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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 21.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (7. Fortsetzung.)


Frau Cilly blieb auf Beetzen und brachte, als die Zeit ihren Schmerz gemildert, Leben ins Haus, zu Frau Berthas Betrübnis, die zu kränkeln begonnen hatte und öfter denn je verweinte Augen zeigte. Vor dem kleinen Joachim, der gerade wie ihr verstorbener Einziger zum Unterschied von seinem Onkel „Achim“ gerufen wurde, flüchtete sie in die entferntesten Winkel ihrer eignen Gemächer, wenn er durch die Korridore des stillen Hauses tobte mit seiner Bonne und den Hunden. Je mehr der Knabe sich entwickelte, je mehr er die herkömmliche stattliche braune Art der Kronen zeigte, um so ängstlicher mied sie ihn. Sie siechte so hin an dem Schmerz um den Verlorenen.

Onkel Joachim wuchs der frische Junge, den seine Mutter weidlich verzog, nach und nach tief ins Herz hinein, aber vor seiner armen Frau wagte er keine Liebkosungen. Ganz heimlich verkehrten die beiden Jochen zärtlich miteinander; heimlich schlichen sie in den Pferdestall, und da hob der Alte den Jungen, wie er es vor Jahren mit dem Sohne gethan, auf den Rücken eines Gaules und freute sich, wenn der Wicht mit hellem Jauchzen droben saß. Und heimlich hatte der Onkel aus seinem Bücherschrank den Baukasten des ertrunkenen Sohnes hervorgesucht und ihn dem Neffen auf den Teppich seiner Arbeitsstube ausgeschüttet, während er in der Sofaecke dabeisaß und wie verzaubert dem nämlichen Spiel zusah, das der Vorbesitzer des Kastens getrieben. Genau solche wackelnde Pyramiden baute der kleine Kerl in seinem schwarzen Sammetkittelchen, zum Verwundern ähnlich fand Jochen ihn dem Entrissenen in all seinem kindhaften Thun.

Hierbei überraschte ihn einst Tante Bertha. Sie stand plötzlich in der offenen Thür, starrte auf das Kind, starrte auf ihren Mann, wandte sich um und ging. Von diesem Tage an lag sie viel und fieberte beständig. Der Arzt kam nicht mehr aus dem


Der Wittelsbachbrunnen in der „Königlichen Residenz“ zu München.
Nach einer Photographie aus dem Architekturverlage von B. Reiffenstein in München.

[342] Hause, und gegen Weihnacht hin, gerade als Frau Cilly begonnen hatte, wieder aufzuleben, und von einem Nachbargut zum andern fuhr, ihre Besuche zu machen, und die ersten Kisten ihres Kleiderlieferanten aus der Residenz eingetroffen waren mit Gesellschaftstoiletten, da schloß Tante Bertha ihre müden Augen für immer.

Ach ja, es ist anders geworden im Beetzener Herrenhause, ganz anders, aber einsam und kalt blieb es für Ditscha noch immer.

Vorhin ist Frau Cilly in eleganter Halbtrauer nach Westerwohl zum Grafen Mangelsdorf gefahren, man will da eine Croquetpartie spielen. Ditscha ist mit eingeladen, hat aber abgesagt. Onkel Joachim schläft noch, klein Joachim treibt sich irgendwo umher im Park mit seiner Bonne.

Ditscha erwacht aus ihrer Träumerei durch das rasche Anfahren eines Wagens vor der Freitreppe. Sie erhebt sich und blickt aus dem mit Kletterrosen umwundenen Säulengang hinunter zu dem Gefährt. Ein stattlicher Mann in tadellosem Besuchsanzug springt aus dem Korbwagen und giebt dem hinzueilenden Friedrich seine Karte, der sie Ditscha überreicht. Sie läßt den Gast bitten, näher zu treten, und verfügt sich zu Onkel Joachim, um ihn in das Empfangszimmer zu holen.

Unterwegs sieht sie die Karte an.

 Kurt Rothe
Lieutenant der Reserve im 4. Garderegiment zu Fuß.
 Rittergutsbesitzer auf Dombeck.

Ah, richtig, Dombeck ist ja verkauft; an einen Bürgerlichen verkauft der alte Grafensitz, und der neue Eigentümer macht nachbarschaftliche Besuche.

„Wie sieht denn der Jüngling aus, Ditscha?“ fragt Onkel Jochen und betrachtet seine rotgeschlafene Wange im Spiegel, indem er mit der Taschenbürste seine spärlichen weiß gewordenen Haare ordnet. „Weißt nicht? Auch gut – ich sehe ihn mir gleich selbst an. Alter Mann schon – was? Irgend einer, der bei Armeelieferungen reich geworden ist und das Geld hat, Dombeck zu bezahlen – na – ich komme gleich, komme gleich!“

Ditscha geht und muß noch denken, wie alt Onkel Jochen seit dem Tode seiner Frau doch geworden. Es ist ihr noch nie so aufgefallen wie eben jetzt; und noch mit diesem Gedanken beschäftigt, betritt sie das kühle, etwas verdunkelte Empfangszimmer und steht einem großen Manne gegenüber mit blondem Vollbart und Haar, dessen helle intelligente Augen sie mit dem Ausdruck unverhohlener Bewunderung betrachten. Es ist einen Augenblick, als wollten sich da zwei Menschen auf den Grund der Seele sehen.

Ditscha fühlt, wie sie rot wird. Sie fordert ihn auf, Platz zu nehmen, indem sie sagt, daß der Onkel sofort erscheinen werde. Sie hat so zurückgezogen gelebt, und sie wünscht in diesem Augenblick, die quecksilberne Gewandtheit Frau Cillys zu haben, um ein Gespräch in Fluß zu bringen. Es fällt ihr aber weiter nichts ein als: „Wie gefällt’s Ihnen in Dombeck?“

„Ich hoffe, es soll mir noch sehr gut gefallen; jetzt bin ich noch nicht eingewöhnt, meine Gnädige. Es ist ein schönes Gut, aber es gehört viel Arbeit hinein. Schloß und Park sind mir fast zu herrschaftlich, fast zu groß, und vorläufig habe ich noch Sehnsucht nach dem gemütlichen Häusel meiner väterlichen Besitzung.“

„Wo steht das ‚Häusel‘?“ fragt Ditscha und ein seltenes Lächeln fliegt um ihren Mund.

„In Schlesien,“ sagt er und lächelt auch. „Mein älterer Bruder sitzt darin mit seiner Familie und unserm alten Mutterle – sie ist da halt nicht wegzubringen.“

„Und warum auch?“ fragt Ditscha.

„Weil ich sie gern hier gehabt hätte. Oder, meinen Sie, gnädige Frau –“

„Fräulein –“ verbessert Ditscha.

„Gnädiges Fräulein – Pardon – es sei für einen verzogenen, verwöhnten Menschen wie ich bin, angenehm, nichts wie leere Zimmer um sich zu haben?“

„Sie kommt gewiß bald auf Besuch,“ tröstet Ditscha und lächelt wieder. Und in diesem Augenblick tritt Onkel Joachim ein, und Ditscha überläßt die Herren einander.

Onkel Joachim schickt nach einem Weilchen Friedrich und läßt sagen, daß Herr Rothe den Thee mit der Familie nehmen werde.

Ditscha beordert ein frisches Gedeck und schiebt selbst einen Korbsessel herzu. Der kleine Joachim in einem blauen Matrosenanzug erscheint, und just als Friedrich die silberne Kanne bringt, betreten die Herren die Terrasse. Ditscha schickt das Kind zur Begrüßung entgegen und fragt, ob es erlaubt sei, daß es da bleibe, um seine Milch zu trinken.

„Aber, ich bitte darum,“ ist die artige Antwort; und Onkel Joachim erzählt in aller Eile, daß das arme Kerlchen den Vater im Kriege verloren habe.

Die Herren verschmähen das Gebäck und rauchen. Onkel Joachim interessiert sich lebhaft dafür, in welchem Zustande sein Gast Dombeck gefunden habe, und ist erfreut, daß derselbe mit sehr großer Zurückhaltung über den Vorbesitzer spricht. Er weiß ja, daß Dombeck total verloddert ist, hört’s aber nicht gern, wenn sein alter Freund, Graf Amfeldt, getadelt wird.

Taktvoll! denkt er, wirklich taktvoll! als der junge Mann die Waldkultur sogar lobt. – Dann werden die Jucker vor dem Wagen bewundert.

„Ein Paar richtige Katzen,“ sagt Onkel Jochen, „aber das Zeug läuft wie der Deubel.“

„Ich habe sie selbst geholt aus Ungarn,“ erzählt Kurt Rothe.

Nun kommt das Gespräch auf Reisen. Ueberall ist der Gast gewesen. Ditscha lauscht mit gesenktem Kopf.

„Wo waren Sie denn während des Feldzuges?“ fragt der Hausherr.

„Vor Paris und in Orleans, Herr von Kronen.“

„Und nun wird Friedensarbeit gethan?“ nickt der alte Herr.

„Gott geb’s – auf lange!“ stimmt sein Gast bei. „Ihr Enkel? Herr Baron?“ fragt er dann, auf den Kleinen deutend, der herzu geschlichen ist und sich an seines Onkels Knie lehnt.

„Nein – ich habe keine Kinder mehr – ich –“

Ditscha sieht zu Herrn Rothe hinüber mit einem bittenden Blick und legt den Finger leicht auf die Lippen. „Es ist mein kleiner Bruder,“ sagt sie laut.

Ein Weilchen wird noch hin und her geredet, dann empfiehlt sich der Besuch. Joachim begleitet ihn die Treppe hinunter; Ditscha steht an der umrankten Säule und blickt dem Wagen nach, bis er hinter dem Boskett verschwindet. Der Kleine ist seinem Onkel entgegengesprungen, und der hat ihn an der Hand gefaßt; beide gehen durch den Park auf den vom Abendsonnenschein vergoldeten Wegen.

Ditscha fährt sich mit der Hand über die Stirn. Es ist ihr so eigen, so freundlich zu Mute. Ob es die warme, tiefe Männerstimme war, oder seine milde ernste Art? Oder ist es der stille köstliche Sommerabend? Sie weiß es nicht, aber sie kann es nicht hindern, daß ihre Gedanken in das einsame Dombecker Schloß einkehren. Sie kennt es; es liegt gerade dort, wo die ‚krumme Beetze‘ in den Strom mündet, ist von alten köstlichen Bäumen umgeben und hat noch Wall und Gräben wie zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, der es merkwürdigerweise verschonte; und sie kennt die Gänge und Säle und Zimmer.

Ja, einsam mag’s da sein!

Abends bei Tische – Onkel Jochen und sie speisen allein – sagt der alte Herr plötzlich: „Ditscha, den mußt Du Dir genauer ansehen, wenn er Dir einmal wieder in den Weg läuft, der hat das Eiserne Kreuz erster Klasse! Ich sah es vorhin in der Rangliste – was meinst Du dazu?“

Ditscha wundert sich eigentlich nicht darüber und sieht so aus, als würde sie sich eher wundern, wenn er es nicht hätte; sie schweigt also.

„Cilly scheint sich jetzt das Spätnachhausekommen anzugewöhnen,“ spricht Onkel Jochen weiter.

„Ich denke mir, daß die Herrschaften zum Abendessen an Westerwohl geladen sind, Onkel?“

„Soll sich mehr um den Jungen kümmern,“ fügt er brummig hinzu, „ich glaube, sie sieht ihn den ganzen Tag nicht. Des Morgens schläft sie bis zehn Uhr –“

„Aber Hanne versorgt ihn sehr gut, Onkel –“

„Ach was, das ist der Mutter Angelegenheit! Freilich,“ setzt er hinzu, „Hanne erzieht ihn besser, als Cilly es thun würde, die ihn wie einen Schoßhund behandelt. Muß ein Präceptor heran, ein Präceptor, wenn’s kein Unglück werden soll.“

Abends um zehn Uhr kommt Frau Cilly. Sie tritt in die Stube, wo Ditscha mit dem Onkel sitzt. Onkel trinkt Sommers den Grog kalt, mit etwas Citronensaft darin. Er ist beim dritten Glase, und als die junge Frau in ihrem weißen gestickten Kleide, [343] das mit schwarzen Sammetschleifen geziert ist, umher flattert und ihn ‚Schwagerchen‘, ‚Onkelchen‘, ‚Großpapachen‘ in einem Atem nennt, ihm eine Rose an die Nase wirft und von seinem Grog kostet, um eine allerliebste kleine Fratze zu schneiden, da lacht er aus voller Kehle.

„War wohl recht lustig – wie?“ erkundigt er sich.

„Ganz famos, ganz reizend, Onkelchen! Und wenn der dumme alte Franz da nicht geradezu ostentativ vor der Freitreppe gehalten hätte und ich nicht wüßte, wie sehr besorgt Du um Deine Pferde bist, Jochen, so wär’ ich noch ein bißchen dort geblieben, denn erstens war da ein alter Bekannter von mir anwesend, und zweitens ein ganz neuer. Da kam nämlich der jetzige Besitzer von Dombeck vorgefahren – spät genug, wir wollten eben zu Tische gehen – und, das weißt Du, Joachim, wer Dombeck kaufen kann, der spielt schon immer eine Rolle.“

„Haha! Das hättest Du bei uns auch haben können! Du, der hat Thee mit Ditscha und mir getrunken,“ lacht der alte Herr.

„Ach, wirklich? Na, ich kann Dir sagen, er hielt sich dort zwar nicht lange auf, aber doch lange genug, um von der ganzen anwesenden Damenwelt interessant gefunden zu werden.“

„Ditscha, hast Du noch heiß’ Was – – wollt’ sagen Eis?“ fragt Onkel Joachim dazwischen.

Hanne, die jetzt eingetreten ist, schmettert ihm ein „Jawohl, Herr Baron!“ entgegen und winkt den Damen zu. Frau Cilly lacht laut auf, macht Onkel Joachim einen regelrechten Hofknix, hält ihm die kinderkleine Hand zum Kuß an den Mund und ist zur Thür hinaus wie ein Wirbelwind. „Gute Nacht, Onkel Joachim!“ sagt Ditscha ernst, und Hanne macht das bekannte vierte Glas; dann geht auch sie und sendet Friedrich, damit er den Herrn in sein Schlafzimmer geleite, „denn, Gott sei’s geklagt, die Gnädige kann’s nu’ nicht mehr – sie nicht.“

„Und das muß wahr sein,“ beginnt Hanne in Ditschas Zimmer, „dat is gar nich’, als wär’ se ’ne Wittfru, das läßt Ihnen veel eher so, und mich freut’s man, dat Se ihr nich ‚Mama‘ näumen, Fröln Ditscha.“

„Gute Hanne,“ antwortet Ditscha, „ich hab’s gethan, weil es der Vater wünschte, aber sie hat es sich verbeten, und so ist’s besser – sie ist so alt wie ich, vierundzwanzig Jahre.“

„Veeruntwintig Jahr’,“ meint Hanne nachdenkend. „Vor ’ne Wittfru is’ zu jung, und vor en Mäk’n – na – grad’ noch so. – O Gott, Fröln Ditscha, wenn Sie doch aufhören wollten, sick to grämen um de oll Kinnergeschicht!“

Ditscha ist blaß geworden, hat Hanne mit einem hochmütigen Blick gestreift und sich umgewandt. Die alte Frau steht verlegen da und macht sich innerlich Vorwürfe; wie konnte sie auch daran tippen! Am liebsten ohrfeigte sie sich. Sie setzt zum Sprechen an, stottert; sie will Ditscha die üblichen kleinen Hilfen bei der Toilette leisten, aber das junge Mädchen ist plötzlich in sein Schlafzimmer verschwunden und hat die Thür hinter sich zugemacht.

Hanne geht, sich selbst verwünschend, hinaus.

In Ditschas Seele stürmt und tobt es wie nie. Einen Moment hatte sie es vergessen, einen, nun ist’s wieder da, was ihr das Leben verbittert, das Bewußtsein des Makels, der ihr Dasein vergiftet, der gekränkte Stolz, die brennende Scham. Die Angst ist da, die schreckliche Angst, weil es jemand giebt, der ihr Geheimnis kennt, in dessen Hand sie geliefert ist, der, wenn es ihm paßt, hintreten kann und sagen: „Von wem sprechen Sie denn? Von Sophie von Kronen? Ach – na – das ist auch eine nette Geschichte, hat ja mit dem liederlichen Perthien durchbrennen wollen, aber – schon unterwegs – da hat sie der Onkel noch glücklich erwischt.“

Ditscha stöhnt auf, ihre Gedanken irren zu der Vermittlerin der heimlichen Liebeskomödie, zu Grete Busch. Sie weiß nicht, wo sie sie suchen soll, hat nie wieder von ihr gehört, noch sie gesehen, seitdem sie den letzten Brief von Hans von Perthien vor ihren Augen zerriß. Sie weiß nur, daß sie geheiratet hat und ihrem Manne gefolgt ist; Beetzen hat sie nie wieder betreten. Vater Busch ist tot, oll Mutter Busch ist fortgezogen aus dem Häuschen wieder in die Stadt, nach Bützow, woher vor dreißig Jahren ihr Mann sie geholt. Neue Gärtnersleute wohnen am Eingange des Parkes, und doch kann Ditscha Grete Busch nicht vergessen, kann nie an dem Häuschen vorübergehen, ohne einen Stich ins Herz zu bekommen. Und heute, jetzt, überkommt sie der Gedanke an das leichtsinnige Mädchen stärker als je – warum? –

Vor ihren Augen steht wieder Dombeck, das alte Dombeck im Grün der Linden. Wie sagte doch Tante Klementine in ihrem Jammer, als Ditscha ihr nach der Katastrophe zuerst wieder vor die Augen trat? „Es bleibt an Dir hängen, Kind, immer und ewig; es bleibt an Dir, und wenn keine Seele außer Dir in der Welt davon wüßte. … Und Gott verhüte, Ditscha, daß Dir je der Mann begegne, den zu lieben Dir bestimmt ist – dann ist das Elend fertig!“

Und seither war Ditschas Gebet gewesen: „Lieber Gott, wende dies Elend von mir ab – schicke mir niemals diesen Einen, den ich lieben muß! Ich selbst, ich weiß und fühle mich rein – ich habe geirrt, aber ich verirrte mich nicht.“

Bis jetzt hat Gott ihr Gebet erhört, bis jetzt. Er wird sie auch ferner bewahren, muß sie bewahren! Und sie faltet die Hände und bittet ganz kindlich darum, daß niemals jener Mann – –

Und mitten drin bricht sie ab und schaut mit starren Augen vor sich hin, lange, lange Zeit, und als sie sich endlich besinnt, da vergißt sie, zu Ende zu beten.




Das ist ein merkwürdiger Sommer auf Beetzen, so ungewohnt lebhaft. Von Gesellschaften ist keine Rede, natürlich nicht; ein halbes Jahr nach dem Tode der Hausfrau giebt man keine Gesellschaft, das gesteht Frau Cilly von Kronen selbst zu, aber hie und da ein zwangloser Besuch, den sie in ihren Zimmern empfängt, die durch den großen Flur von denen des Onkels getrennt im linken Flügel des Herrnhauses liegen, das ist doch wahrhaftig nicht pietätlos zu nennen!

Und so rollen täglich Wagen vor die Freitreppe, im Park sieht man helle Kleider auf den Rasenplätzen, durch die Luft fliegen bunte Reifen, und das harte Klappern des Croquethammers tönt bis zu Ditscha herüber, die neben dem Onkel auf der Terrasse sitzt, ganz versteckt von den Blüten der Kletterrosen. Einmal, ein einziges Mal hat sie versucht, auf energisches Verlangen der jungen Witwe, sich zwischen die vergnügte Gesellschaft zu mengen, aber sie ist sich vorgekommen wie ein verschüchterter Spatz unter Singvögeln, scheu, beklommen, linkisch, und sie hat sich weggestohlen, sobald sie vermochte. Beim Onkel war es am besten – was sollte sie denn unter den Glücklichen? – –

Und dann war ihr jemand gefolgt, jemand, der lachend gesagt hatte, daß er sich mit seinem angeschossenen Beine nicht ganz tauglich fühle zu einem Spiel, bei dem es auf körperliche Gewandtheit allein ankomme, und ob wohl der Herr Baron und das gnädige Fräulein es gestatten wollten, daß er sich ein bisserl zu ihnen setze, um auszuruhen.

Während er sich bei ihnen niederläßt und mit dem alten Herrn spricht, überkommt sie der Gedanke an ihr altes Gebet „Schicke mir keinen, den ich lieben muß – Herr Gott im Himmel, sei barmherzig!“ Warum es ihr gerade jetzt in den Sinn kommt, weiß sie nicht recht.

Und so ist das oft gewesen in den letzten Augustwochen und auch heute an dem blauen, warmen Septembertage – wie wird es sich ferner gestalten?

Onkel Jochen brummt, weil die Cilly schon wieder einmal Gäste hat, man könne sich in seinem eigenen Garten nicht mehr ungeniert bewegen! „Ein wahres Glück, Ditscha, daß Tante Anna endlich geruht hat, wieder in Beetzen zu erscheinen,“ setzt er hinzu. „Als Anstandsdame ist sie höchst nötig, wo jetzt die ganze ‚goldene Jugend‘ der Nachbarschaft bei Cilly verkehrt – und sie ist wie geschaffen dazu. Wer kommt denn heute wieder alles?“

„Cilly erzählte nur vom Croquetkränzchen und von den Ehrengästen, Onkel,“ antwortet Ditscha.

„So! So! – Der Dombecker ist ja wohl auch Ehrengast?“

Ditscha nickt, und langsam steigt eine rosige Glut in ihrem Antlitz empor, die vom Onkel nicht bemerkt wird.

Unter den Linden, in der Nähe des großen kurzgeschornen Rasenplatzes sind die Kaffeetische hergerichtet. Eine Gesellschaft von ungefähr zwölf Personen hat sich dort versammelt; das Lachen und Plaudern hört man bis hier herüber. Cillys Jungfer und ein Groom, den die junge Frau in ein wunderliches Kostüm mit phantastischer Verschnürung und weißen weiten Hemdärmeln – sie nennt es „ungarisch“ – gesteckt hat, machen die Bedienung. Cilly selbst, im gelblichweißen Flanellkleide, dessen kurzer Rock die niedlichsten Füße in hochhackigen Lackstiefeln sehen läßt, sitzt auf [344] einer Bank zwischen Rittmeister von Bredow, der eigens von Berlin herübergekommen ist – auch er ist Ehrengast – und dem Grafen Mangelsdorf, dessen junge Frau sich himmlisch amüsiert über die Art und Weise, wie Cilly sich mit ihm neckt. Die anmutige Wirtin überzählt eben die Häupter der Gesellschaft, lauter Jugend. Tante Anna bemuttert die jungen Damen, sie thront wie die personifizierte Etikette, im Schwarzseidenen, das Eiserne Kreuz an die linke Schulter geheftet, am obern Ende der Tafel und häkelt.

„Ums Himmelswillen,“ ruft Cilly, „wer fehlt denn, wir sind ja nur elf?“

„Bronnow!“ ruft die blonde Gräfin Mangelsdorf.

„Richtig, Bronnow! Ob er noch kommt?“

Die beiden Fräulein von Schlüchtern werfen sich einen Blick zu, die Gräfin hat ihn natürlich längst vermißt!

„Abgeschrieben hat er nicht,“ sagt Cilly, „hoffentlich kommt er noch. Es wäre dumm, wenn er fehlte, gerade heute.“

Das Rollen eines Wagens läßt alle Blicke neugierig nach dem Fahrweg spähen, jenseit des Rasenplatzes.

„Er ist’s nicht!“ ruft Frau Cilly, „es sind die Dombecker Pferde!“

So genau kennen Sie die Dombecker Pferde?“ fragt Herr von Bredow sarkastisch.

„Was man so oft sieht?“ erwidert sie, und in ihren blauen Augen blitzt es auf. Sie bemerkt, wie er eine verdrießliche Miene macht, und ist innerlich sehr beglückt über dieses kleine Zeichen einer eifersüchtigen heißen Liebe. „Ich wüßte nicht, daß mehr als ein bis zwei Tage zwischen seinen Besuchen liegen,“ fährt sie kaltblütig fort, „und ich bin überzeugt, wenn er die Gäule allein laufen ließe, sie kämen richtig auf Beetzen an. Uebrigens bezweifle ich, daß Herr Lieutenant Rothe den fehlenden Mann ersetzen wird; er liebt nicht große Gesellschaft, und wenn er sich anstandshalber auch ein paar Minuten zeigt, so –“

Geht er nur so rasch, um desto eher morgen oder übermorgen wiederzukommen, wo er gewiß ist, daß er Ihre Gesellschaft nicht mit zwölf Andern zu teilen braucht,“ vollendet der Rittmeister und erhebt sich.

Meine Gesellschaft?“ fragt sie und zieht die langen weichen Handschuhe über, inbem sie ihn mit einem reizenden Schelmengesicht anblinzelt. „Meine Gesellschaft?“

Ein zweiter Wagen bringt den ersehnten Bronnow, der jubelnd empfangen wird. Mit ihm kommt Kurt Rothe. Cilly hat recht, er dankt für die Beteiligung am Spiel, bittet, seinetwegen den Beginn der interessanten Partie ja nicht zu verzögern, setzt sich einen Augenblick zu Tante Anna, die ihn vom Standpunkte einer Stiftsdame von Kronen herab leutselig liebenswürdig behandelt und sich von ihm erzählen läßt, in welchem Lazarett er verpflegt wurde, welcher Art seine Verwundung war und ob man die Kugel sogleich gefunden habe.

„Verzeihung, meine Gnädige, meine Mutter sitzt bei Ihrem Herrn Bruder und Fräulein Nichte auf der Veranda, ich möchte einmal nach ihr schauen.“ Eine tiefe Verbeugung, und dahin geht er – zu Joachim und Ditscha.

Tante Anna starrt ihm völlig verblüfft nach. Was soll das heißen? Bringt seine Mutter her? Wozu denn das? Es sieht empörend familiär aus!

Auf der Terrasse sitzt indessen eine alte Frau neben Ditscha, eine alte Frau mit so lieben freundlichen Augen und so silberweißem Scheitel, daß es von ihr ausgeht wie purer Sonnenschein. Und dieser Schein dringt tief in ein verbittertes einsames junges Herz, so daß es ihm ist, als werde es Frühling drinnen, als habe es dennoch – dennoch ein Glück – –.

Das „Mutterle“ ist gekommen, und der große stattliche Mann sieht förmlich gerührt die zierliche alte Frau an, die so gemütlich und anspruchslos zu reden versteht und selbst Joachim von Kronens anfängliches Befremden über diese Zuführung besiegt. Sie hat diesen und jenen Standesherrn gekannt, der mit Joachim seiner Zeit im Herrenhause saß, und das hat er ja immer gesagt: wenn er kein Märker wär’, möcht’ er ein Schlesier sein. – Auf einmal kommt’s zufällig heraus, daß die alte Dame eine Geborene von Schneeblatt ist, und da soll doch gleich dieser und jener – seine Großmutter mütterlicherseits war auch eine Schneeblatt!

„Eine Freiin von Schneeblatt, aus dem Hause Rawinsk?“

„Richtig, Herr Baron.“

„Ja, zum Donnerwetter, dann sind wir ja so’n bißchen verwandt?“

Und nun muß Friedrich den „Gothaischen Kalender“ bringen, und es geht eine furchtbare Familienerörterung los, währenddem Kurt Rothe etwas näher zu Ditscha herangerückt ist und ihre zitternden Hände betrachtet, die sich auffallend hastig mit einer Stickerei beschäftigen – schlanke, schöne, charaktervolle Hände.

Sie schweigen beide. Als nach kurzer Zeit die alte Dame vom Aufbrechen spricht, stimmt er zu, und da der Baron meint, er wolle der gnädigen Frau den Baum zeigen, den die Großmutter, Geborene von Schneeblatt, gepflanzt zum Andenken an irgend ein Familienereignis, so läßt man den Wagen vorausfahren und geht, mit Vermeidung des Croquetplatzes, durch die schattigen, sonnendurchblitzten Wege, auf denen eben die allerersten gelben Blättchen liegen; das alte Paar voran, Ditscha neben Rothe.

(Fortsetzung folgt.)




Der Schierling.

Von M. Hagenau.

Unter den Giftpflanzen zeichnete sich einst der Schierling durch einen besonderen düsteren Ruf aus. Er wurde im Altertum vielfach als Hinrichtungsmittel benutzt und mit Schierlingssaft war der Becher gefüllt, aus dem Sokrates auf Beschluß seiner Richter den Tod trinken mußte. Als später die alte Kulturwelt zu Grunde ging, die Sitten gelockert wurden und so viele den moralischen Halt verloren, da gaben wahnwitzige Lebensmüde öffentliche Gastmahle, bei denen der Schierling das Hauptgericht bildete.

Die Zeiten haben sich verändert. Der Schierliug ist seit Jahrhunderten kein Modegift mehr, aber sein Name ist noch immer furchtbar geblieben, denn Schierlingsgewächse sind leider einigen der Gewürzkräuter, die wir in unserer Küche verwenden, ähnlich, und jahraus jahrein wird durch Verwechslung dieser Pflanzen menschliches Leben bedroht. Kein Wunder, daß die Wissenschaft dem Schierling eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, daß sie mit den schärferen Untersuchungsmitteln der Neuzeit seine verderbliche Wirkung zu erforschen suchte und eifrig bestrebt war, Mittel zu finden, die dem Vergifteten Rettung bringen könnte. So wurde schrittweise das Dunkel gelichtet, das den unheimlichen Schierling umgab. Schärfer und klarer trat seine Gefährlichkeit hervor und um so notwendiger erscheint eine eindringliche Warnung vor dem verderblichen Kraute.

Unter dem Namen Schierling werden in weiteren Volkskreisen verschiedene äußerlich sich ähnlich sehende Pflanzen zusammengeworfen, die jedoch schon in Hinsicht auf ihre Wirkung streng voneinander geschieden werden müssen. Drei Schierlingsarten sind es, die vor allem unsere Beachtung verdienen: der Wasserschierling, der gefleckte Schierling und die Hundspetersilie oder der kleine Schierling.

Parzenkraut, giftiger Wüterich, Sterbewurzel nennt der Volksmund in verschiedenen Gebieten Deutschlands den Wasserschierling (Cicuta virosa) und in diesen Namen sind seine furchtbaren Wirkungen deutlich gekennzeichnet. In Gräben, Teichen und Sümpfen, sogar auf Holzflößen ist er anzutreffen und treibt im Juli und August seine weißen Blütendolden. Alle seine Teile sind giftig, besonders aber die Knolle, die gewöhnlich, aber irrtümlich „Wurzel“ genannt wird. Unkundige haben die Blätter dieser Giftpflanze mit Petersilie verwechselt, andere sie für eine junge Selleriepflanze oder Pastinake gehalten. Wie schrecklich sich derartige Irrtümer zu rächen pflegen, zeigt der folgende Fall, den wir zur Warnung nach dem Berichte des Schweizer Arztes Dr. Wepfer aus älterer Zeit mitteilen:

„Einige Kinder hatten Wasserschierling für Pastinakwurzel gehalten und aus Mutwillen gegessen. Sie kamen lustig und

[345]

Tigerjagd in Indien.
Nach einer Originalzeichnung von Hugo Ungewitter.

[346] vergnügt nach Hause, bald aber klagten sie über Beklemmung, fielen zur Erde, verzerrten das Gesicht, bekamen Krämpfe, hatten den Mund verschlossen, knirschten mit den Zähnen, verdrehten die Augen, bluteten aus den Ohren, die Magengegend schwoll wie eine Faust auf, der Kopf wurde verdreht, der Rücken krümmte sich zu einem Bogen und der eine Knabe war auf der Stelle tot.

Die ältere Schwester erbrach eine Hand voll Wurzeln, verfiel aber sogleich darauf in Epilepsie, verlor den Gebrauch der Sinne, litt an Krämpfen, verdrehte den Kopf. Man gab ihr einen Löffel von Theriak mit Essig ein, worauf sie noch den Rest der gegessenen Wurzeln von sich gab und die schlimmen Zufälle nachließen. Sie lag aber noch 24 Stunden wie tot da und man bemerkte an ihr weder Wärme noch Atemholen. Dann fing sie an, sich zu erholen, hatte sich aber die Zunge zerbissen, konnte lange Zeit nicht recht essen und klagte noch über Beklemmung. Vier Tage lang war sie so schwach, daß sie nicht gehen konnte, allmählich aber erholte sie sich und wurde wieder ganz gesund.

Einem achtjährigen Knaben, welcher schwindlig geworden und umgefallen war, brach man den Mund auf. Der Krampf, welcher die beiden Kinnladen aneinander preßte, war so heftig, daß dieses nur mit dem Verluste einiger Zähne geschehen konnte. Auch war es zu spät, er vermochte die ihm eingegebenen Brechmittel nicht mehr zu schlucken und starb nach einer halben Stunde.“

Zufällige Vergiftungen mit Wasserschierling kommen auch in der Gegenwart häufig genug vor. Prof. Robert teilt in seinem Lehrbuch der Intoxikationen mit, daß in medizinischen Zeitungen im Jahre 1892 allein fünf derartige Vergiftungen mit tödlichem Ausgang beschrieben wurden. Man muß aber dabei in Betracht ziehen, daß die meisten dieser Unglücksfälle von Aerzten nicht beschrieben werden, der Statistik sich also völlig entziehen und die Zahl derselben in Wirklichkeit bedeutend größer ist.

Aus verschiedenen Teilen dieser Pflanze, namentlich aber aus der Wurzel wurde der Giftstoff rein dargestellt; er ist ein zähflüssiges Harz, das den Namen Cicutoxin erhalten hat und vor allem auf die Nervencentren wirkt. Darum stellen sich auch nach Genuß des Wasserschierlings beim Menschen zunächst Uebelkeit und Erbrechen, sowie kolikartige Schmerzen im Unterleibe ein, worauf nach kürzerer oder längerer Zeit Taumel und Bewußtlosigkeit eintreten. Sodann kommt es zu furchtbaren epilepsieartigen Krämpfen, Zähneknirschen und Schaumabsonderung im Munde, zuletzt wird die Atmung gelähmt und es tritt der Tod infolge der Erstickung ein.

Ein Mittel, das die Wirkung des Cicutoxins in dem Körper aufheben würde, ist nicht bekannt; da aber die Stärke derselben von der Menge des ins Blut übergegangenen Giftstoffes abhängt, so muß man, wenn eine solche Vergiftung stattgefunden hat, schleunigst für eine energische Entleerung des Magens durch Erbrechen oder vermittels der Magenpumpe sorgen. Dadurch kann der Vergiftete vor allem vor dem Schlimmsten bewahrt werden. Weitere Hilfe muß dem Arzte überlassen werden, der durch verschiedene Mittel einzelne Symptome der Erkrankung bekämpfen kann.

So furchtbar sind die Wirkungen des Wasserschierlings, mit dessen Saft nach der Meinung einzelner Forscher Sokrates hingerichtet wurde, während andere behaupten, und zwar mit großer Wahrscheinlichkeit, daß der Gifttrank aus dem Saft des Gefleckten Schierlings (conium maculatum) bestanden habe.

Auch ihm hat der Volksmund bezeichnende Namen gegeben; er heißt Bangekraut, Vogeltod, Wutschierling, Teufelspeterlein etc.

Er wächst an Wegen, an Zäunen und auf Feldern. Sein Stengel wird bis 1,5 Meter hoch, er ist aufrecht, kräftig, am Grunde über einen Finger dick. Im Inneren ist er hohl, außen zart gestreift mit einem bläulichen Hauche und in sehr wechselnder Weise mit roten bis rotbraunen Flecken bedeckt. Der Hauptunterschied zwischen ihm und anderen ihm ähnlichen Pflanzen ist der, daß der Fleckschierling in allen seinen Teilen glatt und völlig haarlos ist. Zerquetscht man dieses Kraut, so riecht es widerlich.

Auch bei dieser Pflanze fallen zumeist die Kinder ihrem Leichtsinn zum Opfer, und wir können uns nicht versagen, auch an dieser Stelle einen Vergiftungsfall zu erzählen, damit die Eltern daraus Warnung ziehen und zu der Ueberzeugung gelangen, daß die Belehrung der Kinder über giftige Pflanzen, daß die Einschärfung des Verbotes, an jedem Kraut zu kauen, an jeder beliebigen Wurzel zu nagen, nicht sorgsam genug zu befolgen ist.

Der kleine vierjährige Sohn eines Schmieds in einem Dorfe bei Selow hatte um fünf Uhr nachmittags von einem älteren Knaben geschabte Schierlingswurzeln erhalten und sie gegessen. Um sechs Uhr kam er nach Hause; sein Gesicht war rot, er sprach ohne Zusammenhang, sang und lachte, raufte sich in den Haaren, warf sich aus dem Bette und wälzte sich auf dem Boden herum. Dies dauerte bis 11 Uhr. Dann lag das Kind auf dem Rücken, schlug mit den Händen um sich und bewegte den Mund, als wenn es äße. Nach 3 Uhr nachts schien es zu schlummern, obgleich sich Krämpfe einstellten. Um 9 Uhr morgens lag es ganz still und um 10 Uhr starb es.

Aus älteren Zeiten werden noch merkwürdigere Beobachtungen gemeldet. Ein Weingärtner hatte von der Wurzel des Schierlings, die er für Pastinake hielt, mit seiner Frau zu Abend, obgleich nur wenig, gegessen. Beide gingen darauf zu Bett. Um Mitternacht erwachten sie, liefen wie Wahnsinnige umher und zerstießen sich das Gesicht. Ein Mönch hatte Schierling statt Petersilie gegessen und litt einige Monate lang an Tobsuchtsanfällen, andere wurden wahnsinnig und bildeten sich ein, Vogel oder Schlangen zu sein. Zwei Geistliche hatten Schierlingswurzeln mit Rindfleisch gegessen. Sie waren hungrig gewesen, in welchem Zustand jedes Gift am stärksten wirkt, und fühlten seine verderblichen Wirkungen auf der Stelle. Sie wurden wahnwitzig. Der eine hielt sich für eine Gans, der andere für eine Ente, beide rissen sich die Kleider vom Leibe und wollten sich ins Wasser stürzen. Man rettete sie durch Brech- und Schweißmittel, sie blieben aber gelähmt, behielten das Zittern, waren fast nie ohne Schmerzen und starben beide nach zwei Jahren.

Abgesehen von solchen vereinzelten Mitteilungen aus neuerer Zeit, besitzen wir über die Wirkungen des Schierlingsgiftes eine sehr eingehende Schilderung in dem Bericht vom Tode des Sokrates, den sein Schüler Plato uns im „Phaedon“ überliefert hat. Derselbe zeichnet sich durch eine seltene Genauigkeit der Beobachtung aus, so daß wir ihn in der Uebersetzung wiedergeben:

„Indessen äußerte Sokrates, nachdem er kurz vorher den Schierlingsbecher geleert, daß er bemerke, wie ihm die Beine schwer würden, und legte sich nieder in der Rückenlage, wie es ihm geraten worden war. Zu gleicher Zeit näherte sich ihm der Mann, der ihm das Gift gereicht hatte, und nachdem er einige Zeit seine Füße und Beine befühlt hatte, drückte er ihn kräftig am Fuße, zugleich ihn fragend, ob er es fühle.

Er antwortete: ‚Nein.‘

Er drückte ihn darauf an den Schenkeln und zeigte uns, mit den Händen höher hinaufgehend, wie der Körper kalt und steif wurde. Den Rumpf selbst berührend, sagte er uns, daß, wenn die Kälte bis an die Herzgegend reichen werde, Sokrates uns verlassen werde.

Schon war der ganze Unterleib kalt, da sagte Sokrates, die Decke zurückschlagend, denn er war zugedeckt: ‚Kriton‘ – und das waren seine letzten Worte – ‚wir schulden dem Aesculap einen Hahn. Vergiß nicht, die Schuld abzutragen!‘

‚Es soll geschehen,‘ antwortete Kriton, ‚aber siehe zu, ob Du uns noch etwas zu sagen hast.‘

Er antwortete nicht, und bald darauf hatte er einen Krampfanfall. Da deckte ihn der Mann ganz auf; seine Augen blickten starr. Kriton, dieses bemerkend, drückte ihm die Augen zu und entfernte sich.“

Es ist schon vor längerer Zeit gelungen, den eigentlichen Giftstoff des Gefleckten Schierlings rein darzustellen. Er ist wie Morphium, Nikotin etc. ein Alkaloid und bildet eine ölige, scharf riechende, in der Luft sich verflüchtigende Substanz. Nach den Gattungsnamen der Pflanze Conium wurde ihm der Name Coniin gegeben und man hat mit ihm vielfache Versuche an Menschen und Tieren angestellt. Die ersteren haben die Mediziner an sich selbst vorgenommen, indem sie kleine Mengen Coniins, 3 bis 85 Milligramm, einnahmen. Aus denselben geht hervor, daß das Gift in größeren Mengen die Bewegungsnerven lähmt und nach kurzer Erregung des Gehirns durch Lähmung der Atmung tötet.

Man hat zeitweilig versucht, das Coniin als Heilmittel anzuwenden, ist aber wegen der unsicheren und gefährlichen Wirkung davon abgekommen. Noch heute wird aber der Schierling namentlich auf dem Lande, wo das Selbstkurieren nach Regeln der dunklen Volksmedizin in Blüte steht, als Heilmittel gegen allerlei Gebrechen empfohlen. Vor diesem Unfug muß aufs dringendste gewarnt werden, denn es sind Fälle vorgekommen, wo schon durch äußeres [347] Auflegen von Schierlingsblättern auf erkrankte Stellen des Körpers tödliche Vergiftungen erfolgten.

Das reine Coniin wurde einmal auch zu Mordzwecken benutzt, und zwar war es ein Arzt, der im Jahre 1860 seine Geliebte damit vergiftete. Der Fall ereignete sich in einem ansehnlichen Dorfe in der Nähe von Dessau und ist dadurch bemerkenswert, daß es den Sachverständigen gelang, in der Leiche Coniin nachzuweisen. Der Arzt hatte sich das Gift verstohlenerweise in der Apotheke des Dorfes verschafft, in welcher er manchmal den Besitzer vertrat.

Aus dem Magen der verstorbenen Luise Berger gewannen die Sachverständigen ein winziges Tröpfchen, kaum ein Centigramm einer farblosen öligen Flüssigkeit, welche sich bei Zusatz von Alkali durch den bekannten widerlichen Schierlingsgeruch kennzeichnete. Eine chemische Analyse des Stoffes auf seine Zusammensetzung war unmöglich; denn hierzu wären mindestens zwei Decigramm, also das Zwanzigfache der vorhandenen Substanz, erforderlich gewesen. Aber mit allerlei Hilfsmethoden gewannen die Sachverständigen doch die Ueberzeugung, daß es sich hierbei um Coniin gehandelt habe.

Diese Annahme wurde noch durch den Sektionsbefund unterstützt, der unverkennbar auf eine bestimmte Todesart, die Erstickung, hindeutete. „Erstickung,“ heißt es in dem betreffenden Physikatsgutachten, „besteht in der Aufhebung des Atmungsprozesses, welcher das Blut von schädlichen Substanzen reinigt und bei dessen Aufhören diese Substanzen, insbesondere die Kohlensäure, im Blute zurückbleibt und vergiftend auf dasselbe wirkt. Das Blut verliert seine Gerinnbarkeit, wird flüssig und nimmt eine dunkle Farbe an. Von dieser Beschaffenheit fand sich das Blut in der Leiche der Luise Berger. Eine äußere Ursache der Erstickung war unerfindlich. Eine dem Erstickungstode ganz ähnliche Wirkung auf das Blut äußern viele Gifte, namentlich die narkotischen, und unter diesen keins in dem Grade wie das Coniin.“

Für eine Vergiftung mit Coniin sprachen auch die Krankheitssymptome, unter denen der Tod der Luise Berger erfolgt war, soweit es sich aus der Darstellung der die Kranke umgebenden Laien – der beschuldigte Arzt war an das Sterbebett seines Opfers gerufen worden – erkennen ließ.

Die Unfähigkeit, die Lampe sofort auszublasen, die Mattigkeit der Stimme deuteten auf eine Schwäche der Atmungswerkzeuge, die Schwerfälligkeit der Bewegungen der Kranken beim Niederlegen auf eine allgemeine Schwäche hin, wie sie durch die narkotischen Gifte, namentlich durch Coniin, hervorgebracht wird.

Ein Beweis großer allgemeiner Schwäche war es, daß die leichte Bewegung, um die Lage im Bett zu wechseln, den Atem aufs höchste beschleunigte. Uebelkeit und Neigung zum Erbrechen die bei der Sterbenden beobachtet wurden, sind ein ziemlich konstantes Symptom von Vergiftung, vor allem aber deutete der plötzliche, unter lautem und schmerzlichem Stöhnen erfolgte Tod beim Mangel aller anderen Ursachen auf Vergiftung hin.

Als Summe aller jener Thatsachen erklärte das Physikat für erwiesen, daß Luise Berger Coniin genommen hatte und an der Vergiftung durch Coniin gestorben war.

Der Giftmischer und Dorfarzt war, wie erwähnt, an das Sterbelager der Kranken gerufen worden. Er kam, als sein Opfer schon tot war. Er hielt sein Hörrohr auf die Brust der Leiche und horchte, dann nahm er eine Feder und hielt sie vor die Nase der Leiche. Nach einem Weilchen erklärte er, Luife Berger sei wirklich tot. Der Angeklagte leugnete jede Schuld. Aber in der betreffenden Apotheke forschte man nach dem Coniin. Durch sorgfältige Untersuchung wurde festgestellt, daß niemals in der Apotheke Coniin gebraucht wurde und daß mindestens zwanzig Tropfen desselben aus dem Fläschchen abhanden gekommen waren.

Der Arzt wurde verurteilt, er gestand die Schuld nicht, aber am folgenden Morgen fand man ihn tot, an dem Fenster seiner Zelle erhängt.

Jener Prozeß galt seiner Zeit mit Recht als ein Triumph der Wissenschaft, die durch chemischen Nachweis des Giftes in der Leiche des Opfers zur Entlarvung des Verbrechers beigetragen. In neuerer Zeit wollte man die Bedeutung dieses Teils der gerichtlichen Chemie in Zweifel ziehen, da während der Fäulnis der Leichen Alkaloide, sog. Ptomaïne, entstehen, die den Pflanzenalkaloiden wie Morphium, Atropin etc. äußerst ähnlich sind, so daß ein Irrtum möglich erschien. Es ist aber der Wissenschaft wohl gelungen, diese Zweifel zu zerstreuen. Wohl bildet sich in den Leichen auch ein Leichenconiin, ein Alkaloid, das sonst mit dem Namen Cadaverin bezeichnet wird; trotz aller Ähnlichkeit mit dem Giftstoffe des Schierlings läßt es sich aber doch von demselben gut unterscheiden.

Die dritte der berüchtigten Schierlingspflanzen ist die Gartengleiße (Aethusa Cynapium), auch Kleiner Schierling oder Hundspetersilie genannt. Man findet sie in Deutschland auf unbebauten Plätzen, unter dem Unkraut auf Schutt, an Mauern, Zäunen und Hecken, ja sie dringt selbst in die Gärten ein und mischt sich hier zuweilen unter die Petersilie. Mit dieser wird sie häufig namentlich in jungem Zustande verwechselt. Beide erst aufsprießende Pflänzchen sind sich sehr ähnlich. Die Petersilie ist indessen eine zwei- bis mehrjährig ausdauernde Pflanze und von langsamerem Wachstum, die Gartengleiße ist nur einjährig und sprießt rasch empor; bald überwächst sie das nützliche Gewächs, verrät sich also dem aufmerksamen Auge und kann leicht ausgerottet werden. Aber selbst, wo beide im Wuchs sich noch gleich bleiben, läßt sich die Gartengleiße von der Petersilie unterscheiden: ihr Grün ist dunkler, ihre Blätter sind glänzender, namentlich an der Unterseite, und während die Petersilie ihren angesprochenen gewürzhaften Geruch hat, riecht die Giftpflanze nur schwach, und zwar etwas knoblauchartig. Später, wenn sich der Stengel ausgebildet hat, mehren sich noch die Unterscheidungsmerkmale: auch die Blüten der Gartengleiße fallen durch ihre weiße Farbe auf, während die der Petersilie eine blaßgelbe Farbe haben.

Früher zweifelten die Aerzte durchaus nicht an der großen Gefährlichkeit der Pflanze und behaupteten, daß die größte Zahl der sogenannten Schierlingsvergiftungen gerade auf ihren Genuß zurückzuführen wäre. Je nach der Menge des verzehrten Krautes sollten bei den Vergifteten Herzensangst, Erbrechen, Durchfall, Magenkrampf, Entzündung und Brand der Därme, Betäubung, Schlafsucht oder Raserei und endlich der Tod eintreten. Aus diesem Grunde hat man auch vielfach in Gemüsegärten die einfache Petersilie durch gefüllte ersetzt, die leichter von der Gartengleiße zu unterscheiden ist. In neuerer Zeit wurde die Giftigkeit der Gartengleiße in Zweifel gezogen, weil Versuche an Tieren gegen dieselbe zu sprechen schienen. Neue Unglücksfälle gaben jedoch den älteren Autoren recht. So erkrankten z. B. im Jahre 1892 in Zeitz sechs Personeu, die Klöße mit Petersilienbrühe, in der sich Hundspetersilie befand, genossen hatten, an Brechdurchfall und zwei von ihnen starben. Neu anfgenommene Versuche an Tieren zeigten gleichfalls, daß die Pßanze selbst für Pflanzenfresser ein Gift ist. Leider hat man bis jetzt versäumt, genauere chemische Untersuchungen über die Beschaffenheit des in der Gartengleiße enthaltenen Giftstoffes anzustellen.

Es kann uns nicht verwundern, daß dieser oder jener Forscher zu gewissen Zeiten solche gefährliche Pflanzen unschädlich findet. Die Pflanzen erzeugen ihr Gift in verschiedener Zeit. So enthält z. B. die Wurzel des gefleckten Schierlings in den Monaten März, April und Mai fast keine Spur des Giftstoffes, wird dann sehr reich an Coniin, verliert aber ihre Giftigkeit im zweiten Jahre wieder. Ferner ist es erwiesen, daß namentlich bei Schierlingsarten die Bildung des Giftstoffes auch vom Boden, auf dem die Pflanze wächst, abhängt. Aber diese Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Wir müssen dafür sorgen, daß namentlich die Kinder die gefährlichen Kräuter kennen, daß sie überhaupt sich die Unsitte abgewöhnen, von allerlei in Feld und Wald gefundenen Früchten und Wurzeln zu naschen. Auch Aelteren ist das Studium der Giftpflanzen dringend zu empfehlen. Anleitungen hierzu hat schon der unvergeßliche Roßmäßler in seinen „Büchern der Natur“ (Leipzig, Ernst Keil’s Verlag) gegeben, in denen der 5. Band „die deutschen Giftpflanzen“ behandelt. Aus ihnen kann man noch heute, nach dreißig Jahren, lernen; es verdient in manchen Fällen gegenüber dem vielen Neuen auch das gute Alte empfehlend in Erinnerung gebracht zu werden.

Und noch ein praktischer Wink! Was soll man thun, wenn irgend jemand sich durch Genuß des Schierlingskrautes vergiftet hat?

Zunächst nach dem Arzt senden, dann aber sofort dafür sorgen, daß das Kraut durch Erbrechen aus dem Körper entfernt werde. Der Kranke muß warm zugedeckt werden, damit ein Wärmeverlust nicht eintrete. Droht die Atmung stillzustehen, so muß man künstliche Atmung einleiten und so lange fortsetzen, bis der Arzt kommt.


[348] Nachdruck verboten
Alle Rechte vorbehalten.

Wiener Marktleben.

Von V. Chiavacci. Mit Abbildungen von W. Gause.

Das leibliche und geistige Wohlbefinden eines Menschen hängt – so prosaisch es klingt – von den Eigenschaften und Fähigkeiten seines Magens ab. Daß dieser Erfahrungssatz auch auf das tausendköpfige Gemeinwesen einer Großstadt Anwendung findet, ist nicht nur sinnbildlich zu verstehen, wie die bekannte Fabel des Menenius Agrippa, der einst den Plebejern im alten Rom die Notwendigkeit des Zusammenwirkens aller Stände durch das Gleichnis vom Magen und von den Gliedern des Körpers darlegte, sondern er gilt auch im wörtlichen Sinne. Die Antwort auf die Frage, wie sich die Bevölkerung einer Stadt ernährt, giebt uns manchen wichtigen Aufschluß über die natürliche Entwicklung und die Charaktereigenschaften ihrer Bewohner. Das lebensfrohe Wien, mit seiner naiven Freude an materiellen Genüssen und seiner heiteren und geselligen Sinnesart, die ihm den Namen der „Stadt der Phäaken“ eingetragen hat, verdankt sein eigentümliches Gepräge nicht zuletzt der Vortrefflichkeit und glänzenden Fülle der auf seinen Märkten aufgestapelten, Herz und Gaumen erfreuenden Dinge. Versichert doch schon im 16. Jahrhundert der biedere Schullehrer und Poet Wolfgang Schmeltzl in seinem „Lobspruch der Stadt Wienn“ am Schlusse seiner begeisterten Schilderung:

„Der Schmeltzl kein pesser Schmalzgruob fand,
Ich lob diz Ort für alle Land’.“

Der Wildbret- und Geflügelmarkt.

Inmitten des Ueberflusses einer reichgesegneten Landschaft gelegen, vereinigt Wien alle Bedingungen in sich, um den uralten Hang des Wieners für Tafelfreuden als ein natürliches Erzeugnis des Bodens erscheinen zu lassen. An den Hügelgeländen des Kahlengebirges wuchs und wächst heute noch manch prächtiger Tropfen feurigen Weines, der es mit vielen seiner gepriesenen Vettern aus anderen Gauen aufnehmen kann und der in alten Zeiten noch an den Stellen gedieh, wo sich gegenwärtig das Häusermeer der Vorstädte und Vororte ausdehnt. Jenseit des mächtigen Donaustromes bildet die unübersehbare Ebene des Marchfeldes eine wogende Flut von goldenen Aehren. Das obstgesegnete Land ob der Enns sendet schwere Frachtschiffe stromabwärts, die ihren Reichtum an Früchten aller Art an der von altersher bekannten Uferstelle, dem „Schanzl“, aufspeichern. Von Osten her, aus dem Ungarlande, kommen Mastvieh und Geflügel, Melonen und Kürbisse herauf. Die Donau selbst spendet ungezählte Arten von Fischen und Krebsen. Die alten Marktplätze, welche im 16. Jahrhundert der alte Schmeltzl staunenden Auges besah, dienen heute noch zum größten Teil demselben Zwecke. „Am Hof“ und „auf der Freiung“ sowie am „Hohen Markt“ ist noch dasselbe Marktgewühl zu sehen; andere Plätze freilich, wie die Seilerstätte, der Mehlmarkt, Judenplatz, Salzgries, haben ihre ehemalige Bedeutung ganz oder zum Teile eingebüßt. Und auch sonst hat das Marktleben Wiens im Laufe der Zeiten tief einschneidende Veränderungen erfahren. Die Großmarkthalle auf der „Landstraße“, die Markthallen in den einzelnen Bezirken sind, den Bedürfnissen der Neuzeit entsprechend, mächtige, gedeckte Gebäude. Neben ihnen besteht aber, je nach Bedürfnis und Gewohnheitsrecht, in der inneren Stadt und in den Vorstädten noch eine ziemliche Anzahl von offenen Märkten mit ihren „Standeln“ und Bretterbuden fort, die besonders in den Morgenstunden ein lebhaft bewegtes Volkstreiben zeigen und in ihrer Eigenart ein Bild darstellen, das sich wohl wenig von dem vergangener Jahrhunderte unterscheidet.

Das Leben eines solchen vielgestaltigen Organismus beginnt schon in den frühesten Morgenstunden. Der Fremde, den in den ersten Stunden nach Mitternacht sein Weg durch die Schotten- und Herrengasse führt, wird mit Verwunderung die vermummten Gestalten betrachten die, mit mächtigen „Butten“ und Körben beladen schlaftrunken an ihm vorüberhuschen. Desgleichen sieht er Fuhrwerke aller Art, deren Gespann träge dahinschleicht, während der Kutscher, in tiefen Schlaf versunken, im Wagen liegt. In der Herrengasse und auf der Freiung stehen ganze Wagenburgen, mit Butten und „Schwingen“ und sonstigen Gefäßen beladen. Die Besitzer dieser Gefährte sind Landleute, die aus den umliegenden Ortschaften oft schon am frühen Nachmittag des vorhergehenden Tages aufgebrochen sind, um ihre Waren rechtzeitig auf den Markt zu bringen. Um diese Morgenstunde bieten auch manche Kaffeehäuser in der Nähe der Freiung oder am Hof einen eigenartigen Anblick. Sie sind vollgepfropft mit zumeist weiblichen Kunden, die sich durch ihre „Gugel“, das um Kopf und Hals gewundene Wolltuch, durch ihr massives Schuh- und noch massiveres Mundwerk als Marktweiber zu erkennen geben. Sie sitzen vor ganz ungewöhnlich großen Schalen voll dampfenden Kaffees und führen eine sehr lebhafte Unterhaltung, die an Urwüchsgkeit des Ausdrucks und Anschaulichkeit der Bildersprache nichts zu wünschen übrig läßt. Bald darauf wird es auf dem Markte lebendig. Die Zwischenhändler nehmen die Waren in größeren und kleineren Posten den Landleuten ab, und während diese sich mit ihren Fuhrwerken zur Heimfahrt rüsten, richten die Zwischenhändler ihre Marktstände ein.

Das lebendigste und eigenartigste Marktbild zeigt der Naschmarkt am rechten Wienufer, zwischen dem Freihause und der

[349]

Der Fischmarkt.

Elisabethbrücke. In aller Morgenfrühe, wenn die eben geschilderte Toilette des Marktes beendet ist, regt sich ein seltsames Leben. Man hört Geschrei und Hundegebell, als ob der Wilde Jäger im Anzuge wäre. Der Lärm rührt von einer mächtigen Kolonne von Miniaturwagen her, die von Hunden gezogen werden und längs des Wien-Ufers Aufstellung nehmen. Die Besitzer dieser Gefährte, die Greißler (Fragner) gehen in das Marktgewühl, während ihre jeweiligen Karo, Bello, Tiger, Scheckl einen hundertstimmigen Vokalgesang anheben, der Steine erweichen könnte. Gegenüber der einen Front des Freihauses stehen die „Krawaten“, die Marktleute slavischer Abkunft, welche freilich nicht lauter Kroaten sind, mit ihren Bauernwagen, die hochauf mit den Gaben Floras und Pomonas beladen sind: mit Meerrettich und Zwiebelbergen von solcher Mächtigkeit, daß sie dem härtesten Landgrafen Thränen entlocken könnten, mit Kartoffeln, Kraut, Rüben und anderen Gemüsen; und zwischen diesen Wagen schiebt sich ein Gedränge von feilschenden Käufern mit Körben und Butten durch. Auf der andern Seite der Zufahrtstraße befindet sich der Großverkauf von Obst, Nüssen und Südfrüchten. Der Greißler, das Standlweib, das unter einem Hausthor oder in einer Straßenecke seine Verkaufsbude aufgeschlagen hat, suchen hier ihren Vorrat auf die billigste Weise zu erwerben. Aber auch die Besitzer von Luxusgeschäften und Delikatessenhandlungen kaufen ihren Bedarf an Obst und feinen Gemüsen häufig auf dem Naschmarkt ein und geben ihm dann in den raffiniert hergerichteten Auslagen alle erdenklichen exotischen Namen, um ihn zu „exotischen Preisen“ wieder zu verkaufen. Der anspruchsvolle Feinschmecker geht nur zu diesen altberühmten Obstverkäufern der innern Stadt und ist der festen Ueberzeugung, daß man eine solche Ware nirgend sonst in Wien bekommt. Der Händler läßt die vornehmen Kunden bei ihrem Glauben, daß all die teuren Sachen aus Algier, Sizilien und Südfrankreich bezogen sind, und die Morgenpromenade auf den Naschmarkt trägt ihm hundertfachen Nutzen. Ganz anders sieht es auf dem Kleinmarkte ans, der die andere, gegen die Wiedner Hauptstraße gelegene Seite des Naschmarktes einnimmt. Wenn man sich von der Ferne nähert, so glaubt man das Zeltlager eines Nomadenstammes vor sich zu sehen. Die einzelnen „Standln“ der Verkäuferinnen sind nämlich durch riesige Schirme gegen Sonne und Regen geschützt, und diese Hunderte von Leinwanddächern geben dem Marktbilde einen eigentümlich malerischen Anstrich. Den äußersten Flügel dieses Lagers nehmen die Obstverkäuferinnen mit ihren reichbesetzten, künstlerisch aufgebauten Standln ein. Diese sind die eigentlichen „Fratschlerinnen“, welche den Ruf ihrer Gilde als ungemein zungenfertige, mit urwüchsigem Sprachtalente und streitbarem Gemüte ausgestattete Spielart des „schwachen“ Geschlechts durch Jahrhunderte in seltener Reinheit bewahrt haben. Im allgemeinen sind sie jetzt zwar besser als ihr Ruf, und höflich und zuvorkommend, wenn man mit ihnen umzugehen weiß. Wenn sie aber gereizt werden, so kommt auch heute noch die ganze Wildheit ihrer Rasse zum Vorschein. „Frozzeln“ lassen sie sich nicht. Wehe dem Gigerl, der es wagt, mit der Frau Sopherl oder der Frau Xandl anzubinden. Ein ganzes Kehrichtfaß von Schimpfnamen würde sich sofort über sein Haupt ergießen.

Obstverkauf „auf der Freiung“.

„Herda nur da!“ lautet ihr Ruf, „schöne Bergamott-Aepfeln hätt’ i da. Plutzerbirn’, drei um a Sechserl. Kummen S’ her, schöner junger Herr, kaufen S’ mir was a’. Kriag’ i nix z’lösen, Euer Gnaden?“ Wenn sich nun der „schöne junge Herr“, wie auf unserm Bilde S. 353, den Spaß macht, die Dame zu fragen, ob sie keine Wasserstiefeln zum Verkaufen habe, so bekommt er sofort seine Belehrung: „Wasserstiefeln, na, Sö quadralierter Spitaljanker; aber g’fleckelt und doppelt können [350] S’ werd’n, daß Ihner Wasserköpfl net z’lex’nt[1], Sö wacklerter Gaskandelaber. Zupfen S’ an’ Esel die grau’n Haar’ aus, was anders hab’n S’ eh net g’lernt. So a windverdrahts Parapluig’stell will Unseran’ frozzeln? Stecken S’ Ihna Nasen ein, sonst mach’ i mir an’ Fliagnpracker draus. Verschwinden S’ g’schwind, sonst flieg’n S’ so hoch in d’ Luft, daß S’ beim Aberfall’n derhungern!“

Die Klassikerin unter den Wiener Fratschlerinnen war jene Frau Kathie, welche zur Kongreßzeit lebte und ob ihres bösen Mundwerks einen großen Ruf genoß. Ein auswärtiger Fürst, der zu Besuch anwesend war, hatte davon vernommen und begab sich inkognito auf den Naschmarkt, um bei der Frau Kathl ein Privatissimum zu hören. Nach den ersten spöttischen Bemerkungen über ihre schlechte Ware hatte er das Vergnügen, eine ganze Flut von Schimpfnamen anhören zu können. Dem Begleiter des Fürsten wurde es dabei unheimlich zu Mute. Er flüsterte der Frau Kathl zu, wen sie vor sich habe. Diese wurde aber durch den vermeintlichen Aufsitzer noch gereizter und rief zu ihrer Nachbarin hinüber: „Hast g’hört, Sali, der notige G’schwuf will an Fürst sein! Geh’, setz’ ihm Dein Zuspeishäfen auf, daß er si einbild’t, er hat a Kron’ am Kopf.“

Die „Kräutlerinnen“ bei den Gemüseständen sind, vielleicht infolge ihres Umgangs mit den zarten Kindern Floras, schon sanfter geartet. Die mit großer Kunstfertigkeit aufgebauten Gemüsestände bieten durch ihr erfrischendes Grün und die eingestreuten Farbenspiele einen prächtigen Anblick. Zwischen den „Schwingen“ und Körben mit Kohl, Kraut, Salat, Spinat blinken rötliche Karotten und weiße und rote Radieschen hervor, Häupter von Blumenkohl, Spargelbunde und Artischoken, Paradiesäpfel und Rotkraut, Bohnen, grüne Erbsen, Schwämme, Zwiebelkränze, schwarzer Holler, Preiselbeeren, je nach der Jahreszeit. Wie ein niederländisches Stillleben wirkt dieses farbige Bild auf den Beschauer. Weiterhin sind die Wildbretstände, die Fischstände, und querdurch zwischen dem Groß- und dem Kleinmarkt erstreckt sich eine lange Gasse von Verkaufsbuden, in denen die „Kapäunler“ (Geflügelhändler), die Rahm-, Butter- und Eierhändler, die Honigverkäufer und Wursthändler ihre Waren ausbieten. Den äußersten Flügel dieses großen Marktes bilden die Blumenverkäufer. Wie in einem blühenden Garten voll Duft und Farbenpracht sieht man hier die mannigfachsten Topfgewächse, von Veilchen, Nelken, Monatsrosen angefangen bis zu den Fächerpalmen, Rhododendren und Chrysanthemum. Zwischen all diesen Schätzen wogt vom frühen Morgen ab ein buntes Leben von Käufern und Käuferinnen, tönt ein wunderliches Stimmengewirr, bilden sich Gruppen, spielen sich lebhafte Scenen ab. Die „Gnädige“, welche mit Kennerblick die aufgestapelten Waren mustert, hier und da verweilt, um den Preis fragt und feilscht und die erstandene Ware von dem sie begleitenden Dienstboten nach Hause tragen läßt, die Köchin, die so billig als möglich einzukaufen sucht, um das Abgehandelte als „Körbelgeld“ zu behalten, der Lehrjunge, der mit schmaler Börse große Aufträge ausführen soll und sein verantwortungsvolles Amt sich nur dadurch erträglich macht, daß er sich vor allem eine große Salzgurke als Mäkleranteil zuweist, die Arbeitersfrau, die mit sehnsüchtigen Blicken den lockenden Ueberfluß mustert und dabei ihre wenigen Kreuzer bedächtig herumdreht, sind die häufigsten Typen dieses Marktgewühles. Hier geht eine Handwerkersfrau mit ihrem Jüngsten, der, mit begehrlichen Blicken die Fruchtstände verschlingend, seine Mutter unzähligemal an der Rockfalte zupft und ihr Herz mit den in flehendem Tone hervorgebrachten Wünschen zu erweichen sucht: „Muatter, da schaun S’ dö schön’ Aepfel an! – Muatter, an’ Kreuzer auf Boxhörndln[2]! – Muatter, i möcht’ an’ Pamarantschen.“[3] Gefühllos gegen den gehäuften Jammer ihres Sprößlings, schreitet die Mutter vorüber und hält vor einer Bude, wo sie „Bastwaschln“[4] und Reibsand kauft; dann nimmt sie für den Hansi, den Kanarienvogel, Hanf und Wicken und andere Leckerbissen mit; endlich kauft sie bei „ihrer Kräutlerin“ um zwei Kreuzer Suppengrünzeug und um zehn Kreuzer „Kohlrabi“, was alles nicht geeignet ist, die Tantalusqualen ihres Sohnes zu mildern. Auf dem Heimweg begriffen, trifft sie eine Nachbarin und vertieft sich mit ihr in ein sinnreiches Gespräch über einen sonderbaren Traum, der sie in der vergangenen Nacht beschäftigt hat. Es handelt sich da um eine höchst verwickelte Gedankenarbeit und um eine gediegene Kenntnis des ägyptischen Traumbüchels, um aus all den verworrenen Traumgebilden die richtigen spielreifen Nummern herauszudestillieren. Noch sind sie nicht einig, ob sie „tot und lebendig“ mit der Nummer 47 oder den Namenstag der Hingeschiedenen mit der Nummer 15 setzen sollen; da kommt noch eine dritte Nachbarin und zuletzt die alte Köchin von der Hausfrau hinzu, durch deren anerkannt sachkundigen Einfluß die bisherige Traumdeutung wieder vollständig umgestoßen wird. Diesen bedenklichen Augenblick benutzt der kleine Pepi zu einem letzten Ansturm: „Muatter, zwa Kreuzer auf Kerschen!“ – Jetzt greift die Mutter in den Sack und giebt ihm das Verlangte: „Da hast, aber jetzt gieb a Ruh’!“ Sie vergißt dabei ganz ihre Grundsätze, das Kind vor Naschhaftigkeit zu bewahren; denn es handelt sich jetzt um weit Wichtigeres: um einen Terno! Die Lottokollektur im Freihause, hart am Naschmarkt gelegen, macht glänzende Geschäfte. Greißler, Hökerweiber, Dienstboten, Handwerksleute tragen die paar Kreuzer, die sie abgefeilscht oder gewonnen zu haben glauben, in die kleine Lotterie und erkaufen sich damit für ein paar Tage ein rosiges Zukunftsbild – bis zur nächsten Ziehung.

Am äußersten Rande des Marktes haben sich allerlei Kleinhändler und Hausierer angesiedelt, die auch ihr Profitchen von dem lebhaften Markttreiben haben wollen. Da sieht man den Tausendkünstler, der mit seiner Fleckseife selbst den ältesten Kellnerfrack wieder ballfähig macht und mit seinem Porzellankitt die heimlichen Sünden des Küchenpersonals flickt und eine Menge anderer Kunststücke zuwege bringt. Daneben der Mann mit den gelehrten Vögeln, die gewaltige Astrologen sind; denn sie können die „Planeten“ weissagen. Die Marianka oder die Resi erzählt den gefiederten Propheten ihren Traum, und nach kurzem Nachdenken holt ein Fink oder eine Blaumeise ein Papierröllchen mit dem Schnabel hervor, auf dem drei Nummern stehen, die unfehlbar in der nächsten Ziehung „herauskommen“. Man sieht daraus, daß auf dem Naschmarkt auch für die „geistigen Bedürfnisse“ der Kunden gesorgt ist. Mandolettiverkäufer, die bekannten „Krawaten“ mit „Kochlöffel, Spielelei“[5], dann die „Krawatinen“ mit Geldbörsen, Hosenträgern, Zahnbürsten oder auch mit Gollatschen[6], Mohnkipfeln und anderen Eßwaren bilden die sonstige bewegliche Staffage des Marktbildes. Ein großer Troß von Trägern und Trägerinnen und kleinen Jungen, die sich zum Heimtragen der Körbe anbieten, sucht hier seinen täglichen Verdienst. Bettler und Bettlerinnen, zerlumpte Kinder, die kein Heim besitzen, durchstreifen als Marodeure die Stätten des Ueberflusses und suchen angefaultes Obst und Gemüseabfälle, um damit ihren Hunger zu stillen. Wenn der Markt aus ist, sieht man manche dieser Marodeure in den zu Haufen zusammengekehrten Abfällen wühlen. Sie finden darin immer noch Brauchbares für ihren Hunger. Die Marktleute aber ruhen in dem Gasthause an der Ecke des Freihauses bei Leberknödeln und Beinfleisch und einem guten Glase Wein von ihren Strapazen aus. Ehemals saß unter dem offenen Vorbau dieses Gasthauses ein Sextett, das ihnen die Tafelmusik besorgte. Es war ein gemütliches, anheimelndes Bild. Die Musikanten sind aber seit einigen Jahren verschwunden. Der Strom des großstädtischen Lebens hat auch dieses altväterische Bild aus der guten „Backhähndlzeit“ hinweggespült.

Das oben geschilderte Marktbild wiedercholt sich bei den ähnlich eingerichteten Märkten der innern Stadt und der Vorstädte mit geringen Abweichungen. Die Großmarkthalle und die einzelnen in geräumigen Gebäuden untergebrachten Bezirksmarkthallen unterscheiden sich in ihrem äußeren Bilde nur wenig von dem der anderen Großstädte. In der Großmarkthalle fehlt das bunte Treiben des Kleinverkaufes. Das geschlachtete Rindvieh, die Kälber, Schafe, Schweine werden nur in größeren Gewichtsmengen verkauft. Der Wunsch eines großen Teiles der Bevölkerung, auch hier den Verkauf von Fleisch in Posten unter fünf Kilo einzuführen, findet in der Gemeindevertretung nur geringe Unterstützung.

Ein eigenartiges Bild bietet der Obstmarkt am „Schanzl“, wie das Ufergelände in der Nähe der Augartenbrücke genannt wird. In den Morgenstunden landen hier die mit Obst beladenen „Zillen“ (Kähne) aus Oberösterreich in großer Zahl und laden ihre schwere Fracht längs der Böschung des Donaukanales ab. Die Großkäufer kommen mit ihren Butten und Körben auf die Schiffe und die [351] Kleinhändler stellen ihre Waren auf den Ständen aus. Alte Lindenbäume aus der Zeit vor der Stadterweiterung spenden ihren Schatten. Nicht weit davon befindet sich der Fischmarkt, ehemals ein unsauberer mit Standln und Buden besetzter Platz hart an der Stadtmauer, gegenwärtig jedoch näher an den Donaukanal gerückt. Die neuen reinlichen Holzbauten, in denen jetzt die Verkaufsstände untergebracht sind, haben dem Bilde allerdings viel von seiner einstigen Urwüchsigkeit genommen, und die Fischweiber, obgleich noch lange nicht so stumm wie ihre Karpfen, befleißigen sich eines anständigeren Tones im Verkehr mit ihren Kunden. Nur am Karfreitag, wo ganz Wien als katholische Stadt seine Fastenspeise auf dem Fischmarkt holt, lassen sie ihrer Zunge freien Lauf und sind mit ihren Kundeu so „hoppatatschig“ und grob wie der Hausmeister, nachdem er sein Neujahrsgeld bekommen hat. Am Karfreitag und am ersten Weihnachtstage werden in Wien mehr Fische verkauft als in irgend einem Monat des Jahres. Die Donau und die Schwarzenbergschen Teiche in Böhmen liefern den Hauptbedarf hierzu. Merkwürdig ist der verschwindend geringe Verbrauch von Seefischen, der nicht so sehr in der Schwierigkeit der Beschaffung wie in dem konservativen Sinn der Bevölkerung seine Erklärung findet. Außer dem Stockfisch, der übrigens auch mehr Verächter als Bewunderer hat, kommen Seefische fast ausschließlich nur auf den Tafeln der Reichen vor. Der billige Schellfisch, der in anderen Städten ein so wichtiges Nahrungsmittel der Bevölkerung bildet, findet in Wien nur geringen Absatz.

Der Wildbretmarkt, die Fortsetzung des Bauernmarktes in der innern Stadt, zeigt wieder ein anderes Gesicht. Obwohl auch die andern Lebensmittelmärkte eine Abteilung für Wildbret enthalten, ist doch hier der Großhandel zu Hause und in seinen Verkaufsgewölben findet man die stattlichsten Exemplare von Hirschen, Rehen Gemsen, Wildschweinen, ja selbst Bärenschinken und -tatzen gehören nicht zu den Seltenheiten.

Der Blumen- und Kränzeverkauf „am Hof“.

Das buntbefiederte Geflügel, Goldfasan, Wildente, Schneehühner, der prächtige Auerhahn, der Birkhahn, die Wildtaube, das Rebhuhn und die Schnepfe, bildet, zu einzelnen Gruppen gebunden, malerische Stillleben. Die zahlreichen Wildgehege aus den großen Herrschaften in Ungarn, Steiermark, Böhmen und Niederösterreich liefern zu jeder Jahreszeit einen großen Reichtum an Wild. Meister Lampe wird zur Schießzeit in ungeheuren Mengen auf den Markt gebracht und liefert in den Wintermonaten einen verhältnismäßig billigen Braten. Die Singvögel, welche auf den italienischen Märkten in großer Zahl als „uccellini“ verkauft und von den grausamen Italienern zur Polenta verspeist werden, sind in Wien glücklicherweise durch ein Gesetz vor der Mordlust der Bewohner gesichert. Der Wildbretmarkt ist auch das verschämte Rendezvous aller Sonntagsjäger, die hier ihre Beute „erlegen“ – aber bar.

Bevor wir unsern Rundgang durch die Wiener Märkte schließen, sei noch ein specielles Wort über die Blumenmärkte „am Hof“, „auf der Freiung“ und am Hohen Markt gesagt. Der Wiener, obwohl ihm der fabelhafte Blumenluxus, wie er beispielsweise in Paris getrieben wird, bis vor wenigen Jahren fremd geblieben war, hat doch stets gerne seine Sinne an den duftenden Kindern Floras erlabt, und die Tausende, welche an Sonntagen in die blühenden Auen und Wiesengelände des Wiener Waldes hinausziehen, kehren abends mit einem mehr oder minder umfangreichen Strauß von bescheidenen Feldblumen heim, den sie zu Hause mit Wasser und Sonnenschein versorgen, damit er ihnen die lange Woche hidurch von seiner Heimat, von Freiheit und Waldesluft erzähle. Und wenn die kleine Bürgersfrau ihre Einkäufe auf einem der Märkte besorgt hat, so gönnt sie sich häufig eine Luxusausgabe und bringt ein Stückchen Reseda, einen Topf mit Stiefmütterchen, Nelken und Monatsrosen in ihr bescheidenes Heim, wo es dann den ganzen Sommer über am Fenster paradiert. Das ist ein billiger und bescheidener Genuß. In den Blumenhandlungen der Ringstraße und der inneren Stadt sieht man wahre Wunder der Bindekunst, die stolze Farbenpracht der Riviera und die duftenden Kinder der Alpenwelt in prächtigen, bändergeschmückten Körben oder zu kunstvollen Phantasiegebilden vereint. Das ist nun allerdings auf den genannten Märkten nicht zu finden. Doch macht die große Menge und Buntheit der blühenden Pflanzen auf den Beschauer einen freundlichen Eindruck. Nur einmal im Jahre, um die Allerseelenzeit, wird dieser Eindruck durch den Gedanken an die Vergänglichkeit getrübt. Die Stände und Buden sind um diese Zeit fast ausschließlich mit Kränzen beladen, die als Zeichen liebevoller Erinnerung auf den Gräbern der Verstorbenen niedergelegt werden sollen.

Außer den oben geschilderten Marktbildern, welche vornehmlich dem Nahrungsbedürfnis dienen, wären noch manche andere zu erwähnen, deren Schilderung jedoch den Rahmen dieser Skizze überschreiten würde. Von diesen zeigen das eigenartigste Gepräge der „Christkindlmarkt“ am Hof und der „Tandelmarkt“ (Trödelmarkt) in der ehemaligen Vorstadt Roßau, welcher letztere schon früher in der „Gartenlaube“ geschildert wurde.



[352]

 Stoßt an!

 (Zu unserer Kunstbeilage.)

Wir ritten scharf und schwangen frisch
Den Stahl, des Reiches Rächer;
Nun reit’ ich auf dem Wirtshaustisch
Und schwing’ den blanken Becher.
Das Gold, das uns der Stahl gewinnt,
Im goldnen Wein das Gold zerrinnt:
     Stoßt an! Der Wein soll leben!

Frau Sonne, dir ein Glas zur Ehr’!
Wie lachst du heut’ so heiter!
Oft hast auf Welschlands Flur du schwer
Geplagt die durst’gen Streiter.
Doch hat daheim uns deine Glut
Gereift das edle Rebenblut:
     Stoßt an! Ein Hoch der Sonne!

Was schaut ihr schämig nur von fern
Und kichert hinterm Zaune?
Und habt den Landsknecht doch so gern,
Ihr Mägdlein, blond und braune!
Ein roter Mund, ein firner Wein
Darf nimmer ungekostet sein:
     Stoßt an! Mein Schatz soll leben!

Der Tag verrinnt, der Wein verbraust,
Das letzte Hoch laßt steigen,
Dann nehmt den blanken Stahl zur Faust,
Und fort zum wilden Reigen!
Und trifft uns selbst der Todesstreich,
So sei’s für Kaiser und für Reich!
     Stoßt an! Ein Hoch dem Reiche!

 Ernst Lenbach.



Schwester Brigitte.

Novelle von Otto von Leitgeb.

      (Schluß.)


7.

Auf Schwester Brigittes Seele lagen die Lichter und die Schatten der Vergangenheit. Sie schlossen ihren Gedankenkreis ein. Aus den rückwärts liegenden Jahren griff das alte Leid nach ihr und zog sie wieder zu sich. Und das Leid ist stärker als der Wille. Es war ihr ältester und auch ihr treuester Bekannter. Sie konnte es nicht von sich weisen wie einen Fremdling.

Scheu, wie vorüberhuschend an sündiger Pforte, die sie ewig trennen sollte vom Vergangenen, doch drängend und ruhelos wiesen ihre Gedanken dahin.

Und seit sie dem fernen Lebenspfade in Gedanken wieder gefolgt, stand sie gefaßter an dem Bette des fremden, schwerverwundeten Offiziers und nahm das grausame Spiel des Zufalls in sich auf, daß er die Züge des Toten trug bis zur unglaublichsten Aehnlichkeit.

Die Empfindung erfüllte sie, daß ihr jener nahe sei, und in der Nacht, die den Blick nach innen kehrt, im Halbschlummer, im Traum bemächtigte sie sich ihrer mit übernatürlicher, unwiderstehlicher Kraft. Selbst mitten im Gebet zuckte die Täuschung auf, so daß ihre Sammlung von den Worten der Andacht absprang und eine starre Betroffenheit einen Augenblick Herr ward über sie.

Vom Kissen ihres Bettes war die Ruhe verscheucht, wie sehr ihr müder Körper auch danach verlangte. Während sie schlummerlos dalag, wanderten ihre Blicke auf der Wand gegenüber hin und her und verfolgten das langsame Vorrücken des Mondlichtstreifens, der durch die Spalten der Fensterläden schien und langsam über die bleichen Glieder des Gekreuzigten glitt, der groß, in Holz geschnitten, dort hing.

Dann wurde sie ängstlich, unruhig erhob sie sich und stieß die Läden auf. Einsam lag der Garten da in der stillen Sommernacht. Nichts regte sich unter den Büschen und in den Zweigen; die Blätter flimmerten im bleichen Licht. Schwester Brigitte stand unbeweglich an der Fensterbrüstung und sah hinaus. Die Nachtluft legte sich frostig an ihren Körper.

Und dann schritt sie in dem kleinen Zimmer auf und ab, die Arme auf der Brust, die Stirn gesenkt. Kaum, daß ihr bloßer Fuß auf dem dünnen Leinenteppich ein Geräusch verursachte.

Im Spiegel an der Wand tauchte ihr weißes Bild auf, jedesmal, da sie vorüberging. Sie blieb davor stehen und sah sich an, mit Neugierde, fast forschend und doch ohne Befremdung vor dem Ungewöhnlichen, das nicht mehr zu ihr paßte und zu dem Gewand, das sie trug. Ihre dunklen Augen blickten sie glänzend aus dem Glase an, und ihre Wangen waren bleich wie Marmor.

Sie strich sich das kurze Haar aus den Schläfen und halblaut fiel ein Wort von ihren Lippen – „Bin ich’s? – die Käthe –?“ … … … Das Fenster blieb offen stehen. Die kalte Morgenluft erfüllte das Zimmer. Vom Mondlicht übergossen lag Schwester Brigitte auf den Knieen. Sie suchte Ruhe im Gebet.

0000000000

Der Schlummer, der ihr Lager floh, forderte sein Recht in dem großen Lehnstuhl am Fenster des Krankenzimmers. Die Lampe brannte müde dem Morgen entgegen, der durch die Ritzen der geschlossenen Fenster drang. Der Kranke schlief, und eine große Müdigkeit drückte Schwester Brigittes Lider zu. So, zwischen Wachen und Schlaf, lehnte sie da, und Traumbilder spannen ihre Gedanken fort und wirrten Leben und Tod ineinander.

Der Kranke war er, der Tote. Er war nicht tot, er war nur krank. Dort liegt er schlummernd. Ab und zu im Schlafe nennt er halblaut ihren Namen. Er ruft. Er fordert ihren Gruß, den letzten. Nur einmal noch! – Sie soll zu ihm treten – seine Stirne berühren mit ihren Lippen. – Eine unsichtbare Macht treibt sie auf. Ihre Augen brennen und irrend sucht ihr müder Blick die altvertrauten Züge zu erkennen.

Zitternd beugte sich die Schwester über den Schlafenden, den Fremden.

Nun erst erwachend, strich sie das quälende Traumbild von ihrer Stirne; eine tiefe Erschütterung pochte in schweren Schlägen an ihr Herz. So stand sie an seinem Bette, die Hände hilflos ineinander ringend, in ohnmächtigem Schmerze.

Sie verdoppelte ihren Eifer in der Pflege. Sie sah ihm jeden Wunsch, jede Frage an den unruhigen Augen ab, und jeder dankbare Blick erfüllte sie mit einer seligen Genugthuung. In den ersten Tagen hatte er öfter gesprochen, irgend eine Frage, irgend ein Wort, oft nur so zum Zeitvertreib, in der traurigen Langenweile des Krankenbettes. Nun sprach er fast gar nicht mehr. Und dies Verstummen machte sie betroffen, trotz der Hoffnung, die sich in ihr rührte und von der sie sich täuschen ließ, die ihr wie ein Licht aus der Dunkelheit entgegenschien und ihr über die eigene Abspannung hinweg half.

Warum soll er nicht genesen, dem Leben erhalten bleiben – warum sollen wir immer die Besiegten sein im Kampfe mit dem grausamen Feind, der alles in die Nacht des Todes beugt? – Und sie flehte um sein Leben in inbrünstigen Gebeten.

Aber mit dem kranken Manne wurde es schlechter. Seine Kraft schwand und die Gedanken, die unheimlich regsam sein Hirn durchzogen, gehörten nicht mehr ihm. Eine unbekannte Macht weckte und führte sie, zog sie in fremdes, flimmerndes Traumbereich und verwischte die Gegenstände um ihn her und die Laute, die sein Ohr trafen.

Der Regimentsarzt, der bisher zu dem Verwundeten gekommen, mußte abrücken und die Pflege einem jüngeren Kollegen übergeben. Den Abschied des alten Arztes nahm der junge Offizier mit apathischem Händedruck auf; dann folgte sein fiebernder Blick den zwei Männern und Schwester Brigitte, die jene mit einem Zeichen des Kopfes mit hinauswinkten.

„Es sieht schlecht aus,“ sagte der Arzt. „Wie die Sache äußerlich steht, haben Sie nun gesehen, Herr Kollege. Der Verlauf bisher

[353]

Unter den „Standeln“ auf dem Naschmarkt in Wien.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Gause.

[354] war kurz folgender: der Patient wurde am Fünften eingebracht, Konturschuß mit Frakturierung der fünften rechten Rippe. Kein Ausgang am Schußkanal. Das Allgemeinbefinden war ziemlich gut, afebril. Die erste Sondierung blieb resultatlos. Ich weiß nicht, was drinsteckt, ein Granatsplitter oder Tuchfetzen.“

„Sie haben die Wunde erweitert?“ fragte der andere.

„Wie Sie sahen. – Ich habe Rippenfragmente extrahiert, sonst nichts gefunden. Es kam rasch zunehmendes Fieber, Schüttelfröste und Erhöhung der Schmerzen. Die Zunge ist trocken –“

„Starkes Durstgefühl, und so weiter –“

„Ja; das Infiltrat verhärtete sich. Das Sensorium blieb frei. – Ich machte Incisionen, konnte aber den Eiterherd nicht finden. Delirien und steigendes Fieber. Es hält seit gestern hochgradig an, und die zunehmende Schwäche läßt mich befürchten –“

„Pneumothorax –?“

„Jawohl,“ nickte der Alte. „Ich habe ihm Chinin gegeben, Milch mit Cognac, Eier, Champagner. – Regelmäßige Essigwaschungen. Wir können nichts anderes machen –“

„Vollkommen Ihrer Ansicht,“ sagte der Jüngere. „Und die Pflege hier?“

„Vorzüglich.“

„Ich danke also. Ich glaube, wir könnten gehen?“

In der Thür drückte der alte Arzt Schwester Brigitte die Hand. „Leben Sie wohl, liebe Schwester. – Ein verlorener Posten. – Es ist nichts zu machen.“

Sie stand und starrte vor sich hin. Jedes Wort, das sie gehört hatte, war wie ein Schlag auf sie gefallen. Sie hatte so gut verstanden, daß die menschliche Kunst zu Ende sei. Ein verlorener Posten!

Dann aber klammerte sich ihr ratloses Herz an den einen Glauben: es kann doch ein Wunder geschehen und ihm das Leben schenken! – Ein Wunder – ein Wunder! – Das Wort wich nicht mehr von ihr, als liege darin die Urkraft und die Wurzel von allem, als sei das ganze Leben selbst nur ein Wunder.

„Ich weiß nicht,“ sagte die alte Landrätin, „die arme Schwester scheint nun auch am Ende ihrer Kraft. Wenn man doch für eine Ablösung Sorge tragen könnte –“

„Ach, so meinen Sie wohl, Frau Landrat,“ entgegnete Frau Stübel, „aber die sind es gewöhnt. Unsereinem geht der fremde Jammer in die Glieder und auf die Nerven. daß einem das Herz ganz schwach wird. Aber die Schwestern – lieber Gott! Die müssen es wohl gewöhnt sein so nach ein paar Jahren, und da thun sie es denn, wie jeder andre seinem Beruf nachkommt. Die sind von Eisen. Eine einzige ist stärker in ihrem barmherzigen Thun als wir alle mitsammen.“

Sie täuschte sich. Die stille Schwester war sterbensmüde, als hätte sie die ganze eigne Kraft dem fremden Elend zugesetzt. Sie wandelte wie im Traum, in einer Art harrender Ergebung ....

Und wieder, wie in allen den Tagen, spannte sich der Sommerhimmel so klar und durchsichtig über das Land, daß die Natur doppelt schön und ihr Friede doppelt groß erschien. Ein kosender Windhauch strich gegen Abend über den Wald und die Weide, als die Sonne langsam tiefer glitt nach dem fernen Horizont, wo die dunklen Waldstreifen hinausverliefen in dem flimmernden blassen Blau.

Die alte Frau hatte diesmal Schwester Brigitte nicht ausweichen lassen; sie mußte wieder einmal hinab ins Freie. Frau Stübel hatte gut reden; aber was zu viel ist, ist zu viel! Sah die arme Schwester nicht selbst schon aus, als wäre sie krank: mit den schmalen Wangen, von denen die Zimmerluft alle Farbe weggenommen hatte, mit den fieberisch müden Augen, die aussahen, als hätten viele Thränen das Licht daraus verlöscht, und mit der müden dünnen Gestalt, an der die festgemute Haltung verschwunden war, mit der sie damals ins Haus getreten! Es wollte der Landrätin nicht in den Sinn, daß solche Hingabe ein wohlgefälliges Opfer sei. Diesmal wies sie allen Widerspruch wohlwollend zurück, und Schwester Brigitte mußte hinaus in die Luft.

Sie schritt gedankenlos durch den Garten hinab, auf die Weide hinaus und setzte sich auf die Bank unter dem großen Baume.

In der Ferne schlenderte der kleine Hirtenbub’ neben seinen Kühen durch das Gras und stieß unharmonische Töne aus seiner selbstgefertigten Schwegelpfeife hervor. Sein streifender Blick entdeckte aber gleich die Gestalt auf der Bank. Da war sie wieder, die schwarze Frau aus dem Landhaus! Er stand still, ließ die Pfeife ruhen und lugte verwundert zu ihr hinüber, denn sie war mehrere Tage nicht hergekommen, das wußte er genau, er hatte ja gehörig aufgepaßt. Eine große Neugierde erfaßte ihn, sie einmal in der Nähe zu besehen. Und sein Plan war gleich fertig. Er machte langsam einen weiten Bogen über die Wiese, bis er ihrem Gesichtskreis entschwunden war. Dann schlüpfte er pochenden Herzens durchs Gebüsch. Wenn er die große Haselstaude erreichen könnte! Dort war er ihr ganz nahe, so nahe, daß er sie ganz genau sehen konnte. Ein solcher Eifer kam über ihn, daß er der Brennesseln nicht achtete, die seine kleinen braunen Waden verbrannten, als er, bald aufrecht, bald auf allen Vieren, sich heranschlich wie ein Jäger ans Wild. Und endlich war er bei der großen Haselstaude. Wenn ein Zweiglein knackte, zitterte er vor Angst, als sei das ganze großartige Unternehmen mißglückt und er auf dem strafbaren Wege ergriffen. Aber alles blieb ruhig, die schwarze Frau rührte sich nicht, und so kauerte er nun da, hielt den Atem an und lugte mit weitaufgerissenen, verwunderten Augen zu ihr hinüber.

Sie regte sich gar nicht und blickte nur immer gerade aus, auf seine Kühe. Der Lauscher im Busch fand das sehr absonderlich, aber er hätte doch gerne etwas Neues gesehen, etwas Ungewöhnliches entdeckt, und wie sie eine ganze Weile so still blieb, ward er beinahe ungeduldig.

Plötzlich aber geschah doch etwas sehr Merkwürdiges. Die schwarze Frau schlug auf einmal beide Hände vors Gesicht und brach in Schluchzen aus.

Das Herz des kleinen Jungen packte eine heillose Angst, ein drängendes Rettungsbedürfnis aus einer dunklen Gefahr. Er schob sich eiligst nach rückwärts und hatte keinen andern Gedanken mehr als schleunige Entfernung aus der unheimlichen Nähe. Anfangs achtete er noch ein wenig darauf, daß es nicht zu arg in den Zweigen raschle, dann aber zwängte er sich, unbekümmert darum, durchs Dickicht, und als er den Wiesenrand glücklich wieder erreicht hatte, fing er an zu laufen, als ob die schwarze Frau hinter ihm drein wäre, ihn am Kragen zu packen. Erst bei seinen Kühen angekommen, hielt er an, und eine schwere Sorge fiel von seinem Herzen, als er, verstohlen hinblickend, die Gestalt noch immer wie früher auf der Bank sitzen sah.

Schwester Brigitte schaute wieder vor sich hin, über die Wiese hinaus, über die Weide, auf der hin und wieder ein mageres Bäumchen stand, vor den herumschlendernden Kühen durch Latten geschützt. Sie blickte darüber weg und gegen das Wäldchen, über welchem die Spitze des Kirchturms aufragte, und gegen den blauen Himmel. Sie blickte in die Weite, als ob sie etwas suchte, etwas Fernes, Verblaßtes, Unsicheres. Ihr Blick wanderte langsam, als suchte er, wie ihre Gedanken, ein bestimmtes Ziel, einen bestimmten Punkt auf einer weiten Bildfläche. Was Schwester Brigitte suchte mit den wandernden Blicken und den wandernden Gedanken, war sie selbst. Es litt sie nicht lange da; dann erhob sie sich und kehrte wieder gegen das Haus zurück. Zwischen ihren Brauen zog sich eine feine scharfe Falte hinauf und kreuzte Schmerz und Strenge auf ihrer Stirn ....

*               *
*

Der Kranke lag in großer Unruhe; keine Lage behagte ihm mehr. Kurz und schwer ging sein Atem, und über seine bläulichen Lippen drang oft ein schmerzlicher Seufzer. Er begehrte beständig zu trinken und hatte alle Aufmerksamkeit für die Umgebung verloren, aus der ihn abgerissene Phantasien weit fort führten.

Sie stand unablässig an seiner Seite, als könnte sie dem schwer bedrängten kranken Körper von der eigenen Kraft etwas geben. Der Arzt kam spät; gerade heute hatte sie ihn so sehnlich herbeigewünscht. Er verdoppelte ihre Sorge.

„Was können wir machen mit einem Leben, das unserer Hand entflieht –?“

Aus seinem Blick, als er wieder ging, schöpfte sie eine ahnungsvolle Angst.

Die Nacht brach an. Der Kranke wälzte sich ruhelos hin und her; seine Schläfen pochten und seine Stirne war schweißbedeckt. Zwischen den kurzen stöhnenden Atemzügen stieß er wirre Phantasiegespräche mit eilenden Worten hervor, und dann lag er zeitweise wieder ruhig und müde in den Kissen.

Schwester Brigitte saß beim Tische, auf den der Lampenschein gedämpft unter dem grünen Zeugschirme niederquoll. Als steckte [355] der grause Fieberwahn sie selber an, kam eine Verwirrung über sie und eine unaussprechliche Ermüdung senkte sich in ihre Glieder.

O, wenn er gesund würde und wieder ins Leben schritte, der Fremdling, der ihr Herz in friedlose Unruhe gestürzt! – Wenn sie wieder fort könnte, fort auf den einsamen Weg, den sie betreten, und der sie erlösen sollte von dem Schmerz, an dem sie zusammengebrochen war! – O, wenn es zu Ende wäre mit dieser Qual, die ihre Sinne verwirrte und alle Kraft ihrer Seele und ihres Leibes zu Tode hetzte! Zu Ende – zu Ende!

– Großer Gott, habe Erbarmen mit mir! Erlöse mich von dieser Prüfung! – Kläre meinen Geist und schütze ihn vor dem Wahnsinn! Schirme meine weinenden Augen, daß sie nicht immer, immer jenes Antlitz vor sich sehen, das Du im Tode vergehen ließest! – Vergieb meinen dürstenden Lippen, daß sie den Gruß nicht vergessen können, den er von mir gewollt und den ich ihm versagte! – Wie konnt’ ich ihn versagen – dem Scheidenden – dem Sterbenden! – Gieb mir Frieden, Allmächtiger, Frieden – Frieden! –

Sie fürchtete sich, hinüberzusehen und eine stumme Bangigkeit zitterte durch die Stille des Krankenzimmers. Sie wurde größer an dem Schatten um sie her, an dem Stöhnen des Kranken, sie wuchs an dem bleichen Lichtschimmer, der über die Wand floß, an der großen Stille der Nacht, in der sie alles umher entschlafen wußte. Wie ein Flor senkte es sich über sie herab, ein Flor, den die Atemzüge der Nacht hoben und senkten, der um sie wallte und schwebte durch das stille Zimmer, an die Decke und hinaus über Feld und Wald, hinaus über den langen Weg ihres Lebens.

Am Bette des Kranken stand der Tod. Er legte seine eisige Hand mit hartem Griff auf die schwer atmende Brust und drückte den besiegten Leib in die Kissen nieder. In schwankenden Delirien wollte der Geist durch unermeßliche Räume fliegen und stieß mit dem schwachen Rest verbleichenden Bewußtseins an Decke und Wände, wie ein gehetzter Vogel, der im Kerker nach Freiheit flattert.

Und dann wieder schwebten sonnige Bilder auf sein Lager herab, goldflimmernde Träume und seliger Friede. Sein Dasein wollte sich auflösen in die Unendlichkeit. Ein tiefer Seufzer, ein abgerissenes Wort, wie eine Bitte, ein Ruf brach von seinen zuckenden Lippen.

Die Schwester fuhr betäubt empor. Mit frostigem Angstgefühl umschloß die Einsamkeit der Nacht ihre Brust. Der flackernde Blick des Kranken zog sie an seine Seite.

Und der Blick glänzte und leuchtete unter den weit aufgeschlagenen Lidern. Die Lippen öffneten sich ein wenig, es flog über das bleiche Angesicht fast wie ein freudiger Schimmer, der Widerschein von der Lichtgestalt, die er vor sich sah. Er sah ihn wieder, den Boten des Trostes, den namenlosen Engel der Ruhe und Rettung. In einer Lichtwolke stand, hochaufgerichtet, die silberweiße Gestalt. Ein wogender Schleier schwamm um sie, über ihren Kopf und von ihrem Nacken. Das schöne Antlitz war nach ihm gerichtet und die großen göttlichen Augen tauchten mit ihrem Glanz tief in seine Seele. Und sie lächelte sanft mit den himmlischen Augen und nickte mit der blendend weißen Stirne, und streckte den glänzenden Arm nach ihm und winkte ihm. Er richtete sich langsam auf, als hätte sie ihn berührt mit einem Zauberstabe. Eine namenlose Sehnsucht quoll durch seine Brust. Er streckte die zitternden Hände nach ihr und breitete schwer atmend die Arme aus – –

Ihrer selbst nicht mehr mächtig, beugte sich Schwester Brigitte zu ihm nieder. Sie umschlang ihn mit beiden Armen, verwirrt, betäubt, drückte seinen Kopf an ihre Brust und rückte seine Stirne zurück. Durch den Schleier hervorstürzender Thränen suchte ihr Auge seinen bleichen Mund, und ihre Lippen berührten die seinen.

Ein Schauer rieselte durch ihre Glieder, als tropfte Eis in ihren Adern. Gelähmt, halb ohnmächtig ließ sie ihn aus ihren Armen gleiten und sank neben dem Bette zu Boden. –

*               *
*

Die Nacht rann weiter.

Als Frau Stübel kam, fand sie die Schwester in schwerer Sorge. Die Kräfte des Verwundeten verfielen unter ihren Augen. Sein Atem pfiff über die fahlen Lippen. Die Wangen waren eingesunken, und ihre Blässe schimmerte bläulich. Sie tastete mit unsicheren Fingern nach dem schwachen Pulsschlage und schüttelte den Kopf auf Frau Stübels Frage, wie es gehe.

„Es geht zu Ende,“ sagte sie leise.

„Nicht doch, lieber Gott! – Nicht doch! Es wird wieder besser werden.“ Und als machte sie Schwester Brigittes eigenes Wesen plötzlich betroffen, setzte sie hinzu: „Sie sind so müde, so angegriffen. Ich kenne mich ja soweit aus. Sie müssen sich etwas Ruhe gönnen. Lassen Sie mich nun hier, nur eine kurze Zeit!“

„Nein, nein – nicht mehr!“

„Nur eine kurze Stunde!“

Schwester Brigitte antwortete nicht gleich. Sie atmete tief auf und sagte dann: „Keine Stunde – nur wenige Minuten. Ich kehre sofort wieder!“

Sie ging in ihr Zimmer, wandte sich zum Fenster, stieß die Läden zurück und beugte sich hinaus.

Tausend Sterne flimmerten im tiefen Blau des Nachthimmels. Sie schaute zu ihnen empor und in ihren Augen leuchtete es wie Verklärung. Ihre schlanke Gestalt reckte sich hoch auf, als sei sie gehoben vom Schwunge der Seele, in ihrer Sehnsucht nach himmlischer Höhe. So stand ihr Bild da wie von geheimnisvoller Weihe umflossen, und durch die schimmernde Nacht hauchte ein heiliger Friede zu ihr.

Es pochte hastig an die Thüre.

„Ich komme!“ rief Schwester Brigitte. Sie stand im Augenblicke draußen.

Frau Stübel trat ihr bestürzt entgegen.

„Es geht ihm so schlecht – ich kenne mich nun doch nicht recht aus –“

Die Schwester war ihr schon vorangeeilt.

Sie hörte schon im Vorsaale das schwere, laute Röcheln des Sterbenden.

Als sie auf die Schwelle trat, stieß er einen Seufzer aus, so tief und schmerzlich, als hätte seine Brust den Rest all ihrer Kraft darin gesammelt. Sein Kopf sank nach rückwärts in die Kissen und sein Kinn fiel kraftlos herab. Leise wischte die Schwester den kalten Schweiß von den verfallenen Wangen. Dann hielt sie eine Weile die Rechte über seine Augen und richtete sich endlich auf.

„Er hat ausgelitteu –“

Im Osten graute der Tag. Durch das offene Fenster wehte die Morgenluft und spielte mit den zitternden Kerzenflammen. Im Zimmer regte sich kein Laut. Frau Stübel fuhr sich ab und zu leise schluchzend über die Augen, während sie neben der Schwester stand, die gesenkten Hauptes ein stummes Gebet sprach.

*               *
*

Wenige Tage darauf wurde Schwester Brigitte abgerufen. Eine lange Fahrt stand ihr bevor, erst im Wagen, dann mit der Bahn, soweit diese noch befahren werden konnte, hinüber an die Grenze.

An einem kühlen Morgen, ehe die Sonne noch heraufgekommen hinter den Waldhügeln, verließ sie mit einer älteren Schwester im offenen Wagen die Stadt. Sie hatten das Wagendach der schneidenden Morgenluft wegen aufgeschlagen, und müde und schweigend saßen die beiden Frauen in die Ecken gedrückt.

Die Chaussee hinaus ging es vorbei an dem Landhaus, in welchem sie den Verstorbenen gepflegt und das mit geschlossenen Läden dalag, schlummernd in der friedlichen Morgenfrühe. Schwester Brigitte drückte die Hand aufs Gesicht und schloß die Augen.

Weiter draußen ermunterte sich ihre Reisegefährtin. Es war eine ältliche, untersetzte Person, deren freundliches Gesicht rosig unter der schneeweißen Haube hervorsah und in deren hellgrauen Augen ein resoluter Lebensmut blitzte.

Sie fuhreu entlang der verwüsteten Felder, draußen wo der Kampf getobt.

„Lieber Gott – wie es hier aussieht!“ sagte die Aeltere. „Der ganze Erntesegen vernichtet, in Boden gestampft! Warum können die Menschen nicht Frieden halten?“

Und als Schwester Brigitte nichts erwiderte, führte sie verstohlen ein Prischen zur Nase und sagte tröstlich:

„Unser Herr, der es gegeben, wird ja die Halme wieder sprießen lassen. Gras wächst über alles. Aber die Menschen, die Menschen! – Wie soll der gnädige Herrgott die vielen Wunden heilen!“

Die andere, ihre junge Schwester, preßte im Schutz des faltigen Gewandes die Hand fest aufs Herz und senkte schweigend ihr bleiches Antlitz tief auf die Brust herab.




[356] 0


Blätter & Blüten


Ostindische Tigerjagden. (Zu dem Bilde S. 345.) Der Tiger ist weit besser als sein Ruf. Das haben in der jüngsten Zeit erfahrene Reisende und Naturforscher gelehrt. Sie versuchten sogar, den Beweis zu führen, daß der Tiger in Indien dem Menschen nützliche Dienste erweise; denn er ist ein „Wildtöter“ ersten Ranges und lichtet die Scharen des Wildes, die sonst den Ackerbau unmöglich machen würden. Leider kann man aber nicht unter allen Umständen der Ehrenrettung der heimtückischen Raubkatze beistimmen; denn der Tiger folgt auch den Herden des friedlichen Hirten und wird zum gefährlichen „Viehräuber“ und bei dieser Gelegenheit lernt er auch den Menschen als leichte und wohlschmeckende Beute kennen, wird dann zum „Menschenfresser“ oder „man-eater“. In diese letztere Untugend soll zwar der Tiger nur „ausnahmsweise“ verfallen, aber die Statistik in Britisch-Indien belehrt uns, daß dort jährlich 800 bis 900 Menschen von Tigern zerrissen werden; das ist zwar in Anbetracht der vielen Millionen, die Indien bevölkern, keine große Zahl, wie die Verteidiger des Tigers meinen, den Nächstbeteiligten erscheint sie aber groß genug, um den Tiger zu verfolgen und auf sein Fell Prämien auszusetzen; so werden auch in Ostindien alljährlich gegen 1600 Tiger erlegt und der Ausrottungskampf wird nicht aufhören, bis die Tiger verschwunden sind. Nur wenige der indischen Fürsten und Nabobs sind einer anderen Ansicht, verbieten in gewissen Distrikten die Tigerjagd, um von Zeit zu Zeit zum Vergnügen in eigener Person die großen Katzen jagen zu können. In solchen Gegenden bilden Tigerjagden eine vornehme und recht kostspielige Belustigung, einen Sport, den sich aber nur sehr reiche Leute erlauben können. Ein schlichter Nimrod stellt dem Tiger in einfacher Weise nach. Am Orte, wo vermutlich das Raubwild umherschleicht, bindet er ein Kalb als Köder an. Hat der Tiger das Opfer „geschlagen“, so begiebt sich der Jäger an den Ort und besteigt einen Baum, auf dem er die Rückkehr des Raubtiers zu seiner Beute erwartet. Den hohen Standpunkt wählt er nicht aus dem Grunde, um etwa vor dem Tiger sicher zu sein, sondern um in das Gras- und Rohrdickicht der Dschungel hineinblicken zu können, in dem sich sonst Roß und Reiter verbergen können. Gute Jäger haben auf diese Weise in ihrem Leben Tiger zu Dutzenden erlegt.

Vornehme Indier jagen mit großartigeren Mitteln; sie ziehen zur Tigerjagd auf Elefanten aus, begleitet von einem Troß von Jägern und Treibern, der nach Hunderten und selbst Tausenden zählt. Als Gäste der indischen Fürsten haben Europäer öfter solche Jagden mitgemacht, die wohl sehr spannend und aufregend, dabei aber auch mit vielen Mühsalen verknüpft sind.

Schon die Jagdzeit ist für den Europäer nicht günstig. Man wählt zu solchen Treibjagden die dürre Jahreszeit, weil dann die Tiger an nicht ausgetrockneten Gewässern sich aufhalten und man auf einem verhältnismäßig kleinen Terrain mehrere Stück des Raubzeugs auf einmal auftreiben kann. Ferner treibt man das Wild in den heißesten Stunden des Tages, weil die große Hitze den Tiger träge und weniger vorsichtig und wachsam macht.

Der Ritt auf Elefanten gehört für den Europäer auch nicht zu einer Erquickung; die Bewegungen sind schwankend, schiffartig und um so ausgiebiger und unangenehmer, je größer der Elefant ist. Für diese und andere Unannehmlichkeiten wird man jedoch durch das eigenartige Leben und Treiben in solchem Jagdzuge reich belohnt. Während der Haupttroß ein Lager in der Wildnis bezieht, rüsten sich die eingeborenen Jäger, die Schikari, zum Aufspüren des Wildes. An verschiedenen Stellen binden sie Büffel an und beobachten von Bäumen und Hügelspitzen die Lockspeise. Hat der Tiger geschlagen, so melden sie das Ereignis im Lager und die Jäger besteigen die Jagdelefanten, auf deren Rücken die Hauda, ein viereckiger Kasten, befestigt ist. Zumeist sind es alte, kluge und wohldressierte Tiere, die den Tiger nicht fürchten und ihm, wenn er hervorbricht, standhalten. Der Schlupfwinkel des Raubzeugs wird nun umzingelt und unter der Führung der Schikari setzt sich lärmend eine Treiberkette in Bewegung, welche die Tiger gegen die Jagdelefanten aufscheucht. In besonders dichtem Terrain greifen auch die Elefanten vorbereitend ein. Damit der Tiger in dem Baum- und Rohrdickicht nicht durchschlüpfen kann, wird vor der Jägerlinie der Platz gesäubert. Die Elefanten rücken vor, werfen Bäume um, zertreten das Gras und schaffen in kurzer Zeit eine etwa zehn Meter breite und entsprechend lange Lichtung. Vor dieser erwarten die Jäger, in den Haudas thronend, das Raubwild.

Es kommen nun Augenblicke der höchsten Spannung. Jeden Augenblick kann der Königstiger hervorbrechen; an den Kampf denkt er nicht, sondern sucht in schlauer Weise zu entschlüpfen, gefährlich wird er in der Regel erst dann, wenn er verwundet in höchste Bedrängnis gelangt. Dann wendet er sich gegen die Elefanten und treibt diesen und jenen in die Flucht und läßt ihn seine Pranken fühlen. Trotzdem kommen bei diesen Jagden nicht mehr Unglücksfälle vor als bei uns bei den Hetzjagden. Bei solchen Treiben werden öfters aus einem Dickicht mehrere Tiger, sechs bis sieben Stück aus einem Dschungel, aufgescheucht und auch zur Strecke gebracht.

Wo das Dickicht zu groß, das Rohr zu hoch ist, so daß Menschen in demselben nicht vordringen können, benutzt man Elefanten, um das Raubzeug vor die Jäger zu treiben. Oft reiten auch die Jäger in die Wildnis hinein und pirschen, von der Hauda ausspähend, auf die Tiger. Diese Art des Jagens ist wohl die reizvollste. Der eingeborene Führer des Elefanten ist in solchen Künsten geübt und versteht aus dem Verhalten anderer Tiere, namentlich der Affen und der wachsamen Pfauen, die Nähe des Tigers zu erkunden. Er macht den Jäger aufmerksam – und nun kommt der entscheidende Augenblick. Mit erhobenem Rüssel und aufgestellten Ohren macht der Elefant einen Sprung nach vorwärts und trompetet laut – ein sicheres Zeichen, daß er auf einen Tiger gestoßen. Und in der That, in dem hohen Schilfe windet sich die gefährliche Katze dahin, wild seine Gegner anfauchend. Doch schon kracht der Schuß von der Höhe der Hauda und das Sündenregister des Wildtöters ist für immer abgeschlossen.

Wieder im Lager, zieht der glückliche Weidmann der Beute das Fell ab, das in Europa wegen seiner tadellosen Schönheit für 1200 Mark Käufer finden würde. Die eingeborenen Jäger stürzen aber über das enthäutete Wild her – denn Tigerfett ist ja ein berühmtes Heilmittel in Indien und Tigerfleisch verleiht dem, der es essen kann, Kraft und wilden Mut. *     

Der Wittelsbach-Brunnen zu München. (Zu dem Bilde S. 341.) Unter den verschiedenen Höfen, welche der prächtige Bau der Münchener „Residenz“ einschließt, ist einer der größten der Brunnenhof. Er trägt seinen Namen nach dem „Wittelsbach-Brunnen“, dessen reiche und zierliche Anlage sich inmitten des langgestreckten achteckigen Hofes erhebt. Ueber dem Brunnen auf reichgeschmücktem Piedestal ragt das Standbild Ottos von Wittelsbach, des Begründers der bayerischen Dynastie, in voller Rüstung. Das Brunnenbecken ist auf seinem Marmorrande mit allegorischen Figuren, die vier Elemente darstellend, und mit den Flußgottheiten der bayerischen Flüsse Isar, Inn, Donau und Lech geschmückt. Alle diese Figuren sind Bronzeguß, zum Teil nach Entwürfen des Niederländers Pieter de Witte (Peter Candid), von dem auch der Erzschmuck der westlichen Residenzportale und die Michaelsgruppe an der Michaelskirche herrühren; er wirkte im Anfang des 17. Jahrhunderts in München. Der Brunnenhof selbst ist in seiner Architektur einfach gehalten. Kurfürst Maximilian I., welcher den Residenzbau, ehe der Dreißigjährige Krieg begann, fast vollendet hatte, war dabei weniger auf eine glänzende Außenseite als auf eine reiche, prachtvolle und gediegene Ausstattung der Innenräume bedacht gewesen. Drei schwere Brandunfälle, welche die Umgestaltung des Residenzbaues während des 17. und 18. Jahrhunderts zur Folge hatten, ließen doch den Brunnen unversehrt, der mit seiner ganzen Umgebung heute den Eindruck einer weltabgelegenen schweigenden Vornehmheit hervorbringt. H.     

Auspressen der Citronen. Der Mensch soll nicht wie eine Citrone ausgepreßt werden. Das kommt auch selten vor, denn die Kunst des Auspressens ist schwierig. Schon die Citronen selbst werden ungenügend ausgepreßt, selbst wenn kleine Maschinen des Haushaltes dazu benutzt werden. Das rührt davon her, daß es bei dieser Procedur nicht allein auf das Pressen, sondern auch auf den Schnitt ankommt. Man schneidet in der Regel die Citronen quer durch und das ist grundfalsch. Wer den Bau der Frucht aufmerksam betrachtet, der wird leicht zu der Ueberzeugung kommen, daß nur durch den Schnitt der Länge nach die Zellen der Frucht gehörig geöffnet werden und dann williger den Saft hergeben. Also der Länge nach sollte die Citrone, die man auspressen will, aufgeschnitten werden.


KLEINER BRIEFKASTEN.


(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

O. B., Koslowka, Rußland. Auch der nächste Roman von E. Werner wird in der „Gartenlaube“ erscheinen. Wir haben bereits in unserer Ankündigung des laufenden Jahrgangs darauf hingewiesen; der Titel heißt „Fata Morgana“.

S. R. W. in Zittau. Von Ihrer freundlichen Einsendung können wir leider keinen Gebrauch machen.

Ein schwedischer Abonnent. Wir bitten um Angabe Ihrer Adresse.

„Botanicus“ in Brünn. Von Dr. Udo Dammer giebt es zwei Werke für Pflanzensammler: ein ausführliches „Handbuch“ und eine kurzgefaßte „Anleitung“, beide im Verlage von Ferd. Enke in Stuttgart erschienen. Das letztere enthält nur die rein praktischen Teile des größeren Werks und ist dazu bestimmt, auf die Exkursion mitgenommen zu werden. Danach werden Sie wohl selbst entscheiden können, welches von beiden Büchern Ihren Zwecken am besten entspricht.


manicula Hierzu Kunstbeilage VI:0 „Stoßt an!“ 0Von E. Grützner.

Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (7. Fortsetzung). S. 341. – Der Wittelsbachbrunnen in der Königlichen Residenz zu München. Bild. S. 341. – Der Schierling. Von M. Hagenau. S. 344. – Tigerjagd in Indien. Bild. S. 345. – Wiener Marktleben. Von V. Chiavacci. S. 348. Mit Abbildungen S. 348, 349, 351 und 353. – Stoßt an! Gedicht von Ernst Lenbach. S. 352. (Zu unserer Kunstbeilage.) – Schwester Brigitte. Novelle von Otto von Leitgeb (Schluß). S. 352. – Blätter und Blüten: Ostindische Tigerjagden. S. 356. (Zu dem Bilde S. 345.) – Der Wittelsbachbrunnen. S. 356. (Zu dem Bilde S. 341.) – Auspressen der Citronen. S. 356. – Kleiner Briefkasten. S. 356.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. „z’lexn“ nennt man in der Wiener Mundart das Auseinanderklaffen der Dauben von Holzgefäßen, so daß die Flüssigkeit bei den Spalten durchrinnt.
  2. Die süßen Früchte des Johannisbrotbaumes.
  3. Orangen.
  4. Loses Bündel aus Bast zum Scheuern des Holzgeschirres und der Dielen.
  5. Spielwaren.
  6. Mit Zwetschenmus gefüllte Kuchen.