Die Gartenlaube (1894)/Heft 29
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Nr. 29. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Mitten in Lores Gedanken hinein fragte Hermann: „Ihr lebt
sehr glücklich zusammen?“ Scheinbar gleichgültig, wie jemand,
der ein Ja erwartet, nahm er einen Schluck Thee. Lore
zögerte einen Augenblick, sagte dann aber, eine erstaunte Bewegung
seines Kopfes bemerkend, rasch: „Natürlich, Hermann! Dein
Bruder ist immer gleich liebenswürdig, genau so wie in unserer
Verlobungszeit. Man sagt, das sei das beste Zeichen für einen
Ehemann und auch ein bißchen für die Frau. Uebrigens“ – sie
lachte leise – „habe ich noch gar nicht so ernst darüber nachgedacht.“
„Das ist das allerbeste Zeichen, Lore.“
„Glaubst Du das, weiser Salomo? Aber verzeih' eine vielleicht thöricht klingende Frage – man denkt als gereifte Frau manchmal über Sachen nach, auf die man als junges Mädchen nie gekommen wäre. Ich wuchs doch mit Euch beiden wie eine Schwester auf. Hast Du jemals früher daran gedacht, daß ich einmal einen von Euch beiden heiraten würde?“
Sie sah nur, wie er langsam mit der Rechten über Stirn und Augen fuhr.
„Das weiß ich nicht mehr. – Lore, verzeih’, aber das ist im Grunde eine müßige Frage!“
„Nicht so ganz. Vielleicht sogar von großem psychologischen Interesse, wenigstens für mich, wenn Du bedenkst, wie unreif man in jenen Jahren ist und wie sehr geneigt, Augenblickswallungen des Herzens, man möchte sagen, dem Instinkt zu folgen.“
„Nun, Dein Instinkt war richtig,“ sagte Hermann etwas rauh.
Es war eine Weile still, bloß im Kamin knisterte leise die Glut. „Hermann!“ Es war ein warmer kindlicher Klang in ihrer Stimme. „Bist Du mir böse?“
Etwas leuchtend Weißes näherte sich ihm; er faßte danach und hielt ihre kalten zitternden Finger in den seinen.
„Was ist?“ fuhr sie plötzlich auf, das Eintreten einer Person vernehmend.
„Fräulein Helm, gnädige Frau.“
„Ah! Zünden Sie Licht an; schnell! Und dann lassen Sie die Dame eintreten.“
„Liebe Edda!“ Sie eilte der Eintretenden entgegen. „Seit wann sind Sie wieder hier in Berlin? Ich vermutete Sie noch in England.“
Hermann war zum Fenster getreten, so lange in dem entfernteren Teil des großen Zimmers die Begrüßung und das Ablegen von Mantel und Pelzwerk vor sich ging. Ihm war der Besuch wenig angenehm; er hörte nur, wie dieser mit eigentümlicher Stimme etwas antwortete.
„Hermann! Willst Du die Liebenswürdigkeit haben?“
„Verzeihung, ich glaubte, die Damen seien noch beschäftigt.“
„Mein Schwager – Fräulein Edda Helm.“
Er blickte in zwei große dunkle Augen, in ein feines blasses mageres Gesicht, dessen Züge ihm sonst wenig interessant erschienen. Eine mittelgroße überschlanke Dame, sehr einfach gekleidet, die dunklen Haare scharf aus der Stirn gezogen und in einen englischen Knoten aufgenommen. Sie neigte ein wenig den Kopf in Erwiderung seiner förmlichen Verbeugung.
„Fräulein Edda ist eine sehr gute Freundin von mir,“ sagte Frau von Weßnitz und klopfte jene freundlich auf die
[486] Schulter. „Der Vater Eddas ist ein Jugendbekannter von unserem Vater. Wie geht es dem alten Herrn? Wo kommen Sie her? Sie bleiben jetzt doch einige Zeit in Berlin?“ fragte Lore in ihrer lebhaften Weise.
„Sehr viel Fragen zu gleicher Zeit, Lore! Wir kommen von englischen Hospitälern her, die mein Vater im Auftrag der Regierung angesehen hat. Eine lehrreiche Reise in jeder Beziehung. Wenn Papa nur nicht immer zu viel leisten wollte! Jetzt fühlt er nachträglich den Rückschlog auf die Nerven und muß ausruhen.“
Das junge Mädchen sprach sehr langsam, mit einem eigentümlich rhythmischen Tonfall in der tiefen, aber klaren Altstimme, deren Klang Hermann schon vorher aufgefallen war.
„Du mußt nämlich wissen,“ erklärte Lore, „daß Eddas Vater Arzt ist, mit der Eigentümlichkeit, nur solche Kranke zu behandeln, die nicht von ihren Renten leben und für ihre Wohnung nicht mehr als zweihundert Mark im Jahre bezahlen. Und diese hier, seine Tochter, hat ebenfalls Medizin studiert und unterstützt ihren Vater in jeder Beziehung, was sie nicht abhält –“
„Wollen wir nicht lieber von etwas anderem sprechen, Lore?“ fiel Edda ein. „Ihr Herr Schwager wird sich schwerlich für medizinische Studien interessieren.“ Sie hatte eine Falte zwischen den Augenbrauen, so daß diese fast eine gerade Linie über der scharfgeschnittenen Nase bildeten.
„Ich muß Sie schon einmal gesehen haben, gnädiges Fräulein,“ sagte Hermann, ihr scharf ins Gesicht blickend. „Irgendwo, aber ich zermartere mein Gehirn vergeblich. Es müssen schon mehrere Jahre seitdem vergangen sein.“
„Sehr richtig! In Frankreich, am Lager Ihres Bruders. Ich hatte mich als freiwillige Krankenpflegerin anstellen lassen.“
„Ja, jetzt fällt es auch mir wieder ein! Ihre Augen waren mir in der Erinnerung geblieben. Sie müssen damals sehr jung gewesen sein.“
„Genau zwanzig Jahre! Also jetzt fünfundzwanzig, ohne weiblichen Rechenfehler!“ Es lag beinahe etwas Zurückweisendes in ihren Worten.
„Ich wollte keine Taufscheinbetrachtungen anstellen, gnädiges Fräulein.“
„Wenn ich Sie bitten darf, Herr von Weßnitz, so vermeiden Sie das ‚gnädige Fräulein‘. Ich bin niemals gnädig, wüßte auch nicht, wie ich dazu käme. Ich weiß ja wohl, daß diese Anrede Sitte ist, indes ich höre sie nicht gern –“
„Wie Sie befehlen, mein Fräulein,“ erwiderte Hermann, etwas erstaunt, aber höflich.
„Kommen Sie, Edda!“ rief Lore, um über die entstandene kleine Verstimmung wegzuhelfen. „Ich will Ihnen meinen Jungen zeigen, obgleich er schon schläft. Entschuldige uns einen Augenblick, Hermann! Dort liegen Sachen zum Lesen! Ihr bleibt natürlich bei mir, bis Bruno wieder nach Hause kommt!“
Ohne des Schwagers Antwort abzuwarten, zog sie die Freundin zur Thüre hinaus ins Kinderzimmer.
Edda beugte sich über das schlafende Kind und musterte dessen Züge bei dem schwachen Schein des im Zimmer brennenden Nachtlichts. Ein eigentümlich weicher Ausdruck breitete sich über die sonst so gefaßten ernsten Züge ihres Gesichts, ein Ausdruck von echter Weiblichkeit, den ihr ein oberflächlicher Beobachter gar nicht zugetraut hätte. Als die beiden Damen in den Salon zurückkehrten, lag noch der Abglanz der Weichheit von vorhin auf den Zügen der jungen Dame.
„Fräulein Helm hat eine Schwäche für unsern Jungen,“ berichtete Lore, während sie etwas am Theetisch ordnete. „Unser Bekanntwerden war eigentlich drollig, damals in Helgoland! Edgar bekam eines Abends Fieber, ich eilte selbst hinaus, einen Arzt zu holen, fand den unsrigen nicht und fragte einen Herrn und eine Dame auf der Straße, ob sie mir nicht die Wohnung eines andern Arztes zeigen könnten. ‚Nein das nicht!‘ antwortete der alte Herr, ‚doch, wenn es Eile hat – es stehen zwei Aerzte vor Ihnen.‘ Zuerst glaubte ich, er treibe Scherz mit mir, trotz seines ehrwürdigen Aussehens. ‚Nein, nein, liebe Frau,‘ sagte er dann, ‚hier meine Tochter ist ebenfalls Arzt. Sie können sich ihr getrost anvertrauen.‘ So lernten wir uns kennen und haben reizende Wochen zusammen verlebt.“
„Gefiel es Ihnen in Helgoland?“ fragte Hermann, der sich für das eigenartige Fräulein zu interessieren begann.
„Wir waren im September dort, also nach der Saison. Mein Vater geht mit Vorliebe in ein Seebad, um den ganzen Tag auf oder an dem Meere zuzubringen. Er stammt aus einem Ort an der Nordseeküste und schwärmt für die See.“
„Du mußt den Doktor Helm kennenlernen, Hermann,“ unterbrach Lore die Freundin, „ein Original, ein Mensch, in dessen Gesellschaft man stets Neues aufnimmt. Doch, Du wirst ja selbst sehen, ich will Dir die Freude nicht im voraus wegnehmen.“
Sie beugte lauschend den Kopf vor; auf dem Gang ertönten Schritte. „Das wird Bruno sein! Nein, doch nicht – eine andere Stimme! Himmel! Prinz Sissi, mein Pariser Schatten! Das fehlte mir gerade noch.“
„Ah, madame la Baronne!“
Der Ankömmling, dem das Mädchen die Thüre des Salons geöffnet hatte, schien für einen Augenblick verwirrt zu sein durch die fremden Gesichter.
„Sie hier? Also doch meinen Wunsch nicht erfüllt,“ sagte Lore, ihm die Hand reichend. „Prinz, Sie sind unverbesserlich und werden Ihre Thorheiten nie lassen. Weshalb jetzt, wo der Karneval beginnt, Paris den Rücken wenden? Trotzdem aber heiße ich Sie willkommen. Fräulein Helm – mein Schwager!“
Prinz Sissi antwortete gar nicht, sondern lächelte still vor sich hin.
„Hab’ ich mich gefreut, Baronin! In Paris giebt es keine warmen Oefen. Und die Saison? Mein Gott, was liegt mir daran! Immer dasselbe! Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Herr von Weßnitz! Habe viel von Ihnen gehört.“ Er musterte Hermann unbefangen mit einer Harmlosigkeit, daß man es ihm nicht übelnehmen konnte.
Ein merkwürdiger Mensch! Der Russe war schlank bis zur Dürftigkeit, jede Bewegung jedoch, als würde sie von verborgenen Stahlfedern getrieben, war leicht, elastisch, das Gesicht slavisch, mit großen grauen Augen, straffen, tief in die Stirn gewachsenen Haaren, harten, eckig hervortretenden Backenknochen. Aber auf diesen an sich wenig anziehenden Zügen spielte ein eigentümliches inneres Leben. Man konnte dem Prinzen ebensogut zwanzig wie dreißig Jahre geben. Die Stimme schwankte in der Betonung; sie war oft weich, oft scharf und gab jedem Wort seinen eigenen Nachdruck. Sein Anzug zeigte ganz die allerneueste Pariser Mode, als hätte man ihn aus dem Schaufenster eines Kleiderkünstlers entnommen, und doch sah der Mann nicht lächerlich aus.
Hermann blickte ihn scharf an. Keine Frage, ein interessanter Mensch! In diesen Zügen schlummerte etwas von ursprünglicher Naturkraft.
Auf Edda heftete der Prinz im Anfang einigemal seine großen Augen, gab dann aber den Versuch auf, für seinen Geschmack in ihrem Gesicht etwas Sympathisches zu finden. Dabei plauderte er französisch und deutsch drauf los, als sei er gewohnt, jeden Abend in diesem Kreise zu sitzen. In Paris sei anhaltendes Regenwetter, selbstverständlich, seit Frau von Weßnitz den Rücken gewendet habe. Das klang weder wie eine gewollte, noch wie eine unabsichtliche Schmeichelei aus seinem Munde, sondern wie die Feststellung einer unleugbaren Thatsache.
„Mein Gott, Baronin, ich bin auf den Boulevards umhergelaufen wie ein herrenloser Hund. Ich konnte nicht arbeiten, nicht einmal Gedichte machen, was doch sonst den Unzufriedenen am leichtesten wird. Ich beneidete jeden Burschen auf der Straße, der italienische Wachsstreichhölzer ausrief. Dann ließ ich mich von Sachée und dem Herzog Osco ins Schlepptau nehmen, nebenbei gesagt, den beiden größten Müßiggängern in Paris. Wir bummelten, aßen, spielten, tranken –“
„Oho!“ Lore drohte mit dem Finger. „Prinz, welch ein Benehmen! Vergaßen Sie so schnell meine gute Erziehung?“
„Warum sind Sie fortgegangen! Wie sollte ich es aushalten ohne Ihren Anblick, ohne die gemütlichen Abende an Ihrem Theetisch! Es dauerte nicht lange, da bekam ich Kopfschmerzen, beklagte mich beim Arzt, und es wurde mir Luftwechsel empfohlen.“
„Sie hätten in Ihre Steppe gehen und mit den Wölfen ein Konzert geben sollen,“ neckte Lore.
Er schwieg eine Weile und sah völlig niedergeschlagen aus.
„Ja, ja, Baronin, in die alte liebe Steppe. Ach, diese Steppe! Nur Himmel und Schnee und hungerige Wölfe, und die Kosaken jagen vorüber auf ihren Pferden. Wie sie jauchzen und die Peitschen schwingen, wie der Schnee stäubt und der Wind durch die Mähnen der Pferde saust! O, das ist herrlich!“
[487] Seine Augen glänzten; er atmete tief auf.
„Wollen wir Wölfe jagen, Herr Lieutenant? Kommen Sie mit, heute nacht geht der Schnellzug nach Petersburg.“
Hermann lachte laut auf. „Ich danke sehr, ich bin keine russische Durchlaucht.“ Dieser Mensch, der seinem Willen nie eine Schranke zu ziehen brauchte, belustigte ihn.
„Schade, sehr schade!“ Prinz Sissi machte wieder sein altes Gesicht. „Dann gehe ich auch nicht fort. Apropos, können Sie mir hier in Berlin einen Gasthof empfehlen?“
Alle sahen sich erstaunt an.
„Wo sind Sie denn bis jetzt gewesen, Prinz?“ fragte Lore.
„Ich komme geradeswegs vom Bahnhof.“ Er lachte heiter. „Das heißt, zuerst fuhr ich nach dem Auswärtigen Amt, um Ihre Adresse zu erfahren.“
„Und Ihr Wagen, Ihr Gepäck?“
Er deutete mit dem Daumen über die Schulter nach dem Fenster und lachte in sich hinein. „Alles noch draußen! Wartet auf mich.“
„Den Wagen lassen Sie stundenlang in der eisigen Kälte warten?“ Lore nahm einen Ton an, wie man ein ungezogenes Kind schilt.
„O, der Kutscher sitzt ganz warm in seinem Pelz! Doch nein! Sie erlauben?“
Rasch schenkte er aus einer Rumflasche neben dem Theeservice ein Weinglas voll und eilte damit zur Thür hinaus.
„Er ist ein steuerloser, aber guter Mensch,“ meinte Lore, ein wenig unsicher zu Hermann und Edda hinüberblickend. Als die beiden schwiegen, fragte sie etwas nervös: „Nun, was sagt Ihr dazu?“
„Man merkt, daß er einem asiatischen Stamm entsprossen ist.“
„Eine psychologische Studie,“ fiel Edda mit ihrer tiefen Stimme ein.
„Leider richtig, Ihr beiden Weltweisen! Aber ich werde – ah, da ist er schon wieder!“
Mit einem Riesenstrauß von Marschall Nielrosen in der Hand, schmelzenden Schnee auf den Spitzen seiner Lackstiefel, erschien der Russe wieder.
„Wie der Kutscher lachte über das ganze Gesicht! Seine Nase leuchtete im Gaslicht wie ein Feuerwerk.“
Ohne weitere Erklärung legte er die Blumen in Lores Hand.
„Mein Gott, diese Pracht! Haben Sie die herrlichen Blumen aus Paris mitgebracht? Aber Prinz, Sie fallen wieder in Ihren alten Fehler, obgleich ich Ihnen die Blumenspenden verboten habe. Geben Sie das Geld lieber den Armen.“
„Thue ich auch! Aber dies ist ein Gelegenheitskauf. Unter den Linden sah ich den Strauß in einem Ladenfenster,“ log er munter. „Was macht man hier in Berlin des Abends? Womit vertreibt sich ein Junggeselle die Zeit?“ suchte er dann das Gespräch abzulenken, um Lores forschenden Fragen auszuweichen.
Hermann gab ihm einige Ratschläge. „Wo Bruno nur bleibt?“ fuhr er dann fort und sah nach der Uhr.
Lore zuckte die Achseln. „Er wird irgendwo gute Freunde gefunden haben.“
„Ja, Ihr Herr Gemahl ist eben ein so charmanter Mensch, ein so vorzüglicher Gesellschafter – ich kenne das aus Paris: man läßt ihn nie fort,“ meinte der Russe. – –
Es war elf Uhr vorüber, als die Drei endlich aufbrachen.
„Darf ich Ihnen meinen Wagen anbieten, Fräuleiu Helm?“
Sie nahm ohne weiteres das Anerbieten des Prinzen an und setzte sich zu den beiden Herren in den Wagen. Jede Art anerzogener kindischer Zimperlichkeit war ihr fremd. Sie wohnte im Mittelpunkt der Stadt, im ältesten Teile Berlins. Als sie dort ausgestiegen war, fahren Hermann und der Prinz die Linden hinab. Dieser hatte den Wagen öffnen lassen trotz der Kälte und saß mit offenem Rock und strahlenden Augen neben seinem Begleiter, neugierig sich das Nachtleben der ihm nur flüchtig bekannten Stadt anschauend.
„O, ganz hübsch, dieses neue Berlin!“ meinte er, Hermann eine Cigarette anbietend.
„Hier sind wir an dem bezeichneten Gasthof, Durchlaucht!“
Rasch sprang der Prinz aus dem Wagen.
„Bitte, Herr Lieutenant – ich will nur ein Zimmer nehmen und mein Gepäck hinauftragen lassen – essen Sie irgendwo mit mir zur Nacht? Ich kann nicht vor ein Uhr schlafen.“
Hermann würde weit lieber in seine Wohnung gegangen sein, doch schien es ihm ungezogen, die Bitte des Fremden abzuschlagen.
„Gut, dann fahren wir zusammen.“
Nach wenigen Minuten war der Russe wieder zurück. „Wohin wollen Sie mich führen? Ist es weit?“
„Nein, nur wenige Minuten.“
Hermann gab dem Kutscher die Adresse an, Prinz Sissi nickte zustimmend mit dem Kopfe und blickte eine Weile sinnend an dem breiten Rücken des Kutschers vorbei. Dann seine schlanke Hand auf Hermanns Arm legend, begann er plötzlich: „Sehen Sie, jetzt bin ich glücklich! Jetzt geht mir wieder das Blut ganz vernünftig durch die Adern, lustig, fröhlich, seitdem ich weiß, daß ich Ihre Schwägerin jeden Augenblick sehen kann. Herrgott, die letzte Zeit in Paris war abscheulich! Ach, Ihre Schwägerin! Sie ist so schön, so madonnenhaft! Und so freundlich mit mir!“ sagte Prinz Sissi leise vor sich hin.
Hermann hatte es gehört. Auf seinem Gesicht war nur Mißmut und ein gewisser Aerger über diesen tollen Gecken zu lesen. Der Russe betrachtete seinen Begleiter aufmerksam, plötzlich fiel er in einen ganz andern Ton, und mit einer Stimme, so weich wie die eines Mädchens, dem Offizier die Hand auf das Knie legend, fuhr er fort: „Sie haben Ihre Schwägerin sehr lieb?“
„Wozu – was soll das? Gewiß, wie eine Schwester.“
Das letzte Wort sprach er mit einem gewissen Nachdruck aus.
„Sie sind hart gegen mich, wenn Sie das Verhältnis zwischen der Baronin und mir ansehen – nun, wie soll ich sagen – wie eine Pariser schlechte Angewohnheit, vielleicht noch als etwas Schlimmeres.“
„Dann würde ich nicht hier neben Ihnen sitzen.“
Die Durchlaucht biß sich auf die Lippen. „Sie sollen mich verstehen lernen, wenn unsere Bekanntschaft auch erst heute geschlossen wurde. Ich kenne Sie aus Erzählungen Ihrer Schwägerin seit langer Zeit sehr gut und will Ihnen meine Geschichte erzählen. Doch wir sind anscheinend am Ziel. Gut! Können wir ein besonderes Zimmer erhalten? Ich möchte ungestört mit Ihnen sein.“
Das Restaurant war ziemlich besucht, doch gelang es den Ankommenden, noch ein stilles Plätzchen zu finden.
„Château la Rose?“ fragte Prinz Sissi mit einer Verbeugung gegen Hermann. „Sie erlauben!“ Langsam goß er die beiden Gläser voll, warf sich in den Sessel zurück, schlürfte bedächtig mit Kennermiene den schweren Wein und ließ die blauen Rauchwolken einer Cigarette langsam emporsteigen. Die Augen halb geschlossen, als blickten sie weit, weit in die Ferne, begann er: „Ihre Schwägerin sagte, ich hätte wieder in meine Steppe gehen sollen. Ja, da bin ich aufgewachsen, in der Steppe, dort unten, wo die Wolga ihre trüben Fluten so gemütlich melancholisch zum Meer hinabrollen läßt. Meinen Vater habe ich nie gekannt. Seit Jahrhunderten sterben die Männer unserer Familie am Herzschlag, plötzlich, unvermittelt, ohne vorhergehende Krankheit. So auch er. Wie das zugeht? Nun, der Wahrheit die Ehre – es klingt abscheulich, aber es soll noch keiner meiner Vorfahren je in nüchternem Zustande dahingerafft worden sein. Es ist wie ein Verhängnis, wie ein Fluch in unserem Blut. Ich selbst kenne das an mir. Ich habe Zeiten, wo ich dagegen kämpfen muß mit aller Kraft und doch unterliege. Auf andere Menschen wirkt der Genuß von Alkohol in anderer Weise als auf mich – ich sehe Leute lustig, traurig, schläfrig werden. Von alledem spüre ich nichts; ich glaube mich ganz normal zu fühlen, bleibe im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte, nur daß diese viel gesammelter wirken. Das Blut tobt mir wie mit Hammerschlägen durch die Adern, meine Phantasie arbeitet in einem raseden Tempo, ich bin imstande, in einer Sekunde mehr zu denken als sonst in Stunden. Doch kurz und gut – mein Vater starb zehn Tage nach meiner Geburt und meine Mutter folgte ihm bald nach. Die alte Maruschka, meine Amme, und ein Onkel, ein entfernter Verwandter meiner Mutter, haben mich erzogen, das heißt, der letztere hat mich verzogen, wenn er betrunken war, und geschlagen, wenn ihm am andern Tage der Kopf brummte. Im übrigen wuchs ich auf wie das Unkraut hinter den Lehmhütten unserer Bauern. Im Alter von acht Jahren bekam ich eine Erzieherin, ein deutsches Mädchen, das nach einiger Zeit durch die Liebeserklärungen meines Onkels vertrieben wurde, der sich von unserem Kutscher nur dadurch unterschied, daß er noch mehr Branntwein trank als dieser.
Diese deutsche Erzieherin stellt den einzigen weiblichen Einfluß [488] dar, der während meiner Kindheit auf mich gewirkt hat, denn die Maruschka konnte ich schlagen oder liebkosen, sie war für beides gleich dankbar, für ersteres vielleicht mehr, weil es öfter vorkam. Später wurde einem Hauslehrer, einem Russen, die Aufsicht über mich übertragen, aber dieser trank und spielte mit meinem Onkel, statt sich um meine Bildung zu kümmern. Tagelang durchstreifte ich nun auf flinken Pferden die Steppe, sah glutrot die Sonne über ihr untergehen und lag, den Kopf auf dem Sattel, die Nacht hindurch träumend im feuchten Steppengras oder trieb mich in Kosakendörfern umher, oft meilenweit entfernt vom Gutshofe. Aelter werdend, fühlte ich heraus, daß ich der Herr, daß dies ganze Besitztum mein Eigen sei, eine Herrschaft, weiter als das Auge reichte. Ich konnte stundenlang reiten und war immer noch der Herr des Bodens, den meines Pferdes Hufe berührten. Mein Onkel hatte das Prügeln aufgegeben, seit ich ihm eines Tages die Faust unter die Nase gehalten hatte. Nun sollte ich nach Moskau in ein Institut, ich lachte den Onkel aus und ging nicht. Es hätte mich wohl reizen können, in die Stadt zu kommen, aber mich hielt etwas fest, das stärker war als die Sehnsucht nach der Fremde.“
Der Prinz schwieg einen Augenblick und beugte lauschend das Haupt zur Seite, aus einem Nebenkabinett ertönte Gläserklang, das helle Lachen einer Frauenstimme, lebhafte Unterhaltung.
„Lebenskünstler!“ sagte der Russe sarkastisch, mit dem Kopf eine Bewegung nach der hinter ihm liegenden Wand machend. „Noch eine Cigarette gefällig? Aber Sie langweilen sich wohl bei meinen Reminiszenzen. Nicht? Wirklich nicht? Nun gut, mir thut es wohl, einmal wieder von diesen Dingen zu plaudern, und Sie sind der Schwager der Baronin, Sie sollen mich kennenlernen. Also: wo war ich doch stehen geblieben? Richtig! Ich war mit der Zeit achtzehn Jahre alt geworden, ein fast zur vollen Größe ausgewachsener Jüngling. In einem entfernt gelegenen Kosakendorf hatte ich sie gesehen, als sie an der Cisterne Wasser schöpfte für mein durstiges Pferd. Wie eine Gazelle schlank, schmiegsam, zwei Zöpfe im Nacken so dick wie meine Faust und rote Lippen mit Zähnen dazwischen wie die des Steppenfuchses. Es erwachte in mir jenes Gefühl, das die Menschen Liebe nennen, und zwar für dieses Mädchen, das Kind eines armen Kosaken. Mit der ängstlichen Scheu der erwachenden ersten Liebe näherte ich mich ihr; sie war nicht unfreundlich. Wie das Blut in den Adern kochte in stillen warmen Sommernächten, wenn wir mit den andern Paaren nach dem Klange der Kosakenlieder um das Feuer tanzten! Wie die Röcke flogen und die Glieder sich dehnten! Bei alledem aber wagte ich kaum, sie zu berühren.
Endlich eines Abends – wir standen nach dem Tanze dicht am Zaun, hinter dem das Schnauben und Prusten der Pferde in die stille Nacht tönte. Am Himmel die Sterne so klar und glitzernd und im Osten der Mond wie eine Brandfackel am Himmel aufflammend. Wie alles dann kam, ich weiß es nicht, obgleich ich glaube, eine ziemlich dumme Rolle gespielt zu haben. Ich fühlte ihren heißen Atem auf meinen Lippen, ihre weichen Arme an meinem Halse, ich küßte sie und erbebte bis ins Mark bei dem Sturm, der mir zum Kopf raste. Ein Gefühl war in mir, als hielte mich der Teufel mit eiserner Faust an den Haaren. Da stieß ich sie von mir mit einem Schrei, mit zwei Sprüngen war ich neben meinem Pferd, im nächsten Augenblick jagte ich in die nachtdunkle Steppe hinaus. War es Täuschung oder hörte ich hinter mir das Lachen einer Frauenstimme? Nach kurzem Ritt machte ich Halt. Die Bewegung, der frische Luftzug hatten mir das Blut gekühlt; ich schämte mich meiner albernen Flucht, die ganze Lächerlichkeit meines Benehmens wurde mir klar. Ich riß das Pferd herum, eilte denselben Weg zurück und schlich dann leise um das Haus ihres Vaters. Da tönte aus dem wirren Gestrüpp einer Laube leises Gespräch – ihre Stimme und die Stimme eines Mannes. Behutsam lugte ich durch das Blätterwerk. Ich glaubte zu ersticken; wie ein eisiger erstarrender Schauer ging es durch meinen Körper. Sie saß auf den Knien eines jungen Kosaken, er küßte sie und fragte: ‚Was hat der Gospodar gethan?‘ – ‚Dumm wie ein Pope, auf und davon gelaufen!‘ – ‚Laß nicht ab, mein Täubchen; er wird nicht knausern und dann bauen wir uns ein Häuschen!‘ – Ich fühlte in jener Sekunde die Wut eines gereizten Tieres in meinem Inneren. Der Mond schien klar; selbst durch das dichte Gestrüpp huschten seine Strahlen. Da sah ich, wie er sie umhalste, wie seine dicken Lippen sich auf ihr Gesicht herabsenkten – ich bezwang mich und ging mit einem unauslöschlichen Gefühl der Verachtung im Herzen. Als ich zur Besinnung kam, saß ich in einer Dorfschenke vor einer Schnapsflasche. Es war ganz gemeiner Fusel und ich trank und trank, obgleich es mir widerlich war. Dann weiß ich nur, daß mir alles lustig erschien, so rosenrot, zu komisch! Und ich lachte und lachte und trank, bis mir das Bewußtsein schwand und ich besinnungslos auf den Estrich rollte.“
(Fortsetzung folgt.)
Alle Rechte vorbehalten.
Etwas vom Gedächtnis.
[490] ( gemeinfrei ab 2025) [491] ( gemeinfrei ab 2025) [492]
Die kluge Tochter.
Mutter sprach, wie Mütter sind:
„Kind, laß Klugheit walten!
Wenn dein Herzchen Liebe spinnt,
Nimm dir keinen Alten!
Alter Mann ist wunderlich;
Blühst du auf, so ärgern dich
Weißes Haar und Falten.“
Mutter sprach: „Ach, denke dran,
Willst dich einst nicht härmen:
Kommt ein junger Freiersmann,
Mußt nicht gleich erwärmen!
Junge Treu ist seltner Art;
Glücklich macht kein schmucker Bart,
Noch verliebtes Schwärmen.“
Ei, das wär’ ein seltsam Ding,
Mied ich den und diesen!
Wenn ich nach der Mutter ging’,
Hätt’ ich’s wohl zu büßen.
Wer mich liebt, der mag mich frein!
Müßt’ ich immer Fräulein sein,
Sollt’ es mich verdrießen.
Victor Blüthgen.
Wolfgang Amadeus Mozart der Jüngere.
Der alte Friedhof in Karlsbad schließt in seinen Mauern einen Grabhügel ein, dessen verfallender Denkstein einen weltberühmten Namen trägt. Unwillkürlich bleibt der Besucher stehen, sobald er diesem Grabe näher tritt, denn der müde Erdenpilger, den man vor nunmehr fünfzig Jahren in dieses Grab bettete, hieß Wolfgang Amadeus Mozart und war der zweitgeborene Sohn des unsterblichen Schöpfers des „Don Juan“, der „Zauberflöte“ und der „Hochzeit des Figaro“.
Fast immer schlägt der begabte Sohn die Laufbahn des großen Vaters ein; er will die eigene Persönlichkeit vor dessen Titanengestalt aufpflanzen, sein Stern soll noch heller leuchten als der des Vaters, und gespannt verfolgen die Mitmenschen seinen Werdegang, sein Emporwachsen. Die Genialität des einen flammt aber nur höchst selten in einem zweiten Kopfe wieder auf; sie ist wie der elektrische Funke, der sich nach dem Einschlagen in die Erde verliert, unauffindbar für die ganze Menschheit, wenn sie nach ihm graben wollte.
Die Wahrheit des eben Gesagten hat kaum einer mehr an sich erfahren als Wolfgang Amadeus Mozart, der Sohn. Das Talent zur Kunst des Vaters war ihm in die Wiege gelegt worden; er wurde ein hochbegabter Künstler, der in seinen Anfängen dem Vater ebenbürtig schien und dann – hat ihn der große Name geblendet und der Ruhm der väterlichen Werke erdrückt. Wolfgang Amadeus Mozart duldete keinen zweiten Mozart neben sich; neben ihm konnte der Sohn nicht zur Geltung kommen.
Dennoch sind es die Ueberreste des Sohnes wert, daß die musikalische Welt sie in Ehren halte. Die Zeit des alten Friedhofes in Karlsbad ist um; man läßt verfallen, was verfallen muß, und immer kleiner wird die Zahl der Gräber, die an gewissen Gedenktagen mit Blumen und sonstigen Liebesgaben geschmückt werden, immer kleiner die Zahl der Menschen, die der dort Schlummernden gedenken und treu zu ihnen pilgern. Man hat den unsterblichen Schöpfer des „Don Juan“ nach seinem Tode sang- und klanglos in ein Massengrab gebettet und sich um seine Gebeine jahrzehntelang nicht gekümmert. Dann, als man sie suchte, vermochte niemand mehr mit Sicherheit sie nachzuweisen.[1] Deshalb hat es sich der Karlsbader Musikverein und dessen Direktor Alois Janetschek, getreu den Ueberlieferungen in diesem Verein, zur Aufgabe gemacht, das Grab des jüngeren Mozart der Nachwelt zu erhalten. Die Stadtvertretung von Karlsbad hat dem Gesuche des genannten Vereins um Ausgrabung der Gebeine des jüngeren Mozart stattgegeben und ein Ehrengrab für dieselben auf dem neuen Friedhofe bewilligt. Und so wird denn am 29. Juli dem Mozartschen Genius am Grabe dös Sohnes eine einfache und doch großartige Huldigung dargebracht werden. Ueber des Sohnes Reste wenigstens besteht keine Ungewißheit. Unter dem Trauerweidenbaume unh dem schlichten eisernen Denkmale auf dem alten Karlsbader Friedhofe ruht ein echter Mozart, des Meisters geistesverwandter Sprosse.
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Wolfgang Amadeus Mozart (der Sohn) war ein Altersgenosse Franz Grillparzers; er wurde am 26. Juli 1791 zu Wien geboren und war kaum fünf Monate alt, als er seinen Vater verlor, der ihm leider nichts als den in diesem Fall verhängnisvollen Ruhm seines Namens hinterlassen konnte. Zart und schwächlich war der Knabe von Geburt, aber seine Fähigkeiten zur Ausübung der Musik entwickelten sich überraschend frühzeitig. Kaum fünf Jahre alt, begleitete er seine Mutter von Wien nach Prag und sang in einem öffentlichen Konzerte das erste Papagenolied aus der „Zauberflöte“, dem man einen passenden Gelegenheitstext untergelegt hatte. Eine mächtige Bewegung ging durch die Versammlung, als der Kleine auf den Tisch gehoben wurde, und als er geendigt hatte, erhob sich ein Beifallssturm, der wohl mehr den Manen des Vaters als der Sangesleistung des Sohnes galt. Man nahm ihn auch überall sympathisch auf, wo er sich zeigte, und die Begeisterung für das Kind des unsterblichen Meisters, der seine beste Schöpfung[2] für das Prager Publikum geschrieben hatte, ließ erst nach, als Frau Mozart eine größere Kunstreise antrat und Prag verließ.
Das fünfjährige Kind blieb bei dem Künstlerpaare Franz und Josepha Duschek, von dem es dann der k. k. Rat und Professor der Philosophie in Prag, Franz Niemeczek, übernahm, der schon früher auch den älteren Sohn Mozarts, Karl, drei Jahre hindurch bei sich gehabt hatte. Bei ihm war der kleine Wolfgang gut aufgehoben. Der Professor, ein naher Freund und zugleich der erste Biograph Mozarts, leitete nun die Erziehung und den Unterricht des Knaben und nahm sich seiner in der väterlichsten Weise an. Nach anderthalb Jahren kam der Junge wieder nach Wien zurück, um bei Sigmund von Neukomm und Andreas Streicher gründlichen Klavierunterricht zu nehmen, Streicher, der bekannte Freund und Fluchtgenosse Friedrich Schillers, fand Gefallen an dem aufgeweckten und reichbegabten Knaben und nahm ihn nach kurzer Zeit gänzlich zu sich.
Mozart war erst elf Jahre alt, als er bereits eigene Kompositionen veröffentlichte. Es befand sich darunter ein Klavier-Quartett in G-moll, dem Grafen Szaniawsky gewidmet, der sich durch diese Aufmerksamkeit so geschmeichelt fühlte, daß er dem jugendlichen Komponisten eine goldene Uhr überreichen ließ, welche dieser, so lange er lebte, mit Vorliebe trug.
Spätere Lehrer Mozarts waren Hummel (Klavier), der Abt Vogler, sowie Albrechtsberger (Kompositionslehre) und Salieri (Gesang); hauptsächlich übte Hummel, der nach Streicher die weitere Ausbildung des Knaben übernommen hatte, einen bedeutenden Einfluß auf ihn aus.
Im Jahre 1804 gab Mozart sein erstes Konzert im Theater an der Wien. Dreizehn Jahre vorher hatte man in Wien seinen unsterblichen Vater wie einen Bettler begraben, und nun genügte plötzlich der Name Wolfgang Amadeus Mozart, um einen Menschenstrom in das Vorstadttheater am Wienflusse zu leiten und dem Konzerte einen geradezu beispiellosen Erfolg zu verschaffen. [493] 1700 Gulden Konventionsmünze, eine für die damalige Zeit unerhörte Summe, flossen dem jungen Tonkünstler zu, und diese glänzende Einnahme wurde zum größten Teile zur Bezahlung der edelmütigen Lehrer verwendet, welche bis zu diesem Tage hatten vertröstet werden müssen. Nun war es mit dem Unterrichte aus. Mozart fühlte sich stark genug, selbst Klavierunterricht zu erteilen, und als dreizehnjähriger Klavierlehrer begann er, sich auf eigene Füße zu stellen.
Die Begeisterung des Wiener Publikums, sowie sein väterlicher Freund und nachheriger Stiefvater, der dänische Etatsrat van Nissen, waren ihm bei der Erlangung von Stunden in der ersten Zeit sehr behilflich. Der letztere, der später des großen Mozart Witwe, Constanze, als Gattin heimführte, sorgte für den jugendlichen Künstler und seine weitere wissenschaftliche Ausbildung, so daß er in kurzer Zeit drei fremde Sprachen lernte, frazösisch, englisch, italienisch, namentlich letzteres geläufig. Nissen hegte für den Knaben des toten Meisters schon damals eine wahrhaft väterliche Zuneigung, und als Wolfgang in seinem siebzehnten Lebensjahre einem Rufe des Grafen Bavorovsky nach Lemberg folgte, um dort die Stelle eines Klavierlehrers für des Grafen Tochter Henriette zu übernehmen, sah Nissen ihn ungern ziehen. Sechs Jahre lang blieb der junge Lehrer im Hause des Grafen und in dem des k. k. Kämmerers von Janiszewski in Lemberg, dann erfaßte ihn der Wandertrieb, der den meisten Virtuosen eigentümlich ist, und entführte ihn nach Rußland.
Bis zu diesem Jahre (1811) berechtigte das ernste Streben des Jünglings zu den schönsten Hoffnungen. Er hatte die Lust zum eigenen Schaffen noch nicht verloren und glaubte selbst noch an eine glänzende, ehrenvolle Zukunft. Nun aber brachen Enttäuschungen und Bitternisse mannigfacher Art über ihn herein, vergeblich war all sein Suchen nach einer gesicherten Lebensstellung, bis zu seinem Lebensende sollte er dieses Glück nur als lockende Fata morgana in der Ferne schauen.
Schon über der Kunstreise nach Rußland waltete ein Unstern, als Mozart kaum dort war, wurde eine Hoftrauer angesagt und infolgedessen waren alle öffentlichen Unterhaltungen vier Monate hindurch verboten. Was blieb dem jungen Tonkünstler übrig, als wieder abzuziehen! Er kehrte denn auch über Warschau, Königsberg, Danzig, Berlin, Prag, Leipzig, Dresden und Süddeutschland nach Lemberg zurück, nachdem er in Shitomir und Kiew zwei glänzende Konzerte gegeben hatte. Seine Konzertreise durch Deutschland – er kam bis nach Stuttgart – glich allerdings einem Triumphzuge. So wurde er in Dresden bei Hofe eingeladen und insbesondere vom Könige Friedrich August I. mit vielen Ehren und wertvollen Geschenken ausgezeichnet. König Wilhelm I. von Württemberg bot ihm eine Konzertmeisterstelle mit 1500 Gulden Jahresgehalt an, welche Mozart indessen ausschlug. Diese Absage, bei welcher die Liebe zu seinem Vaterlande stark ins Gewicht gefallen war, hat er in späteren Jahren sehr bedauert, denn das Glück bot ihm nie wieder die Hand; es sollte ihm nicht mehr gelingen, eine seinen Kenntnissen entsprechende Anstellung zu erhalten. Die Mitwelt verlangte von dem Sohne des großen Meisters mehr, viel mehr, als er bisher geleistet hatte, und als er im Jahre 1820 wieder nach Wien zurückkehrte, trat ihm sogar die Sorge ums tägliche Brot nahe. Was half es ihm, daß Andreas Streicher, damals der gesuchteste Klavierlehrer Wiens, seinen gemütvollen, zarten Vortrag nicht genug rühmen konnte! Einmal umarmte ihn auch Hummel, sein einstiger Lehrer, vor dem ganzen Konzertpublikum und rief aus: „Ich bin stolz darauf, Dich meinen Schüler nennen zu dürfen!“ Und doch hatte Mozart mit Nahrungssorgen zu kämpfen!
Des Wartens und der nicht eingehaltenen Versprechungen endlich müde, ging Mozart im Jahre 1822 wieder nach Lemberg zurück. Dort lebte er bis 1838 im Kreise seiner zahlreichen Freunde, mit der Ausbildung talentvoller Schüler beschäftigt, unter denen namentlich Andreas Streichers Enkel, Ernst Pauer, seine herzliche Zuneigung genoß. Dieser Lieblingsschüler war es denn auch, der ihm zuletzt die müden Augen zudrückte.
Während der nächsten fünf Jahre seines Lebens – Mozart war 1838 wieder nach Wien übergesiedelt – bildete sein Haus einen Versammlungsort der ausgezeichnetsten Künstler und Litteraten Wiens, da er trotz seines leidenden Zustandes ungemein gesellig war und ein Besuch in seinem Hause auserlesene mnsikalische Genüsse bot.
Im Juni 1844 entschloß er sich zu einer Badereise nach Karlsbad, und als er dort nach der damals noch recht beschwerlichen Reise eintraf, machte er bereits den Eindruck eines schwer kranken Menschen. Seine Gesichtsfarbe war vollkommen gelb, was um so mehr auffiel, als er dunkelbraunes Kopf- und Barthaar hatte. Außerdem liebte er es, sich absonderlich zu kleiden.
Bald nach seiner Ankunft erkrankte er derartig, daß die Aerzte jede Hoffnung auf Wiederherstellung seiner Gesundheit aufgeben mußten, und am 29. Juli, Abends 9 Uhr, erlag er trotz aller liebevollen Pflege, die ihm Ernst Pauer und die Doktoren Rudolf Mannl und Gallus Hochberger angedeihen ließen, der heftigen Magenentzündung, die ihn befallen hatte.
An seinem offenen Grabe sang sein berühmter Zeitgenosse Franz Grillparzer wehmütig:
„Nun öffnen sich dem guten Sohne
Des großen Vaters Arme weit,
Er giebt, der Kindestreu zum Lohne,
Ein Teilchen Dir Unsterblichkeit.“
Die Martinsklause.
Wie anders hatte Eberwein die Stunde sich gedacht, da er zum erstenmal im Kreise seiner Gemeinde stehen würde! So schön, so reich an Hoffnungen und Plänen! Als den verheißungsvollen Anfang einer guten Zeit! Nun war die ersehnte Stunde gekommen – und er stand inmitten dieser tiefgebeugten, nach Trost und Hilfe bangenden Menschen wie ein Hausvater, der von weiter Reise zurückkehrt, freudiger Sehnsucht voll, und unter seinem Dach den Tod und alles Elend findet. Wie sollte er trösten, da er doch selbst des Trostes bedürftig war wie ein Dürstender des Trankes. Sprechen konnte er nicht – er drückte nur hier eine zitternde Hand, blickte mit heißem Erbarmen in ein brennendes Auge, streichelte dort ein gebeugtes Haupt, schloß einen Wankenden in seine Arme, drückte ein Kind an seine Brust und gab es der Mutter zurück, während ihm die Thränen über das bleiche Antlitz rannen.
Und so gab er Trost, ohne daß er es wußte: der Schmerz hat seine Sinne, und diese Menschen empfanden es wie einen warmen Lichtstrahl in ihrem dunklen Jammer, daß einer unter ihnen weilte, der es gut mit ihnen meinte wie ein treuer lange erprobter Freund – sie fühlten, daß all sein Erbarmen, alle Liebe seines Herzens ihr Eigen war. Ihre Stimmen lösten sich aus dem stummen Bann, ihr Schluchzen wurde laut, und eine Greisin faßte den Arm des Mönches, brach ihm eine Gasse, und auf die Toten deutend, weinte sie: „Schau’, guter Herr, schau’ ... da liegen sie auf der Erd’ ... um Deinen heiligen Bruder her!“
Im ersten Entsetzen deckte Eberwein den Arm über seine Augen. Auf einer Bahre aus Buchenästen ruhte Waldram, die gebrochenen Augen noch offen, das schwarze Kleid übergossen von geronnenem Blut. Und um ihn her im Kreis eine stille Gesellschaft, Männer, Weiber und Kinder, Leiche neben Leiche, sie alle geschmückt mit der roten Blume ihres erloschenen Lebens.
Zitternd, das Antlitz von fahler Blässe bedeckt, stand Eberwein vor dieser wüsten Orgie des Todes. Seine verstörten Augen suchten den Himmel, und mit bleichen Lippen stammelte er: „Wir müssen glauben ... oder verzweifeln!“ Wankend schritt er zwischen den Leichen auf die Bahre Waldrams zu und schloß dem Toten mit bebender Hand die Lider. „Vergieb mir, wenn ich Dir Unrecht that im Leben!“ Seine Blicke irrten über die Gesichter der Lebenden, er suchte nach einem Trost, den er spenden könnte, und wußte kein Wort zu finden. Worte? Er fühlte, hier gab es nur einen Trost noch: die helfende That! Schwer atmend richtete er sich auf und stand inmitten der Leichen, als wäre er selbst noch eben auf der blutgetränkten Erde gelegen und hätte sich, wie durch ein Wunder, starren Leibes erhoben.
Scheu näherte sich der Köppelecker. „Herr, laß Dir sagen, wie der heilige Mann gestorben ist ...“
Eberwein wehrte mit der Hand. „Er ist ein Toter unter Toten ... wir wollen der Lebenden gedenken!“ Einen letzten Blick noch warf er auf die Bahre Waldrams, dann schritt er aus dem Ring der Leichen hervor und strich mit der Hand über das Haar der Greisin, die ihn geführt. „Mütterlein, sammle die Kinder und führe sie zu einem sicheren Hag – Tod und Wunden sind kein Anblick für Kinderaugen.“ Dem Köppelecker befahl er: „Wähle die Knaben aus, welche bei Kräften sind und die Wege kennen. Sie sollen Botschaft tragen zu den entlegenen Gehöften, zu allen Hochbauern auf dem Göhl und Untersberg und die Männer zur Hilfe rufen. Ihr Frauen und Mädchen! Brechet Aeste und flechtet sie mit Stangen zu festen Bahren!“ Er sandte sie zu einem nahen Gehölz, damit ihnen das gräßliche Bild der Leichen entzogen wäre. Zwölf bejahrte Männer wählte er; sie sollten die Toten zur Klause tragen und vor dem Kirchlein niederlegen. Dann hob er einen Spaten von der Erde. „Ihr anderen Männer alle! Zu mir!“
Jedem wies er einen Teil der Arbeit zu, keiner sollte müßig stehen, keinem die Zeit verbleiben, stumpf zu versinken in Schmerz und Jammer. Es gab keinen Widerspruch, sie alle gehorchten jedem Wort und Wink. Keiner fragte: gilt die Hilfe mir? Gilt sie dem Nachbar? Die gemeinsame Not hatte sie mit eisernem Band aneinander geschmiedet wie zu einem einzigen Wesen, das nur einen Schmerz und Verlust empfand und um all’ die Leichen weinte wie um einen Toten.
Eberwein teilte die Männer in Gruppen, gab jeder Gruppe einen Führer, den er mit prüfendem Blick erwählte, und sandte die Häuflein nach verschiedener Richtung aus, während er selbst mit wenigen Männern zu den Stätten eilte, auf welchen die Zerstörung am übelsten gewaltet hatte. Er kam zu einem Haus, welches bis zum Giebel unter dünn gemahlenem Schutt begraben lag; nur ein Teil des verschobenen Daches mit wirr in die Luft starrenden Balken war noch zu sehen. Als Eberwein über die Böschung emporklomm, um durch die Lücken des Daches einen Weg ins Innere des Hauses zu suchen, sah er etwas im Schutt sich bewegen gleich einem Wurm. Er begann mit den Händen zu graben und zog ein Knäblein hervor; es lebte und war unversehrt an allen Gliedern, nur das Mäulchen und die Augen waren mit Schlamm verklebt. Als ihm das Gesichtchen mit Wasser überspült wurde, begann es zu niesen, schob mit dem roten Zünglein die Erde über die Lippen hinaus ... und lächelte.
Diese erste Rettung belebte die Männer, streifte den letzten Rest des lähmenden Bannes von ihnen und spornte sie zu heißem Eifer. Einer von ihnen eilte mit dem Kind dem Gehölze zu, in welchem die Frauen bei der Arbeit waren. Die Mutter des Kindes fand sich nicht unter ihnen – eine Schwester nur. Weinend und lachend umklammerte sie das Bürschlein und gab es dem Mann zurück. „Trag’s nur hin, wo die anderen sind ... ich muß schaffen, oder der gute Herr könnt’ zürnen!“
Als der Mann den Hag erreichte, in welchem die Kinder versammelt waren, sah er die Kleinen dicht gedrängt um die Greisin sitzen, welche mit zitternder Stimme erzählte: „So hauset er zu tiefst im Untersberg, und derweil er schlaft, wachst ihm der lange Bart um den steinernen Tisch herum. All’ hundert Jahr’ nur wacht er einmal auf ... und wenn er im Wachen den ersten Schnaufer thut und hebt das einschichtig’ Aug’, so geht ein Rumpler durch alle Berg’ und überall fallen die Steiner ...“
„Gelt? So wie gestern?“ fragte ein blasses Dirnlein scheu und beklommen.
„Wohl wohl! So wie gestern! Und da thun sich die Felsen vor ihm auf, und lichtscheinig steigt er aus dem Berg heraus ... überall geht er um im Thal, und wo er einkehrt, bringt er die gute Zeit!“
Sagentrost und Wunderglaube! Zwei Blumen im steinigen Garten des Lebens! Sie sprossen auf dem Boden gewaltiger Ereignisse wie Blüten nach schwerem Gewitterregen und senken ihre Wurzeln in die Herzen des Volkes, wie das Immergrün sich einnistet in die Fugen des Gesteins.
In der gleichen Stunde, in welcher die Kinder atemlos den Worten der Greisin lauschten, saßen fern am Ufer des Schönsees drei bleiche Menschen dem neu errichteten Kreuz zu Füßen. Doch nicht auf der Lände erhob sich das heilige Zeichen, sondern auf der Höhe des leeren Hügels, zwischen den mit Schlamm bedeckten Resten des Herdes. Die verschlungenen Hände auf die Knie gestreckt, vorgebeugten Hauptes, saß Sigenot zwischen Ruedlieb und Edelrot, auf deren blassen Wangen noch die Spur der Thränen schimmerte, welche sie um die Mutter geweint. Nicht mit schreiendem Jammer hatte sie die Kunde gehört, mit wortlosem Schmerz, der es als tröstende Wohlthat empfand, daß er die entseelten Reste des geliebten Wesens nicht mehr schauen sollte. So stand das Bild der Mutter vor der trauernden Seele des Kindes noch lebend, warm und beseelt, die treuen Augen glänzend von aller Zärtlichkeit jener nächtlichen Scheidestunde, in welcher Mutter Mahtilt den letzten Kuß auf die Lippen ihres Kindes gedrückt.
Mit nassen Augen blickte Rötli empor in das leuchtende Blau des Morgens, und während sie in schwärmerischem Schmerze das verklärte Bild der Mutter sah, durchzitterte ihre Seele das traumhafte Nachempfinden ihrer wundersamen Rettung. Ruedlieb erzählte. Mit stockenden Worten schilderte er den letzten Morgen, den sie in der Oedhütte verbracht, die Sorgen des Vaters und den Beginn der furchtbaren Ereignisse bis zu dem Augenblick, in welchem er Edelrot mit sich fortgerissen und den Vater unter grauem Rauch [495] und hagelndem Gestein verschwinden sah. „Seine Lieb’ zu mir hat ihm den Tod gebracht!“ Die Stimme versagte ihm, und mit zitternden Händen bedeckte er das Gesicht. Schweigend legte Sigenot den Arm um die Schulter des Weinenden.
„Ich hab’ schon nimmer schnaufen können,“ fiel Rötli mit leisen Worten ein, als spräche sie im Traum, „doch wie ich den Liebli sagen hör’: ‚jetzt kommt der Bid‘ ... da hab’ ich noch einmal aufgeschaut in Schreck und Grausen. Berghoch ist eine schwarze Wand auf uns zugelaufen, und die Todesangst hat geschrieen in mir: Mein guter Herre, Du mein Gott!“
Sigenot nickte. „Und er ist gekommen, den Du gerufen hast in Treu’ und Glauben!“
„Gekommen ist er!“ Mit schimmernden Augen blickte Edelrot ins Leere, und ein Schauer rann durch ihre Glieder. „Auf einmal ist er dagestanden vor uns, großmächtig anzuschauen, und einen grauen Mantel hat er gehabt, wie ein Wald so breit. Sein Schnaufer hat uns angeblasen wie ein Sturm, und derweil mir die Sinn’ verloschen sind, hat er den Mantel um uns hergeschlagen und hat uns aufgehoben in die Lüft’. Ich hab’ nimmer Aug’ und Ohr gehabt, aber einwendig in mir ist alles licht und hell gewesen. Ich hab’ gemeint, ich schlaf’ und hätt’ einen feuerfarbigen Traum ... und gewesen ist mir, als thät’ ich auf lauter Daunen liegen und wär’ selber so leicht wie ein winziges Federlein. So süß und wohl ist mir ums Herz geworden, ich weiß nicht, wie, und nur das einzig’ hab’ ich noch gespürt: ich fall’ und fall’ ...“ Tief atmend verstummte Edelrot und strich mit den Händen über das Gesicht. „Wie lang’s gedauert hat, das weiß ich nimmer. Ich hab’ nur auf einmal gemerkt, daß ich leb’ und daß ich mich rühren kann. Die Augen hab’ ich aufgethan, aber um mich her ist alles schwarz gewesen. Und überall ein Rauschen und Sausen, als wär’ ich mitten drin in einem wilden Bach. Schmerzen hab’ ich gespürt in allen Gliedern und hab’ gemerkt, daß ich auf lauter Steiner lieg’. Erst hab’ ich mich aufgesetzt, und wie ich das Greifen anfang’, spür’ ich ein Gesicht und spür’ eine Hand, die sich rührt. Da geht’s mir völlig heiß durch Leib und Seel’ ... ‚Liebli? Bist Du’s oder nicht?‘ frag’ ich und hör’ ihn sagen: ‚Wohl wohl, Schätzli! Ja lebst denn noch?‘ Gesehen hab’ ich ihn nicht, aber seine Stimm’ ist ’s gewesen, und laut weinen hab’ ich müssen. Ich streck’ die Arm’ nach ihm, und da hat er mich schon genommen und hat mich gehalset ... und all’weil’ sind wir gesessen, ich weiß nicht, wie lang’! All’weil’ leichter ist mir geworden, und ich frag’: ‚Weißt nicht, wo wir sind?‘ Der Liebli sagt: ‚Beim Bid in aller Tief’!‘ Aber ich hab’ den Kopf geschüttelt: ‚Wir leben ja doch ... und der uns gehoben hat, ist nimmer der Bid gewesen, ein anderer, Liebli, ein anderer!‘ Drauf sind wir all’ zwei still gewesen und haben um und um geschaut in der Nacht ... all’weil’ haben wir niesen und husten müssen und die Augen sind mir gewesen wie Feuer. Um und um haben wir die schwarzen Berg’ gesehen und haben weit aus der Tief’ herauf ein fürchtiges Rauschen gehört! Auf einmal ruft der Liebli: ‚Wir liegen im Windacher See, mitten drin!‘ Ich hab’ kein Wasser greifen können, aber der Liebli sagt: ‚Wohl wohl, ich spür’ die Näss’, wir müssen auf einem Wasen liegen, der übers Wasser schaut! Ja sag’ nur, sag’, wie sind wir denn von der Oedhütt’ in den See gekommen?‘ Da geht ihm die Red’ aus, völlig zitterig springt er auf und hat aus tiefster Seel’ ein Schreien angehoben: ‚Vater! Vater!‘ Aber alles ist still gewesen ... nur in der Tief’ drunt’ hat’s gerauschet!“
Ein beklommener Seufzer unterbrach die leisen Worte, und in das Schweigen, welches die drei Menschen umfing, tönte das dumpfe Rauschen der Ache. „In Angst und Herzleid sind wir gesessen die ganze Nacht und all’ zwei haben wir uns sagen müssen: sell droben ist nimmer Leben und Hilf’, die Berg’ sind gefallen, und haushoch müssen die Felsen liegen. Und wie der Mondschein aufgestiegen ist und der Tag gegrauet hat, haben wir den Eismann nimmer gesehen ... Droben über dem Albenthal und der Oedhütt’ ist’s gelegen wie ein steiniges Feld, lauter Blöck’ und rauhe Köpf’ ... und herunten im Thal, überall um uns her, ist alles ein Gries und Schlamm gewesen. Keinen See mehr hast gesehen, nur braune Lachen um und um, und in dem trüben Wasser hat’s gewimmelt von Hechten und Ferchen. Wir haben uns scheu aneinander angedrückt, und derweil um unsere Füß’ her die Fisch’ gesprungen sind, haben wir den Heimweg gesucht auf schlammigem Grund, über dem vor Tag und Nacht das Wasser noch gestanden ist, tief wie ein Brunnen.“
Sigenot erhob sich, und aufblickend zum Kreuz, zog er die Geretteten an seine Brust. „Der Euch hinausgetragen über fallende Berg’, hat auch den Weg für Euch gebrochen durch See und Flut. Gegen die Guten ist er gut, gegen die Treuen ist er treu ... schauet auf zu ihm und danket seiner Lieb’! Und jetzt kommet, Ihr guten Kinder, ich will Euch heimführen zu Eurem Herd!“ Sigenot faßte Ruedliebs Hand und die Hand der Schwester, während sie über den Hügel niederstiegen, stockte ihm der Fuß. „Schau’, Rötli, noch all’weil’ steht Dein junges Bäuml! ... Gelt, Ruedlieb? Wenn der Winter die Erd’ gefrieren macht, so heb’ das Bäuml mit allen Wurzen aus und trag’s hinüber in Deinen Hag! Sell hat es guten Boden!“
Ruedlieb nickte nur, und seine Lippen zuckten. In stillem Schmerz und mit nassen Augen nahmen sie Abschied von der verwüsteten Stätte, welche so viel des Glücks getragen, doch mehr noch an Not erfahren hatte. Jeden der ausgestreuten Balken, jedes Stücklein des zertrümmerten Hausgerätes streifte noch ihr Auge, und der letzte Blick irrte hinaus über den weißen See, in dessen Tiefe Mutter Mahtilt das weite Grab ihres Mannes teilte. Schwere Thränen rannen über Sigenots bleiche Wangen. „Wicho, mein guter Wicho! Hüt’ mir den Vater und die Mutter in Treu’!“ Sacht schwankten die von weißem Schaum bedeckten Wellen gegen das Ufer, und wie leises Flüstern ging es durch das zerschlagene Schilf, in welchem einzelne Halme sich schon wieder aufzurichten begannen.
Langsam schritten die drei Menschen der Ache zu. Als sie die von den langgestreckten Schuttströmen durchzogenen Halden der Schönau erreichten, sahen sie überall um die Trümmerstätten die Männer bei der Arbeit. Mitten in einem Häuflein der Schaffenden erkannte Sigenot eine Gestalt im schwarzen Gewand; Eberwein war es, und rastlos schwang er die Picke.
Während Ruedlieb und Rötli, in träumendem Schauer über die Stätten der Verwüstung blickend, ihrem Wege folgten, blieb Sigenot stehen. Es zog ihn zu Eberwein. Tief atmend murmelte er: „Nur noch den einzigen Weg für mich ... und ich komm’, Herr, ich komm’!“ Er folgte den beiden, und als er sie erreichte, drängte er mit stammelnden Worten: „Eilet, Kinder, die Zeit ist teuer!“
Sie schritten rascher aus. Ueberall gewahrten sie die Bahrenträger mil ihren stillen Lasten. Nirgends ein hastiges Rennen, nirgends Geschrei und laute Rufe, überall dumpfe Ruhe. Frauen gingen an ihnen vorüber, thränenlos und still. Kein Gruß wurde getauscht, kein Wort gewechselt, ein stummer Blick nur war alle Zwiesprach’, welche die sich Begegnenden führten – dieser eine Blick aber redete tausend Worte des Jammers. Als Ruedlieb dem väterlichen Hag sich näherte, begann er so heftig zu zittern, daß Sigenot ihn stützen mußte. Sie brauchten das Hagthor nicht zu öffnen, es war zerschlagen; die Hofreut leer, kein Knecht und keine Magd zu sehen, kein Rind und kein Geflügel; die Ställe lagen niedergedrückt, aber die Immen summten emsig, als möchten sie die letzten Tage des Herbstes doppelt fleißig benutzen, um die von Wazemanns Knechten geleerten Körbe mit Vorrat für den Winter zu füllen. Das Haus stand unversehrt, nur einzelne Löcher klaften im Moosdach, und unruhig flatterten die Tauben um den Giebel. Schweigend betraten Ruedlieb und Rötli den Flur, dessen Thür sie erbrochen fanden. Sigenot war ihnen vorangegangen in die Stube und zündete auf dem Herd ein Feuer an.
Die feuchten Aeste prasselten, und nur mühsam erwachten die Flammen in dem qualmenden Rauch. Doch es währte nicht lange, so hatte der Rauch sich verzogen, und das Feuer loderte in reiner Helle. Ruedlieb und Rötli standen noch immer unter der Thür.
„Schauet, Kinder, wie schön die Herdflamm’ brennt!“ sagte Sigenot mit schwankender Stimme. „So wahret halt das heilige Feuer in Treu’ und Lieb’, und der gütige Herr sell droben wird Euer Leben hagen wider Gefahr und Not!“
Laut schluchzend hielten Ruedlieb und Edelrot sich umfangen, und in ihren heiß erquellenden Kummer mischte sich ein erstes schüchternes Gefühl der Freude, eine Ahnung kommenden Glücks. Lange hingen Sigenots Augen an dem weinenden Paar. Als er sich schweigend zur Thür wandte, eilten sie ihm erschrocken nach. Doch er löste seine Hände. „Lasset mich! Denn ich hab’ einen Weg, der nimmer Aufschub leidet.“
„Not liegt über allen Wegen!“ stammelte Ruedlieb. „Wohin denn willst Du?“
„Wohin ich muß!“ Seine ganze Gestalt erzitterte, und [496] seufzend neigte er das ergraute Haupt. „Ich hab’ meinem guten Herrn die Treu’ gebrochen ... ich bin kein Freier mehr, ich muß mein Leben in Knechtschaft geben!“
Sie verstanden ihn nicht; aber sie fühlten, daß er ein Wort des Abschieds zu ihnen gesprochen, und klammerten sich an seine Arme. Dumpf schluchzend umfing er die Schwester, küßte ihren Mund, ihre nassen Augen und stürzte davon. Ueber die verschütteten Felder ging sein Weg, der Stätte zu, an welcher Eberwein bei der Arbeit war. Die Männer, welche an der Seite des Mönches schafften, erblickten den Fischer und riefen seinen Namen. In freudigem Schreck ließ Eberwein die Picke fallen und eilte mit ausgebreiteten Armen dem Kommenden entgegen. Doch bis ins Herz erschrak er bei Sigenots verwandeltem Anblick. „Allmächtiger Himmel! Sigenot!“
Mit hängenden Armen, das Antlitz geneigt, stand der Fischer vor ihm. „Herr! Heut’ komm’ ich mit einer Bitt’!“
„Rede!“ stammelte Eberwein.
Sigenot rang nach Worten; dann jählings stürzte er vor dem Mönch auf die Knie und umklammerte ihn mit zitternden Armen. „Herr! Gefallen ist von mir, was meinem Leben lieb gewesen. Nimm mich auf in Deine Hut ... ein Gottesmann will ich werden ... und gut sein will ich, derweil ich leiden muß!“
Keines Wortes mächtig zog Eberwein den Knienden zu sich
empor, der das Antlitz in fassungslosem Schmerz an der Brust
des Mönches vergraben hielt. Schon traten die anderen zurück
und sahen, wie Eberwein den wankenden Mann zu einer gestürzten
Eiche führte. Dort saßen die beiden, und es währte lange, bis
Sigenot zu sprechen vermochte. Nur mühsam lösten sich die Worte
von seinen bleichen Lippen. Als er vom Tod der Wazemannstochter
erzählte, verhüllte Eberwein das Gesicht.
„Der Schnee hat sie gefaßt, die Felsen sind über sie hergefallen, und ihre letzte Red’ noch ist gewesen: Ich hab’ Dich lieb!“ Sigenots Stimme brach, und wie leblos saß er.
Eberwein ließ die Hände sinken. „Dieses stolze schöne Leben ... erloschen und tot!“ Langsam wandte er das Gesicht, und mit feucht schimmernden Augen den See und seine Berge suchend, flüsterte er: „Der Toten darf ich gedenken ... wie einer Schwester, die mir starb!“ Er legte den Arm um Sigenots Schulter und zog ihn an sich, als wäre diese stnmme Zärtlichkeit der einzige Trost, den er zu spenden wüßte.
„Herr!“ stammelte der Fischer. „Sei nicht so gut zu mir ... eh’ Du nicht alles gehört hast!“ In heiseren Lauten erzählte er, was geschehen war nach seiner Heimkehr. „So hab’ ich geraitet mit ihm und hab’ das Kreuz gepackt und hab’s geworfen! Und jetzt, Herr ... ich hab’ mein Rötli zu ihrem Herd geführt und bin gelöst von allen Sorgen – jetzt will ich büßen, was ich gethan hab’. Gottes treuer Knecht will ich sein und all mein Leben lang helfen, sein Kreuz errichten, das ich geworfen hab’! Oder sag’, Herr ... hab’ ich in meinem Leid so schwer gesündigt, daß ich nimmer sühnen kann und daß Du mir zürnen mußt?“
„Dir zürnen? Ich?“ Eberwein sprang auf, das Antlitz von heißer Röte übergossen. „Dir zürnen? Komm, Sigenot,
[497] wir wollen Gott und den Himmel suchen als treue Brüder! Wir haben gesündigt, doch unsere ganze Schuld ist, daß wir Menschen sind. Wir leben in Drang und Not, wir suchen nach Gott, und der Zweifel ist unser Los – doch in vollem Zweifel unser einziger Trost, all unsere Hoffnung nur wieder der Glaube!“
Von der Trümmerstätte kam einer der Männer gelaufen. „Herr, Herr! Wir haben ein Weib unter den Balken stöhnen hören!“
„Komm, Sigenot, zu Gottes Dienst!“
Eberwein eilte dem zerschmetterten Haus entgegen, und ihm voran stürzte Sigenot den Trümmern zu. er bedurfte keiner Picke – mit der Schulter wälzte er die Felsen, mit den eisernen Armen hob er die Balken. Als die anderen aus der Gasse, die er gebrochen, das gerettete Weib emporhoben, stand er seitwärts und wischte den Schweiß von der Stirn.
„Wohin jetzt, Herr?“
„Zum nächsten Haus!“ erwiderte Eberwein.
Seite an Seite waren sie rastlos thätig, bis der Abend kam. Bei Feuerschein wurde die Arbeit fortgesetzt, und erst gegen Mitternacht vergönnten sich die schwer Ermüdeten ein paar Stunden der Ruhe. Die Männer, deren Hütten noch standen, kehrten heim, während die Obdachlosen mit Eberwein und Sigenot unter freiem Himmel nächteten. Ein Moosfetzen, von einem zerschlagenen Dach gelöst, war ihr Kissen. Eberwein lag schlaflos und dachte seiner Brüder. Ueberall hatte er nach ihnen gefragt, doch niemand wußte von den Verschwundenen; mit trauerndem Herzen mußte er sie verloren geben.
Am folgenden Morgen wählte Eberwein aus den Männern,
welche von entlegenen Gehöften zur Hilfeleistung kamen, zwei
Häuflein; das eine sollte mit Sigenot zum Schönsee ziehen, um
nach Reckas Leiche zu suchen. Sigenot wehrte mit der Hand,
wortlos und zitternd – und dennoch ließ er die Führung keinem
anderen. Als er gebeugten Hauptes davonschritt, blickte ihm Eberwein
mit feuchten Augen nach. „Geh’ und suche … ob es Dir
auch das Herz zerfleischt! Besser diese letzte Qual als in kommenden
Jahren der nagende unsagbare Vorwurf, daß Du nicht das
Aeußerste versuchtest … und wär’ es auch nur, um ihres Todes
gewiß zu sein!“
Mit den anderen Männern wollte Eberwein zur Stätte hinter dem König Eismann ziehen, auf welcher die Oedhütte gestanden. Da hörte er den ersten Widerspruch. Wohl ging der Haß dieser Männer wider den ungerechten Bedrücker nicht über den Tod hinaus. Fast war Herr Waze mit den Seinen schon vergessen – in solchen Tagen des Unheils lebt man die Augenblicke aus, da werden die Stunden zu Jahren und das Alte erlischt unter dem Schwall des Neuen wie Lampenschein in der flutenden Helle eines Blitzes. Doch wie sie ein Wunder Gottes in jeder unbegreiflichen Rettung erkannten, so sahen sie in diesem furchtbaren Untergang eines ganzen Hauses auch den Zorn des Himmels und sein Strafgericht. „Frommer Herr! Zieh’ nicht aus wider Deinen Gott! Sell droben ist nimmer Leben! Schau’ hinauf! Versteinert steht Herr Waze mit seinen Buben in der Höh’, versteinert für ewige Zeiten!“ Um die Männer seinem Willen gefügig zu machen, [498] mußte sie Eberwein an den Richtmann erinnern. Nun gehorchten sie und stiegen mit ihm zu Berge. Sie fanden nur die gebrochenen Felsen, keine Spur des Lebens mehr, das unter ihnen begraben lag. Ein einziges Balkenstück der verschwundenen Oedhütte entdeckten sie: die abgetretene Thürschwelle. Sie gab der öden Trümmerstätte für kommende Zeiten ihren Namen: „Trischibl“.[3]
Bei sinkendem Abend kam Sigenot mit seiner Schar durch die verschüttete Schlucht vom Schönsee emporgestiegen und traf mit dem anderen Häuflein zusammen. Mit fragendem Blick sah ihm Eberwein entgegen. Sigenot schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
Ehe sie die Heimkehr begannen, standen sie lange und blickten nieder über den stundenweiten Grund des verschwundenen Windachersees und maßen mit staunenden Augen die Höhe der Felswand, über welche der „Starke im grauen Mantel“ den Ruedlieb und das Rötli gefahrlos niedergetragen hatte in die sichere Tiefe. Als die Männer anfingen, das Wunder in lauten Worten zu preisen, ging Eberwein mit raschen Schritten dem Abstieg zu.
In später Nacht erreichte er mit Sigenot das Thal der Ramsau. Die Männer waren auf dem Grnnd des ausgeronnenen Sees zurückgeblieben und sammelten auf Eberweins Geheiß bei Fackelschein die Fische, von denen alle stehenden Lachen wimmelten. Das gab für die Bedürftigen reichliche Nahrung auf Tage und Wochen.
Am folgenden Morgen waren alle Pfade belebt, die aus der Ramsau, aus dem Gadem und von den Gehöften der Hochbauern zum Lokiwald führten. Doch kein Ruf wurde laut, auch kein Gespräch begonnen, wenn zwei oder mehrere auf gleichem Weg zusammentrafen. Still und in sich versunken schritt ein jeder dem Ziel entgegen. Als der erste Sonnenschein über die Rodung fiel, herrschte noch tiefes Schweigen rings um die Klause. Müden Ganges schritten die Greise auf und nieder, welche die Leichenwache gehalten und in den Nächten lodernde Feuer geschürt hatten, um die Wölfe zu verscheuchen. Zuweilen blieben sie stehen, die Hände auf dem Rücken, und blickten in eine der drei mächtigen Gruben nieder, in deren Tiefe auf einem Rost von Balken die stillen Schläfer lagen, einer neben dem anderen, weit über hundert an der Zahl, fast der vierte Teil aller Lebenden, die den Morgen des Unglückstages gesehen hatten. Im größten der Gräber, das die Männer barg, ruhte Waldram inmitten der anderen, der Bekenner neben dem Zweifler, der Hörige neben dem Freien, die Bauern in der blutbefleckten Kotze neben den Wazemannsknechten im gelben Wams – sie alle waren Brüder im Tod geworden und vertrugen sich gut miteinander. Im Grabe der Weiber lag auch die alte Ulla. Ein Stein hatte den Nacken der Magd getroffen. Sie war nicht schnell genug gelaufen, um dem „Fluch der Salmued“ zu entrinnen.
Vom gebrochenen Wald her klangen Beilschläge, und die ersten Leute kamen: ein Bauer, der auf den Armen ein blondlockiges Dirnlein trug, welches den Vater in Angst umschlungen hielt, als könnt’ es auch ihn noch verlieren wie die Mutter; der Köppelecker mit seiner Bäuerin; Ruedlieb und Rötli, Hand in Hand, mit ihnen die beiden Mägde, der einzige Knecht, der ihnen geblieben war, und Sigenots Altsenn. Der alte Gobel, dem der Urstaller eine Kotze geliehen, brachte auf einer Kraxe den lahmen Buben getragen. Weiber kamen, an der einen Hand das eigene Kind, an der anderen ein fremdes und verwaistes führend. Immer zahlreicher traten die Kommenden von allen Seiten aus dem zerstörten Wald hervor, und der Ring der Menschen, über dreihundert an der Zahl, drängte sich um die Gräber. Als alle schon versammelt schienen, kam noch ein letzter: der Greinwalder; er war allein und streifte mit scheuen Blicken die Klause.
Unter der Thüre des dachlosen Kirchleins erschienen zwei Mönche. Eberwein mit der weißen Stola über der schwarzen Kutte, und ein anderer, der auf seiner Schulter ein schweres Kreuz mit dem heiligen Bilde trug. Als die Leute den Kreuzträger erkannten, ging eine Bewegung durch die Schar der Menschen und leise weinend bedeckte Edelrot das bleiche Gesicht. Inmitten der Gräber erhöhte Bruder Sigenot das Kreuz, daß die blauen Augen des heiligen Bildes niederblickten auf die stillen Schläfer. Mit schwankender Stimme sprach Eberwein die kirchlichen Gebete. Keine Glocke tönte und kein Weihrauch dampfte bei dieser ernsten Feier. Das Grabgeläute besorgten die Berge, von deren Höhe in Zwischenräumen das Knattern fallender Steine klang, und gleich dem Rauch eines Totenopfers qualmte der Nebel aus den versumpften Gründen. Der leuchtende Morgenhimmel begann sich zu bewölken, als möchte auch er sich in Trauer hüllen. Doch über die weite Rodung fiel noch helle Sonne und umwebte mit warmem Schimmer die offenen Gräber und die in dumpfem Schweigen verharrende Schar der Lebenden. Eberwein ließ die erste Scholle in das Grab der Männer fallen, und die traurige Arbeit der Spaten begann. Sie währte lange, und hoch türmten sich über den geschlossenen Gräbern die Hügel der ersparten Erde.
Unter lautloser Stille, aus welcher sich nur zuweilen ein kurzes krampfhaftes Schluchzen hören ließ, trat Eberwein neben das Kreuz und begann zu sprechen. Die ernste Weihe des Augenblicks erfüllte sein Herz, und was ihm heiß und strömend aus tiefster Seele kam, floß über in die Gemüter dieser gebeugten Menschen, wie zärtlicher Trost, gereicht von den Händen eines treuen Freundes. Laut weinten sie alle, und in ihren Thränen löste sich der starre Schmerz. Von neuem erhob Eberwein die Stimme. Um sie ihren Klagen und Zähren zu entreißen, sandte er die Frauen und Kinder zum Wald: sie sollten Zweige von den Tannen brechen und mit dem Grün die schwarzen Hügel schmücken. Und den Männern rief er zu: „Tretet her zu mir! Wir wollen raiten miteinander um das Landwohl!“
Vor der Klause saß er auf einem Holzblock, Sigenot an seiner Seite, und im Halbring standen die Männer umher, mit entblößten Häuptern – die Zahl der „raitfähigen Leut’“ füllte nicht mehr das „Hundert“ wie in der Thingnacht auf dem Totenmann. Kein Feuer loderte, es wurde kein Bock geschlachtet, kein Hahn geköpft, und die Stimmen schrieen nicht wirr durcheinander. Eberwein erhob sich. „Gott ist mit uns! Nun redet Ihr Männer! Was meinet Ihr, daß geschehen soll?“
Schweigen folgte. Dann trat der Köppelecker vor. „Schau’, Herr, keiner weiß ein Wörtl, wir all’ sind ratlos; eins aber wissen wir: Du meinst es gut mit uns, Du hast den Kopf und das Herz auf dem rechten Fleck! Und hast einen starken Helfer! Red’ Du ... es soll geschehen, was Du willst.“
Da nickten sie alle, und ein Murmeln des Beifalls ging durch die Reihen. Helle Röte stieg in Eberweins bleiche Wangen und nach allem Weh und Jammer schimmerte die erste Freude in seinen Augen. Mit bewegter Stimme sprach er. Seine erste Sorge war es, den verwaisten Kindern ein Heim zu suchen. Und da waren der Väter mehr, welche Kinder haben wollten, als Kinder, die der Väter bedurften. Seine zweite Sorge war die Not der nächsten Tage. Sechs Greise bestellte er, um die Fische zu verteilen, und zehn junge Männer, welche in den Wäldern jagen sollten, um Fleisch zu schaffen. „Erleget, was Ihr gewinnen könnt’, doch schonet die Muttertiere und Kälber.“
Wie sollte bei jenen, denen alles genommen war, der Bedarf an Kleidung gedeckt und der neue Stall bevölkert werden? Wer konnte geben? Einer um den anderen trat aus der Reihe, und jeder nannte, was er über den Bedarf des eigenen Lebens noch besaß und missen konnte. Keiner empfand, daß er schenkte. Sie alle fühlten auf ihren Schultern die gemeinsame Not, und jeder sagte sich: gieb heute – so kannst Du hoffen, daß Dir andere geben, wenn an Dich die Reihe kommt, zu nehmen.
Die beiden nächsten Tage bestimmte Eberwein zur Ordnung dessen, was sie bisher beschlossen hatten. Am dritten Tag sollten sie alle ruhen und Kräfte sammeln. Dann wollten sie mit dem Bau der Hütten beginnen. Ein jeder, dessen Haus verschont geblieben, sollte im Wechsel immer einen Tag für sich und die Seinen schaffen und am folgenden Tag beim Bau der neuen Hütten helfen, daß man die Mauern unter Dach brächte, bevor der strenge Winter käme. Damit an Stelle der verschütteten Felder und Halden neues Fruchtland für das kommende Jahr gewonnen würde, sollten die gebrochenen Thalwälder in Gevierte geteilt und die liegenden Stämme verbrannt werden, um durch die Asche den Gehalt der neuen Erde zu bessern.
So wurde Frage um Frage geregelt, und für alle Not fand Eberwein Rat und Hilfe. Als er nach langen Stunden die Männer entließ, drängten sich alle um ihn her, und jeder suchte einen Druck seiner Hände zu erhaschen. Nur der Greinwalder schlich davon, als wäre ihm in der Nähe des Mönches nicht ganz geheuer. Langsam, unter leisen Gesprächen, schritten die Männer heimwärts nach allen Seiten. Wie aus der Asche einer Brandstatt der erste grüne Halm, so war in ihren Herzen ein Trost ersprossen: der Mut zu neuem Leben, die Hoffnung auf bessere Zeit.
[499] Als Ruedlieb und Edelrot die Gräberstätte verlassen wollten und scheu vor der Klause stehen blieben, trat ihnen Bruder Sigenot entgegen. Seine Lippen blieben stumm, während er mit festem Druck ihre Hände faßte. Sie betraten das Kirchlein, und in der dachlosen Halle knieten sie auf nackter Erde. Eberwein legte die Hände der Liebenden ineinander und segnete ihren Bund. Als das junge Paar sich erhob, hatte Bruder Sigenot das Kirchlein schon verlassen. In Schweikers Zelle saß er auf dem Stangenlager, das Kinn auf die Brust gesenkt und die zitternden Hände im Schoß.
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Ein wundersamer Spätherbst folgte, wie nur die Berge ihn kennen, leuchtend in allen Farben, mit goldener Sonne und fliegendem Silber. Jeder Tag schien den vergangenen an Glanz und Schimmer überbieten zu wollen. Den bedrückten Menschen kam diese schöne Zeit wie ein neuer Trost. Es schien, als hätten sich die Berge nur deshalb mit ihrem herrlichsten Gewand umkleidet, um den Menschen, welche irr geworden an dem väterlichen Boden, neue Heimatfreude in das Herz zu flößen, das gebrochene Vertrauen zu festen und die alte Treue wieder zu erwecken. Die Arbeit, welche sie in den ersten Tagen wie träumend geleistet hatten, begann ihnen wieder eine Lust zu werden, und mit Freude erfüllte sie jeder kleinste Erfolg, den sie mühsam gewannen. Doppelt genossen sie nach schwerem Tag die Ruhe am warmen Herd, und jeden kargen Lichtschein, der in ihre Herzen fiel, empfanden sie wie eine Sonne.
Die schönen Tage förderten alle Arbeit. Rastlos klangen die Beilschläge im weiten Thal, und überall loderten die Feuer, welche den gebrochenen Wald verzehrten. Tag um Tag, vom Frühlicht bis zur sinkenden Nacht, waren Eberwein und Bruder Sigenot rastlos auf allen Wegen. Sigenot leitete die Rodung der Wälder, und immer stellte ihn Eberwein an jenen Platz, wo es das schwerste Werk zu leisten galt; wußte er doch, daß er ihm besseren Trost nicht bieten konnte als Arbeit, welche kein Träumen und Grübeln gestattet, den Körper ermüdet und mit tiefem Schlummer lohnt. Eberwein selbst leitete den Bau der neuen Häuser; er wählte die Plätze, steckte die Flächen aus und lehrte die Bauenden feste Grundmauern zu legen, die Balkenwände mit Fachwerk zu durchsetzen, den Flur von der Stube zu scheiden und die Räume des Hauses wohnlicher zu gestalten. Und bei jeder Arbeit streute er den Samen frommer Lehre. Bei Anbruch der Nacht erst kehrten die beiden in die Klause zurück, welche schon längst wieder ihr Dächlein mit der Glocke hatte, dazu noch gute Thüren und einen festen Hag. Während Bruder Sigenot schwer ermüdet auf das Lager sank, saß Eberwein zuweilen noch beim Schein der Fackel vor seinen Büchern. Wurden ihm die Augen müde, so blickte er oft in stillen Gedanken zum sternenhellen Himmel auf und trauerte um die verschollenen Brüder.
Als er in solcher Stunde wieder einmal an Schweiker dachte, sah er plötzlich das gutmütige Flachsgesicht mit den wasserblauen Augen durch das offene Fenster in die Zelle blicken, bleich und mit einem Zug der Trauer. „Schweiker!“ stammelte er, sprang auf und streckte die Arme. Da war das Gesicht verschwunden. Er eilte ins Freie und rief den Namen des Bruders mit hallender Stimme in die Nacht hinaus. Aber alles blieb still in der finsteren Runde.
Bruder Sigenot, den der Ruf geweckt hatte, kam herbei. „Herr, was ist Dir?“
„Nichts! Ich habe geträumt!“ Zögernd kehrte Eberwein in seine Zelle zurück und fand in dieser Nacht keinen Schlummer mehr. Erst der folgende Morgen mit seinen Pflichten löschte den seltsamen Schauer, welchen das Gesicht in ihm geweckt hatte.
(Schluß folgt.)
Blätter & Blüten
Nützet die Sommerferien! Von verschiedenen Seiten wurde die Frage aufgeworfen, ob die Ferienkolonien den schwächlichen unbemittelten Kindern einen Nutzen bringen, der im wünschenswerten Verhältnis stehe zu den Ausgaben, die mit der Reise verbunden sind. Man meinte, daß es auch genügen könnte, die unbemittelten Kinder in der Stadt zweckmäßig zu ernähren und zum fleißigen Spazierengehen anzuhalten. Diese Frage wurde jüngst von ärztlicher Seite in entscheidender Weise beantwortet. Dr. Schmid-Monnard in Halle a. d. S. hat regelmäßige Beobachtungen an 1000 Ferienkolonisten, an 1300 zurückgewiesenen und etwa einer gleichen Anzahl normaler Kinder angestellt und den Nutzen der Ferienkolonien aufs überzeugendste dargelegt. Durch Wägungen, Messungen der Länge und des Atmungsumfangs der Kinder wurde zunächst festgestellt, daß die schwächlichen Ferienkolonisten tn ihrer körperlichen Entwicklung im Durchschnitt um ein volles Jahr hinter der gleichalterigen normalen Volksschuljugend zurückstanden. Auf diese schwachen wirkte nun ein dreiwöchiger Aufenthalt in einer Ferienkolonie so günstig, daß sie während dieser kurzen Zeit an Körpergewicht und Atmungsgröße etwa um ein Jahr zunahmen. Ein derartiger Erfolg ist innerhalb der Mauern der Fabrikstädte trotz der besten Ernährung nicht möglich, da hier der wohlthätige anregende Einfluß der reinen Luft fehlt. Gerade der Umstand, daß die Ferienkolonien im Gebirge oder in ausgedehnten Waldungen eingerichtet werden, wirkt auf die Lungenthätigkeit der Kinder so günstig ein. Man sollte darum das gute Werk mit aller Kraft fortführen, denn es vermag einen großen Teil unserer kränkelnden Volksschuljugend zum späteren Kampf ums Dasein wesentlich zu stärken oder vor frühzeitigem Siechtum zu bewahren.
Anderseits können auch bemittelte Eltern aus diesen Thatsachen eine wichtige Lehre ziehen. Der Nutzen der Sommerfrische für die Schuljugend wird durch die Ermittelungen Schmid-Monnards ins rechte Licht gerückt. Durch ein richtiges Ausnützen der Sommerferien geben wir unsern Kindern das kostbarste Gut, das wir ihnen vermachen können, Kraft und Gesundheit. *
Orientalische Früchteverkäuferin. (Zu dem Bilde S. 485.) Dort, wo die „Muski“, die Hauptverkehrsader orientalischen Lebens von Kairo, aufwärts nach den Windmühlenhügeln zu in die Wüste mündet, traf ich sie, die schöne Levantinerin Targija, an der Ecke einer Seitengasse sitzend und ihre Granatäpfel den Vorübergehenden mit frommem Gruß anbietend. Und hier erlebte ich auch das Wunder, von dem ich gelesen, das ich aber bisher, täglich verfolgt von dem Bettelgeschrei „Bakschisch, Bakschisch“ nicht für glaubhaft gehalten hatte, daß es nämlich selbst in Kairo Leute geben sollte, welche eine Ware unentgeltlich anbieten, ohne daraus einen Gewinn zu erhoffen. Ich hatte gelesen, daß mannigfach ein Moslem, der eine Versündigung wider Allahs Gebote begangen hat, sich die Selbstbuße auferlege, eigenhändig im Ziegenschlauch Wasser aus dem Nil zu schöpfen und mit den Metallschalen klappernd durch die Straßen zu ziehen und den Wanderern einen Labetrunk oder saftige Früchte anzubieten.
Sie hatte es nicht nötig, an den Straßenecken zu sitzen, wie sie mir erzählte; aber der strenge Derwisch Mewsik vom Kloster der heulenden Derwische hatte ihr die Buße auferlegt. Doch trug sie, wie es schien, nicht allzuschwer an der Last, sondern plauderte gar heiter und vergnüglich, und die dunkeln Augen glänzten voll Lebenslust hinter dem bunten Tuch, wie wenn sie wohl wüßte, daß die Vorübergehenden am wenigsten ihrer Früchte wegen bei ihr stehen blieben. C. C.
Neue naturwissenschaftliche Prachtwerke. Wie unsern Lesern bekannt, ist von Brehms „Tierleben“ vor nicht langer Zeit eine dritte Auflage zum Abschluß gekommen. Das unvergleichliche Meisterwerk ist damit wieder für eine geraume Zeit zu dem erhoben, was es bei seiner Entstehung war, zu einer Zusammenfassung des dermaligen Wissens über das Leben der Tiere, so, wie es in der Gegenwart beobachtet wird. Auf die Entstehung der Tierwelt, auf die allmähliche Entwicklung der Formen und Arten durch die Perioden der Erdgeschichte hindurch ist Brehm nicht eingegangen. Erst Darwin hat ja der wissenschaftlichen Bearbeitung dieser Fragen einen neuen epochemachenden Anstoß gegeben. Als eine Ergänzung des Brehmschen Werks nach dieser Seite hin dient nun das gleichfalls im Verlag des Bibliographischen Instituts zu Leipzig erschienene Buch „Die Schöpfung der Tierwelt“ von Dr. Wilhelm Haacke, einem der hervorragendsten Mitarbeiter an der neuen Auflage von Brehm, einem Gelehrten, der als Forschungsreisender, Tiergärtner, Museumsdirektor und akademischer Lehrer reiche Gelegenheit gehabt hat, sich mit allen Zweigen der Tierkunde eingehend vertraut zu machen. Das Buch ist ebenfalls mit einer Fülle mustergültiger Abbildungen, darunter vielen farbigen Tafeln, ausgestattet. – Aus demselben Verlage geht hervor die zweite Auflage eines Werkes, das in der naturwissenschaftlichen Litteratur eine nicht minder hervorragende Stellung einnimmt; es ist „Der Mensch“ von Johannes Ranke, dem berühmten Münchener Anthropologen. Die neue Bearbeitung wird von allen Freunden der Wissenschaft vom Menschen mit Freuden begrüßt. Hat doch kein Geringerer als Adolf Bastian Rankes „Der Mensch“ seiner Zeit ein „Fundamentalwerk der Anthropologie“ genannt, „das für jeden, der sich unter ihre Jünger eingeschrieben, ein unentbehrliches bleiben wird!“
Belauscht. (Zu dem Bilde S. 489.) Sie war ein kleiner Naseweiß, Annchen mit dem dunklen Lockenhaar und den schwarzen Augenbrauen, die ihrem 17jährigen Gesichtchen ein so eigenartiges Gepräge gaben. Und Annchen witterte ein Geheimnis in der Luft: Lise, die Schwester, so zerstreut, die Mutter so feierlich, der Vater so aufgeräumt, und der schöne stattliche Rechtsanwalt ein so gar häufiger Gast im Hause! Da war etwas im Werk, und zwar etwas sehr Interessantes, geeignet, Schwester Annchens natürliche Anlage zur Neugier auf eine fieberhafte Höhe zu [500] steigern. Sie mußte dahinter kommen, es koste, was es wolle! Und sie kam dahinter! Eines Nachmittags, als wieder der besagte Rechtsanwalt zu Tisch da war und die Schwester gar so befangen an den Speisen geknabbert, am Glase genippt hatte, war die Gelegenheit günstig. Selbst einem weniger argwöhnischen Beobachter hätte es auffallen müssen, daß plötzlich die blonde Lise aus dem Eßzimmer verschwunden war, desgleichen der verdächtige Rechtsanwalt. Wo mochten sie stecken? Draußen auf der Veranda? – Nichts! – Im Wohnzimmer nebenan? Auch da alles leer! – Doch nein – hört man hier nicht eine murmelnde Männerstimme und leises Lispeln von Frauenlippen? Das müssen sie sein! Wie der Wind ist Annchen an dem halb zurückgezogenen Thürvorhang, der den Salon vom Wohnzimmer trennt, und da steht sie und lauscht, und vor lauter Aufregung versteht sie kein Wort von dem, was die da drinnen verhandeln. Aber das ist ja auch ganz gleichgültig, eins steht fest, und das genügt ihr: die zwei da drinnen sind einig, sie hat es herausgebracht, das große Geheimnis!
Nur eins trübte Annchens stolze Genugthuung: daß das Geheimnis noch am selben Nachmittage aufhörte, ein Geheimnis zu sein.
Eine deutsche Industrie in den Urwäldern von Formosa. Von den fernen malayischen Inseln wird einer der köstlichsten Riechstoffe, das „Ylang-Ylang-Oel“, nach Europa gebracht. Es bildet einen wichtigen Bestandteil der feinsten Taschentuchparfüme, aber wie wenige, die in Deutschland sich an diesem Duft ergötzen, haben eine Ahnung davon, daß deutsche Apotheker und Chemiker auf Manila und anderen Inseln des malayischen Archipels aus den Blüten des Ylangbaumes das Ylangöl destillieren!
Seit einigen Jahren sind nun unsere Landsleute auch in die Urwälder der Insel Formosa eingedrungen, um dort den Kampfer zu gewinnen, der den Europäern erst durch die Araber bekannt wurde und nunmehr ein wertvolles Heilmittel bildet. Er wird auch von Hausfrauen als Mittel zur Vertreibung des Ungeziefers benutzt, und seine Verbindungen gewinnen gegenwärtig in der Technik eine immer größere Bedeutung. Es giebt verschiedene Sorten des Kampfers: diejenige, die nach Europa verschifft wird, ist der Lorbeerkampfer, der aus einem hochwachsenden Baume, dem Laurus camphora, gewonnen wird. Japan lieferte bis jetzt am meisten davon, es hat im Jahre 1892 rund 17500000 Kilogramm nach allen Weltteilen verschifft. In Japan wird der Baum regelrecht kultiviert, die Forsten stehen unter behördlicher Aufsicht, und wer einen Kampferbaum niederlegt, ist verpflichtet, dafür einen neuen zu pflanzen.
Seit einiger Zeit ist aber der Kampfer von der chinesischen Insel Formosa mit dem japanischen in einen ernsten Wettbewerb getreten, und dies ist eben das Werk einiger unternehmender Deutschen, die sich dort niedergelassen haben.
Die Insel Formosa, die etwa zweieinhalbmal so groß ist wie das Königreich Sachsen, bildet eine chinesische Provinz, aber das Ansehen der Regierung beschränkt sich lediglich auf das Küstengebiet. In den hohen Bergen des Innern herrschen noch wilde kriegerische Eingeborene, die in den ausgedehnten Urwäldern ihren Feinden leicht zu trotzen vermögen. In jenen unwegsamen Gebirgswäldern gedeiht nun der Kampferbaum, und in diese Wildnis muß jeder eindringen, der ihn gewinnen will. Die Eingeborenen sehen jedoch die Fremden nicht gern und geben nicht immer die Erlaubnis, so daß man stets auf heimtückische Ueberfälle und blutige Kämpfe gefaßt sein muß.
Trotz dieser Mühen und Gefahren haben einige Deutsche in der Nähe des Hafens von Tamsui im Norden der Insel eine Niederlassung gegründet, von welcher aus Expeditionen in die Gebirgswälder unternommen werden. Wird nach einem drei bis vier Tage langen Marsche durch die Wildnis eine Gegend entdeckt, die reich an Kampferbäumen ist, so baut man hier Blockhütten und richtet sich für Monate ein, denn der Kampfer muß an Ort und Stelle gewonnen werden.
Der Baum „Laurus Camphora“ erzeugt in seinen Blättern das Kampferöl, welches von hier durch die Zweige in das Holz gelangt und in diesem zu dem weißen Kampfer auskrystallisiert. Aus dem Holze muß also der Kampfer herausgezogen werden.
Zu diesem Zwecke werden die Bäume gefällt und zerkleinert, die Holzspäne mit Wasser in Destillierblasen gebracht und diese auf offenes Feuer gesetzt. Mit den Wasserdämpfen entweichen Kampferöl und Kampfer, werden aber in Kühlvorlagen wieder verdichtet, und man sieht auf dem Wasser des Kühltroges Oel und Kampfer schwimmen. In Japan sammelt man beide Stoffe, denn das Kampferöl eignet sich ausgezeichnet zur Bereitung vorzüglicher Lacke; auf Formosa würde der Transport des Oels nicht lohnen, weshalb man dort nur den Kampfer abschöpft. Die Apparate sind sehr einfach; sie bestehen aus Kesseln mit Hauben, Bambusröhren und Holztrögen als Kühlvorlagen. An einem Tage gewinnt man von einer 100 Kilo schweren Füllung etwa 2 bis 3 Kilo Kampfer; ein starker 50jähriger Baum giebt 1 Pikul, d. h. 60 Kilo Kampfer, ein Gewicht, für das in Europa sehr verschiedene Preise bezahlt werden, denn im Jahre 1892 schwankte der Kampferpreis auf europäischen Großmärkten von 150 bis 270 Mark für das Pikul.
Sind die brauchbaren Bäume gefällt und abdestilliert, so wird der Kampfer auf dem Rücken chinesischer Träger in die Niederlassung bei Tamsui gebracht, hier noch einmal gereinigt und in lange mit Stanniol ausgelegte Kisten verpackt. Von Tamsui wandert er nach Hongkong, dessen Hafen den Stapelplatz des chinesischen Kampfers bildet.
Diese Industrie der Deutschen in den wilden Urwäldern von Formosa ist keineswegs unbedeutend. Die Niederlassung verfügt über 900 bis 1000 Destillierapparate, die fast fortwährend in den Urwäldern dampfen, und ihre Erfolge sind keine geringfügigen. Im Jahre 1891 wurden von Formosa nur 2885 Kisten verschifft, von denen jede etwa ½ Centner Kampfer faßte. Im Jahre 1892 stieg die Ausfuhr auf mehr als das Doppelte und betrug 6896 Kisten. Es ist dies ein Erfolg deutschen Fleißes und Unternehmungsgeistes, der bis jetzt weiteren Kreisen in der Heimat nicht bekannt geworden ist. *
Vor und nach der Schlacht. (Zu den Bildern S. 496 und 497.) Die ansprechenden Genrebilder G. von Boddiens versetzen uns in die Zeit des Siebenjährigen Krieges; das erste zeigt uns die heitere Sorglosigkeit des Soldatenlebens, welche den Augenblick erfaßt und auch auf dem Marsche zum Schlachtfeld keine Todesgedanken hegt. Wir sehen eine Gruppe von Ziethen-Husaren vor uns, die neben einem Marketenderwagen in einer Dorfstraße abgesessen sind und mit der jungen Marketenderin scherzen, welche ihnen lächelnd den erquickenden Trank einschenkt. Einige umstehen den Wagen; einer leert das Glas, das er sich erobert hat; vorne auf der Umfassung eines ländlichen Brunnens sitzt behaglich ein anderer Reiter, ein Trompeter. Doch schon hat die Stunde geschlagen, welche dieser fröhlichen Lebenslust ein rasches Ende bereitet. Die Ordonnanz, die dort zu Pferde vor dem Offizier hält, hat den schriftlichen Befehl zum Aufbruch gebracht, und bald wird das Signal ertönen, welches den fröhlichen Reitertrupp zur ernsten Entscheidung des Schlachtfeldes fortruft. Ziehen doch schon im Hintergrunde die Seydlitz-Kürassiere dem Schlachtfeld zu! Und die Ziethen-Husaren werden ihnen bald folgen, dem Stern des großen Königs vertrauend, der sie schon oft zum Siege geführt.
So einfach dies Genrebild ist, so stimmungsvoll erscheint der Gegensatz zwischen der Lebensfreudigkeit der Soldaten und der Todesdrohung der bevorstehenden Schlacht. Und wie friedlich ist hier alles in der stillen Dorfstraße – man glaubt den Röhrbrunnen mit einförmiger Gleichmäßigkeit plätschern zu hören. Bald wird von dem fernen Hügel der Kanonendonner ertönen, der die Dörfer ringsum aus ihrem Frieden schreckt!
Und nun ist sie vorübergebraust, die heiße Schlacht – welch ein anderes Bild! Husaren und Kürassiere haben eine Batterie erstürmt: vor der eroberten Kanone liegt ein gefallener Husar, im Vordergrunde ein zum Tode getroffener Trompeter der Kürassiere; das zweifelnde Gesicht des Feldschers verrät uns, daß hier wenig Hoffnung mehr ist. Ergriffen schaut der junge Offizier auf den Armen nieder, ebenso der Wachtmeister, der den Schimmel des Trompeters eingefangen hat und ihn am Zügel führt; die abziehenden Kürassiere blicken teilnahmvoll auf den gefallenen Kameraden.
Inhalt: Die Brüder. Roman von Klaus Zehren (2. Fortsetzung). S. 485. – Früchteverkäuferin in den Straßen von Kairo. BIld. S. 485. – Etwas vom Gedächtnis. Von W. Berdrow. S. 488. – Belauscht. Bild. S. 489. – Die kluge Tochter. Gedicht von Viktor Blüthgen. S. 492. – Wolfgang Amadeus Mozart der Jüngere. Zu seinem fünfzigjährigen Todestage. S. 492. Mit Abbildungen S. 492 u. 493. – Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (28. Fortsetzung). S. 494. – Vor der Schlacht. Bild. S. 496. – Nach der Schlacht. Bild. S. 497. – Blätter und Blüten: Nützet die Sommerferien! S. 499. – Orientalische Früchteverkäuferin. S. 499. (Zu dem Bilde S. 485.) – Neue naturwissenschaftliche Prachtwerke. S. 499. – Belauscht. S. 499. (Zu dem Bilde S. 489.) – Eine deutsche Industrie in Formosa. S. 500. – Vor und nach der Schlacht. S. 500. (Zu den Bildern S. 496 und 497.)
[ Verlagsverbung für E. Werners gesammelte Romane und Novellen. ]
- ↑ Vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1891, Seite 380.
- ↑ Die Oper „Don Juan“. -
- ↑ Driscûvel, altes Wort für Thürschwelle.