mark hergestellt worden ist. Gleichzeitig wurde der vom Audorfer See nach dieser Schleuse geführte Wasserarm durch eine neue Drehbrücke für die nordwärts von Hamburg nach Schleswig und weiter nach Jütland führende Eisenbahn überbrückt. Der Nordostseekanal selber hingegen ist in einer Entfernung von einem Kilometer südlich um die somit in der Gabelung zweier Vorteil bringender Wasserstraßen liegende Stadt herumgeführt, um, bei Osterrönfeld durch zwei eingleisige Eisenbahndrehbrücken und eine dritte Brücke für die Chaussee überspannt, seinen Weg durch den Saatsee zu nehmen, woselbst umfangreiche Betriebshafenanlagen, Depots und dergleichen mehr eingerichtet worden sind. Dann zieht er in südwestlicher Richtung durch das langweilige Moor des Eiderthals, bis er an der Grenze des Landes Dithmarschen auf einen von Nord nach Süd verlaufenden Höhenzug trift, den er bei Grünenthal durchschneidet.
Hat man, von dem holsteinischen Eisenbahn-Centralknotenpunkt Neumünster kommend, auf der westholsteinischen Bahn bei der Station Hanerau-Hademarschen, dem Sterbeort Theodor Storms, die Grenze Dithmarschens überschritten, so sieht man alsbald die Hochbrücke von Grünenthal vor sich, und das langsame Tempo des Zuges verrät, wie sehr er bergan steigen muß, um sie zu erreichen; wenn er nicht überhaupt, was häufig auf dieser Sekundärbahn vorkommt, wiederholt zurückfahren muß, um einen neuen Anlauf mit verstärktem Dampf zu nehmen. Auch bei Levensau war es nötig, um der dortigen Brücke die verlangte lichte Höhe von 42 Metern über den Kanalspiegel zu geben, daß man erhebliche Dammaufschüttungen bis zur Brückeneinfahrt aufführte. Weit schwieriger und umfangreicher aber waren die Arbeiten in Grünenthal, wo die oben erwähnten Rampen vor den beiderseitigen Brückenthoren eine Höhe von 21 Metern über dem Terrain besitzen und daher eine Erdbewegung von fast zwei Millionen Kubikmetern erforderten, bei deren Heranschaffung, von zahllosen anderen Maschinen abgesehen, zwei Lokomobilen von je 100 Pferdekräften ununterbrochen Züge von je 30 Kippwagenn von über drei Kubikmetern heranholten. Da außerdem auch die Ausschachtung des Kanalbetts ein schweres Stück Arbeit war, so ist Grünenthal Jahre hindurch eine der interessantesten Kanalbaustätten gewesen, an der Tausende von „Grandmonarchen“, wie der Holsteiner gemeiniglich die Erdarbeiter nennt, untergebracht werden mußten. Noch heute ist ein Teil des dortigen Barackenlagers, bei welchem manch blutiger Strauß an die alte Dithmarsen-Wildheit erinnerte, mit Arbeitern belegt.
In Grünenthal, dessen richtigen Namen – man schrieb früher allgemein Grünthal – man erst während der Kanalbauperiode mit ausgegraben hat, trifft’s sich nicht selten, daß man den Rest der von nun an fast südlich und nur auf der letzten Strecke wieder südwestlich gerichteten Wasserstraße mittels einer der dort zahlreich verkehrenden Kanalpinassen bis Brunsbüttel zurücklegen kann. Ist man auf diesem Wege an Hochdonn vorüber bei dem wenig östlich von der Kanallinie gelegenen Flecken Burg angelangt, so lohnt sich’s, auf ein Stündchen an Land zu gehen. Denn dieser Ort, malerisch am Fuß der hier schroff aus der Marsch hervorsteigenden Geest gelegen, in dessen Nähe die Grafen von Stade vor grauen Zeiten ihre Bökelnburg erbauten, bietet Punkte, von denen aus man den reizendsten Blick über die grüne Marsch und das in der Ferne dämmernde dunkle Moor einerseits und anderseits in die leicht hügelige Geest, mit der Grünenthaler Brücke als weithin sichtbare Landmarke, genießt. Durch seine Berührung mit dem Kanalbau aus seiner Weltvergessenheit geweckt und mit einem kleinen Hafen an der neuen Wasserstraße ausgestattet, hat der idyllische Ort denn auch bald seine Bestimmung erkannt und empfiehlt sich heute in den Zeitungen als – Luftkurort.
[401]
[402] Von Burg aus passieren wir die letzte Ausweiche und sind sodann nur noch durch den Kudensee und seine Moräste vom Ziel unserer Reise getrennt. In diesem Moor hat, wie auch an dem zwischen Rendsburg und Grünenthal liegenden Meckelsee, die Kanalarbeit viel Mühe gemacht und eine ganze Summe von Geduld gefordert. Aber allmählich ist man doch zum Ziele gekommen und hat den meilenweit herbeigeholten Sand, anfangs in kleinen Handkarren, später mit Lowries, ins unergründliche Moor hineingebracht, bis er endlich einen festen Grund bildete, auf den weitere größere Massen aufgetragen werden konnten. Heute begrenzen zwei parallele Dämme die neue Wasserstraße auf ihrem Wege durch das von ihr abgeschlossene Moor, das sich zu beiden Seiten weithin dehnt. Hat man diese etwas melancholische Partie hinter sich und auch den Kudensee durchquert, auf welchem, wie in dem Rendsburger Seengebiet, das Fahrwasser durch nachts mit elektrischen Glühlampen ausgestatteten Bojen gekennzeichnet wird, so bedarf es höchstens noch, der vollbeladenen Fähre, welche auf unserem Bilde, S. 400, das Passieren eines Panzerschiffs abwarten mußte, den Vortritt über den Kanal zu lassen, um dann eiligst unter der letzten Drehbrücke, über welche eben ein Zug der Marschbahn hinwegsaust, hindurchzuschlüpfen und vor den geschlossenen Flutthoren der Schleusen von Brunsbüttel an Land zu gehen.
Es ist Abenddämmerung. Langsam schlendern wir an den Schleusen entlang, welche, im übrigen genau so eingerichtet wie diejenigen zu Holtenau, mit höheren Flutthoren und darum auch mit höheren Wandungen ausgestattet werden mußten. Massig ragt das gewaltige Bauwerk über den Erdboden empor, und massig werden sich bei ihrer Durchfahrt über die Plattformen der Quais die Geschütztürme der großen Panzerschiffe erheben. Links von dem Bauplatz der Kanallotsenstation, rechts von demjenigen des Elblotsenhauses gehen Maurer und Handlanger plaudernd nach Haus. Es ist Feierabend. Nachdenkend über das große Kulturwerk, das wir in seinen Einzelheiten kennengelernt, pilgern wir auf einer der beiden, weit in den Elbstrom hinaus sich erstreckenden Schutzmolen hin bis zum Granitsockel des Leuchtturms, der 13 Meter hoch hüben wie drüben auf der anderen Mole errichtet werden soll. Vor uns breitet sich der Fluß, auf dem die Dampfer von Hamburg seewärts und aus See seinem Hafen zustreben. Nicht lange mehr wird es dauern, dann wird manches von den heute vorüberdampfenden großen Handelsschiffen vom Strome abschwenken und den Kurs zu uns herüber nehmen, um durch die Riesenschleusen in den Kanal einzulaufen, der ja nicht nur dem eisernen Kriegswerke, sondern vor allem den Interessen friedlichen Wirkens und Strebens dienen soll. Dafür möge von symbolischer Bedeutung die friedliche Eröffnungsfahrt sein, die in Gegenwart des deutschen Kaisers und unter Teilnahme vieler fremder Kriegsfahrzeuge in der Morgenfrühe des 20. Juni von Brunsbüttel aus beginnen wird.
Der „böse Blick“ im Lichte der Suggestion.
In der neuesten Zeit wurde eine Machtfrage lebhaft erörtert, die von allgemeinstem Interesse ist. Gerichte sollten wiederholt entscheiden, ob es möglich sei, durch verschiedene Mittel Menschen ohne deren Willen zu hypnotisieren, sie alsdann durch Suggestion ihres freien Willens zu berauben und zu blinden Werkzeugen fremder Einflüsterungen zu machen. Nach dem Urteil der Sachverständigen kann die Möglichkeit einer solchen Beeinflussung nicht geleugnet werden, obwohl sie bei weitem seltener vorkommt, als manche annehmen möchten. Es ist nicht so leicht, einen Menschen unverhofft zu hypnotisieren, er muß in der Regel dazu seine Einwilligung geben; nur besonders empfindliche, nervös kranke Menschen erliegen leichter solchen Kunstgriffen. Als der gefährlichste derselben wurde vielfach der Blick des Hypnotiseurs bezeichnet; es soll ihm unter Umständen eine wirklich hypnotisierende Kraft innewohnen und es läßt sich nicht leugnen, daß in der That das Auge beim Hervorrufen der Hypnose eine hervorragende beeinflussende Rolle spielen kann; sein Einfluß wird jedoch vielfach übertrieben und die Furcht ängstlicher Gemüter vor fremden Blicken ist nur wenig begründet. Es dürfte darum angemessen sein, über diese oft besprochene, unheimliche Macht des Blickes auf Grund bestimmter Thatsachen weitere Kreise aufzuklären.
Wir betreten damit kein neues Gebiet; denn diese Frage hat seit uralten Zeiten die Menschen beschäftigt und gab Anlaß zur Entstehung wunderbarster Lehren und Anschauungen, die wir fast bei jedem Volke der Erde wiederfinden. Diese Frage hat somit ihre Geschichte, die sich in den allerersten Anfängen der Kultur verliert, und wir müssen darum weit in die Vergangenheit zurückgreifen und uns in ein Geistesleben versetzen, das tief unter unsrer heutigen Bildungsstufe steht, wenn wir in das Wesen der „Fascination“, in das Rätsel des „bösen Blickes“ einen unbefangenen klaren Einblick gewinnen wollen.
Selbst die rohesten Naturvölker, die auf der tiefsten Stufe der Kultur stehen, sind im Besitze von mindestens einer Wissenschaft, der Medizin. Freilich ist diese „Wissenschaft“, die sich von Geschlecht zu Geschlecht forterbt, eine gar sonderbare Sammlung abenteuerlicher Ansichten; die aufgeklärte Menschheit weist dieselbe von sich zurück und bekämpft sie aufs eifrigste als krasses Unwissen und dummen Aberglauben; inmitten der Naturvölker sind aber die eingeborenen „Medizinmänner“ ebenso hoch geachtet wie bei uns berühmte Universitätsprofessoren. In der Neuzeit haben Forscher, die sich mit der Völkerkunde befassen, auch der Medizin der Naturvölker besondere Aufmerksamkeit geschenkt, und klarer als je blicken wir heute in das dunkle Gebiet der ersten wissenschaftlichen Regungen des menschlichen Geistes .... Und siehe da, wir finden, daß jene uralte Weisheit vielfach noch unter uns inmitten der höchsten Civilisation fortlebt, daß sie hier und dort als Aberglauben, der sich nur schwer ausrotten läßt, die Gemüter gefangen hält.
Eigenartig sind die Vorstellungen der Naturvölker über Ursachen der Krankheiten. In diesem Teile der Urmedizin spielen natürliche Kräfte und Ereignisse gar keine Rolle. Krankheit und Tod sind das Werk böser Geister und magischer Künste, die von Menschen ausgeübt werden, denen der Verkehr mit Dämonen geläufig ist. Wir möchten dies nur an einem Beispiele erklären. Infolge von Erkältung erkranken Menschen häufig am Rheumatismus der Lendenmuskeln; gesund legen sie sich zur Nachtruhe nieder, und wenn sie erwachen, ist ihr Kreuz steif und schmerzhaft geworden, daß sie sich kaum fortbewegen können. Viele Naturvölker sind nun der Ansicht, daß diese Leute von irgend einem ihnen übelwollenden Zauberer durch ein magisches Geschoß verletzt wurden. Der Zauberer, der von seinem Opfer viele Meilen entfernt ist, schießt irgend einen Gegenstand, ein Steinchen oder ein Stück Holz, in die Luft ab und befiehlt ihm, seinen Gegner zu treffen. Der Schuß sitzt auch, dank der Zauberkraft, über die der Hexenmeister verfügt, und das Opfer verspürt alsbald Schmerzen in den Lenden. Das ist zweifellos eine lächerlich dumme Ansicht, aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch unsre Vorfahren ihr einst gehuldigt haben; führt doch jene rheumatische Erkrankung der Lendenmuskeln noch heute im Volksmunde den Namen – Hexenschuß.
Es giebt nun viele Zaubermittel, durch welche Menschen krank gemacht werden können, und eins von denjenigen, die weit und breit in allen Weltteilen gefürchtet werden, ist der menschliche Blick. Fast überall begegnet man der Anschauung, daß verschiedene Menschen die unheimliche Fähigkeit besitzen, anderen durch ihren Blick Schaden zuzufügen, ja selbst Tiere verhexen und Feldfrüchte verderben können. Unter den Indianern Nordamerikas schleudern die Medizinmänner absichtlich böse Blicke gegen ihnen mißliebige Personen, und gesenkten Hauptes gehen die Eingeborenen an ihnen vorüber, damit sie nicht von den krankheitbringenden Strahlen ihres zornfunkelnden Auges getroffen werden. Unter den Negern Afrikas ist dieser Aberglaube gleichfalls bekannt und steht in hoher Blüte bei den Hirtenvölkern im Gebiete der großen Seen. Emin und Casati haben uns verbürgte Nachrichten über die Furcht, die z. B. die Wanjuro vor dem bösen Blicke haben, übermittelt. Er soll die Milch der Kühe blutrot färben und das Vieh krank machen können. Wenn die Rinder des Königs auf die Weide getrieben werden, muß jeder, der ihnen begegnet, den Tieren den Rücken zuwenden, damit er sie nicht etwa durch seinen bösen Blick behexe. In den Sudanländern besteht die Sitte, daß man Geschenke, namentlich aber Pferde, dem Beschenkten während der Nacht [403] übermittelt, damit sie am hellen lichten Tage von dem verhexenden Blicke irgend eines Feindes nicht getroffen werden.
Der Augenzauber war seit jeher auch in Europa bekannt. Die Römer und die Griechen fürchteten ihn, und namentlich unter den Skythen und Illyriern sollten ganze Familien mit dieser unheimlichen Eigenschaft ausgestattet sein. Weite Volksschichten in Südeuropa werden noch heute von diesem Aberglauben beunruhigt; der „böse Blick“ wird von den Italienern bald malocchio, bald jettatura genannt und die Neugriechen kennen ihn unter dem Namen Kakomati. Die Völker des Orients, die Türken und Araber, die Juden und die Slaven haben vor dem Augenzauber eine tiefe Scheu und auch bei uns flackert noch hier und dort die Furcht fort; es soll auch in Deutschland Leute geben, die mit ihren Augen andere „verneiden“, wie der Bayer sagt, oder auch „verscheinen“, wie die Thätigkeit der mit Hexengewalt ausgestatteten Augen in Norddeutschland genannt wird; und höher im Norden spricht der Engländer von dem evil eye und der Norweger von der skjoertunge – dem Blick, der die Opfer, auf die er gerichtet wird, schwinden läßt.
Aus diesen Beispielen ersehen wir deutlich, daß dieser Aberglaube über die ganze Erde verbreitet und fast allen Völkern gemeinsam ist. Das kann nicht durch einen bloßen Zufall bewirkt worden sein; die ältesten Schöpfer der Lehre vom Augenzauber mußten vielmehr auf dieselbe durch Ereignisse geführt worden sein, die überall unter Menschen vorkommen. Dem Blicke menschlicher Augen muß irgend eine wunderbare unheimliche Kraft innewohnen können, die Unheil zu stiften imstande ist und darum so allgemein gefürchtet wird. Eine solche Annahme ist durchaus nicht unberechtigt, denn dem zarten empfindlichen Auge hat die Natur in der That geradezu wunderbare Kräfte verliehen, indem sie es zum Spiegel der Seele machte, in ihm Gefühle und Leidenschaften widerstrahlen läßt. Die Macht des Blickes hat jeder an sich gefühlt; jeder kennt den liebenden und lohnenden, den strafenden und drohenden Blick; schon Kinder lassen sich durch den Blick leiten. Diese Wirkung des Blickes ist leicht zu erklären; in fremden Augen, die uns anschauen, lesen wir die Gefühle und Stimmungen, die ihre Besitzer im Augenblick bewegen, und durch diese Wahrnehmungen werden in uns Gefühle, Vorstellungen und Gedanken erregt. Zwischen zwei Menschen, die sich anschauen, findet eine geheime Aussprache statt, die oft in einer Sekunde weit tiefer wirkt als lange Wortgespräche. Dadurch wird das Auge zu einer Schutz- und Trutzwaffe und an dieser seiner Macht kann niemand zweifeln.
Man hat aber den Bereich der Augengewalt erweitern wollen und behauptet, daß dem Blicke lähmende und selbst tötende Kräfte innewohnen könnten. Auch diese Anschauung ist uralt; denn sagenhafte Wesen, wir wollen nur an die Medusa und den Basilisk erinnern, wurden von der dichtenden Phantasie mit so gefährlichen Augen ausgestattet. Heute lächelt man über solche Märchen, aber zahlreich ist noch die Meinung verbreitet, daß der Schlangenblick verschiedene, namentlich kleinere Tiere und Vögel zu lähmen vermöge; in etwas geringerem Maße wird dies auch vom Blick der Katze und anderer Raubtiere behauptet. Es ist nicht schwierig, zu entscheiden, inwieweit solche Behauptungen richtig sind; man braucht ja nur die fraglichen Tiere in ihrem Kampfe ums Dasein zu beobachten. Da wollen wir zunächst unsere Ringelnatter erwähnen, die Frösche jagt. Adam Franke, der Verfasser des schönen Büchleins „Die Reptilien und Amphibien Deutschlands“, hat in dieser Hinsicht eine Reihe höchst wertvoller Beobachtungen angestellt. Er ist dabei zu der Ueberzeugung gekommen, daß das Sehvermögen der Schlangen unvollkommen ist; dieselben sind kurzsichtig und scheinen nur sich bewegende Gegenstände genau zu erkennen. In seinem großen der Natur möglichst nachgeahmten Terrarium sah er wiederholt der Jagd der Ringelnatter zu: der verfolgte Frosch sieht sich eingeholt, durch Instinkt und Erfahrung gewitzigt, weiß er, daß er beim nächsten Sprunge geholt wird, die Schlange ist so nahe, daß beide buchstäblich sich ins Auge sehen, er zieht es klüglich vor, sich ruhig zu verhalten; die Schlange brauchte nur zuzubeißen, um ihren Zweck zu erreichen. Statt dessen züngelt sie den Frosch und ihre nächste Umgebung lebhaft an; manchmal wird dies dem Frosche doch zu unheimlich und er riskiert den letzten Sprung, aber fast immer zu seinem Unglücke; denn er wird in diesem Falle in der Regel abgefangen; ist er hingegen vorsichtiger, so nimmt die Affaire einen für ihn günstigeren Verlauf. Die Schlange, beutegierig, wartet nicht sehr lange auf die Bewegung des Frosches, sondern fängt bald an, ihre Nachforschungen auf ein weiteres Gebiet auszudehnen und da kommt es sogar vor, daß sie über den Frosch wegkriecht, der sich die Sache ruhig gefallen läßt und abwartet, bis sich ein gewisser Zwischenraum zwischen ihm und seinem Todfeinde gebildet hat. Plötzlich macht er einen respektablen Satz, als wenn er auf glühenden Kohlen gesessen hätte, aber immer in entgegengesetzter Richtung seiner Verfolgerin. Die Ruhe des Frosches ist also keine Folge des lähmenden Blickes der Schlange, sondern eine instinktive Bethätigung des Erhaltungstriebs von seiten des Frosches.
Die giftige Kreuzotter vermag auch nicht, mit ihrem Blicke die Mäuse zu lähmen oder zu bezaubern. Sie muß an ihre Beute heranschleichen, um ihr den Biß beizubringen, und sobald die Maus ihrer Feindin ansichtig wird, ergreift sie eiligst die Flucht und die Kreuzotter verfolgt, so behend sie es kann, ihr Opfer.
In einem Artikel „Beiträge zur Reptilien-Psychologie“, der jüngst im „Zoologischen Garten“ erschienen ist, schreibt Dr. F. Werner: „Wie viel ist schon über das Bezaubertwerden der Beute durch den Blick der Schlangen geschrieben, geglaubt und schließlich unter dem Eindruck des Gelesenen gesehen und beobachtet worden! Und wieviel ist davon wahr? So gut wie gar nichts. Ich habe gegen 40 Arten von Schlangen teils selbst gefüttert, teils ihrer Fütterung in verschiedenen zoologischen Gärten beigewohnt, aber niemals etwas bemerkt, was mich auch nur annähernd zu dem Glauben hätte veranlassen können, es gehe bei dem Nahrungserwerb der Schlangen anders zu als bei dem irgend eines anderen Tieres.“
Es dürfte wohl keinem Zweifel mehr unterliegen, daß Tiere in der Regel von dem Schlangenblick nicht verzaubert werden. Wir wollen aber gern zugeben, daß ausnahmsweise eine überraschte Maus beim Anblick der Todfeindin starr vor Schrecken, wie festgebannt stehen bleibt. Diese Art „Bezauberung“ wird jedoch auch bei Ueberraschung der Beute durch verschiedene andere Raubtiere beobachtet. Es ist ja bekannt, daß überraschte Vögel, wie Rebhühner, mitunter vor dem Hunde still und starr sitzen bleiben, oder kleinere Vögel vor der herangeschlichenen Katze nicht fliehen können, ja buchstäblich dem Raubtiere in den Rachen fallen.
Was in allen solchen Fällen die Tiere in den Zustand der hilflosen Starre oder der Kataplexie versetzt, das ist nicht eine besondere Macht der Augen des Gegners, sondern Furcht und Schrecken überhaupt. Dabei muß aber wohl zugegeben werden, daß der wilde funkelnde Blick des Raubtiers wohl geeignet ist, die Furcht zu steigern, den Eintritt der Kataplexie zu beschleunigen. Es ist bemerkenswert, daß die meisten derartigen Berichte gerade auf Vögel sich beziehen. Die Vögel sind aber, dank dem Bau ihres Herzens und ihrer Blutgefäße, dank dem heißen Blut, das in ihren Adern strömt, weit mehr als andere Tiere Leidenschaften und Affekten unterthan. Schreck und Freude, Aufregung und Zorn können sie nicht nur lähmen, sondern auf der Stelle töten. Der berühmte jüngst verstorbene große Vogelkenner Karl Theodor Liebe berichtete über wohlverbürgte Fälle, in welchen Vögel, erfreut über die Rückkehr ihres Pflegers nach langer Abwesenheit, tot vom Stängel fielen.
Wir haben somit das Wesen des bezaubernden oder lähmenden Blickes in der Tierwelt erklärt. Damit etwas derartiges überhaupt zustande kommt, ist nicht nur der Blick des Angreifers, sondern auch eine gewisse Schwäche, eine Anlage des Opfers zu kataplektischen, starrkrampfähnlichen Zuständen notwendig. Nur wenn die letztere vorhanden ist, kann der wilde Blick lähmen, versteinern, bezaubern.
In genau derselben Weise äußert sich die Macht des Blickes unter Menschen. Wir wollen es nur an einem Beispiel erläutern. Einer der indianischen Medizinmänner wirft seine zornigen Blicke einem Eingeborenen zu. Der Aermste weiß, was die Blicke bedeuten; er ist in dem Glauben aufgewachsen, daß der Hexenmeister auf diese Weise seine Nächsten verderben kann. Er wird starr vor Schrecken. Dieser Zustand der Starre, in welchem der freie Wille völlig gelähmt ist, hat nun manches, was an die Hypnose erinnert. Plötzliches Erschrecken wurde ja früher auch dazu benutzt, um Leute in „magnetischen Schlaf“ zu versetzen. Wir können also sagen, daß der Indianer von dem Medizinmann gewissermaßen hypnotisiert wurde. In diesem Zustande ist aber der Beklagenswerte für Suggestionen äußerst empfänglich. Sagt ihm nun [404] der Hexenmeister mit drohender Stimme: du sollst krank werden und sterben! so wird das Opfer des Aberglaubens sicher von der höchsten Unruhe erfaßt werden und die seelische Pein und Angst wird ihn derart zerrütten, daß er krank wird oder sogar stirbt. Es ist nicht einmal nötig, daß der Medizinmann seinen zürnenden Blick mit drohenden Worten begleitet. Der Bezauberte weiß, welche Folgen nach dem Volksglauben der böse Blick nach sich zieht; es erwacht in ihm die Vorstellung, daß er dem Unheil anheim fallen wird, anheimfallen muß, und er wird durch die innere Unruhe aufgerieben. In dieser Weise ist der böse Blick unter Abergläubischen in der That die wirkliche Ursache von verschiedenen Leiden, ja selbst von tötlichen Krankheiten.
Wenn aber derselbe Medizinmann seinen Augenzauber an einem aufgeklärten Forschungsreisenden versuchen sollte, so würde jener den Zauberkünstler auslachen und der böse Blick von dem Ungläubigen wirkungslos abprallen.
Wir sehen also, wie die Zauberer durch den bösen Blick Massen in Aberglauben befangener Menschen wirklich peinigen und schädigen können, und genauere Beobachtungen der Lebensweise der Naturvölker beweisen auch, daß von dieser Macht gegen die Schwachen ungemein häufig Gebrauch gemacht wird. Die armen Unaufgeklärten! Sie haben nicht die geringste Ahnung, daß an ihrem Unheil ihre eigene Schwäche schuld ist; die schlimmen Leiden, denen sie oder ihre Angehörigen verfallen, halten sie wirklich für Folgen der Zaubermacht, die in dem Blicke des Hexenmeisters ruht. Der Glaube an den bösen Blick wird dadurch unerschütterlich fest begründet.
Auf diesem, wie wir sehen, durchaus natürlichen und thatsächlichen Fundament baute nun der sinnende und wenig scharf beobachtende Naturmensch weiter; er schrieb auch anderes Unheil, das ihn oder seine Freunde betroffen hatte, dem Blicke seiner zürnenden Feinde zu; er verwickelte sich dabei in Trugschlüsse und so entstand die mehr oder weniger festgefügte Meinung, daß es einen Augenzauber gebe, der durch übernatürliche Kräfte zustande kommt.
Es giebt nun vielfach sonderbar geformte oder mißgestaltete Augen, wie z. B. Augen mit doppelten Pupillen. Jüngst erst wurde in Belgien in der Klinik von Prof. Deneffe eine Frau vorgestellt, auf deren Augen inmitten der Regenbogenhaut deutlich arabische Ziffern zu lesen sind. Das rechte Auge zeigt die Zahl 45; das linke die Zahl 10; auch die Tochter der Frau hat numerierte Augen, auf der Regenbogenhaut des einen steht deutlich die Zahl 20, auf der des anderen die Zahl 10. Heute werden solche Erscheinungen als Kuriosa, als Naturspiele betrachtet; in früheren Zeiten, inmitten abergläubischer Menschen wurden sie aber ganz besonders gefürchtet, denn die Eigenschaften des Augenzaubers sollten gerade solchen mißgestalteten Augen in hohem Maße zukommen.
Die Furcht vor dem bösen Blicke beunruhigt nur abergläubische Gemüter; es ist aber durchaus nicht ausgeschlossen, daß auch aufgeklärte Menschen, wenn sie von einem sonderbaren, wilden und furchtbaren Blicke überrascht werden, augenblicklich ihre Fassung verlieren und in den Zustand einer mehr oder minder starken Kataplexie verfallen können. Das Zustandekommen dieser Wirkung hängt dabei in höchstem Maße von der nervösen Anlage der Betreffenden ab. Den Vorgang nennt man Fascination und der fascinierende Blick kann in der That gefährlich werden, wenn er schwache Personen trifft und von schlechten unredlichen Menschen mißbraucht wird; denn der Fascinierte ist in gewissem Sinne mehr oder weniger hypnotisiert und für Suggestionen empfänglich.
Kürzlich beschrieb Prof. W. Preyer einen merkwürdigen Fall von Fascination, in welchem eine junge Frau von einem Manne durch dessen einstudierten Blick beeinflußt wurde. Es handelte sich hier allerdings um Menschen, die in ihrem Verhalten mindestens als höchst sonderbar und excentrisch zu betrachten sind. Wir erwähnen den Fall auch nur darum, weil Preyer in seiner Besprechung mitteilt, in welcher Weise er die junge Frau von der Empfänglichkeit für den fascinierenden Blick befreite. Er hypnotisierte sie und sagte ihr dann sehr bestimmt: „Sie werden das nächste Mal, wenn irgend jemand Sie zu fascinieren versucht und mit dem Tigerblick anstarrt, lachen. Sie werden niemals wergessen, dann zu lachen, und denken: das sind Faxen, das ist Komödie. Zehn Minuten nachdem Sie erwacht sind, werden Sie mir selbst, wenn ich Sie wieder so ansehe, hellauf ins Gesicht lachen und nicht erblassen, nicht ja! ja! sagen und sich nicht im geringsten fürchten!“
Diese Suggestion ging völlig in Erfüllung. Wir sind auch der Meinung, daß sich jeder mit der Einsicht, die ihr zu Grunde liegt, gegen alle Fascinationsversuche wappnen kann. Der von jedem Aberglauben freie, kühl denkende und seiner inneren Kraft sich bewußte Mensch begegnet siegreich jedem Blicke, und alle Künste der Zauberer der alten Schule und alle Bemühungen der modernen Magnetiseure und Hypnotiseure erwecken in ihm nur ein überlegenes Lächeln.
Die Naturvölker und abergläubische Kulturmenschen wappnen sich gegen den „bösen Blick“ mit allerlei Amuletten; bald sind es kleine Nachbildungen irgend welcher Art des Gehirns sowie der Hand, bald gläserne Knöpfe, die in blauer und gelber Umrandung eine weiße Mittelfläche mit schwarzem Mittelpunkt besitzen und so eine entfernte Aehnlichkeit mit dem Bilde eines Auges darbieten; bald sucht man durch Pflanzensäfte, bald durch Beschwörungsgesänge den Zauber des bösen Blickes zu bannen. Am gefeitesten gegen jede Fascination sind aber diejenigen, die keine Furcht vor dem verstellten zornigen Blicke haben, die in der eigenen Brust, in klarem Fühlen und Denken den mächtigsten Talisman tragen: das sind die Aufgeklärten, die Geistesfrischen und Nervenstarken. Sie bannen jeden bösen Blick, der sie trifft, indem sie dem Feinde mutig ins Auge schauen und bereit sind, schlagfertig dem Angriff die Wehr entgegenzusetzen, indem sie bei allen Fascinationskünsten, die an ihnen versucht werden sollten, hell auflachen und sich sagen: Das sind Faxen, das ist Komödie!
Blauweiß.
(Fortsetzung.)
Don Enrique war eine sehr einflußreiche Persönlichkeit in Havanna. Mit jungen Jahren schon der Teilhaber und Hauptleiter des großen Bankhauses Felipe Morales é Hijo war er bereits eine wirtschaftliche Großmacht. Das Haus beherrschte den Handel der Antillenplätze und der mexikanischen Häfen. Enrique hatte in den Vereinigten Staaten seine Erziehung erhalten und war nach deren Abschluß noch einige Jahre in New York geblieben. Dann hatte Johny ihn nicht wieder gesehen und er war sehr neugierig auf ihn, um so mehr, als er ihm von seinem Vater häufig als musterhafter Kaufmann und als ein Beispiel hingestellt wurde, dem nachzueifern sich lohne. Die Nachrichten über seinen früheren Schulkameraden hatten zuerst einigermaßen sein Erstaunen erregt. Früher war an ihm nie etwas Besonderes zu bemerken gewesen. Seine Fortschritte in den Wissenschaften hatten durchaus kein Aufsehen gemacht und auf dem Fußballplatz hatte er Zeit seines Lebens keinen ordentlichen Tritt fertiggebracht. Hervorragende Talente entwickeln sich eben überraschend, hatte Johny gedacht. Als ein guter Kerl, der er war, gönnte er dem alten Freunde aber seine Erfolge von ganzem Herzen und freute sich jetzt aufrichtig darauf, ihn wiederzusehen.
Nach einem Stündchen lief der „Juarez“ glücklich ein. Kaum schob sich der Dampfer langsam hinter den Felsenvorsprüngen des Morro hervor ins Gesichtsfeld, als ihn Mercedes auch schon bemerkte und ihrem Bootsmann die nötigen Befehle zurief. Pfeilschnell schoß die Lancha quer über die Bai hin, drehte in hübschem Bogen und segelte dicht an dem Dampfer längsseits vorüber. Mercedes erkannte ihren Bruder von weitem schon, wie er mit wehendem Tuche ihr Boot begrüßte. Während die Anker fielen, legte die Lancha schon an. Bald darauf war Enrique im Boot. Er war augenscheinlich sehr erfreut und begrüßte die amerikanischen Freunde herzlich, nach wenigen Augenblicken aber sprach er mit Johny schon über das Geschäft. Er war sehr unzufrieden. Seine Reise nach Veracruz, die er leider nicht habe aufschieben können, hätte durchaus keine angenehme Veranlassung gehabt, und auf Kuba selbst gehe alles zurück seit der unseligen Insurrektion.
„Sympathisierst Du nicht mit der Bewegung, der Du doch selbst Sohn der Insel bist,“ fragte Johny überrascht, „wir in Amerika …“
„Natürlich,“ unterbrach ihn Enrique, „Ihr findet nichts
[405]
begreiflicher, als daß Kolonien unabhängig werden wollen, aber
unserer Insel würde es nicht zum Heil gereichen. Es wird ihnen
übrigens nicht gelingen, sich von Spanien freizumachen – die
Insel zu Grunde richten, das werden sie. Beide Parteien verbrennen
sich gegenseitig die Zuckerpflanzungen und die Kaffeehaine,
zerrütten den Wohlstand des Landes und untergraben allen Kredit.
Ich bin nicht Politiker, ich bin Geschäftsmann, ich wollte, die Geschichte
wäre endlich zu Ende, man kann unter spanischer Herrschaft
sehr gut Geld verdienen. Der Aufstand richtet uns zu
Grunde. Blinde Spekulation kommt dazu. Das Goldagio schwankt
je nach den Nachrichten aus dem Innern um fünfundzwanzig bis
fünfzig Punkte an einem Tage. Das verführt. Und die Runkelrübe
in Europa entwertet unseren Rohrzucker immer mehr. Auf
die ältesten Firmen ist kein Verlaß mehr. Uebrigens, wir nehmen
an, daß Du Carvajals wegen kommst. Ist mir sehr lieb, daß
unsere Mahnungen bei Euch geholfen haben. Sieh Dir die Sache
morgen genau an und berichte mir dann! Politisch ist er sehr indifferent,
eher von der spanischen Partei, aber ich bin sonst außerordentlich
mißtrauisch gegen den Herrn.“
Johny antwortete ihm, daß Don Antonio ihn am andern Morgen im „Hotel Telégrafo“ abholen werde, und daß er dann sofort mit ihm ins Kontor der Firma gehen und genaue Einsicht in die Bücher nehmen wolle. Essen müsse er natürlich mit Herrn Carvajal, dann möchte er aber seinem Freund gern gleich noch Bericht erstatten.
„Ganz recht, nur nicht auffallen,“ sagte Enrique, „mache Dir Notizen und unterrichte Dich so viel als irgend möglich, zeig aber kein Mißtrauen, bevor Du mich gesprochen hast. Ich werde mit den beiden jungen Damen morgen abend hereinkommen, zum Abendkonzert im Parquecito, unserm Promenadenplatz. Wir treffen uns dort und können dann das weitere verabreden.“
Johny war damit einverstanden, und als die Gesellschaft am Quai gelandet war und er sich am Wagen verabschiedet hatte, nahm er eine Droschke und fuhr nach dem Hotel, wo ihn Bob bereits erwartete, den Pedro mit seines Herrn Gepäck dort abgesetzt hatte.
Am andern Morgen, kurz vor zehn Uhr, betrat Don Antonio Carvajal die Marmorvorhalle des „Hotels Telégrafo“ und fragte im Vorbeigehen den eleganten Portier nach Herrn Arlingtons Zimmernummer.
„Vier und fünf in der ersten Etage, bitte,“ erhielt er zur Antwort.
Gleich darauf klopfte er oben an die Thür und stand auf ein lautes „Herein“ John Arlington gegenüber, der, nur mit Beinkleidern und Flanellhemd bekleidet, auf einem Schaukelstuhl [406] mitten im Zimmer saß und sich von Bob nat einem großen Fächer Kühlung zuwedeln ließ.
„Reizendes Herbstwetter hier bei Ihnen,“ rief der junge Amerikaner, „ein liebliches Klima in der That, ich habe die ganze Nacht kein Auge Schließen können vor Hitze.“
„Ich bedaure ungemein,“ antwortete Don Antonio höflich und verbindlich, „hören zu müssen, daß Ihre erste Nacht auf unsrer Insel keine angenehme war. Es ist Südwind. Sehr schwül. Es wird erträglicher werden, ich wünsche Ihnen jedenfalls viele gute Tage bei uns.“
„Danke,“ antwortete Johny, „hoffen wir das beste. Aber nehmen Sie Platz, bitte. Was zieht man denn an bei diesem Thermometerstand? Ich kann doch hoffentlich in Flanell ausgehen?“
„Ohne Zweifel,“ antwortete Carvajal, der vom Kopf bis zu den Füßen in blendend weißem feinen Piqué stak, und während er sich in einen Schaukelstuhl niederließ und seinen Fünfhundert-Mark-Strohhut auf den benachbarten legte, fügte er hinzu: „Sie können sich während der Geschäftsstunden hier ganz so tragen, wie es Ihnen am bequemsten ist, und selbst des Abends im Parquecito beim Konzert ist der New Yorker Touristenanzug keineswegs eine seltene Erscheinung.“
„Mir lieb zu hören, na, aber einen Rock werde ich doch wohl anziehen müssen. Mein Jackett, Bob! Halstuch und Schärpe.“
Der junge Mulatte war ein wohlgeschulter Kammerdiener. Blitzschnell erschien er in der Thür des Schlafzimmers, in das er sich zurückgezogen hatte, mit mehreren Kartons, die er nacheinander öffnete und seinem Herrn zur Ansicht vorzeigte. In jedem lag ein Halstuch und eine gleichfarbige Schärpe. Der zweite schon enthielt eine auffallend hübsche Garnitur in schwerem hellblau und weiß gestreiften Seidenrips.
„Etwäs grell,“ sagte Johny, „und Havanna würde kaum das richtige Verständnis dafür haben, wenn ich hier mit dem Blau-Weiß meines Fußballklubs kokettieren wollte,“ fügte er vergnügt hinzu.
Carvajal sah auf, ein flüchtiger Blick seiner schwarzen Augen streifte über die breite Schärpe hin und ein satanisches Lächeln verzerrte einen Augenblick sein Gesicht. John Arlington hatte es nicht bemerkt, denn Don Antonio saß halb hinter ihm, dagegen waren des Farbigen Augen denen des Kreolen begegnet. Bobs Hand, die den Pappkasten hielt, zitterte leicht, als Carvajal jetzt aufstand, herantrat und sagte: „Wie hübsch! Außerordentlich hübsch. Uebrigens keineswegs zu grell, wir sind sehr farbenfroh in Havanna.“
„Nun, wenn Sie meinen,“ lachte John, „so werde ich damit Staat machen. Entschuldigen Sie einen Augenblick.“
Kurz darauf erschien er wieder, ertig zum Ausgehen. Als sie unten durch die Treppenhalle schritten, machten der Portier und einige Kellner verdutzte Gesichter. Es wagte niemand eine Bemerkung, als aber Don Antonio einen Wagen herangerufen hatte und die beiden Herren davon fuhren, bildete sich in der Halle des Hotels eine kleine Gruppe von fünf, sechs Menschen, die den leuchtenden, blauweißen Schärpen und Halstuchenden des Fremden verblüfft nachsahen und aufgeregt miteinander sprachen. Bob, der den Schlag geöffnet und wieder geschlossen hatte, machte große Augen, es war ihm nicht entgangen, daß einer der beiden Herren mit irgend etwas aufgefallen war, und ein unbestimmter Verdacht stieg in ihm auf. Er war äußerst neugierig, drängte sich unter die anderen, verstand aber leider kein Wort Spanisch und auf seine englischen Fragen gab ihm niemand Antwort.
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Die glühende Tropensonne war untergegangen. Die Erde und die Menschen atmeten auf. Hunderte und aber Hunderte von Gasflammen blitzten auf dem Promenadenplatz, der, unmittelbar vor der früheren Stadtmauer gelegen, von den Havanneros El Parquecito genannt wird, viele Gaslaternen und einige Springbrunnen, das ist dem Spanier und dem Kreolen ein Park.
Schattige Anlagen hätten hier allerdings auch wenig Zweck, denn man kommt doch nur nach Sonnenuntergang hierher. Tagsüber ist der weite, in der Sonne glühende Platz völlig menschenleer. Die verschwenderisch erleuchteten, mit feinem Sand bestreuten Wege sind aber das Stelldichein der vornehmen Gesellschaft während der allabendlichen Konzerte. Das Haus des Casino Español, des Spanischen Klubs, liegt auf der einen Seite. Auf der anderen, der inneren Stadt gerade gegenüber, hat im ersten Stock eines der Häuser der Deutsche Klub sein Heim aufgeschlagen. Das Erdgeschoß hat das Café Washington inne, dicht daneben liegt das „El Louvre“ genannte, bekannt durch den schnöden blutigen Angriff der spanischen Voluntarios auf wehrlose Söhne der Insel. Der die ganze Front entlang laufende Balkon des Deutschen Klubs pflegt während der Konzertstunden stets gut besetzt zu sein. Es ist ein anziehendes Bild: innerhalb des um den ganzen Parquecito herumlaufenden Trottoirs die nach den Klängen der Musik auf und ab schreitenden Gruppen sich begrüßend, stets wechselnd, plaudernd, sich aufsuchend und wieder trennend, ein großer Salon, und außen eine lange Reihe eleganter „Volanten“, jener vom Sattel aus gefahrenen, charakteristischen zweirädrigen Wagen mit den Schönen der Stadt besetzt, die, bequem in den Kissen liegend, hier sozusagen Hof halten und sich von ihren Verehrern mit Fruchteis aus den umliegenden Cafés und mit Schmeicheleien füttern lassen.
Auch heute genossen oben mehrere Herrengruppen die leichte Seebrise, schauten auf den Platz hinunter, der strahlend in blendendem Lichte mitten im Schoße der dunklen Nacht lag, und unterhielten sich vom Geschäft, von der Zukunft der Insel, von der Wut der Spanier und dem unterdrückten fanatischen Ingrimm der in den Hauptstädten machtlosen Kreolen.
„Wer sind die beiden reizenden Damen in der Volante hier gerade unter uns, Herr Guttner,“ fragte jetzt ein junger Deutscher, der zwischen zwei Landsleuten stand. Den frischen Farben seines energisch geschnittenen Gesichts sah man an, daß er erst ganz vor kurzem auf der Insel angekommen sein konnte. Seine Kleidung war bescheiden, er trug deutsches, graues Turnerleinen und einen Stock aus schwerem Eisenholz, ohne Griff und ohne Zwinge, wie man ihn in den Straßen von Havanna für wenige Centavos ausbietet. So war er wohl nur ein kürzlich erst angekommener, mittelloser deutscher Commis, wie sie Bremen und Hamburg alljährlich für den Verbrauch der Tropen verschifft, „unter Kontrakt wie die Chinesen“, sagen die boshaften Kubaner.
Die beiden Herren, in deren Mitte er stand, behandelten ihn aber doch recht höflich und sprachen sehr liebenswürdig mit ihm, obschon sie reiche Leute waren, ihren hochfeinen Abendanzügen nach, für die der Wiener oder der Pariser Herrenbekleidungskünstler mindestens seine fünf bis sechs Unzen Gold berechnet hatte. Der Unterschied von arm und reich wird im persönlichen Verkehr nicht allzu stark betont zwischen den Mitgliedern der Kolonie.
Guttners Auge hatte die Gruppe gefunden. „Die Dame rechts im Wagen ist Doña Mercedes,“ antwortete er, „unsere berühmteste Schönheit, von den Herren am Schlag ist der jüngere ihr Bruder Enrique und der mit dem grauen Spitzbart ihr Vater, Don Felipe Morales. Die andere kenne ich nicht. Uebrigens sicher keine Havannera, sondern allem Anschein nach eine Amerikanerin.“
„Zwei wunderhübsche Mädchen,“ fiel Hartwig, der dritte der Herren, ein. „Aber, was ist denn da los?“
„Wo? Was?“
„Da oben an der Ecke vom Telegrafo her, ein Auflauf . . .“
Guttner, ein schon älterer, etwas beleibter Herr, klemmte sein goldenes Augenglas auf die Nase. „Wo? Ah da! Ein Herr im weißen Flanell, ein Fremder kommt über den Platz. Man folgt ihm, umdrängt ihn, schreit auf ihn ein. Er steuert unbekümmert gerade hier auf uns zu. Jetzt kann er nicht weiter, man umringt ihn. Ja, ist denn der Mensch verrückt? Sehen Sie nur, Herr Hartwig! Führt der Mann die Farbeu des Cuba libre unter den Gaskandelabern spazieren!“
„Wahrhaftig,“ rief der andere, „er muß wahnsinnig sein, blauweiße Schärpe und blauweißes Halstuch.“
„Na, was ist denn dabei?“ fragte Reuter.
„Was dabei ist? Es ist verwegen, toll!“ erklärte der dicke Herr Guttner hastig. „Die Spanier müssen es als ganz unglaubliche Herausforderung ansehen. Es ist dasselbe, als hätte einer in den Tagen nach Lincolns Ermordung auf den Straßeu von New York mit den Rebellenfarbeu herumgeprahlt. Blauweiß ist die Flagge, das Schlacht- und Erkennungszeichen der Insurgenten.“
Der behäbige Herr war ganz aufgeregt. „Kommen Sie, kommen Sie, meine Herren, gehen wir hinunter, das kann lebensgefährlich interessant werden.“
Unten hatten sich auf den Lärm hin auch der alte Herr Morales und sein Sohn, die noch immer am Schlag des Wagens standen, umgewandt und sahen jetzt mit Entsetzen den Auftritt. Eine Schar spanischer Offiziere war Johny entgegengetreten. Inmitten eines Haufens, in dem sich plötzlich verdächtige Gestalten zeigten, [407] die, keinesfalls der Gesellschaft angehörend, aus dem Dunkel der den Platz umgebenden Nacht aufgetaucht schienen, stand er eingekeilt.
Ein Hauptmann der leichten Infanterie, die das Volk ihres Geschwindschritts wegen los locos, die Verrückten, nennt, sprach wütend auf ihn ein.
In seinem bronzefarbenen Gesicht, in das jahrelanger Dienst in der Manigua, in der Wildnis des Innern, seine Spuren gegraben hatte, funkelten wilde schwarze Augen, deren gelbliche Augäpfel ihnen etwas Schreckliches gaben. Mit der rechten Hand focht er aufgeregt in der Luft umher, die linke zuckte am Griffe des Degens.
Johny verstand kein Wort, er hatte keine Ahnung, was das alles bedeutete, aber er faßte es sehr humoristisch auf, zu seinem Unglück. Er lachte und zuckte die Achseln, zum Zeichen, daß er nicht wisse, was man von ihm wolle.
Da kochte das spanische Blut seines Gegners auf, mit einem Griffe fuhr er Johny mit der rechten Faust ins Halstuch und riß es ihm mit einem Ruck herunter, ein Stück des Flanellhemdes mitnehmend.
Das verstand der Amerikaner, er erblaßte jäh bis in die Lippen. Die breite Brust unter dem zerfetzten Hemd hob sich und im nächsten Augenblick traf ein wohlgezielter Faustschlag den Capitano mitten ins Gesicht und streckte ihn bewußtlos auf den Rücken.
Ein Wutgeheul erhob sich. Der alte Ruf, mit dem schon die tapferen Bestien der spanischen Erobererscharen zum Angriff stürmten: „à carne, á sangre“, „an Fleisch und Blut“, gellte durch die Nacht, mit wildem: „Muerten los insurrectos“, „Tod den Rebellen“, zogen die Offiziere blank und stürzten mit der Menge auf ihn ein. Die beiden Damen erhoben sich entsetzt in ihrem Wagen. Im nächsten Augenblick sahen sie in dem Knäuel einen riesigen Neger hinter Johns Rücken sich an ihn herandrängen, ein Messer blitzte auf und John war verschwunden, unter den Fäusten, den Degen, den Stöcken, den Füßen der Wütenden.
Die beiden Morales waren dem Kampfplatz zugeeilt. Sie wandten sich an einige der Offiziere. Man hielt sie auf, sie begannen zu verhandeln.
Bonny Kates Herz zog sich zusammem; was für ein trauriger Kerl, dachte sie, als sie den jungen Morales die Zeit mit Worten verlieren sah. Sie sprang selbst aus dem Wagen und stürmte, ohne Rücksicht auf die Gefahr, vorwärts. Auch Mercedes folgte. „Helft ihm, helft ihm!“ rief diese den Umstehenden zu. Einige bekannte Herren, die der gefeierten Erbin gern dienen wollten, erhielten in fliegenden Worten kurze Aufklärung und Befehle, aber alles wäre zu spät gekommen, wenn nicht in dem Augenblick, als Johny fiel, ein blonder Riese in grauem Leinen sich in das Getümmel gestürzt hätte.
Schon die Wucht seines Anpralls bahnte ihm eine Gasse, denn bei solchem Zusammenstoß entscheidet das Gewicht und die hageren Spanier waren leichte Ware. Einige Faustschläge schafften ihm weiter Luft und dann fegte sein schwerer Stock in wuchtigen Kreishieben den Umstehenden unaufhörlich an der Nase vorbei.
Alles wich überrascht zurück für einen Augenblick. Im nächsten Moment freilich drang einer der jüngeren Ofßziere mit gezogenem Degen auf ihn ein, doch ein Hieb auf den Vorderarm schlug diesem klirrend die Klinge aus der Hand, ein zweiter, in steiler Hochquart dem Offizier auf den Kopf niedersausend, streckte ihn selbst zu Boden. Es war kein tötlicher Streich, aber die Wirkung war die gewünschte. Das Opfer des Auftritts war seiner Bedränger ledig.
Inzwischen gelang es von außen her einigen Offizieren, denen die beiden Morales Erklärungen gegeben hatten und angesehenen Herren, die auf Morales Wink herbeieilten, zu Wort und zu Gehör zu kommen.
Ein Mißverßändnis, ein Amerikaner, er hat keine Ahnung, was die Farben bedeuten, so schwirrte es durch die Luft. Verschiedene zweifelhafte Gestalten hielten es für geraten, zu verschwinden. Herren der besseren Gesellschaft, die eben noch mit auf Johny losgeschlagen hatten, beeilten sich, für ihn Partei zu nehmen, als sie so einflußreiche Leute auf seiner Seite sahen, und nach wenigen Sekunden war jede Gefahr beseitigt.
John Arlington aber sah entsetzlich aus, bewußtlos lag er im Staube. Seine Kleider waren zerfetzt und beschmutzt. Mehrere Degenstiche hatten ihm Brust, Oberarm und Schenkel durchbohrt. Der leichte weiße Kaschmir seines Anzugs starrte von Blut. Der bleiche, entstellte Kopf lag auf Bobs Knien, der, mit eigenem und fremdem Blut bespritzt, wilde Wut in den Zügen und den weißen rollenden Augäpfeln, unheimlich genug aussah. Die schöne Mercedes kniete neben dem Verwundeten nieder. Mit den feinen weißen Händen versuchte sie, die blutnassen Haare ihm aus der Stirn zu streichen. Keine Rücksicht nahm sie auf die vielen Bekannten, und „John, Johny, lieber, süßer John, nicht sterben“, flüsterte sie ihm zu – freilich auf spanisch, das er auch bei wachen Sinnen nicht verstanden hätte.
Bonny Kate, die auf der andern Seite ihres Bruders bemüht war, ihn aufzurichten, sah sie an. Sie hatte oft gewünscht, daß Merci ihren Bruder lieben lernen möchte, jetzt wußte sie, daß sie ihn schon immer geliebt hatte. Ein schmerzliches Lächeln zog über ihr Gesicht. Da legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie sah auf und in das Gesicht eines Herrn, der sich mit den Worten vorstellte: „Doktor Herrero. Erlauben Sie, daß ich den Verwundeten untersuche.“
Die Damen erhoben sich. Mercedes wurde von ihrem Vater, Kate vom jungen Morales nach ihrem Wagen geführt. „So, nehmt Platz und wartet einige Augenblicke, wir werden Euch gleich Bescheid bringen, hoffentlich ist es nicht allzu schlimm,“ sagte der alte Herr tröstend und die beiden Herren kehrten zu John und dem Arzt zurück.
Kate Arlington stieg noch nicht ein, sie sah sich vergeblich nach dem Riesen in grauem Leinen um, dem man es verdanken würde, wenn ihr Bruder noch zu retten war. Sie erblickte Bob in der Nähe, wie er, noch immer halb geistesverwirrt von dem Fürchterlichen, dem Rätselhaften, das aus seinem lebenslustigen, jungen Herrn in wenigen Augenblicken einen zerfetzten Sterbenden gemacht hatte, stieren, wilden Auges etwas zu suchen schien auf dem Platz und in der Menge, die sich mehr und mehr zurückzog.
BLÄTTER UND BLÜTEN.
Ausstellungen für Kinderpflege. Am 15. Mai ist in den Räumen des Gewerbehauses zu Dresden eine „Ausstellung von Erzeugnissen für Kinderpflege, Ernährung und Erziehung“ eröffnet worden – eine schlichte Ausstellung, frei von äußerem Prunk und jenen reklamehaften „Sehenswürdigkeiten“, welche bestimmt sind, Massen Schaulustiger heranzuziehen. Wer diese Ausstellung besucht, der muß schon das Interesse für die Sache mitgebracht haben, dann findet er vollauf Gelegenheit, zu studieren, zu vergleichen und zu lernen. Aerzte, Landwirte, Fabrikanten, Buchhändler, Lehrer und Frauen haben in den Räumen Verschiedenes ausgestellt, das der Kinderwelt dient – von der Milchflasche, dem Kinderwagen und dem ersten Kinderschuh – bis zu Turnapparaten, Nähschulen und guten Büchern sowie anderen Lehrmitteln. Wir bringen keinen ausführlichen Bericht über diese Ausstellung, denn wir glauben der Sache besser zu dienen, wenn wir einige nützliche Gegenstände, die uns dort begegnet sind, in besonderen sachlich gehaltenen Artikeln unsern Lesern vorführen; aber mit Stillschweigen sollte ein solches Unternehmen in den Spalten eines Volks- und Familienblattes nicht übergangen werden. Derartige Ausstellungen, die auf weitere Kreise in hohem Maße belehrend wirken, sollten in unseren Städten häufiger veranstaltet werden. Wenn sie auch klein ausfallen und in der weiten Welt kein Aufsehen erregen, so bringen sie doch großen Nutzen, namentlich wenn sich an dieselben auch belehrende Vorträge knüpfen. Leider sind bei uns gerade Ausstellungen für Kinderpflege ungemein selten. Darum möchten wir der jüngsten in Dresden mit Anerkennung gedenken und nur wünschen, daß sie bald auch in anderen deutschen Städten Nachfolgerinnen finden möchte. *
Freundschaft zweier Dichtersöhne. Der Freundschaftsbund Goethes und Schillers hat besonders in ihrem inhaltsvollen Briefwechsel ein ewig dauerndes Denkmal gefunden. Weniger bekannt dürfte es sein, daß auch die Söhne beider Dichter, August Goethe und Schillers zweiter Sohn Ernst, durch jahrelange Freundschaft miteinander verbunden waren. Darüber erfahren wir Näheres in der Schrift „Schillers Sohn Ernst. Eine Briefsammlung mit Einleitung von Dr. Carl Schmidt“ (Paderborn, F. Schöningh). Schon früher hatten die Kinder miteinander Umgang gehabt, aber erst nach der Uebersiedlung Schillers nach Weimar wurde der Verkehr zwischen den beiden Familien lebhafter. Es war ein Kleeblatt von Kindern, Karl, der ältere Sohn Schillers, gehörte mit in den Bund; doch August fand besondere Freude an dem zarten, sehr aufgeweckten Ernst. Im Jahre 1802 hatten die Kinder sogar eine Ordensgesellschaft gestiftet. Cotta, der sich bei seiner Anwesenheit in Weimar an diesem Knabenbund erfreut hatte, ließ in einem Briefe an Schiller die Jugend grüßen und fragte an, ob „die Früchte verzehrende Gesellschaft“ (eine Anspielung auf die alte „Fruchtbringende Gesellschaft“) auch die Bücher erhalten, die er gesandt. August erwiederte ihm, bei seiner [408] nächsten Anwesenheit in Weimar würden sie sich die Freiheit nehmen, ihm den Gesellschaftsorden umzuhängen.
Später lockerte sich der herzliche Verkehr etwas. Schillers schwere Erkrankung, sein Tod, Augusts längerer Aufenthalt in Frankfurt, später in Heidelberg, wo er gleichalterige Freunde fand, trugen die Hauptschuld daran. Was Ernst mit August von Goethe wieder näher zusammenführte, war die Vereinsamung, in welche sie 1813 gerieten, als sie beide nicht dem Aufruf zum Kampfe fürs Vaterland folgten. Der Dritte im Bunde der „Geächteten“ war Arthur Schopenhauer. Goethe hatte Ernst an Professor Eichstädt in Jena dringend empfohlen; die Mutter schrieb jenem darauf: „Ich habe mit Rührung Ihren Anteil empfunden. In der Freundschaft des lieben Sohnes für Ernst habe ich manchen Trost schon empfangen; denn es ist mir so lieb, wenn die Söhne das Band, das die Väter so schön verbunden, weiter ausdehnen.“ Beide glichen äußerlich ihren Vätern, für deren Größe sie begeistert waren. Dann beginnt aber eine Zeit des Zusammenlebens, das für beide nicht ersprießlich war. Die Mutter von Ernst sah in August den Verführer ihres Sohnes; dieser war melancholisch, maßlos in Freude und Schmerz, in durchwachten Nächten seine Kraft vergeudend. Doch Ernst raffte sich auf, während August nie mehr die rechte Bahn fand. Ernst wurde 18l9 bei dem Kreisgerichte zu Köln angestellt und starb als preußischer Appellationsgerichtsrat 1841 zu Vilich bei Bonn; er war nicht älter geworden als sein Vater. August begab sich später, innerlich gebrochen, nach Rom und starb dort 1830. †
Der Erbauer des Nordostseekanals Otto Baensch, dessen Bildnis wir nebenstehend und in Ergänzung der Bilder vom Kanale selbst unseren Lesern vorführen, hat nicht nur das Verdienst, die Ausführung des großen Unternehmens von Anfang bis zu Ende geleitet zu haben. Er hat auch vorher die Durchführbarkeit des Dahlströmschen Plans so überzeugend zu begründen gewußt, daß Kaiser Wilhelm I. und Fürst Bismarck wesentlich mit dadurch bestimmt wurden, die Verwirklichung des Plans zur Angelegenheit des Reiches zu machen. Baensch wurde am 6. Juni 1825 in Zeitz als Sohn des Postrats Baensch geboren. Er besuchte die Berliner Bauakademie und trat 1846 als Land- und Wasserbau-Inspektor in den preußischen Staatsdienst. Auf dem Gebiete des Eisenbahnbrückenbaus that er sich zuerst hervor; zahlreiche Bauten dieser Art, namentlich im Rheinland, wurden nach seinen Plänen ausgeführt. Ein neues Arbeitsfeld eröffneten ihm seine umfangreichen Studien über die Ursachen der wechselnden Meeresströmungen an der Küste von Rügen und über den Einfluß derselben auf die Küste – Arbeiten, deren Ergebnisse er in seiner Abhandlung „Studien aus dem Gebiet der Ostsee“ niedergelegt hat. Zu dieser Zeit, in welcher er sich auch mit dem Seeleben und Schiffsbau vertraut machte, führte er den Bau mehrerer hinterpommerscher Häfen aus. Stromregulierungen nahmen Baensch von dem Jahre 1871 an, nach seinem Eintritt in das preußische Ministerium der öffentlichen Arbeiten als vortragender Rat, in Anspruch. Die Elbschiffahrt verdankt seiner Wirksamkeit auf diesem Gebiete einen großen Aufschwung, und seine Main-Kanalisierung hatte die ungeheure Verkehrssteigerung von jährlich 213000 Centnern auf 20 Millionen zur Folge. Auch um die Rhein-Regulierung erwarb er sich große Verdienste. Dann aber wandte sich seine Wirksamkeit den schleswig-holsteinischen Küsten zu, welche es galt gegen die Angriffe des Meeres zu schützen. Aus dieser Zeit stammt seine Arbeit über die Sturmflut in meteorologischer und hydrotechnischer Beziehung, welche eine ganz hervorragende Bedeutung für den Schutzbau der Küsten gewonnen hat. So vorbereitet, war er der berufene Meister für die Ausführung des Nordostseekanals. An den Ehren, zu denen jetzt die Eröffnungsfeier Anlaß giebt, gebührt ihm ein voller Anteil. Die größte Sicherheit in den Konstruktionen und schöne, strenge Einfachheit waren ihm bei dem Bau stets die leitenden Gesichtspunkte: die möglichste Nutzbarkeit des Kanals für Handel und Kriegsmarine das Ziel, das er nie aus dem Auge verlor. Am 6. Juni dieses Jahres beging Geh. Oberbaurat Baensch in Berlin seinen siebzigsten Geburtstag. Viele Ehrenerweisungen sind ihm im Laufe der Jahre für die von ihm geschaffenen Werke von seiten des Staates und der Regierenden zu teil geworden; in Zukunft wird es seinen Verdiensten, die sich in der Stille treuer Beamtenpflichterfüllung vollzogen, auch an der allgemeinen Anerkennnng nicht fehlen.
Der Thespiskarren in der Klemme. (Zu dem Bilde S. 401.) Künstlers Erdenwallen – Triumph des neidischen Schicksals, welches den Genius eben dann in Fesseln schlägt, wenn er der irdischen Gemeinheit zu entfliehen trachtet, und sei es auch mit Hinterlassung etlicher unbezahlten Rechnungen! Wie golden steht die Morgenfrühe über dem altersgrauen schwäbischen Städtlein, mit welchem Hochgenuß schickte sich die fahrende Künstlerschaft an, seinen undankbaren Mauern den Rücken zu kehren, um anderwärts günstigeren Sternen nachzueilen. Aber es wär’ zu schön gewesen! Hier steht das Schicksal roh und kalt, angethan mit dem Bandelier eines königlichen Gendarmen, und donnert: Erst bezahlen! während der Gastwirt einen giftgetränkten Wutbick auf das heitere Völkchen im Wagen und seinen verantwortlichen Leiter wirft. Denn bereits dämmert ihm die Ahnung, daß er sich die Mühe dieses morgendlichen Ueberfsalls umsonst genommen haben dürfte. Allzu deutlich spricht des Direktors Gebärde: wo nichts ist, hat der Kaiser das Recht verloren. Und als traurige Bestätigung erschallen die Wehrufe der Trödeljuden, welche Kisten und Kasten mit Beschlag belegt, aber die Kronjuwelen und Purpurmäntel stark unter ihrer Erwartung gefunden haben. Allgemeine Aufregung im Publikum dieser improvisierten Tragödie! Aber in olympischer Ruhe thronen die eigentlichen Hauptfiguren, sie wissen, daß sie nichts zu verlieren haben. Voll Interesse spannt Mephisto-Shylock darauf, wie sich Kollege Wallenstein, „der entlaubte Baum“, aus dieser Affaire ziehen wird. Präsident Walter neben ihm nimmt es bedeutend kühler; irgendwo zu Mittag essen wird man heute unter allen Umständen dennoch. Und die jugendliche Liebhaberin vollends mit ihren Prachtaugen – na, die braucht sich wohl überhaupt um ihr Fortkommen nicht zu sorgen! Max Piccolomini aber, die Partisane in der Faust, den schwer errungenen Lorbeerkranz im Rücken, sieht gerade so aus, als ob er Wirt und Stadtsergeant am liebsten mit einem Stich seiner todbringenden Waffe hintereinander spießen möchte!
Das an ergötzlichen Zügen reiche Pixis’sche Bild gehört den früheren Zeiten des bekannten und beliebten Künstlers an. Es ist jedenfalls zu seinen besten zu rechnen und wird ihm zu den alten Freunden unter unseren Lesern zahlreiche neue erwerben. Bn.
Ein Liebeszeichen. (Zu dem Bilde S. 405.) Droben auf den Alpenbergen, wo auf den Matten um die Almhütten der Blumen so viele blühen, reicht die Sennin ihrem Schatz als Liebeszeichen einen großen vollen „Buschen“ frischgepflückter Alpenrosen. In den Fischerdörfern der Nordseeküste muß die Liebe schon sparsamer sein, wenn sie die Blumen zum Sinnbild ihrer Empfindungen wählt. Aber das Bedürfnis danach besteht überall im Volke, im Norden wie im Süden, und je mühsamer es dem treuen Friesenkind war, den einzigen Nelkenstock zur Blüte heranzupflegen, um so beredter spricht auch die kleine Blumengabe, mit der die spröd’ Zurückhaltende nun zum Abschied dem Liebsten den Hut schmückt. Die paar kleinen Nelken sagen dem Hochbeglückten mehr, als sein Herzensschatz in Worten zu stammeln vermöchte. Denn die Sprache der im Rauschen des Meeres aufwachsenden Fischerkinder ist karg wie der Boden, den Triebsand und Sturmslut bedrohen. Die trauliche Hütte, in welcher wir die Scene belauschen, ist in einem Küstendorfe des nördlichen Holland zu suchen.
Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (10. Fortsetzung). S. 389. – Von Kiel nach Brunsbüttel. Eine Fahrt durch den Nordostseekanal vor der Eröffnung. Von Georg Hoffmann. S. 395. Mit Abbildungen S. 389, 392 und 393. 395, 396, 397, 398, 399 und 400. – Der Thespiskarren in der Klemme. Bild. S. 401. – Der „böse Blick“ im Lichte der Suggestion. Von C. Falkenhorst. S. 402. – Blauweiß. Novelle von Theodor Duimchen (Fortsetzung). S. 404. – Ein Liebeszeichen. Bild. S. 405. – Blätter und Blüten: Ausstellungen für Kinderpflege. S. 407. – Freundschaft zweier Dichtersöhne. S. 407. – Der Erbauer des Nordostseekanals Otto Baensch. Mit Bildnis. S. 408. – Der Thespiskarren in der Klemme. S. 408. (Zu dem Bilde S. 401.) – Ein Liebeszeichen. S. 408. (Zu dem Bilde S. 405.)
Die Band-Ausgabe von E. Werners Romanen erscheint vollständig in 10 reich illustrierten Bänden zum Preise
Inhalt der Bände: 1. Glück auf! 2. Am Altar. Hermann. 3. Gesprengte Fesseln. Verdächtig. 4. Frühlingsboten. Die Blume des Glückes. 5. Gebannt und erlöst. 6. Ein Held der Feder. Heimatklang. 7. Um hohen Preis. 8. Vineta. 9. Sankt Michael. 10. Die Alpenfee.
Bestellungen werden jederzeit in beinahe allen Buchhandlungen angenommen. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die
Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.