Die Gartenlaube (1895)/Heft 22
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Nr. 22. | 1895. | |
Haus Beetzen.
(8. Fortsetzung.)
Ditschas Augen folgen beharrlich der ihr voranschreitenden alten Frau, wie zierlich das „Mutterle“ dahingeht in dem einfachen Kleide aus schwarzer Seide und dem ein wenig altmodischen Umhängchen aus dem nämlichen kostbaren Stoff. – Durch die schwarzen Spitzen des Hutes schimmert das silberne Haar und am Arm hängt ihr der Pompadour längst vergangener Mode.
Rothe bemerkt ihre freundlichen Blicke und lächelt darüber. „Jetzt ist’s heimatlich auf Dombeck,“ sagt er, „und, gnädiges Fräulein, jetzt könnten Sie – nein, jetzt müssen Sie sogar einmal herüberkommen. Ich weiß, der Baron macht keine Besuche – ich weiß es,“ schneidet er ihre Erwiderung ab, „aber Sie können’s doch auch allein? Jetzt, wo meine Mutter bei mir ist, da dürfen Sie jedes Bedenken schwinden lassen, auch der peinlichste Sittenrichter wird’s nicht wagen – –“
Sie sieht ihn groß und erschreckt an, er versteht diesen Blick falsch. „Ich begreife ja vollkommen,“ fährt er fort, „ich bin wirklich ein entschiedener Gegner der modernen Emancipation von der guten alten Sitte und finde, daß heute ebenso wie in vergangenen Zeiten oder in ferner Zukunft die Frau nie um eines Haares Breite über die Linie gehen darf, die ihr die Etikette vorschreibt. Wäre meine junge Schwester bei mir zum Besuch, ich würde die Bitte nicht stellen, aber mein Mutterle, das vollkommen die Stelle einer Hausfrau vertritt, bei der dürfen Sie sich doch melden lassen – gelt?“
„Ich bin nicht pedantisch,“ murmelt sie, um doch etwas zu sagen.
„O, in einem gewissen Punkt sollen und müssen Sie es sein,“ sagt er ernst. „Sie können sich ruhig meiner Ansicht anschließen, ich bin als der intoleranteste Mensch in dieser Hinsicht bekannt.“
„Wenn’s Onkel erlaubt,“ sagt sie mit abgewendetem Gesicht.
Er hält sie für prüde, und sie möchte weinen über sich. Dort, gerade vor ihr, lugt das Gärtnerhaus aus dem Grün der Bäume, in das sie so oft heimlich gegangen. – Eine lähmende Scham kommt über sie, sie möchte am liebsten schreien: Was würden Sie sagen, wenn Sie wüßten! – –
Sie ist ein paar Schritte zurückgeblieben, wie um Atem zu schöpfen. Als er sich umschaut, sieht er sie so blaß und verändert, daß er fragt, ob sie krank sei. Sie schüttelt stumm den Kopf.
Der Baron und die alte Dame sind links eingebogen und stehen nun schon vor dem Baum, den die Großmutter einst gepflanzt. Es ist nicht viel da zu sehen. Ditscha wird die Linde, ein keineswegs sehr stattliches Exemplar, dem eine Sandsteinbank zu Füßen steht, erst heute interessant.
Man geht dem Ausgang des Parkes zu; Kurt Rothe plaudert weiter. Er hat ein Bibliothekzimmer eingerichtet und fragt, ob Ditscha gern liest, und was sie gern lese.
„Man hat mich immer sehr knapp gehalten mit geistiger Nahrung, Tante Anna hat die Bibliothek zugeschlossen, als sie vor Jahren bemerkte, daß ich mir zuweilen dort Lektüre holte, bis jetzt ist sie nicht wieder geöffnet. Onkel Joachim liest außer seinen Zeitungen gar nichts und ist wie alle im Hause der Meinung, daß Lesen mehr schadet als nützt,“ sagt sie und lacht, während ihr die Thränen in den Augen stehen.
[358] Allmächtiger, welch eine Pedanterie! Es kommt doch darauf an, was man liest, und vor allem, wie man liest, ruft er flammend, ohne ihre Bemerkung zu beachten. „Es ist ja eine ungeheure Grausamkeit, Fräulein von Kronen – –“
Dann bricht er ab, er will ihr nicht weh thun, ihr nicht die Armut ihres Lebens noch deutlicher zeigen, jetzt nicht, wo er ihren Durst nicht löschen kann, den Durst, der aus jedem Zuge ihres ernsten Gesichtes, aus ihren fragenden traurigen Augen so deutlich redet. So gehen sie schweigend an der Geißblattlaube der Gärtnerwohnung vorüber. Ditscha streift das Haus mit keinem einzigen Blick, die Erinnerung betäubt sie heute förmlich. Sie giebt Rothe am Parkthor eine eiskalte zitternde Hand und duldet es in halber Bewußtlosigkeit, daß die alte Frau sie zärtlich in die Arme zieht und küßt.
„Auf Wiedersehen!“ sagen Mutter und Sohn, und sie spricht mechanisch nach: „Auf Wiedersehen!“
Es ist nach Tische. Ditscha hat allein mit Onkel Joachim
gespeist, der kleine Achim, der vermutlich mit Himbeereis
überfüttert wurde und infolgedessen unartig war, mußte fortgeführt
werden von seiner Bonne, sein Schluchzen und Schreien, daß er
bös sei mit Mama, weil sie die Onkel und Tanten, die zu Besuch
bei ihr sind, viel lieber habe als ihn, klingt noch jetzt in Ditschas
Ohr. Der Onkel macht ein grimmiges Gesicht, und Ditscha liest
ihm, wie sonst, im Wohnzimmer die Zeitung vor.
Er hört offenbar nur zerstreut zu, und nun biegt er mit seinem Pfeifenrohr das Zeitungsblatt herunter, in welchem das junge Mädchen liest.
„Ditscha!“
Sie sieht verwundert auf, das hat so eigentümlich geklungen. „Ditscha,“ beginnt er zögernd, „einmal muß man ja doch darüber sprechen, und seit einigen Tagen, seit ich hier so mancherlei ansehe, das mir zu denken giebt, da drängt es mich – es betrifft Deine Zukunft, Kind, wie stellst Du Dir eigentlich Dein Leben vor, wenn ich tot bin und Cilly hier ganz als Königin-Mutter residiert? Natürlich hast Du ein Anrecht auf die Beetzener Heimat, aber wirst Du Dich denn auch hier wohl fühlen? Du harmonierst so recht mit keinem, und – –“
„Onkel,“ sagt sie erschreckt, „sprich nicht vom Sterben – bitte, nicht!“
„Doch, Ditscha, doch! Sei so gut und setze mir auseinander – was würdest Du thun? Wie würdest Du Dein Leben einrichten?“
„Wenn Du es so willst, antworte ich Dir ehrlich, Onkel! Ich würde nicht hier bleiben, ich würde einen Beruf suchen, einen Lebenszweck, Arbeit, damit ich –“
„Nun möcht’ ich wissen, was Du arbeiten willst?“ unterbricht er sie. „Du kannst Dich doch nicht als Wirtschafterin vermieten? Brauchst’s doch auch nicht, hast zu leben!“
„Und wenn ich eine Million hätte, Onkel, ich muß etwas thun, ein müßiges Leben könnte ich nicht führen. Ich denke es mir z. B. so schön, einer Heimstätte für kranke Kinder vorzustehen ich – möchte Liebe ernten.“
„Unsinn! Heirate lieber!“ ruft er und trinkt seinen Grog aus. Ditscha wirft ihm einen vorwurfsvollen flehenden Blick zu. Er ist ganz verlegen geworden und räuspert sich. „Na ja,“ poltert er, „das ist meine Meinung! Und wenn Einer kommt – ein anständiger Kerl muß es natürlich sein – dann greif’ zu, wenn’s auch kein Fürst ist. Heutzutage, da verwischen sich die Unterschiede der Stände mehr und mehr, und Du –“ er stottert, thut ein paar mächtige Züge aus der Pfeife, und während sie ihn groß und kühl ansieht, endet er: „Du bist ja ein ganz vernünftiges Mädchen.“
„Ich verstehe Dich, Onkel, Du meinst – Ansprüche kann ich überhaupt nicht machen?“ vollendet sie sehr ruhig.
„Wieso denn? Wie kommst Du denn darauf?“ antwortet er und bastelt an seiner Pfeife, um sie nicht anzusehen.
„Ich habe nie mehr an eine Heirat gedacht, Onkel – Du weißt es, warum,“ sagt sie langsam.
„Ja, wovon redest Du denn eigentlich zum Kreuzelement!“ donnert er los, „spielst Du etwa auf den alten Kohl an mit dem Perthien? Da schlag doch Gott den Deubel tot, wenn das nicht ein ganz verdammtes Blech ist! Denkst Du, wenn ein Mädchen seine erste Liebe nicht gekriegt hat, das sei ein Hindernis für die zweite? Ich bitte Dich um alles in der Welt, nur keine Sentimentalitäten! Daß Du im Begriff warst, eine kolossale Dummheit zu begehen, das hast Du mit der Zeit wohl selbst einsehen gelernt, und daß Du Gott auf den Knien danken kannst alle Tage, daß er Dir besagte Dummheit ersparte, weißt Du wohl auch –. Na, und deshalb wolltest Du nun eine alte Jungfer werden? Wer kennt denn die alberne Geschichte? Doch nur wir und der ‚Windhund‘, der Gott weiß, in welchem Winkel von Amerika umherlumpt? Also sei so gütig und sieh mich nicht so traurig hoffnungslos an.“
„Onkel,“ beginnt sie. – Sie will sprechen, sie will ihm von Grete Busch erzählen, etwas, das sie schon tausendmal hat thun wollen, aber sie bekommt keinen Ton über die Lippen.
„Na,“ sagt er und rückt mit seinem Stuhl näher zu ihr hinüber und klopft auf ihre Hände, die sie im Schoß verschlungen hält. „Na, und wenn’s Dich beruhigt, dann sage ich dem Jungen, wenn er anhalten kommt: ‚Sie können sich denken, daß Sie nicht der erste sind, der um meine Nichte wirbt, ’s ist schon ’mal einer dagewesen, und den hat sie sogar ein bißchen geliebt –‘“
„Nein!“ stößt Ditscha hervor, „nicht geliebt! O nein, sage ihm das nicht, bitte, nicht!“ Und dann schlägt sie erglühend die Hände vor das Gesicht und die Thränen stürzen ihr aus den Augen und rannen durch die schlanken Finger, während Joachim von Kronen im Sessel liegt und lacht, so herzlich lacht, daß die Hunde am Ofen erschrecken und herüber kommen.
Ditscha springt auf und will aus dem Zimmer flüchten, der alte Herr hält sie fest am Kleid und zieht sie auf seine Knie. „Ich sag’s ja, Ditscha, so ein alter Tapermeyer, wie ich bin, versteht’s nicht, zarte Herzensbeziehungen zu besprechen. Du weißt doch, wie ich’s meine, Kind, hast mich verstanden? Ich kann ja auch nicht wissen, was Dir die Zukunft bringt, aber man ist so ein bißchen Wetterprophet und mir kommt’s vor, als liege ’was in der Luft. Und nun geh’ schlafen, mein Deern, und träume schön. Bist doch nicht böse auf mich? Mußt mir’s zugute halten, es ist Egoismus – ich würde ruhiger sterben, wenn ich Dich glücklich wüßte.“
Ditscha geht schluchzend aus dem Zimmer, sie weiß gar nicht, wie sie in das ihrige kommt. Hatte Onkel ihr Geheimnis erraten, ein Geheimnis, das sie sich selbst noch kaum gestanden? Oder sprach er im allgemeinen? Sie wirft sich auf ihr Bett und weint weiter. Und warum sprach Onkel heute von ihrem Fluchtversuch als von einer Bagatelle? Wo sie ihre Jugend vertrauert hatte unter der schweren drückenden Last ihrer Schuld! Wenn es keine Schuld, wenn’s wirklich nur eine Kinderei war, weshalb ließ man sie weiterachleppen an diesem Irrtum? – O, und wenn sie auch keine Ansprüche machen kann, er darf die allergrößten machen; er soll kein Weib neben sich haben, auf dem auch nur der Schein eines Makels ruht! – Ach, das ist das Elend, das Tante Klementine prophezeite!
Sie hört plötzlich auf zu weinen und streicht die wirren Haare aus der Stirn. Sie ist nicht schlecht, sie ist gut, sie ist rein und – um eines Irrtums willen verdammt man doch nicht! Wenn er kommt, wenn er das nächste Mal kommt, dann wird sie ihm ihre Geschichte erzählen, noch ehe er ein Wort von Liebe zu ihr gesprochen hat. Und dann mag er entscheiden, dann ist’s noch leicht für ihn, sich zurückzuziehen ohne daß es jemand auffällt. – –
Und sie? Ja, was dann aus ihr wird, das vermag sie nicht auszudenken!
Die Frühandacht versammelt die Familie andern Morgens
wie gewöhnlich im Saal, nur Frau Cilly fehlt. Onkel Joachim
ärgert sich darüber, Tante Anna entschuldigt sie mit Migräne, die
der Hausherr sehr ungalant mit „Kater“ bezeichnet. Ueberhaupt,
die Stimmung ist schwül, obgleich es draußen ziemlich kalt ist und
der Herbstnebel in den nassen Blättern der Bäume hängt. Beim
Kaffee macht Joachim von Kronen einige mißbilligende Bemerkungen
über gewissenlose Mütter, die einer höchst windigen Bonne die
Sorge für ihre Kinder überlassen, um sich selbst zu amüsieren und
legt zugleich neben Tante Annas Tasse ein Buch, taunaß und
beschmutzt, das Mademoiselle gestern im Park vergessen hat, wo
sie angeblich mit dem Kleinen spielte, einen ganz tollen französischen
Schmöker neuester Richtung, der selbst dem gar nicht prüden
Hausherrn, der so verloren darin geblättert hat, ein Grausen einjagt.
„Cilly kann doch nicht Kindermädchen spielen?“ erklärt Tante Anna, ohne das Buch zu beachten.
„Kindermädchen nicht, der Junge ist zu groß für ein derartiges Exemplar, aber verkehren kann sie mit ihm, spielen, ihn [359] belehren, mit ihm spazieren gehen, anstatt Reifen zu schlagen und in derartigen Backfischvergnügungen aufzugehen.“
„Onkel,“ bittet Ditscha, „ich würde so gern alle diese kleinen Pflichten bei Achim übernehmen – soll ich Cilly fragen, ob ich an Stelle Mademoiselles –?“
„Bekümmere Dich doch in Gottes Namen um Deine eignen Angelegenheiten!“ schreit Tante Anna ärgerlich. „Denkst Du vielleicht, das Kind soll von den Launen seiner älteren Schwester abhängen? Nette Erziehung könnte das werden!“
„Ich habe doch so furchtbar viel Zeit,“ stammelt Ditscha, „und ich wäre so glücklich –“
„Laß gut sein, Kind,“ unterbricht Onkel Joachim sie sarkastisch, „Du sollst nicht Deines Bruders Hüter sein; er hat noch eine Mutter. Für Deine ‚furchtbar viele Zeit‘ wird sich schon noch Verwendung finden.“
„Bis jetzt ist Achim noch nichts abgegangen,“ erklärt Tante Anna, während ihre Stricknadeln ein wütendes Geklapper anheben, „Du hast eine Affenliebe zu dem Jungen, lieber Jochen.“
„Ja, ich habe ihn lieb,“ bestätigt der alte Herr halblaut, „sehr lieb, den Letzten unseres Hauses, und natürlich möcht’ ich ihn zu einem ganz besonders prächtigen Menschen heranwachsen sehen. Und wenn ich etwas von Gott erflehe, so ist es, daß ich noch seine Kinder erlebe. Bin uralt dann, ich weiß – ich weiß – aber ich hab’s ausgerechnet, unmöglich ist’s nicht.“
Er zieht das Taschentuch, schnaubt sich heftig und steht auf, um in sein Zimmer zu gehen. Auf einmal kommt er zurück. „Was ich sagen wollte – der alten Dame auf Dombeck muß ein Gegenbesuch gemacht werden; ich denke, Ihr fahrt nachmittags hinüber?“
Cilly, die eben eingetreten ist, um dem „Brummbär“ den üblichen „Guten Morgen!“ zu wünschen, und allerliebst in einem weißen Negligé aussieht, ruft: „Aber mir hat sie doch keinen Besuch gemacht!“
„Mir auch nicht!“ erklärt Tante Anna mit aufeinander gepreßten Lippen.
Er sieht ganz ratlos zu Ditscha hinüber, die, glühend rot, den Kopf gesenkt hat. „Und ich mache ein für allemal keine Besuche,“ erklärt er verdrießlich, „und wenn Du, Schwester, Dich nicht dazu verstehen willst, Ditscha zu begleiten –“
„Ich finde das gänzlich überflüssig, Joachim. Ditscha kann sehr gut allein fahren; sie ist ja – schon öfter allein – – ich meine, sie ist doch nicht so unerfahren!“
„Ditscha.“ sagt Joachim von Kronen ruhig, „Deine Tante Anna hat recht, Du kannst allein fahren, bist keine von den gewöhnlichen Schneegänsen, die einen Hüterjungen brauchen. Also – zu nachmittag um vier Uhr bestell’ Dir die Schimmel und vertritt mich bei Frau Rothe.“
Ditscha zögert einen Augenblick. Ein bitteres Lächeln zieht sich um ihren Mund, die Spitze in der Anspielung ihrer Tante hat sie getroffen. So macht Tante Anna es immer; sie erfaßt jede Gelegenheit, um sie zu demütigen, zu kränken, sie zu erinnern an – ach Gott – – „Ja, Onkel,“ sagt sie endlich, erhebt sich, ergreift den Schlüsselkorb und fügt hinzu, sie werde, da sie doch einmal in das Erdgeschoß gehe, Franz selbst das Anspannen bestellen.
Als sie die Thür hinter sich zumacht, sagt Joachim: „Freundlich ist’s nicht von Dir, Anna! Cilly begleitest Du in alle Gesellschaften der Umgegend, und Cilly ist doch eine Frau.“
„Seit wann bist Du denn so schrecklich besorgt um Ditscha?“ fragt die Schwester zurück. „Ich dächte doch, Du weißt, daß sie mehr als selbständig ist.“
„Schwagerchen,“ ruft Cilly, tänzelt zu ihm hinüber und legt ihm die Rechte auf die Schulter, während sie mit der linken an seinem Bart zupft, „Schwagerchen, Du willst mir doch nicht etwa einen Schwiegersohn verschaffen? Du protegierst ja die Rothes fürchterlich!“
„Schwätz’ doch nicht solch heillosen Unsinn!“ ruft Tante Anna ärgerlich.
„Unsinn? Wieso denn?“ fragt Cilly und dreht sich auf dem Absatz herum. „Herrje, den nähme manche gern, wenn er auch nur Rothe heißt. Du bist wirklich schrecklich mittelalterlich angehaucht, Anna – hast Du denn nie gehört, daß der sogenannte Seelenadel nach den neuesten Forschungen über dem Geburtsadel steht? Das lernten wir doch schon allen Ernstes in der Pension. Nein, nein, Scherz beiseite,“ versichert sie mit drolligem Ernst, „der frische herbe Wind der neuen Zeit vertreibt die Wolken aus unserem adligen Olymp, und die Götter, denen ein Wappen auf die Flügel gestempelt ist wie den Beetzener Mastgänsen, wenn sie zu Markt geschickt werden, die nehmen auch Ungestempelte zur Ehe und umgekehrt. Gott im Himmel, es ist ja auch ein Glück! Das entre nous wird doch allmählich öde, und das kann ich Dir aus eigenster Erfahrung sagen, Jochen, den schönsten, elegantesten Mann, den ich jemals kennengelernt habe und in den ich mich Hals über Kopf sterblich verliebte, das war ein österreichischer Unterlieutenant, der Pepi Pamperl hieß, und dessen Vater war Greisler in einer ‚Weaner‘ Vorstadt.“
„Na, da werd’ ich einen etwaigen Freier von Ditscha gleich zu Dir schicken, wenn Du so tolerant bist,“ sagt der alte Herr gutmütig und macht ernstlich Miene, sich zurückzuziehen.
Als er in seinem Zimmer kaum angekommen ist, klopft es, und Tante Anna tritt herein. Sie hat einen ganz roten Kopf und ihre Stimme zittert, als sie sagt: „Es ist hoffentlich Dein Ernst nicht, Ditscha nach Dombeck fahren zu lassen!“
„Mein völliger Ernst!“
„Aber das ist ja – das kann ja der Mensch –“
„Welcher Mensch?“
„Der Rothe – als Avance auffassen, und nachher haben wir die Bescherung.“
„Wieso?“
„Na, Ditscha wird sich doch nicht verheiraten wollen? Ich meine –“
„Warum sollte sie nicht? Wenn sie sonst Lust hat?“ – Er legt die Zeitung weg und sieht die Schwester fast drohend an. „Liegt irgend etwas vor, das gegen ihre Verheiratung spricht? Wenn Du etwa auf die dumme Geschichte mit dem Perthien anspielst, so sage ich Dir, jene Kinderei hat das arme Ding hinlänglich gebüßt.“
„Sie wird in meinen Augen nicht moralischer, weil ihr das Durchbrennen mißglückte.“
Er schlägt plötzlich mit der Faust auf den Schreibtisch, daß die Tinte überfließt und alles Gerät klirrt. „Und das ist Dein Standpunkt, den Du immer so sehr als ‚christlichen‘ betonst?“ schreit er. „Würde so unser Herr gesprochen haben, Er, der selbst einer Ehebrecherin vergab? Hol’ der Teufel Deine altjüngferliche Moral, Schwester, ich finde sie sündhaft!“
Sie blinzelt nur ein wenig und ist ein paar Schritte zurückgetreten, aber sie sagt doch: „Wer würde Sophie wollen, wenn er ihre Geschichte erfährt? Und wenn Ihr sie verschweigt, so betrügt Ihr!“ Sie ist beim Schluß dieses Satzes an der Thür angelangt und öffnet dieselbe. Mit stolz erhobenem Kopf und dem Gefühl, sie habe das letzte Wort gehabt, geht sie hinaus.
Der alte Mann sitzt da, noch immer die geballte Faust auf dem Tische. „O Du arme Deern,“ murmelt er, „wie wirst Du noch büßen müssen für Dein bissel Jugendthorheit! Und – und – weiß Gott, kein Mann kann ein besser Weib finden als sie, und suchte er die ganze Welt ab.“
Indessen hat Ditscha in Küche und Speisekammer ihre Scheinpflichten gethan, das heißt, sie hat mit der Köchin über die heutigen Gerichte gesprochen, hat Hanne, die seit dem Tode der Baronin die Wirtschaft so vorzüglich führt, daß ein Oberbefehl ganz und gar überflüssig erscheint und Ditscha von der alten treuen Seele nur so meuchlings aufgedrängt worden ist, damit sie doch ‚etwas vorhat‘, in die Speisekammer geführt, wo die Einmachebüchsen in langer Reihe stehen, und hat ihr dann so beiläufig erzählt: „Ich fahre heut’ nachmittag nach Dombeck, Hanne, und dann in die Stadt; giebt’s etwas zu besorgen?“
„Se führn nach Dombeck!“ ruft die alte Frau. „Na, dat’s recht! De Annern karriolen den ganzen Dag im Land herum – dat Se nu’ ok ’mal ut kommen. – – Und, ja wenn Se wülln, gnä’ Fröln Ditscha, meine Ballerjahnsdroppen sün all, wenn Se vielleicht bei de Apteik vörbigahn –“
„Ja, liebe Hanne, gern –“
„Un bi’n Kopmann noch so’n halben Centner Zucker as ut de Bremhörder Fabrik, und bi de Putzmakersch hev ich ’ne Sündagshuw.“
Ditscha nickt. „Soll alles besorgt werden, Hanne.“ Und dann geht sie nach oben.
Nach einem Weilchen fällt Hanne noch etwas ein, was sie haben möchte aus der Stadt; sie klopft an Ditschas Zimmer und tritt ein, bleibt aber dann ganz erstaunt an der Thüre stehen, denn so etwas hat sie in diesem Raume noch nicht erblickt. Ditscha hat den Kleiderschrank fast ganz ausgeräumt; ihre Hüte, es sind deren
[360][361] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [362] drei, liegen auf dem Tisch, und einen davon probiert sie eben vor dem Spiegel auf und macht ein ganz verzweifeltes Gesicht dazu.
„Ach Hanne, sieh doch – in alle Ewigkeit habe ich keine Besuche gemacht, und nun besitze ich kaum einen vernünftigen Hut.“
„Süh, süh!“ antwortet Hanne, „und wenn ich ’mal gesagt hab’, gnä’ Fröln, Sie sollten sich doch ’nen hübschen Kirchenhut zähmen, dann haben Sie gesagt: ‚Ach, Hanne, das verstehst Du nicht, die schwarzen Filzhüte sind die feinsten.‘“
„Ja, das ist auch wahr,“ giebt Ditscha zu. „Nun ist er aber doch verregnet, als ich neulich mit Onkel Jochen nach Britzhagen gefahren bin, und die alte Dame scheint so sehr eigen und ‚adrett‘, wie Du sagst.“
„Ach wat,“ meint Hanne ernsthaft, „olle Lüd sehen slecht; aber was der junge Heer is, der kikt aufs Smucke, der hat’s gern, wenn allens pük is.“
Ditscha dreht ihr den Rücken zu und betrachtet den unglücklichen Filzhut sehr angelegentlich.
„Ich würd’ mir da ein’ Sleuer aufstecken, gnä’ Fröln Ditscha,“ schlägt Hanne endlich vor.
„Du hast recht,“ antwortet Ditscha, „das geht.“
„Ja, und dann will ich man sagen, der Damastweber hat die Wappenhandtücher noch immer nich’ geschickt, wolln gnä’ Fröln nich’ vorfragen? Es wör’ doch möglich, daß man sie ’mal braucht, wenn auch alle Kastens vollgeproppt sind mit so’n Sachens. Na, ich will nu’ runter, die Madmoisell, das überspönige Ding, hat sich bei ihr Lesen gestern in der Käuhle Halsschmerzen geholt, und wer anders soll ihr denn die kollen Umsläg’ machen?“
Ditscha bleibt allein und schämt sich ein wenig, denn in ihrem ganzen Leben hat sie sich noch nie so angelegentlich mit ihrer Toilette beschäftigt wie heute. Ob es Hanne gemerkt hat? Zu dumm ist’s! – Sie blickt in den Spiegel und schüttelt den Kopf über sich selbst.
Gegen vier Uhr fährt der Wagen vor; Ditscha ist nicht ohne Begleitung, das Brüderchen fungiert als Ehrengarde. Der kleine Kerl hat so lange gebettelt, bis Frau Cilly ihm erlaubte, mitzufahren, denn erstlich ist Mademoiselle krank und der Junge ein Quälgeist, und dann wäre er auch bei etwaigen Besuchen sehr im Wege; also – sie ist froh, ihn los zu sein.
Ditscha in ihrer einfachen schwarzen Trauertoilette von englischem Schnitt, das angezweifelte Filzhütchen auf den schönen Flechten, Handschuhe und Stiefel tadellos, neben sich den frischen kleinen Kerl, fährt ab, begleitet von unzähligen Kußhänden und dem Lachen des alten Herrn. Die Luft ist wundervoll klar und duftend, die Heide noch rot, die Eichen sind noch grün, und Ditscha hört wie im Traume das Plaudern des Kindes. Ihr ist so wunderlich zu Mute seit gestern, so still, so friedlich und hoffnungsreich zugleich.
Onkel Jochen hat den Friedrich in großer Livree neben Franz auf den Bock kommandiert; die Pferde prangen in silberblitzendem Geschirr, und soweit ihre etwas betagten Beine es zulassen, traben sie auch ganz munter. Als der Schloßturm von Dombeck sichtbar wird, richtet Ditscha sich aus ihrer nachlässigen Stellung auf, ein starkes Herzklopfen meldet sich, sie möchte am liebsten sagen: Franz, kehren Sie um! Und sie greift nach der Hand des Kleinen, als böte der Knirps ihr Schutz. Aber sie fahren schon durch die Allee von mächtigen Eichbäumen und zwischen zwei Sandsteinpfeilern, auf denen das Moos des Alters sitzt, hindurch in den Park und halten nach wenig Minuten vor der überdeckten Anfahrt. Friedrich, der herabspringt, übergiebt einem herzueilenden Diener die Karte Ditschas, nachdem er gefragt, ob die gnädige Frau zu sprechen sei. Und während Achim sich über die riesige Dogge freut, die in der offenen Rundbogenpforte erscheint, fühlt Ditscha eine solch’ ungeheure Befangenheit, daß sie Gott anfleht, er möge die Herrschaften nicht daheim sein lassen.
Aber siehe, da kommen eilige Schritte durch das Haus, und sein Herr empfängt mit freudig strahlendem Gesicht den Besuch. Er hebt den Jungen aus dem Wagen und bietet Ditscha die Hand, und in der großen Halle kommt ihr am Fuß der Treppe schon das Mutterle entgegen, genau so freudig verklärt wie der Sohn.
„Wir haben gerad’ von Ihnen gesprochen,“ ruft sie, „o, wie nett, daß Sie den Kleinen mitbringen – und Sie lassen doch ein wenig ausspannen?“
Ditscha will danken, aber Achim ruft: „Ach ja, Ditscha, bitte, bitte!“ und steigt an der Hand der alten Dame die Treppe empor. Nach einem Weilchen sitzt man am Kaffeetisch und plaudert. Frau Rothe hält Ditschas Hand in der ihrigen und streichelt dieselbe zärtlich, und Kurt Rothe plaudert mit dem Kleinen, der sich außerordentlich für die Gewehre an den Wänden, die vielen Pferdebilder und die schönen Peitschen interessiert. Es wird gar nichts Besonderes gesprochen, am wenigsten reden die beiden jungen Menschen miteinander, und doch sind beide glücklich, nur daß keiner es von dem andern weiß.
Er ist ein kluger einfacher Mensch, der einen tüchtigen Fond von anständiger, vornehmer Gesinnung hat. Wenn es Menschen giebt, von denen man sagen kann, sie sind übertrieben ehrenhaft, so ist er einer. Er hat nie gespielt, niemals eine leichtsinnige Liebschaft gehabt, und seine Meinung von Frauen ist die allerhöchste. Er ist vollkommen der Ansicht, daß die beste Frau diejenige sei, von der am wenigsten gesprochen wird, und er ist stets unangenehm geworden, wenn einer seiner Freunde am Zechtisch gewagt hat, nach dem Befinden seiner Schwester zu fragen. Seine künftige Frau hat er sich vorgestellt als schön, klug, gut, einfach, ernst – kurz, wie Ditscha; und er ist zweiunddreißig Jahre alt geworden, ohne dieses Ideal verwirklicht zu sehen – da muß er es hier finden, hier, in seiner neuen Heimat!
Wenn er nur wüßte, ob sie ihn lieben könnte, wie er sie liebt!
Wie köstlich erscheint ihm heute sein Zimmer – man hat den Kaffee hier serviert – wie anders als sonst durch den Zauber ihrer Gegenwart! Und als jetzt der Kleine herüberkommt und sich an sie schmiegt, da hält er einen Augenblick die Hand vor die Augen, als blende ihn das Licht künftigen Glückes.
„Komm,“ bittet das Kind, „zeig’ uns den Garten, Onkel Rothe.“
Er steht auf und nimmt den Hut von einem Hirschgeweih, auf welches Zeichen zwei Teckel in die wahnsinnigste Freude geraten.
„Bleiben Sie bei mir?“ fragt das Mutterle Ditscha.
„O, gern!“
„Nein, Ditscha soll mit – bitte, bitte, Ditscha!“ fordert der kleine Tyrann, und seine Augen sind so verängstigt, daß Mutterle meint, Ditscha interessiere doch sicher der Garten auch, und ihr ein Tuch bringt zur Promenade. Und Ditscha entschuldige wohl, wenn sie oben bleibe, es sei doch sehr kühl draußen.
Die beiden jungen Menschen und das Kind gehen bald darauf durch die Wege des parkartigen Gartens. Ditscha kennt ihn schon von früher, sie war als Kind einmal in Dombeck, ein herrliches Fleckchen Erde, dessen Eichen viel berühmt sind weit und breit. Die Hunde balgen sich im herbstnassen Rasen, zum Jubel Achims, ein intensiv warmer Goldglanz bricht durch das Gezweig und überhaucht Ditschas Angesicht mit rosigem Schimmer.
Sie geht still, mit gesenktem Haupt; das Kind hat sich von ihr losgemacht und läuft ein paar Schmetterlingen nach.
„Lassen Sie ihn,“ bittet der Mann an ihrer Seite, „er kann hier im Park nicht zu Schaden kommen.“
Achims Stimmchen schallt zuletzt wie aus weiter Ferne; er jagt sich jetzt mit den Hunden.
Carl Vogt.
Die große Zeit der Befreiungskriege war dahingerauscht; aber die glorreichen Siege hatten nicht die Früchte gezeitigt, welche die Edelsten des Volkes mit Sehnsucht erhofften. Deutschland blieb zerrissen und freie Regungen des Volksgeistes wurden unterdrückt. In dieser Zeit der Demagogenhetze wandert auch ein deutscher Doktor der Medizin und Universitätsprofessor aus seiner Heimatstadt Gießen nach Bern aus, um in dem freien Schweizerlande zu docieren. In seiner Familie befand sich ein hoffnungsvoller Sohn, ein achtzehnjähriger Student der Medizin – Carl Vogt, der später so berühmt werden sollte und nun am 5. Mai dieses Jahres in dem hohen Alter von 78 Jahren sein thätiges Leben beschloß.
Dem weiten Kreise der Leser und Freunde der „Gartenlaube“ ist er wohlbekannt, denn seit Jahrzehnten war er einer unserer hervorragendsten Mitarbeiter. Den Aelteren unter uns sind auch [363] seine Lebensschicksale nicht fremd geblieben, hatte es doch eine Zeit gegeben, in der Carl Vogt die Rolle des Gelehrten mit der eines Volkstribunen vertauschte, hatte er doch später in ruhigeren Zeiten Jahre hindurch, von Ort zu Ort ziehend, als Wanderredner Bildung und Aufklärung zu verbreiten gesucht. Etwas fremder stand dagegen das jüngere Geschlecht dem alten Vogt gegenüber; bis zu seinem letzten Atemzuge sprach er zwar auch zu ihm durch Bücher und Zeitungsartikel, aber in mancher Hinsicht hatte die rasch vorwärts schreitende Zeit den einstigen Freiheitskämpen überholt; er arbeitete rastlos am Fortschritte der Wissenschaft, aber ein Teil seines Lebens, und zwar der feurigste und bewegteste, lag wie ein abgeschlossenes Ganzes hinter ihm – gehörte der Geschichte an.
Im Jahre 1839 vollendete Vogt regelrecht seine medizinischen Studien, er hätte sich nun irgendwo als Arzt niederlassen können, aber dazu fühlte er keine Neigung. Er wollte weiter studieren, größere Gebiete des Wissens umfassen. Die Naturwissenschaft nahm ja damals einen so mächtigen Aufschwung, enthüllte so viele Geheimnisse, und der junge Doktor schloß sich ihren Bahnbrechern an, suchte mit ihnen dunkle Abschnitte der Erdgeschichte aufzuhellen. So sehen wir ihn in Neuenburg an Desors und Agassiz’ Seite thätig, wo er Gletscherexpeditionen mitmacht, um das Wesen dieser mächtigen Eisgebilde zu erforschen, wo er sich in zoologische Arbeiten vertieft und an der Feststellung der Naturgeschichte der Süßwasserfische einen hervorragenden Anteil nimmt. Diese Arbeiten trugen reiche Frucht, und Vogt konnte zu den Naturforscherversammlungen nach Erlangen (1840) und Mainz (1842) eilen, um die Kunde von neuen Entdeckungen zu verbreiten. Gleich bei seinem ersten Auftreten in den gelehrten Versammlungen offenbarte er sich als ein rückhaltlos vorwärtsstrebender Geist, als ein Dränger, der gegen das Veraltete Sturm lief. Er hatte Aufsehen erregt, doch studierte er auch jetzt noch weiter auf eigene Faust. Im Jahre 1844 ging er nach Paris und von hier aus begann er jene Thätigkeit zu entfalten, die neben wissenschaftlichen Arbeiten künftig sein Leben ausfüllen sollte. Der Naturforscher wurde auch Journalist und trat in Beziehungen zu der „Allgemeinen Zeitung“. In Paris gründete Vogt die Gesellschaft der deutschen Aerzte. Während des Winters ging er nach Nizza, um dort Studien am Meeresstrande zu treiben. Seine geologischen und physiologischen Schriften lenkten indessen die Aufmerksamkeit der Gelehrtenwelt auf die aufstrebende, so viel versprechende Kraft und im Jahre 1847 wurde der junge Forscher auf Liebigs Veranlassung als Professor der Zoologie an die Universität Gießen berufen. So war er der Heimat wiedergegeben, denn in den Mauern jener Stadt hatte er am 5. Juli 1817 das Licht der Welt erblickt.
Die Professorenlaufbahn nahm jedoch ein rasches Ende. Der Sohn des verdächtigen „Demagogen“ schloß sich in der Heimat der radikalen Partei an, und als die Revolutionsjahre kamen, wurde er als Abgeordneter in das Vorparlament und in die deutsche Nationalversammlung nach Frankfurt a. M. entsandt. Dank seiner schlagfertigen geistreich witzigen Beredsamkeit schwang er sich zu einem der Führer der Linken empor, und als diese nach Stuttgart zog und dort das sogenannte „Rumpfparlament“ eröffnete, wurde Vogt neben Raveaux, Schüler, Simon und Becher zum „Reichsregenten“ gewählt. Diese revolutionäre Regentschaft dauerte nur zwölf Tage, und als ihr mit Waffengewalt ein Ende bereitet wurde, sah sich Vogt gezwungen, über die Grenze zu fliehen. In Bern und Nizza setzte er seine wissenschaftlichen Studien fort. 1852 erhielt er dann den Ruf als Professor der Geologie nach Genf; damit war seine äußere Lebensstellung begründet, denn hier verblieb er, nachdem er später zum Professor der Zoologie ernannt worden war, bis an sein Lebensende. Von hier unternahm er verschiedene Forschungsreisen, in Genua und Neapel betrieb er mit Vorliebe jene „Ferienstudien am Meeresstrande“, über deren Ergebnisse er auch in der „Gartenlaube“ berichtet hat. 1861 begab er sich auf eine Forschungsreise nach dem Nordkap, jedoch nicht in Begleitung des Prinzen Napoleon, wie neuerdings in seinen Biographien irrtümlich bemerkt worden ist.
Und auch aus der Ferne übte Vogt einen bedeutenden Einfluß auf das Geistesleben des deutschen Volkes aus. Neben Moleschott und Ludwig Büchner war er der hauptsächlichste Vertreter des naturwissenschaftlichen „Materialismns“, der eine Zeit lang die Gemüter so heftig erregte; naturgemäß trat er später als eifriger Verfechter des Darwinismus auf. Seinen Ansichten suchte er durch eine große Anzahl populärer Schriften, sowie durch Wandervorträge Geltung zu verschaffen, und das gelang ihm auch mit großem Erfolg, denn er verfügte über eine glänzende Darstellungsgabe; er schrieb klar, gemeinverständlich und verstand, Witz und Spott als scharfe kritische Waffen zu verwerten. So erregten auch seine „Physiologischen Briefe“, seine „Bilder aus den Tierstaaten“, seine Schrift „Köhlerglaube und Wissenschaft“ großes Aufsehen. Die strenge Wissenschaft verhielt sich allerdings gegenüber seinen Ausführungen mehr oder weniger ablehnend, denn der ehemalige Reichsregent war trotz all seiner Skepsis auch beim Aufbauen seiner Weltanschauung bisweilen ein sein Ziel überschreitender Schwärmer. Wir bewegen uns heute in ruhigeren Bahnen, denken kühler über die sieben Welträtsel und sind zu der Ueberzeugung gekommen, daß es doch nicht möglich ist, mit Wage und Maß alles in der Welt zu erklären. Aber niemals dürfen wir vergessen, daß auch die Wissenschaft von Zeit zu Zeit durch Stürmer und Dränger verjüngt werden muß, die sie rücksichtslos von ihrem jeweiligen alten liebgewordenen Zopfe befreien.
Das meiste Aufsehen hat wohl Vogt mit seiner Lehre von dem Affenmenschen erregt. Die Kluft, welche den Menschen auch in körperlicher Beziehung von der Tierwelt trennt, ist sehr groß und die Darwinisten suchten und suchen darum eifrig nach einem Wesen, das durch seine körperliche Beschaffenheit diese Lücke auszufüllen geeignet wäre, ein Verbindungsglied zwischen Mensch und Tier darstellen würde. Bis jetzt sind alle diese Bemühungen fruchtlos geblieben. Man hatte wohl verkümmerte Gebeine aus vorgeschichtlicher Zeit ausgegräben und in ihnen Ueberreste einer wilden den Tieren näher stehenden Stammform der Menschen vermutet; aber sorgfältige Untersuchungen mußten zu der Ueberzeugung führen, daß jene Gebeine krankhaft entartet waren, von verkümmerten Menschen herrührten, wie sie auch heute unter uns leben. Carl Vogt wandte sich dem Studium einer Mißbildung zu, durch die das Gehirn des Menschen am meisten beeinflußt wird. Von Zeit zu Zeit werden unter uns sogenannte Kleinköpfe, „Mikrocephalen“, geboren, bei denen der Durchmesser des Schädels kleiner ist als im normalen Verhalten. Das Gehirn dieser Kleinköpfe ist klein und entschieden ähnlich wie bei den Affen geformt; die kleine Schädelkapsel steht nun in auffälligem Mißverhältnis zu der Größe des Körpers; selbstverständlich liegt auch die Geisteskraft dieser Unglücklichen völlig danieder, so daß sie in ihrem Gebahren an Tiere erinnern; es fehlt ihnen auch häufig die Fähigkeit, artikulierte Laute hervorzubringen. Wie sind nun diese Mißgestalten zu erklären? Die Erfahrung lehrt, daß Eigenschaften der Ahnen mitunter plötzlich bei einem Nachkommen zum Vorscheiu kommen können. Solchen Rückschlag nennt man Ahnenbildung oder „Atavismus“; Vogt lehrte nun, daß auch die Kleinköpfe eine solche Ahnenbildung seien; sie sind nach seiner Meinung Wesen, die auf einer niedrigen Entwicklungsstufe, die einst die Vorfahren des Menschen eingenommen hätten, stehen geblieben sind. Sie zeigen viele Merkmale der Affen und bilden eine Uebergangsstufe von Tier zu Mensch. Das Auftreten Vogts gab Anlaß zu sorgfältigsten und eingehendsten Untersuchungen der Kleinköpfe, aber der größte Teil der hervorragenderen Forscher gelangte zu einer anderen Ansicht. Namentlich Virchow hat überzeugend nachgewiesen, daß die Kleinköpfe nicht durch Atavismus, sondern durch Erkrankungen des Gehirns in frühesten Entwicklungsstufen des Körpers entstehen. So ist die Affenähnlichkeit nur eine zufällige und die Kleinköpfe sind durch Krankheit und schädliche Einflüsse verkümmerte Menschenwesen.
In seinem langen äußerst regen und werkthätigen Leben hat
aber Carl Vogt die Wissenschaft auch um eine Fülle neuer
Entdeckungen bereichert, deren Wert unbestritten bleibt.
Zweifellos gebührt ihm auch der Ruhm eines hervorragenden
Spezialforschers. Daß er dabei nicht nur vom Katheder sprach, sondern
auch herabstieg zum Volke und diesem die Ergebnisse der Forschung
in klarer anziehender Weise vortrug, muß ihm als ein besonderes
Verdienst angerechnet werden. Tot wäre ja die Wissenschaft, wenn
ihre Errungenschaften aus den Kreisen der Gelehrten zum Volke
nicht dringen und Gemeingnt aller nicht werden sollten! Carl
Vogt war die Gabe verliehen, die schwierigsten Fragen weitesten
Kreisen verständlich zu machen, und daß er von dieser Gabe, frei
von jedem Hochmut und Dünkel, den ausgiebigsten Gebrauch
machte, muß gerade auch von der „Gartenlaube“ mit besonderem
Dank anerkannt werden. Er wird in unserm Andenken fortleben
nicht nur als Forscher und Universitätsprofessor, sondern auch als
Volkslehrer und Aufklärer. *
Alle Rechte vorbehalten.
Wie Stropp der Hund wieder freikam.
Stropp der Hund war in eine ganz neue Stellung getreten.[1] Bis jetzt hatte er das menschliche Leben eigentlich nur von der Junggesellenseite kennengelernt. Sein erster Herr war nicht bloß Hagestolz, sondern sogar Redakteur gewesen, und bei dem alten Ehepaar Schmitz in der Milchwirtschaft oben am Berge, dem Stropp eine Zeitlang Milch und Eier teils bewachte, teils stahl, war auch nicht viel von Haushalt zu spüren gewesen. Jetzt aber war Stropp in einen wirklichen Haushalt gekommen, und noch dazu in einen ganz frisch gegründeten, mit neuen Möbeln und jungfräulich leuchtenden Teppichen. Gleich nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise hatte ihn sein Herr, Doktor Karl Sassen, feierlich abgeholt und in das neue Heim eingeführt als wesentlichsten Bestandteil seiner eheherrlichen Aussteuer, die an weiteren Hauptstückes noch eine Bibliothek, einen Schaukelstuhl, zwei Tabakstöpfe, vier kunstvoll gezierte Bierseidel und eine Sammlung angerauchter Meerschaumköpfe aufwies. Alle diese wertvollen Dinge verwies Frau Ulla in das Studierzimmer ihres Gatten und ließ ihm die Herrschaft über sie; Stropp aber nahm sie sogleich unter ihre ganz besondere Obhut und verteilte ihre erzieherische Thätigkeit unparteiisch auf ihn und seinen Herrn. Zunächst unternahm sie es, nach einer sorgfältig ausgedachten, von täglichen Waschungen unterstützten Diät ihren vierfüßigen Adjutanten von seiner zunehmenden Beleibtheit zu befreien, die sie schon lange mit Mißfallen betrachtet hatte. In dem weitläufigen Hause, wo sein Herr als Junggesell gewohnt, hatte Stropp der Hund sich durch sein in jeder Hinsicht einnehmendes Wesen und seinen schriftstellerischen Ruf die Herzen aller Bewohner, insbesondere weiblichen Geschlechtes, gewonnen und dies sehr umsichtig ausgenutzt, so daß er, kleinere Imbisse abgerechnet, durchschnittlich immerhin fünf bis sechs Mahlzeiten am Tag einnahm. Der Herr Doktor ärgerte sich selbst wohl einmal darüber – „was macht das?“ dachte Stropp; „er ist ja Gott sei Dank tagsüber meist in seinem Bureau, und gegen den vereinten Willen mehrerer Weiblichkeiten vermag ein Mensch doch nichts, das weiß ich!“ Mit Wehmut erinnerte er sich vor der einfachen und wohlabgemessenen Haushundskost, die ihm seine Herrin jetzt vorsetzte, an jene Fleischtöpfe Aegyptens. Allmählich aber fügte er sich philosophischen Sinnes in das Unabänderliche, zumal es ihm doch schmeichelte, von einer so schönen Dame bedient zu werden, und schließlich lernte er selbst die Vorteile einer schlanken Leibesgestalt schätzen. Schwerer hielt es, ihn von einigen irrigen Ansichten zu bekehren, denen er bis dahin zwanglos gefolgt war und welche die Natur selbst mit der ganzen Anlage seines krummbeinigen Gestells begünstigt zu haben schien. Seine unschuldigen Versuche, auch im neuen Reiche nach seiner Väter Sitte Löcher in frischbestellte Gartenbeete zu graben und in den Ecken der Sofas und Polsterstühle Knochen für etwaige schlechte Zeiten zu verstecken, schlugen ihm übel aus. Mit unwilligem Erstaunen erfuhr er, bei solchen und anderen Missethaten erwischt, daß auch die Berührung einer zarten Frauenhand unter Umständen in der Muskulatur schmerzhafte Empfindungen hinterlassen kann. Bei alledem entschädigte ihn aber doch die Fülle von lehrreichen Wahrnehmungen über menschliche Verhältnisse, mit der er in der neuen Umgebung seinen Wissensschatz noch bereichern konnte, und nach einigen Monaten war er ein ganz lieber Hund nach dem Herzen seiner Herrin geworden, lag still und bewegt, im zufriedenen Austausch verständnisvoller Blicke zu ihren Füßen vor dem Arbeitstischchen und begleitete sie mit angeborener Würde auf Einkäufe und Besuchsgänge, wo er dann vor der fremden Hausthür auf sie wartete und die Wiedergewonnene mit Wedeln und Tanzen begrüßte.
Eines Tages aber ließ sie ihn ungewöhnlich lange warten. Sie war auf einen Augenblick zu einer Freundin hineingegangen, die auch erst seit kurzem verheiratet war, und Frauengespräche unter diesen Umständen dauern meist etwas länger. Unterdessen saß Stropp der Hund vor der Hausthüre und langweilte sich. Es war ein sehr schöner Frühsommervormittag, die Sonne brannte ihm heiß auf den schwarzen glänzenden Pelz, und die Vögel in den Bäumen der Allee sangen so schön, wie er es schöner selbst im Walde nicht gehört hatte. Das alles ließ in seinem von überflüssigem Fett befreiten Herzen süße Empfindungen und Träume erwachen. Da streifte eine silbergraue Möpsin vorüber und sah schon von fern schalkhaft und verlockend aus ihren Achataugen zu ihm hin. Stropp der Hund unterlag der Versuchung, er ließ sich von der Schönen bethören und folgte ihr, die ihn mit lustigem Necken und Springen bis in die große Hauptallee entführte. Dort trafen sie noch Gesellschaft, Damen und Herren, alles sehr gebildete Hunde aus guten Häusern, und wurden freundlich aufgenommen. Die anderen Herrschaften trugen sämtlich Maulkörbe, denn die Hauptallee gehört bereits zur Stadt und in dieser gilt der Maulkorbzwang, während Stropp und die Möpsin aus der Vorstadt kamen, wo man den Hunden das Maul nicht verbindet. Im Vollbewußtsein seines Reservatrechtes schnüffelte er stolz und mitleidig an den Fesseln seiner städtischen Freunde herum. Plötzlich aber sah er, wie ein wildaussehender Mann mit schwarzem Bart ein Netz über seine graue Freundin warf und die laut jammernde [365] in einen Karren schleppte. Mit zornmütigem Gebell warf er sich dem Räuber entgegen, indes die erfahrenen Stadthunde sich darauf beschränkten, aus der Ferne Einsprache zu erheben. Aber unversehens erwischte ihn ein Gehilfe des Schrecklichen an seinem geräumigen Nackenfell und schleppte auch ihn in den Kerkerwagen, wo bereits mehrere Leidensgefährten stumpfsinnig glotzend sie empfingen.
Eine Stunde darauf hockte Stropp der Hund in einem engen und unsaubern Drahtkäfig, der in der Ecke eines ebenso ungastlichen Schuppens stand. Um ihn herum lagen die Möpsin und seine anderen Mitgefangenen, alle teilnahmlos für einander, ganz besessen und gelähmt von der Angst für ihr eigenes wertes Leben. Selbst Stropp vermochte nur mit Mühe seine große Seele in etwas aufrecht zu halten. Was ihn am meisten beunruhigte, war der Anblick gewisser dunkler Gegenstände, die an Stangen in dem Schuppen hingen, mit Schaudern erkannte er in ihnen die frisch abgezogenen Felle von Angehörigen seines Volkes. Sein einziger Trost war das muntere Gebell, welches ab und zu von der Straße herüber klang. Es gab also doch noch eine Freiheit für das Geschlecht der Hunde. Fest nahm er sich vor, diese Freiheit wiederzugewinnen, es koste, was es wolle.
Indessen dauerte es noch manche lange heiße Stunde, bis sich die erste Gelegenheit zu bieten schien. Der schwarzbärtige Feind der Hunde trat an den Käfig heran, mit ihm ein alter würdiger Herr in feinen Kleidern mit einer mächtigen Brille auf der Nase. Dieser spähte durch das Drahtgitter und rief mit sanfter kummervoller Stimme. „Alinde! Alinde!“
Stropp überlegte nur einen Augenblick. „Eigentlich hat mich ja noch nie einer so gerufen,“ dachte er, „aber gleichviel, wenn er mir nur hinaushilft.“ Somit kroch er beherzt über seine unthätigen Genossen an die Gitterthür und wedelte recht liebenswürdig.
„In der That, das ist sie!“ rief der greise Herr erfreut. „Könnte ich das Tier, bitte, schon gleich mitnehmen? Meine Droschke wartet draußen, ich würde es mit hineinnehmen, damit es nicht noch einmal dem Strafparagraphen verfällt.“
„Wenn der Herr Geheimrat mir die Auslieferung bescheinigen wollen,“ erwiderte der schwarze Mann, „das Strafmandat kommt später – ich bitte nur um eine Mark fünfzig Pfennig Futterkosten.“
Stropp traute seinen Ohren nicht, als er diesen Mann von Futter reden hörte. Indes begnügte er sich, ihm einen bezeichnenden Blick zuzuwerfen, denn schon hatte der alte Herr die Bescheinigung unterschrieben, das Geld bezahlt und trug ihn nun vor die Thür, in die Droschke.
Neugierig beschnüffelte Stropp die Kleider seines Retters, der dies für Zärtlichkeit hielt und ihn freundlich streichelte. „Gänzlich unbekannt,“ dachte Stropp. „Neugierig bin ich, wo das hinausläuft. Es scheint übrigens ein sehr netter Onkel zu sein. Die Hauptsache ist, daß ich heraus bin und mir keiner den Rock abzieht.“ Zufrieden putzte er sein dunkles Fell.
Vor einem schönen großen Hause hielt der Wagen. Unter der Thür standen eine würdige alte Dame, ein schönes junges Mädchen, und dahinter lugte eine schmucke Magd hervor. „Hast Du sie, Papa?“ rief das junge Mädchen.
„Natürlich, mein Kind!“ sagte der alte Herr zufrieden und lockte seinen Schützling heraus. „He, Alinde, komm her!“ Schweifwedelnd sprang Stropp der Hund aus dem Wagen und stellte sich den Damen vor, indes der alte Herr den Kutscher bezahlte und wegschickte.
Die Damen belohnten Stropps Reverenzen mit zärtlichen Liebkosungen. Da sagte auf einmal die Magd:
„Gnädige Frau, das ist gar nicht unsere Alinde.“
„Na nun wird’s gut!“ dachte Stropp und schmiegte sich einstweilen respektvoll an das junge Mädchen.
Erst jetzt betrachteten die Damen den Hund mit kritischen Blicken. Die Entdeckung entfesselte einen Sturm entrüsteter Reden, vor dem der kurzsichtige alte Hausherr sein graues Haupt hilflos neigte. Seine Verteidigung beschränkte sich auf den einzigen Hinweis, daß sonst kein Dackel beim Hundefänger gewesen und das fremde Tier auf den Namen gefolgt sei.
„Sieh ’mal, Mama,“ meinte die Tochter, „die Aehnlichkeit ist aber wirklich sehr groß, und wie freundlich er thut! Vielleicht ist es ein Bruder von unserer armen Alinde!“
Die Mama seufzte. „Vorläufig müssen wir ihn denn wohl behalten. Es ja nur ein Glück, daß wir für alle Fälle die Anzeige in die Zeitung gesetzt haben. Aber ein artiges Tierchen ist es wirklich. Sieh ’mal, jetzt giebt er mir von selbst Pfötchen, es ist ordentlich, als ob er mir danken wolle, daß wir ihn einstweilen hier behalten.“
Sie hatte Stropps Empfindungen vollkommen richtig gedeutet.
„Die Sache macht sich,“ dachte er, und in der That wurde ihm nun sogleich die beste Verpflegung zu teil, so daß er sich, zufrieden die Nase leckend, sagte. „Diese Alinde hat beinahe eine so gute Herrschaft wie ich. Schade, daß wir mit den Leuten nicht in näherem Verkehr stehen.“
Auch die Damen fanden in Stropps Gesellschaft einigen Trost, und nur der Herr Geheimrat blieb höchst mißgestimmt. Schmerzlich empfand dies ein Student, den er gerade auf diesen Nachmittag bestellt hatte, um für das demselben bevorstehende Examen eine kleine Vorprüfung mit ihm anzustellen. Es war ein hübscher junger Mann aus guter Familie, Fräulein Ida, die Tochter, schätzte ihn sehr, und auch den Geheimrat hatte er bis jetzt keinen Grund zu fürchten. Heute
[366]aber stellte der alte Herr so kitzliche Fragen und war so unwirsch, daß dem Studenten angst und bange wurde. „O weh,“ dachte er, „heute komme ich auf den Hund!“
Der Herr Geheimrat schien den Gedanken seines Examinanden zu erraten. „Wenn ich nur wüßte, was wir mit dem Hund anfangen sollen!“ brummte er mitten zwischen eine ziemlich verworrene Auseinandersetzung des Studenten.
„Ja, wenn Sie mir das wenigstens sagen könnten!“
Der Student erkundigte sich respektvoll nach der Sachlage. Er glaubte, Alinde sei vielleicht erkrankt, und war fest entschlossen, auf alle Fälle Schwefelblüte vorzuschlagen, das einzige Mittel aus der Hundeheilkunde, welches er kannte.
Der Geheimrat setzte ihm auseinander, um was es sich handle, und rief seiner Tochter, daß sie den fremden Hund heraufbringe. Die Tochter kam, die falsche Alinde lockend, die ihr willig aber vorsichtig folgte, und warf dem Studenten einen Blick ermutigender Zärtlichkeit zu.
„O,“ sagte der Beglückte, „den Hund glaube ich zu kennen. Ich habe ihn mehrmals mit einer Dame in den Promenaden gesehen, es ist, glaube ich, die junge Frau des Doktor Saffen vom Altertumsmuseum. Wenn ich mich einmal in die Wohnung des Herrn Doktors verfügen dürfte – er wohnt draußen hinterm Botanischen Garten –“
„Ach ja, thun Sie das, mein lieber junger Freund,“ sagte der Herr Geheimrat, „thun Sie es gleich, wir können unsere Angelegenheit ja später erledigen, es war ja soweit alles ganz gut – nehmen Sie den Hund gleich mit, nehmen Sie eine Droschke, ich habe ihn auch so hergebracht.“
„Wenn er aber nicht dorthin gehört, so bringen Sie ihn wieder, nicht wahr?“ bat Ida.
„Ich werde auf jeden Fall sogleich Nachricht bringen,“ erwiderte ihr Verehrer mit verständnisvollem Blick.
„Das wäre also die dritte Wagenfahrt heute,“ dachte Stropp der Hund, als er mit seinem neuen Geleitsherrn in der Droschke saß, „nun bin ich gespannt, wohin es diesmal geht.“ Allmählich aber erkannte er befreundete Gefilde und fing an, hoffnungsfroh zu wedeln. Wie ward ihm erst, als der Wagen um den Botanischen Garten bog und im Abendschimmer die heimatliche Stätte vor seinen Augen lag! Mit einem gewaltigen Satze sprang er vor dem Hause seines Herrn über den Wagenschlag, und als Herr und Frau Doktor die Thüre öffneten, gab es einen Auftritt gerührten Wiedersehens, welcher dem Studenten sogleich die Richtigkeit seiner Vermutung bewies.
Während dieser nun aber Bericht erstattete, hatte Stropp der Hund im Hause einen neuen Besuch entdeckt, ein Mitglied seines Stammes, krummbeinig, schlappohrig und schwarz mit gelben Handschuhen wie er. Grimmig knurrend fuhr er auf den Fremdling los, sein Zorn aber legte sich und machte zärtlicheren Regungen Platz, als er merkte, daß er es mit einer Dame zu thun habe.
„Ja, denken Sie sich, wie komisch,“ sagte die Frau Doktor zu dem Studenten, „das Tierchen hat uns der Milchjunge vor ein paar Stunden gebracht. Er hat es draußen auf einem Bauhof gefunden, und weil er meinte, es sei unser Hund, hat er es hierher gelockt.“
„Ich möchte wetten,“ sagte der Student, „daß es des Herrn Geheimrat Hund ist.“
„Wenn das ist, so könnten Sie ihn vielleicht gleich mitnehmen,“ bemerkte Doktor Sassen.
Der Student überlegte, er schien dabei auf einen sehr angenehmen Einfall zu kommen. „Ach,“ meinte er lächelnd, „wenn Sie gestatten, so bitte ich doch lieber den Herrn Geheimrat das Tier erst hier agnoscieren zu lassen. Es ist ja in so guten Händen. Auch weiß ich ja nicht, wie der Hund des Herrn Geheimrat heißt,“ schwindelte er ein bißchen. „Ich glaube Juno. – He, Juno, Juno, hierher!“ rief er dem Teckel zu. Der klappte nur verächtlich mit den langen Hängeohren und setzte seine Unterhaltung mit Stropp fort. „Sehen Sie, am Ende ist er es doch nicht.“
Als der Student wieder vor dem Hause des Geheimrats vorfuhr, erwartete ihn Fräulein Ida vor der Thür. Sie. bat ihn, im Namen ihrer Mama, doch in seinen Bekanntenkreisen über die Hundegeschichte zu schweigen, Papas wegen. Das versprach er natürlich. Im Hereintreten wechselten sie noch leise ein paar Worte – die Droschke hielt noch draußen. Dann gingen sie hinauf. Dem Geheimrat fiel ein Stein vom Herzen, als er hörte, daß der fremde Hund wieder bei den Seinen sei, und er belobte seinen klugen Schüler sehr. „Es ist auch dort ein Hund zugelaufen, ganz wie der andere,“ berichtete der Student, „vielleicht ist es der Ihrige.“
„Ach, Papa,“ bat Ida, „dann möchte ich doch am liebsten gleich ’mal hin und nachsehen. Denk’ ’mal, wenn es unsere Alinde wäre!“
„Wenn ich das gnädige Fräulein hingeleiten dürfte, der Wagen hält noch?“ fragte der höfliche junge Mann, und richtig saßen sie fünf Mannen später in der Droschke und fuhren hinaus nach der Vorstadt. Alinde feierte mit ihrer jungen Herrin ein stürmisches Wiedersehen, nahm aber auch von Stropp zärtlich Abschied, welcher betrübt die Ohren senkte. Dann gingen die Drei durch die laue Juninacht zu Fuß heim, alle sehr zufrieden und zukunftsfreudig.
Ein paar Monate nach diesem ereignisvollen Tage saßen der Herr Geheimrat mit Frau Gemahlin und Tochter im volkreichen Stadtgarten auf der Restaurationsterrasse um eine Pfirsichbowle, und der Student saß auch bei ihnen. Er hatte aber mittlerweile sein Rigorosum bestanden, hieß Doktor und bereitete sich jetzt auf die akademische Laufbahn vor. Im Haufe des Geheimrats war er seit jenem Tage ein häufiger und bei den Damen sehr willkommener Gast geworden. Auch der alte Herr hatte den bescheidenen, netten und gescheiten jungen Mann recht lieb gewonnen, und bereits begannt man in befreundeten Familien zu überlegen, ob man wohl noch in diesem oder im nächsten Jahre dem jungen Doktor und Ida zur öffentlichen Verlobung zu gratulieren habe.
Während die Familie nun so behaglich um die Bowle herum saß, bemerkte der Herr Geheimrat neben seinem Stuhle einen Hund, den er durchaus für seine Alinde halten mußte. Das wunderte ihn, denn seines Wissens lag Alinde zur Zeit daheim [367] und konnte die Herrschaft nicht begleiten, wegen eines Hindernisses in Gestalt von sechs jungen blinden Hündchen, krummbeinig, schwarz mit gelben Handschuhen. „Alinde!“ rief er leise, um sich zu vergewissern.
„Aber Papa,“ lachte Ida, „das ist ja Stropp, der Hund von Doktor Sassens, sie haben gerade drüben an dem Ecktischchen Platz genommen,“ und zugleich nickte sie freundlich nach den Genannten hinüber.
„So, so,“ machte der Geheimrat nachdenklich, „also Stropp heißt dieses Tier. Merkwürdig. Damals hieß er doch Alinde …“
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Zur Geschichte der Brillen.
Es ist für jeden denkenden Menschen von hohem Interesse, die Geschichte von Erfindungen, welche der Menschheit Nutzen gebracht, so weit als möglich zurückzuverfolgen. Thun wir das also auch einmal mit den Brillen.
Brillen sind bekanntlich Gläser von linsenförmiger Gestalt.
Es giebt hauptsächlich zwei Arten von Linsen: konvexe oder gewölbte, deren Oberfläche gewölbt ist, und konkave oder hohle Gläser, deren Oberfläche vertieft ist.
Die konvex geschliffenen Gläser verdienen den Namen „Linse“ mit Recht, weil sie die Form einer vergrößerten Linsenfrucht haben.
Man nennt sie auch Brenngläser, weil die Sonnenstrahlen hinter ihnen in einem Punkte vereinigt werden, in dem Brennpunkt, in welchem leicht brennbare Körper, Schießbaumwolle, ein Schwefelhölzchen etc., Feuer fangen. Sie heißen auch Sammellinsen, weil sie die Lichtstrahlen in einem Punkte sammeln.
Die alten Schriften schweigen noch vollkommen über geschliffene Linsen; dennoch gab es solche, und zwar aus Bergkrystall; man hat sie in Ninive und Pompeji bei Ausgrabungen gefunden; es waren Konvexlinsen, die wie alle Brenngläser vergrößerten und offenbar zur Vergrößerung als Lupen benutzt wurden. Aber von Brillen lesen wir nichts, weder im Alten Testament, noch bei den griechischen und römischen Autoren. Nur ein einziger Schriftsteller des Altertums erwähnt eine Brille; das ist Plinius, der erzählt, daß der Kaiser Nero die Gladiatorenkämpfe durch einen Smaragd betrachtet habe.
Die Frage, wie diese Brille des Nero beschaffen war, ist nicht etwa eine Spielerei, sondern von ihr hängt die Entscheidung der Frage ab, ob es überhaupt im Altertum schon Hohlbrillen gab. Man nahm früher an, daß Nero kurzsichtig war, weil Plinius kurz vorher angiebt, daß man die Smaragde hohl schleifen könne. Aber die ganze Stelle ist recht dunkel und hat eine Flut von Schriften seitens der Archäologen, Physiologen, Physiker, Mediziner und Historiker über die Brille des Nero hervorgerufen. Die Untersuchungen von Professor Hörner (Neujahrsblatt zum Besten des Waisenhauses in Zürich für 1885) haben nun aber gezeigt, daß Nero aus drei Gründen gar nicht kurzsichtig gewesen sein kann.
1. sind die Augen der stark Kurzsichtigen meist etwas hervortretend; die vorhandenen 8 Statuen und Büsten des Kaiser Nero beweisen aber im Gegenteil, daß seine Augen sehr tiefliegend waren, der obere Augenhöhlenrand stark hervorragte;
2. blinzeln Kurzsichtige nur dann, wenn sie in die Ferne sehen, niemals wenn sie in die Nähe sehen; die Schriftsteller berichten aber im Gegenteil, daß Nero blinzelte, wenn er nahe Gegenstände betrachtete;
3. sehen Kurzsichtige im Dunkeln immer schlechter als im Hellen, sie sind durchaus nicht lichtscheu; es wird aber im Gegenteil mitgeteilt, daß Nero im Dunkeln besser sah als im Hellen, daß er also lichtscheu war.
Horner folgert daraus, daß Nero nicht kurzsichtig, sondern wahrscheinlich schwachsichtig gewesen sei; er hatte ja auch einen mit Narben bedeckten kranken Körper und hat vermutlich infolge eines Augenleidens seine Lichtscheu zurückbehalten; er hat daher wohl auch den Smaragd nur als Konservationsbrille wegen seiner wohlthätigen grünen Farbe bei den Gladiatorenkämpfen im Theater benutzt.
Dies hat auch schon Lessing vor 100 Jahren richtig vermutet; wer sich dafür interessiert, der findet eine sehr scharfsinnige Erörterung über Neros Brille in dem 45. antiquarischen Briefe in Lessings Werken.
Außer dieser einzigen Notiz giebt es in der Litteratur der alten Völker nicht das Mindeste über Brillen. Vielleicht machen die Chinesen eine Ausnahme; man findet in den Sammlungen uralte chinesische Brillen aus hellem Rauchtopas, die sie wahrscheinlich bei ihren feinen Schriftzeichen schon viele Jahrtausende benutzten. Jetzt sollen alle chinesischen Aerzte ausnahmslos Brillen tragen, und zwar sehr große, gewissermaßen als Erkennungszeichen ihres Standes, ähnlich wie früher jeder Arzt bei uns einen Stock mit großem goldenen Knopfe trug.
Wir müssen nun leider einen großen, ganz unvermittelten Sprung von Plinius bis zum Ende des 13. Jahrhunderts machen. Vor kurzem entdeckte man in Florenz in der Kirche Santa Maria Maggiore eine Inschrift, welche auf deutsch lautet: „Hier liegt Salvino von Armati, der Erfinder der Brillen, Gott vergebe ihm seine Sünden.“ Er starb 1317. Ob er wirklich der Erfinder war, ist nicht ganz sicher festgestellt; denn andere Forscher schreiben die Erfindung dem Mönche Alexander von Spina in Pisa zu, welcher 1312 starb. In einer Predigt äußerte Frater Giordano da Rivalto in Piacenza im Jahre 1305, daß es noch nicht 20 Jahre her sei, daß die Brillen erfunden worden wären. Man muß also ungefähr 1290 als die Zeit der Erfindung bezeichnen; ganz sicher aber wurden die Brillen in Italien erfunden.
Diese allerersten Brillen wurden occhiali da naso, Nasenbrillen, Nasenklemmer, genannt und wurden anfangs sehr merkwürdig vor den Augen getragen. Die Mütze wurde tief bis an die Augenbrauen herabgezogen und nun die Brille mit Häkchen an die Mütze befestigt, damit sie nicht herabfallen sollte. Savonarola hat noch im Jahre 1470 dieses Arrangement als besonders nützlich empfohlen.
Was erfanden denn nun eigentlich jene alten Italiener Armati oder Spina? Sie erfanden verschiedene Nummern von Konvexbrillen für alte Leute und machten sie wahrscheinlich aus Glas, während man sich vorher zur Vergrößerung nur der Berylle bediente. Die Berylle sind Edelsteine und von dem Worte Beryll soll auch das Wort Brille kommen. Hans Sachs spricht auch noch immer von der Paryll. In Frankreich kam im 14. Jahrhundert der Name Bericle oder Besicle für ein einzelnes Leseglas auf; es war dies ein großes Brennglas, in Metall eingefaßt und mit einer Handhabe versehen.
Diese Besicles spielten als Inventarstücke in den Testamenten vornehmer Personen eine bedeutende Rolle. So erwähnt das Testament Karls V. zwei Bericles, „deux bericles, dont l’un a le manche de bois“, und noch im 15. Jahrhundert bezeichnete man in Frankreich die einzelnen Lesegläser als Bericles, im Gegensatz zu den Brillen für beide Augen, welche Lunettes (Möndchen) hießen.
Obgleich also die Brillen schon am Ende des 13. Jahrhunderts erfunden waren, konnten sie sich doch nicht Bahn brechen, da die Fabrikation des Glases in Venedig geheim gehalten und das Geheimnis durch strenge Strafen gesichert war. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts werden plötzlich die Brillen alltäglich, sie werden beschrieben, abgebildet, sogar verspottet; es waren meist Nasenklemmer oder Lorgnetten mit zwei Handgriffen. Die Ursache dieser schnellen Ausbreitung der Brillen um jene Zeit war die Erfindung der Buchdruckerkunst. Durch sie trat an viel mehr Menschen als früher die Notwendigkeit heran, feine Zeichen genau zu sehen, und alle, wes Standes sie auch waren, bemerkten, daß sie zwischen dem 40. und 45. Jahre abends Mühe hatten, bei ungenügender Beleuchtung die Schrift in der Nähe wahrzunehmen. Horner bemerkt sehr richtig: „Wären die Brillen damals noch nicht erfunden gewesen, durch das entstehende Bedürfnis hätten sie um diese Zeit erfunden werden müssen.“ Die Menschen brauchen eben im Alter Brillen zum Lesen, da sie weitsichtig werden. Zur Erklärung diene folgendes:
In der Jugend haben wir bei gesunden Augen das wunderbare Vermögen, nicht bloß in die Ferne, sondern auch in der Nähe gut zu sehen. In unserem Auge befindet sich hinter der Regenbogenhaut eine ganz durchsichtige, wachsweiche Masse von linsenförmiger Gestalt, die man die Krystalllinse nennt, und welche ihre Krümmung [368] ändern kann. Wir bewirken nun das „Sehen in der Nähe“ dadurch, daß wir diese Krystalllinse beim Naheblick stärker krümmen. Dies können wir aber nur durch die Kraft eines Muskels, welcher sich zusammenzieht. Bekanntlich müssen wir im Opernglase eine Schraube drehen, wenn wir von der Bühne weg auf Personen blicken wollen, die uns nahe sitzen. Mit dieser Schraube können wir den Muskel vergleichen, der uns befähigt, in die Nähe zu sehen. Diese Schraube versagt im Alter ihren Dienst, nicht allein durch Abnutzung, sondern durch die größeren Widerstände, welche die immer zäher, härter und unbeweglicher werdenden Teile des Auges, namentlich die Krystalllinse, ihr entgegensetzen. Dieser Muskel, der Accomodationsmuskel, wird nun jahraus jahrein den ganzen Tag von früh bis abends angestrengt; daher ist es gar nicht zu verwundern, wenn er wie alle übrigen Muskeln in späteren Jahren nicht mehr die Kraft hat wie in der Jugend.
Wenn die ersten Runzeln an Stirn und Schläfen, jene gefürchteten Feinde des schönen Geschlechts, sich zu zeigen anfangen, wenn trotz aller Pincetten, die im stillen Kämmerlein hervorgeholt werden, in der Gegend der Schläfe erst einige und dann immer mehr graue Härchen zum Vorschein kommen, dann pflegen sich auch die ersten Zeichen der Ermüdung jenes Muskels geltend zu machen. Es kommt also im Anfange der 40er Jahre, bei manchen besonders kräftigen Personen freilich erst gegen Ende der 40er Jahre dazu, daß sie, die bisher ausgezeichnet in die Ferne und die Nähe gesehen haben, bemerken, daß es namentlich abends nicht mehr recht beim Lesen gehen will. Sie halten das Buch immer weiter vom Auge ab, sie halten es hinter das Licht, um es recht gut zu beleuchten; aber auf die Dauer ist das Lesen doch unmöglich. Sobald nun das Lesen feiner Schrift nur gelingt, wenn die Schrift weiter als 1/4 Meter vom Auge fortgehalten wird, dann sprechen wir von eingetretener Weitsichtigkeit, Presbyopie oder Alterssichtigkeit. Der Name rührt schon von Aristoteles her. Die Strahlen, die weniger als 1/4 Meter vom Auge entfernt sind, werden nun nicht mehr auf der Netzhaut, sondern hinter derselben erst vereinigt. Setzt man aber eine gekrümmte Linse, eine Konvexbrille vor das Auge, so werden die Lichtstrahlen wieder auf der Netzhaut vereinigt; die Linse, welche wir vorsetzen, vertritt die stärkere Krümmung der Linse im Auge. Durch diejenige Konvexbrille, mit welcher die Schrift in 1/4 Meter Entfernung erkannt wird, ist das Leiden gehoben.
Man kann nun als einfache Regel aufstellen: das schwächste Konvexglas, mit welchem feine Schrift noch auf 1/4 Meter leicht gelesen wird, kann als Arbeitsglas dienen. Diese Wahl der Brille ist also, wenn das Auge sonst in die Ferne gut sieht und gesund ist, überaus leicht. Der Accommodationsmuskel kann hinter der Brille ruhen, er ermüdet nicht mehr. Da aber der Muskel von Jahr zu Jahr schwächer wird, so muß auch die Brille mindestens von 2 zu 2 Jahren verstärkt werden. Ob man nun ein Lorgnon oder eine Brille kauft, ist lediglich Geschmackssache. Es ist bei ihr nicht anders wie bei der Wahl des Spazierstöcks; mancher liebt einen solchen mit rundem Knopf, ein anderer einen solchen mit einer Krücke; jeder nimmt das, was ihm am bequemsten ist. Für längere Arbeiten ist wohl die Brille bequemer, da sie fester sitzt, für kürzere Arbeiten genügt ein Lorgnon vollkommen.
Was nun die Nummern betrifft, so besteht ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Lebensalter und der Brillennummer. Maurolycus von Messina erzählt, daß die Glasschleifer im 15. Jahrhundert nicht die Nummern der Gläser, sondern die Zahl der Lebensjahre auf die Gläser kratzten, für welche sie bestimmt waren. Später, und zwar noch bis in die neueste Zeit hinein schrieben die Optiker eine Nummer in das Glas, welche die Brennweite des Glases angab, das ist diejenige Entfernung in Zollen, in welcher die Strahlen hinter dem Glase in dem Brennpunkt sich vereinigen würden. Man hatte also eine Reihe, die mit 80 anfing, d. h. ein Glas, das so schwach war, daß erst 80 Zoll hinter ihm der Brennpunkt lag; dann kam 60, 50, 40, 36 etc. bis herab zu 2. Nummer 2 war das stärkste Glas; die Strahlen vereinigen sich schon 2 Zoll hinter demselben. Mit 42 Jahren fing man gewöhnlich mit Nummer 60 an und ging allmählich herab.
Aber in neuerer Zeit sind die Augenärzte übereingekommen, das Zollmaß, das ja kein Tischler und kein Schneider mehr anwendet, mit dem Metermaß zu vertauschen, und so haben wir jetzt die Brillen nach der Meterskala geordnet, und zwar umgekehrt wie früher, so daß die niedrigsten Zahlen 1, 2, 3 etc. jetzt die schwächsten Nummern sind, während früher die höchsten Zahlen 80, 60, 50 die schwächsten Nummern waren. Daher die große Verwirrung im Publikum. Wir sagen jetzt, ein Glas ist Nummer 1, es hat die lichtbrechende Kraft 1, wenn es seinen Brennpunkt in einem Meter hat; diese lichtbrechende Kraft nennt man Dioptrie. Ein Glas hat zwei lichtbrechende Kräfte, zwei Dioptrieen, wenn es in 1/2 Meter seinen Brennpunkt hat; es ist Nummer 4, wenn es in 1/4 Meter, Nummer 10, wenn es in 1/10 Meter seine Brennweite hat, – und das stärkste Glas ist heute Nummer 20, welches in 1/20 Meter, also in 5 Centimeter, seinen Brennpunkt hat.
Da ein Meter ungefähr = 40 Zoll ist (nicht genau, aber das thut wenig für unsere Zwecke), so kann man leicht eine alte Zollbrille in eine neue Meterbrille umrechnen, wenn man sie in 40 dividiert; also die alte 40 = 40/40 = neue 1; 20 = 40/20 = 2; 10 = 40/10 = 4; 5 = 40/5 = 8; 2 = 40/2 = 20.
Wir erhalten dann folgende Tabelle:
Zollbrille = Meterbrille etwa: | Zollbrille = Meterbrille etwa: | ||
Nr. | Nr. | Nr. | Nr. |
40 | 1 (40/40) | 10 | 4 (40/10) |
32 | 1.25 (40/32) | 9 | 4.5 |
26 | 1.5 | 8 | 5 (40/8) |
23 | 1.75 | 7 | 5.5 |
20 | 2 (40/20) | 6 | 6 (40/6) |
18 | 2.25 | 5 | 8 (40/5) |
16 | 2.5 | 4 | 10 13 (40/4) |
14 | 2.75 | 3 | 13 (40/3) |
13 | 3 (40/13) | 2 | 20 (40/2) |
11 | 3.5 |
Die Zahlen stimmen nicht ganz, weil eben der Meter nicht 40, sondern nur 38,3 Zoll ist.
Nun kann man nach vielen Beobachtungen ungefähr folgende Tabelle entwerfen.
Das gesunde Auge braucht
mit 45 Jahren | Meterglas Nr. 1 | ||
mit 50 Jahren | Meterglas Nr. 2 | ||
mit 55 Jahren | Meterglas Nr. 3 | ||
mit 60 Jahren | Meterglas Nr. 4 | ||
mit 65 Jahren | Meterglas Nr. 4,5 | ||
mit 70 Jahren | Meterglas Nr. 5,5 | ||
mit 75 Jahren | Meterglas Nr. 6 | ||
mit 80 Jahren | Meterglas Nr. 7 |
immer vorausgesetzt, daß das Auge in die Ferne gut sieht und gesund ist.
Schlimm sind nur die Maler dran, welche bald in die Ferne, bald in die Nähe sehen müssen, und die immerfort das Glas abnehmen und aufsetzen sollen. Diese können sich mit den Franklinschen Brillen behelfen; sie rühren her von demselben Franklin, der den Blitzableiter erfunden hat. Sie bestehen aus zwei Hälften. Man denke sich ein Brillenglas wagerecht durchschnitten. Die obere Hälfte ist Fensterglas und die untere enthält das Konvexglas für die Nähe. Man kann auch solche Gläser à double foyer (mit doppelter Brennweite) schleifen, so daß z. B. oben Konvex 2 und unten Konvex 4 ist etc. –
Kehren wir nun von unserer Abschweifung wieder zurück zu der Erfindung der Buchdruckerkunst, so müssen wir feststellen, daß dieselbe bei der Jugend nicht allein Bildung, sondern auch leider eine Krankheit verbreitet hat, nämlich die Kurzsichtigkeit; letztere stellte sich ein, da die Jugend,die vorher niemals viel zu lesen hatte, nun durch die kleinen Buchstaben gefesselt wurde. Die Kurzsichtkeit ist bekanntlich das Unvermögen, in der Ferne scharf zu sehen.
Es wäre nun allerdings ein großer Irrtum, zu glauben, daß es vor der Erfindung der Buchdruckerkunst nicht auch Kurzsichtige gegeben habe. Schon Aristoteles hat die Kurzsichtigkeit sehr genau beschrieben; er erwähnt auch zuerst, daß die Kurzsichtigen beim Fernsehen die Augen zusammenzukneifen pflegen, weil sie dann besser sehen. Dieses Blinzeln, welches ästhetisch nicht gerade sehr schön ist und das man bei allen Kurzsichtigen findet, die keine Brille tragen, heißt auf Griechisch μύειν, daher der Name Myopie. Auch Plinius erwähnt die Kurzsichtigkeit. Der berühmte Rechtslehrer Ulpian erzählt, daß im alten Rom jeder Verkäufer eine Ware zurücknehmen mußte, wenn sie einen Fehler hatte; jedoch sei es in Rom Gesetz gewesen, daß kurzsichtige Sklaven nicht zurückgegeben werden durften; die Römer hatten nämlich Schreibsklaven, und
[369][370] unter diesen muß also doch die Kurzsichtigkeit schon verbreitet gewesen sein, wenn man ein Gesetz im Hinblick auf sie machte.
Im Mittelalter wurde die Kurzsichtigkeit schon bei den Zweikämpfen berücksichtigt. Wer kurzsichtig war, konnte ein Duell unbeschadet seiner Ehre ablehnen, da es mit 5 Fuß langen Piken ausgefochten wurde, also auf eine Distanz, auf die der Betreffende nicht mehr deutlich sehen konnte. Man hat sogar neuerdings behauptet, daß es bestimmte Helme für Kurzsichtige gab, sogenannte Kesselhauben, wie sie sich in der Wartburg noch heute im Rüstungssaale und in Wien im Kunsthistorischen Museum finden, diese Helme haben in der Augenhöhe einen horizontalen, langen Spalt, der gewissermaßen das Zusammenkneifen der Lider, die Verengerung der Lidspalte beim Zwinkern ersetzt haben könnte, doch scheint mir diese Erklärung sehr gewagt, vermutlich sollte der schmale Spalt dem Auge unter möglichstem Schutz Ausblick gewähren.
Der berühmte Physiker Cardanus, der 1501 bis 1576 lebte, der Erfinder des Ringes, in welchem der Kompaß seine ruhige Lage behält, hat ganz vorzüglich die Leiden der Kurzsichtigen beschrieben; am Schlusse behauptet er in humoristischer Weise, daß die Kurzsichtigen besonders verliebt wären, da sie die körperlichen Fehler nicht bemerken und alle menschlichen Wesen für Engel halten.
Im 16. Jahrhundert lebte in Padua ein berühmter Professor, Hieronymus Mercurialis, welcher es sehr merkwürdig fand, daß es in Italien so viele Kurzsichtige und in Deutschland damals so wenige gäbe, man hätte, meint er, immer behauptet, die Kurzsichtigkeit käme vom vielen Trinken, das könne aber nicht sein, denn im Trinken seien doch wohl die Deutschen entschieden den Italienern überlegen. Und darin hat er gewiß recht, vom Trinken kommt wohl Schwachsichtigkeit, aber keine Myopie.
Die Myopie ist also keine neue Krankheit unserer überkultivierten Zeit, sie hat schon früher existiert, aber gewiß nicht in so großer Ausdehnung, wie seit Erfindung des Bücherdrucks und seit der obligatorischen Einführung des Leseunterrichts. Denn jetzt wird ein jeder der Schädlichkeit, kleine Buchstaben in der Nähe schon in der Jugend zu betrachten, ausgesetzt.
Aber es scheint, daß das Hilfsmittel der Kurzsichtigen, die Konkavbrille, erst 200 Jahre später als die Konvexbrille erfunden wurde. Auf alten Bildern, z. B. aus dem 15. Jahrhundert, findet man wohl schon mitunter ältere Personen mit Brillen, offenbar mit Konvexbrillen bewaffnet gemalt, jüngere Personen wollten sich wahrscheinlich nicht gern durch eine Brille verunstaltet malen lassen. Das erste Bild, auf welchem eine Konkavbrille vorkommt, ist von Raphael gemalt, und zwar im Jahre 1547; es hängt im Palazzo Pitti zu Florenz und stellt den Papst Leo X. dar, der ein rundes Glas mit ziemlich langem Stiele in der Hand hält und damit Zeichnungen betrachtet, die vor ihm aufgeschlagen sind. Das ist kein Vergrößerungsglas, wie Horner nachgewiesen hat. Leo X. war, wie historisch festgestellt ist, außerordentlich kurzsichtig; er bediente sich auf der Jagd eines Glases, mit dem er besser sah als seine Begleiter, er hatte gerade im Gegensatz zu Nero, von dem wir im Anfange sprachen, stark hervorspringende Augen wie die meisten sehr Kurzsichtigen. Raphael hat das Glas auch so gemalt, daß es spiegelt wie ein Konkavglas. Der Papst hält das Glas in der Hand, um einen besseren Ueberblick über die Zeichnungen zu haben, ohne sich bücken zu müssen. Also steht fest, daß im 16. Jahrhundert auch die Kurzsichtigen die Wohlthat einer Brille erhalten hatten.
Im Anfange des 16. Jahrhunderts wurde auch zuerst eine richtige Erklärung der Wirkung der Konkavbrille gegeben und zwar von dem schon genannten Maurolycus. Er zeigte, daß durch sie die Strahlen zerstreut, durch Konvexgläser aber gesammelt werden. Kepler, der große Astronom, kannte die Arbeiten von Maurolycus nicht und konnte im Jahre 1601, als ihn Herr von Dietrichstein fragte, warum die Kurzsichtigen durch Konkav- und die Weitsichtigen durch Konvexgläser besser sähen, keine Antwort geben; dies gelang ihm erst, nachdem er 3 Jahre über diesen Fragen studiert hatte.
Freilich begann auch gegen Ende des 16. Jahrhunderts schon eine Reaktion gegen das Brillentragen, und selbst die Aerzte fingen damals an, dagegen zu predigen. So eiferte besonders Georg Bartisch, der das erste Lehrbuch der Augenheilkunde schrieb, im Jahre 1583 gegen die Brillen. Er schrieb ein eigenes Kapitel „wie man sich vor denen Prillen und Augengläsern bewahren und enthalten soll“. Es fehlte freilich ihm wie allen damaligen Augenärzten und herumziehenden Starstechern jede Spur von physikalischen wie physiologischen Kenntnissen.
Auch Goethe scheint, obgleich er doch unzweifelhaft ein wahrhaft großer Naturforscher gewesen ist, eine Antipathie gegen Brillen gehabt zu haben, freilich nur aus ästhetischen Gründen. In den „Wahlverwandtschaften“ fand ich in Ottiliens Tagebuche folgende Stelle: „Es käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten.“
Es verging übrigens lange Zeit, bis die Augenärzte selbst anfingen, den Brillen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Noch vor 30 Jahren wurden die Augengläser selbst in den dicksten Lehrbüchern der Augenheilkunde auf wenigen Seiten abgehandelt, und meist wurden sehr falsche Ansichten über die Brillen dabei entwickelt. Seitdem aber hat sich das Blatt gewendet. Die Lehre von den Brillen bildet heute ein so riesiges Kapitel, daß es auf jeder Universität in einem eigenen, das ganze Semester dauernden Kolleg vorgetragen werden muß. Die heutigen Augenärzte sind auch gerade mit den technischen und physikalischen Hilfsmitteln sehr wohl vertraut, das Studium der Baufehler des Auges, bei denen eine Brille notwendig ist, ist ein ganz mathematisch exaktes geworden, und nicht zum kleinsten Teil geschah dies infolge der großartigen Erfindung des Augenspiegels. Die Namen Helmholtz und Donders werden bis in die fernsten Zeiten in der Geschichte der Brillenlehre mit höchsten Ehren genannt werden.
Erst in neuerer Zeit sah man ein, daß das Wesen der Kurzsichtigkeit eine Verlängerung der Augenachse ist. Das gesunde Auge mißt von vorn nach hinten etwa 22 Millimeter, das kurzsichtige 26, 30 und mehr Millimeter. Je kurzsichtiger, desto länger ist es.
Die Kurzsichtigkeit ist eine Krankheit, welche meist in der Jugend schon entsteht und während der Beschäftigung der Augen in der Nähe zunimmt. Die Lichtstrahlen fallen von fernen Gegenständen nicht auf die Netzhaut, sondern vor dieselbe. Konkavgläser aber sind imstande, die aus der Ferne kommenden Strahlen so zu zerstreuen, daß sie sich auf der Netzhaut wieder vereinigen, daß sie also dem Auge aus der Nähe zu kommen scheinen. Der Grad der Kurzsichtigkeit wird ausgedrückt durch die Nummer desjenigen schwächsten Konkavglases, mit welchem der Betreffende in die Ferne scharf sieht.
Die Frage, ob man Konkavbrillen geben soll, ist nicht so einfach zu beantworten als die nach den Konvexbrillen. Es stehen sich hier zwei Ansichten der Sachverständigen direkt gegenüber. Die einen geben die stärksten Brillen und wollen durch dieselben das kurzsichtige Auge in ein normales verwandeln, die andern verabscheuen alle Brillen, halten kurzsichtige Augen für kranke Augen, die man schonen müsse, und meinen, daß der civilisierte Mensch zufrieden sein könne, wenn er in der Nähe zu seinen Arbeiten sehe; es gebe gar nicht so viel Schönes auf der Straße und in der Ferne zu sehen; der Betreffende möge sich wie im Altertum mit Zusammenkneifen der Lider behelfen. Die Wahrheit liegt hier wie überall in der Mitte.
Bei der Entscheidung dieser Frage handelt es sich nach meinen 30jährigen Erfahrungen um zweierlei: 1. um den Grad der Kurzsichtigkeit und 2. um die Entfernung, für welche die Brille benutzt werden soll.
1. Der Grad der Myopie. Man bestimmt ihn leicht durch die Entfernung, bis zu welcher noch kleine Schrift gelesen werden kann. Wer nur noch bis 1/2 Meter liest, braucht für die Ferne Konkavglas – 2, bis 1/4 Meter – 4, bis 1/10 Meter – 10, bis 1/20 Meter – 20. Nun muß man aber wissen, daß die Konkavgläser von 1 bis 6 fast gar nicht verkleinern; die stärkeren Gläser aber von 6 bis 20 verkleinern wohl, was ein unbehagliches Gefühl hervorruft und die höchsten Gläsernummern überhaupt gar nicht anzuwenden gestattet. Die Größe, die Orientierung und die Perspektive werden um so mehr geändert, je stärker das Konkavglas ist. Dazu kommt aber noch, daß fast alle Kurzsichtigkeiten, die stärker als 6 sind, mit Folgekrankheiten im Auge verbunden sind. Sie zeigen schon sehr bedeutende Ausdehnung der Häute des Auges, „fliegende Mücken“, Aderhauterkrankungen, sie sind die gefürchtete Form, bei denen häufig Trübungen im Glaskörper, Blutungen und Zerstörung der Netzhaut, selbst Ablösung der Netzhaut eintritt. Solche Augen, die mehr als Kurzsichtigkeit 6 haben, sind eben meist kranke Augen. Das wird auch dadurch bestätigt, daß niemand zum Militär genommen wird, der stärkere Kurzsichtigkeit als 6 hat. Die [371] Gefahr für diese Augen steigt erfahrungsgemäß mit dem Alter und wird im 50. Lebensjahre durchschnittlich immer drohender. Für solche Augen ist es in der That am allerbesten, wenn sie gar kein Glas tragen und jede anstrengende Beschäftigung vermeiden. Solche Personen müssen Landwirte, Gärtner, Bäcker, Konditoren, Gastwirte oder Bierbrauer werden, das sind Berufe, die den Augen keine Anstrengungen zumuten und gewiß einträglicher sind als mancher gelehrte Beruf. Auf Momente mögen solche Kurzsichtige sich wohl eines Lorgnons bedienen, z. B. auf Reisen, in Gesellschaften etc., um sich zu orientieren; aber am besten ist für sie die Ruhe des Auges. Ich habe sehr häufig gesehen, daß in späteren Jahren gerade diejenigen Kurzsichtigen böse Komplikationen zeigten, welche permanent scharfe Brillen getragen hatten.
2. Die Entfernung, für welche die Brille benutzt werden soll. Diese Frage ist auch recht schwer zu beantworten. Gegen eine Fernbrille bei schwachem Grade läßt sich nichts einwenden; aber dieselbe Brille kann nicht für die Nähe benutzt werden. Wenn jemand noch auf 1/2 Meter ohne Brille sieht und er setzt sich Konkav 2 auf, so sieht er natürlich damit in die Ferne gut. Wenn er aber durch die Brille auf 1/2 Meter sehen will, so muß er die Brille, die ja dazu überflüssig ist, überwinden. Das geschieht durch stärkere Accomodation und damit stärkere Konvergenz beider Augen; diese Vorgänge aber strengen an und veranlassen Zunahme der Kurzsichtigkeit. Zur Arbeitsentfernung braucht eben ein solches Auge keine Brille.
Anders ist es, wenn das Auge nur bis auf 1/4 Meter sieht, so daß der Lesende sich beständig bis auf 25 Centimeter der Schrift nähern und dabei auflegen muß; für die Ferne braucht das Äuge Nummer 4; für die Arbeitsentfernung von 1/2 Meter wäre das zu stark; hier muß ein schwächeres Glas berechnet werden, mit dem das Auge auf 1/2 Meter sehen kann, das würde Konkav 2 sein. Noch anders wird die Sache beim Violinspielen, wo auf 3/4 Meter die Noten erkannt werden sollen, wieder anders bei den Tischlern, bei den Zimmerleuten etc. Es muß eben von Fall zu Fall geurteilt werden; man kann nicht alles über einen Leisten schlagen, zumal noch sehr wichtige Berücksichtigungen der Augenmuskeln, welche das Auge nach der Nase zu bewegen, hinzukommen, deren Auseinandersetzung aber hier viel zu weit führen würde.
Nur das eine sei noch bemerkt, weil ich es für sehr wichtig halte. Hat ein Kurzsichtiger eine Brille, die ihn in stand setzt, auf 1/2 Meter weit zu sehen, dann muß er an einem Tische sitzen, der so körpergerecht gebaut ist, daß er wirklich lange Zeit sein Auge 1/2 Meter von der Schrift entfernt halten kann, daß er nicht gezwungen ist, nach 5 oder 10 Minuten auf 20 oder 16 Centimeter herabzusinken. Senkt er seinen Kopf, so schadet ihm die Brille; denn er zieht nun die Accommodationsschraube aufs furchtbarste hinter der Brille an, er wird schneller kurzsichtig. Darin liegt die Gefahr, kurzsichtige Schüler mit Arbeitsbrillen zu versehen, solange die Subsellien nicht richtig gebaut und die Kinder nicht nach der Größe gesetzt sind, was ja leider in Deutschland fast immer noch nicht der Fall ist.
In jedem Falle frage man bei Myopie wegen der Brille einen Arzt; der Fall ist oft verwickelt, und Kurzsichtigkeit ist namentlich in höherem Grade durchaus nicht gleichgültig; sie bietet auch in mittlerem Grade ein großes Hemmnis für die Wahl des Berufes und für die Existenz. – –
Endlich sei noch mit wenigen Worten der Uebersichtigkeit gedacht. Man nahm früher an, daß Kurzsichtigkeit und Weitsichtigkeit einander gegenüberstehen. Ja, man machte das schöne Wortspiel: „Der Weitsichtige sieht beinahe nichts (bei Nahe nichts), und der Kurzsichtige sieht beiweitem (bei Weitem) weniger.“ Das ist aber ganz unrichtig; auch der Kurzsichtige kann im Alter etwas weitsichtig werden. Der Kurzsichtigkeit, dem zu langen Bau, steht gegenüber die Uebersichtigkeit, der zu kurze Bau des Auges. Das Auge ist dann zu flach. Solche Augen täuschen oftmals Kurzsichtigkeit vor, namentlich in der Jugend; sie sind es aber nicht. Die Uebersichtigen sehen in die Ferne mit Konkavgläsern schlechter; sie brauchen schon für die Ferne Konvexgläser, und da ist denn die Regel sehr leicht zu merken: der Uebersichtige nimmt dasjenige stärkste Konvexglas, mit dem er in die Ferne noch scharf sieht, ohne jeden Schaden. Für die Nähe braucht er noch ein schärferes. Werden die Gläser nicht genommen, so entsteht Ermüdung oder Schielen.
In neuerer Zeit verordnet man auch cylindrische, torische prismatische und farbige Brillen. In einem späteren Artikel wollen wir über diese besonders sprechen.
Möge nur jeder den Satz beherzigen: die Brille ist, wie das Opium, falsch angewendet ein Gift und richtig angewendet ein großer Segen der Menschheit.
Blätter und Blüten.
Verlesung der letzten Opfer der Schreckenszeit. (Zu dem Bild S. 360 und 361.) Die große französische Revolution ist zweifellos für Europa der Herd großer befreiender Wirkungen gewesen, aber sie hat in ihrem Verlaufe auch für alle folgende Zeit der Welt grausenerregende Beispiele dafür aufgestellt, bis zu welchem Grade die menschliche Natur im Rausche der Willkür ihren niedrigen Instinkten verfallen kann. An diese Zeit des „Schreckens“ gemahnt unser Bild. Das furchtbare Revolutionstribunal hatte im Sommer 1793 die Pariser Gefängnisse gefüllt und der Guillotine immer neue Opfer zugeführt. Eine erwünschte Handhabe gab ihm das Dekret gegen die Verdächtigen; jeder Verdächtige sollte eingekerkert und vor das Tribunal geschleppt werden. Es war ein Dekret wie die schlimmsten Gesetze der römischen Kaiserzeit. Verdächtig waren alle, welche sich fürchteten oder Mitleid mit den Opfern der Revolution zeigten, verdächtig, wer seine hingerichteten Verwandten beweinte, wer den herrschenden Gewalthabern und ihrem Anhang mißfiel, jeder, der durch seinen Stand, seinen Reichtum, seine Bildung den Sansculotten ein Dorn im Auge war. Wie schon bei den Septembermorden waren es in erster Linie die Vornehmsten, welche dem Tode geweiht wurden: der alte Adel, alle Mitglieder der älteren Parlamente, Personen des Hofes, frühere Minister und Intendanten. Ein Lichtblick der Hoffnung fiel in die Gefängnisse, als Robespierre das Fest des Höchsten Wesens feierte und in seiner Festrede die Tugend und die Weisheit verherrlichte – Blumen und Kränze, liebliche Musik, weißgekleidete Jungfrauen, ganz Paris im Festgewand – es war wie eine Feier der Versöhnung! Doch schmerzlich war die Enttäuschung; die Schreckensherrschaft erreichte jetzt erst ihren Höhepunkt; der Priester des Höchsten Wesens ließ das Revolutionstribunal fortwüten; jeden Tag wurden 50 bis 60 Opfer auf dem Henkerskarren zum Schafott geschleppt; gleich nach jenem Fest ließ Robespierre ein Gesetz ergehen, demzufolge das Revolutionstribunal ohne alle Förmlichkeiten seines Amtes walten, bloß summarisch und nach seinem Gewissen richten sollte. Vom 10. März 1793 bis zum 10. Juni 1794 wurden in Paris allein 1269 Menschen guillotiniert; in den letzten sechs Wochen aber bis zum Sturz Robespierres, den 27. Juli, wurden noch 1400 Menschen in Paris hingerichtet; die Ernte eines Monats war reicher als die Ernte eines Jahres.
Das Bild des kürzlich verstorbenen Pariser Malers Charles Louis Müller, dessen Original sich in der Luxembourg-Galerie zu Paris befindet, führt uns in eines jener überfüllten Gefängnisse, in welche der Todesengel tritt in Gestalt eines Sendboten des Tribunals, der die für diesen Tag bestimmten Opfer verliest. Aengstliche Spannung auf allen Gesichtern; Verzweiflung dort, wo die Schergen der Gewalt ein Opfer packen und aus den Armen der Familienangehörigen reißen, vergebliches Flehen um Gnade, Thränen des Schmerzes und der Trauer, meist dumpfe Ergebung in das Unvermeidliche; Alter und Jugend dem gleichen Schicksal verfallen, überall Scenen eines ergreifenden Abschieds! Den Gesichtern und der Haltung sieht man es an, daß fast alle, Männer und Frauen, den bevorzugten Ständen angehören; der Maler hat für viele der einzelnen Persönlichkeiten beglaubigte Porträts als Vorlage benutzt. Wer aber bei dieser Verlesung der Todgeweihten leer ausging, der hielt jeden neugewonnenen Tag seines Lebens für ein Geschenk des Glücks. Trotz aller Todesfurcht hatte die Gewohnheit der Hinrichtungen und der angeborene Leichtsinn der Franzosen es dahin gebracht, daß man in den Gefängnissen in den Tag hinein lebte, sich verliebte, Romane spielte, lachte und tanzte. Es blieb ja noch immer die Hoffnung, es könne doch plötzlich die Stunde der Befreiung schlagen. Und diese Hoffnung war nicht für alle eine trügerische – denn am 28. Juli mußte Robespierre selbst den Henkerskarren besteigen, und nach einigen letzten blutigen Zuckungen erreichte die Schreckensherrschaft ihr Ende. †
Magenleiden und Körperhaltung. Verschiedene Verdauungsstörungen, namentlich aber Magenleiden, werden besonders häufig bei Leuten beobachtet, die viel in sitzender Stellung arbeiten. Die Anlässe mögen verschieden sein, unzweckmäßige Ernährung, Tabak und Alkoholvergiftung spielen darin eine wichtige Rolle, aber eine gar häufige Ursache der Magenerkrankung wird zumeist nicht beachtet. Es ist dies die gebräuchliche seitliche Krümmung des Körpers beim Schreiben, sowie die
[372] Ueberbeugung nach vorn. Dadurch entsteht, wie jeder an sich selbst wohl fühlen kann, eine Querfalte in der Bauchwand, die gerade auf den Magen einen Druck ausübt und die Bewegungen des Organs behindert. Die Folgen dieser Behinderung sind um so nachteiliger, je älter und weniger elastisch der Körper ist. In der That wurde in letzter Zeit von Aerzten wiederholt beobachtet, daß eine Besserung der Magenbeschwerden vielfach einzutreten pflegte, sobald als einziges Heilmittel nur eine gerade Haltung des Körpers während des Arbeitens in sitzender Stellung verordnet wurde. Dieses „Rezept“ sollte sich jeder geistige Arbeiter zur Verhütung frühzeitiger Magenleiden selbst verschreiben. *
Generaloberst von Pape † Immer mehr lichtet sich die Schar derer, die an den großen Siegesthaten, welche 1870 zum Gewinn unserer Reichseinheit führten, als Führer beteiligt waren. Der am 7. Mai in Berlin verstorbene Generaloberst von Pape kommandierte während des Feldzugs gegen Frankreich die preußische 1. Garde-Infanteriedivision, die er in der Schlacht bei St. Privat zu dem berühmten Sturmangriff führte, der für den glücklichen Ausgang der Schlacht von entscheidender Bedeutung war. Auch bei Beaumont, Sedan und verschiedenen Ausfallgefechten vor Paris erwies er sich als umsichtiger energischer Führer von hervorragender Tapferkeit. Bei der Kaiserkrönung in Versailles wurde er dafür zum Generallieutenant befördert. Später war er nacheinander kommandierender General des 5. Armeekorps in Posen, des 3. Armeekorps in Berlin und, von 1884 an, des Gardekorps. Von 1882 an war er gleichzeitig auch Oberbefehlshaber in den Marken. Als besonderer Vertrauensmann Kaiser Wilhelms I. in militärtechnischen Fragen wurde er in die meisten Kommissionen berufen, die sich mit der Heeresreform zu beschäftigen hatten; er war Mitglied der Landesverteidigungskommission und des Staatsrats und wurde wiederholt mit wichtigen Missionen in das Ausland betraut. Am 14. Dezember 1888, nach dem ersten Kaisermanöver des jetzigen Kaisers, wurde er zum Generalobersten der Infanterie mit dem Range als Generalfeldmarschall und zugleich zum Gouverneur von Berlin ernannt, in welch letzterer Stellung er bis Anfang des laufenden Jahres verblieb. Am 13. Februar 1813 zu Berlin geboren, hatte er im Dienst ein Alter von fast 82 Jahren erreicht. Alexander August Wilhelm von Pape war ein echter Sohn der Mark, eine Verkörperung der altpreußischen Traditionen im Heere, auch geistig sehr befähigt; in jüngeren Jahren war er eine Zeitlang Direktor des Kadettenhauses in Potsdam. Charakteristisch für sein Wesen ist die folgende Erinnerung. 1866 bei Königgrätz, wo Pape die 2. Gardeinfanterie-Brigade befehligt hatte, war sein einziger Sohn gefallen. In Soldatenmäntel gehüllt, wurde die Leiche am Tage nach der Schlacht zur Erde bestattet. Doch als die Feierlichkeit beendet war, richtete sich der tiefgebeugte Vater stramm auf. „Meine Herren,“ wandte er sich entschlossen an die Offiziere seines Regiments, „das liegt nun hinter uns. Wir aber gehen vorwärts: ‚Mit Gott für König und Vaterland!‘“
Wie heiß ist die Sonne? Die Frage, wie heiß wohl die Sonne, der Urquell alles Lebens auf Erden, sein möge, beschäftigte die Menschheit seit ältesten Zeiten. Aber bis heute ist diese Frage unbeantwortet geblieben, wie oft auch die Hitze der Sonne von Weisen und Weisesten gemessen und berechnet wurde, denn gar weit gehen die Meinungen der „Autoritäten“ auseinander. Hier nur einige Beispiele! Newton schätzte die Temperatur der Sonne auf 1 660 300° C., Ericson berechnete sie auf 2 726 700°, Secchi sogar auf 5 344 840° C. und am höchsten griff wohl Sorel, der die Sonnentemperatur mit 5 801 846° angab. Im Gegensatz zu diesen Forschern beträgt die Sonnentemperatur nach Violle 1500°, nach Pouillet 1461° und nach Vicaire nur 1398° C. Sicher ist es sehr heiß auf der Sonne, aber wie heiß, das läßt sich vom menschlichen Standpunkt aus nicht ermessen. *
Auf der ersten Wache. (Zu dem Bilde S. 369.) Die „Gartenlaube“ hat schon früher einmal (vergl. den Artikel „Der gute Muth des deutschen Soldaten“, Jahrgang 1888, S. 17) auf die mancherlei Bräuche und Ueberkommenheiten hingewiesen, welche beweisen, daß auch im deutschen Soldatenleben ein gesunder kerniger Humor sich zu entfalten weiß. Unser Bild ist wieder ein Beitrag zu diesem lustigen Kapitel. Für die Rekruten des Deutschen Heeres ist natürlich das Beziehen der ersten Wache eine große Angelegenheit. Bei der hohen Verantwortlichkeit, die mit diesem Dienste verbunden ist, werden die von dem Regiment zu leistenden Wachen derart verteilt, daß die wichtigeren Posten immer von älteren Mannschaften besetzt sind und den Rekruten nur solche Posten anvertraut werden, auf denen sie keinen Schaden anrichten können, denn die Wachinstruktion ist sehr scharf, und Verstöße gegen dieselben werden schwer geahndet. Der wachthabende Unteroffizier hält natürlich die „neugebackenen“ Krieger gehörig im Zug. Ist aber alles gut abgelaufen, hat der „du jour“-Offizier bei Tage und der Rondeoffizier in der Nacht keinen Anlaß zum Tadel gefunden, so drückt auch der gestrenge Wachthabende ein Auge zu, wenn sich dann die Lust regt, die „erste Wache“ nunmehr festlich zu begehen. Darauf gründet sich der Brauch, den unser Bild darstellt und der in einzelnen preußischen Regimentern auch heute noch im Schwang ist. Wohl oder übel müssen die Rekruten alle in einer Reihe antreten: einer von der älteren Mannschaft hält den Stubenbesen in ziemlicher Höhe wagerecht vor die Truppe, und jeder Rekrut muß nun in regelrechtem Sprunge das Hindernis nehmen. Wer nicht hoch oder gut genug springt, muß Strafe zahlen, und zwar, je ungelenker er sich anstellt, desto mehr. Diejenigen, welche ihre Sache gut gemacht haben, legen aber aus Stolz auf das Gelingen auch noch etwas hinzu, und ein ganz hübsches Sümmchen ist dann zu einer „Auffrischung“ vorhanden, zu welcher der Kalfaktor den Stoff diensteifrig herbeischleppt. uch der gestrenge Herr Wachthabende verschmäht es nicht, den Zutrunk zu erwidern, doch trägt er Sorge, daß keiner des Guten zu viel thut.
Das Laubfroschbarometer. Der Laubfrosch steht beim Volke im Rufe eines Wetterpropheten und wird vielfach gefangen gehalten, um seinem Besitzer den Witterungswechsel anzuzeigen. In vielen Gegenden ist die Meinung verbreitet, daß er beim nahenden Regen sein Versteck in Laub und Moos verläßt und möglichst hoch emporsteigt. Der Czernowitzer Zoolog R. von Lendenfeld hat im Laufe der letzten beiden Jahre eine größere Anzahl von Laubfröschen in einem geräumigen Froschhause beobachtet und ihr Verhalten gegen Witterungswechsel geprüft. Da hat es sich gezeigt, daß der Laubfrosch bei seinem Auf- und Absteigen sich gar nicht an die Witterung kehrt: weder Luftdruck, noch Feuchtigkeit der Atmosphäre bestimmen ihn dabei in irgend einer merkbaren Weise, wohl aber ist der Einfluß der Tageszeit auf seine Kletterkünste deutlich ausgesprochen. Die Laubfrösche steigen während der Morgenstunden mit Vorliebe herab, während der Abendstunden dagegen hinauf. Gegen 8 Uhr abends sitzen die meisten Laubfrösche oben. Diese Gewohnheit läßt sich dadurch erklären, daß die Frösche im allgemeinen des Abends lebhafter sind als am Tage und daß gegen Abend auch die Insekten, welche den Laubfröschen zur Nahrung dienen, sich mehr vom Erdboden erheben. Die Laubfrösche steigen also um die Zeit hinauf, um besser der Nahrung nachgehen zu können, und diese Gewohnheit behalten sie auch in der Gefangenschaft bei. *
Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (8. Fortsetzung). S. 357. – Carl Vogt †. Bildnis. S. 357. – Verlesung der letzten Opfer der Schreckenszeit. Bild. S. 360 und 361. – Carl Vogt. S. 362. Mit Bildnis S. 357. – Wie Stropp der Hund wieder freikam. Von Ernst Lenbach. S. 36t. Mit Abbildungen S. 364, 365 und 366. – Zur Geschichte der Brillen. Von Prof. Dr. Hermann Cohn. S. 367. – Rekruten-Belustigung auf der ersten Wache. Bild. S. 369. – Blätter und Blüten: Verlesung der letzten Opfer der Schreckenszeit. S. 371. (Zu dem Bild S. 360 und 361.) – Magenleiden und Körperhaltung. S. 371. – Generaloberst von Pape †. Mit Bildnis. S. 372. – Wie heiß ist die Sonne? S. 372. – Auf der ersten Wache. S. 372. (Zu dem Bilde S. 369.) – Das Laubfroschbarometer. S. 372.
[ Es folgt: Verlagsreklame der Union Deutsche Verlagsanstalt (hier nicht dargestellt)]
- ↑ Die Leser der „Gartenlaube“ erinnern sich gewiß mit Vergnügen des braven Hundes, mit dessen früheren Schicksalen und Verdiensten sie Ernst Lenbachs Novelle „Stropp der Hund“ im Jahrgang 1892, S. 874 u. f., bekannt gemacht hat. D. Red.