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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[53]

Nr. 4.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Freie Bahn!
Roman von E. Werner.
(3. Fortsetzung.)


Die Wohnräume der Familie Dernburg lagen im unteren Stock des Herrenhauses; die große Eingangshalle war zu Ehren der erwarteten Gäste mit hochstämmigen Lorbeer- und Orangenbäumen und dem ganzen Flore der Treibhäuser geschmückt. Dort stand ein junger Mann, der auf jemand zu warten schien und beim Anblick der Tochter des Hauses eine sehr tiefe und ehrfurchtsvolle Verbeugung machte. Maja nickte ihm flüchtig zu. „Guten Tag, Herr Hagenbach. Ist der Herr Doktor auch hier?“

„Zu Befehl, gnädiges Fräulein,“ versetzte der Gefragte mit einer zweiten ebenso tiefen Verneigung. „Mein Onkel ist bei Herrn Dernburg, um ihm den Wochenbericht des Krankenhauses vorzulegen, und ich – ich warte hier auf ihn – wenn Sie es gütigst erlauben “

„Ja, das erlaube ich Ihnen.“ sagte Maja, während Puck mit kritischen Blicken den Fremden betrachtete, dessen karrierte Beinkleider sein Mißfallen zu erregen schienen.

Herr Hagenbach war ein noch sehr junger Mann mit sehr hellblonden Haaren und sehr hellblauen Augen, schüchtern und unbeholfen. Die Begegnung setzte ihn augenscheinlich in Verlegenheit, denn er wurde roth und stotterte bedeutend. Trotzdem schien er die Nothwendigkeit zu fühlen, sich als Mann von Welt zu zeigen, er setzte einige Male vergeblich zum Reden an und brachte endlich glücklich die Worte hervor:

„Dürfte – dürfte ich es wagen, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen gnädiges Fräulein?“

„Ich danke, mein Befinden ist ganz ausgezeichnet,“ antwortete Maja, deren Mundwinkel bedenklich zu zucken begannen.

„Das freut mich außerordentlich,“ – versicherte der junge Mann, Er hatte eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen, irgend etwas Geistreiches, Bedeutendes, aber es fiel ihm leider gar nichts ein, und so fuhr er denn fort:

„Ich kann gar nicht ausdrücken, wie es mich freut. Ich darf wohl hoffen, daß auch Frau von Ringstedt sich wohl befindet?“

Maja unterdrückte kaum noch das Lachen, während sie die Frage bejahte. Herr Hagenbach aber, noch immer auf vergeblicher Jagd nach der geistreichen Bemerkung, beharrte krampfhaft darauf, sich nach dem Befinden sämmtlicher Familienglieder zu erkundigen, und fragte zum dritten Male:

„Und der junge Herr Dernburg –?“

„Ist nach der Bahnstation gefahren,“ ergänzte Maja, die ihre Heiterkeit nicht länger zurückhalten konnte „Sie dürfen aber auch auf das Wohlbefinden meines Bruders hoffen und auf das meines Vaters gleichfalls – die ganze Familie dankt Ihnen für Ihre außerordentliche Freude über dero Gesundheit.“

Herrn Hagenbachs Verlegenheit steigerte sich beträchtlich. In seiner Verwirrung beugte er sich zu Puck nieder, der noch immer den karrierten Beinkleidern seine Aufmerksamkeit widmete, und versuchte ihn zu streicheln, indem er bemerkte: „Welch ein reizendes Thierchen!“

Der Patronatsherr.
Nach einem Aquarell von A. Greil.

[54] Das „reizende Thierchen“ zeigte sich aber leider sehr unzugänglich für diese Liebkosung und fuhr mit lautem Gebell nach den Beinen des jungen Mannes. Dieser sprang zurück, jedoch Puck setzte ihm nach und packte die Karrierten mit den Zähnen. Der Angegriffene, der den Hund des gnädigen Fräuleins nicht abzuwehren wagte, flüchtete hinter die Blumenkübel, an seinen Fersen den Verfolger, der es nun einmal auf seine Beine abgesehen hatte, während Maja, anstatt den Hund zurückzurufen, sich höchlich an der Scene ergötzte.

Glücklicherweise kam jetzt Hilfe von einer anderen Seite. Aus der Thür, die zu Dernburgs Zimmern führte, trat ein älterer Herr, der ohne weiteres den noch immer kläffenden Spitz an seinem weißen Fellchen packte und emporhob, während er zugleich ärgerlich rief: „Warum greifst Du denn nicht zu, Dagobert, willst Du Dir gutwillig die Beinkleider zerreißen lassen?“

Dagobert stand athemlos unter einem Lorbeerbaum und sah sehr erleichtert aus. Jetzt kam auch Maja herbei.

„Lassen Sie den Missethäter gnädigst laufen, Herr Doktor Hagenbach,“ rief sie lachend. „Es wäre Ihrem Neffen wirklich nicht ans Leben gegangen – Puck hat in seinem ganzen einjährigen Dasein noch keinen Menschen zerrissen.“

„Es ist auch genug an den Beinkleidern, vollends wenn sie so geschmackvoll sind wie die eben gefährdeten,“ versetzte Doktor Hagenbach munter, indem er das winzige zappelnde Geschöpfchen niedersetzte. „Guten Tag übrigens, Fräulein Maja! Nach Ihrem Befinden brauche ich mich wohl nicht erst zu erkundigen?“

„Nein, danach ist heute schon genügend gefragt worden,“ versicherte die junge Dame mit einem muthwilligen Blick auf Dagobert. „Und nun, guten Morgen, meine Herren, ich muß schleunigst zu meinem Papa!“ Mit einem übermüthigen Gruße flog sie davon, nach den Zimmern ihres Vaters.

Doktor Hagenbach, der Arzt von Odensberg und Hausarzt der Dernburgschen Familie, war ein Mann von fünf- oder sechsundvierzig Jahren, dessen Haar sich schon hier und da grau zu färben begann und dessen Gestalt einigermaßen zur Fülle neigte, im übrigen eine ganz stattliche Erscheinung, sehr im Gegensatz zu seinem Neffen, an den er sich jetzt wandte. „Eine rechte Heldenrolle, die Du da gespielt hast!“ spottete er. „Das ausgelassene kleine Ding wollte ja nur spielen, und Du gehst durch!“

„Ich wollte den Liebling des gnädigen Fräuleins nicht so rauh anfassen,“ erklärte Dagobert, indem er besorgt seine Beinkleider musterte, die glücklicherweise keinen Schaden genommen hatten. Der Onkel zuckte nur die Achseln.

„Wir werden den beabsichtigten Besuch bei Fräulein Friedberg heute kaum machen können,“ sagte er dann. „Wie ich eben höre, werden die Herrschaften aus Nizza schon gegen ein Uhr erwartet und das ganze Haus ist auf den Beinen zu ihrem Empfange. Da wir aber einmal hier sind, will ich doch versuchen, das Fräulein zu sprechen, Du kannst inzwischen Deinen inneren und äußeren Menschen wieder in Ordnung bringen.“

Er stieg die Treppe hinauf und traf oben mit Leonie zusammen, die eben über den Flur ging. Sie sah den Arzt, der in langgjährigen freundschaftlichen Beziehungen zu dem Dernburgschen Hause stand, beinahe täglich, dennoch lag in ihrem Wesen eine merkliche Zurückhaltung, als sie seinen Gruß erwiderte. Hagenbach schien das nicht zu bemerken, er fragte flüchtig nach ihrem Befinden, hörte ebenso flüchtig die Antwort an und sagte dann:

„Ich komme heute aus besonderen Gründen zu Ihnen, mein Fräulein. Die Zeit ist zwar schlecht gewählt, denn Sie sind wahrscheinlich auch von dem Empfang der erwarteten Gäste in Anspruch genommen, aber meine Bitte ist in wenigen Minuten erledigt, also erlauben Sie mir, sie Ihnen hier zwischen Thür und Angel vorzutragen.“

Sie haben eine Bitte an mich?“ fragte Leonie, mit kühler Verwunderung. „Wirklich?“

„Sie meinen, weil ich sonst nur Befehle und Vorschriften zu ertheilen pflege? Ja, mein Fräulein, das ist das Recht des Arztes, er muß unter allen Umständen seine Autorität wahren, besonders wenn er es mit sogenannten ‚nervösen‘ Kranken zu thun hat.“

Er betonte das Wort „nervös“ in einer Weise, die seine Zuhörerin offenbar reizte, denn sie entgegnete anzüglich:

„Nun, ich glaube, Ihre Autorität bleibt unangefochten, dafür bürgt Ihre rücksichtsvolle Art, sich Gehorsam zu verschaffen.“

„Je nachdem – ich kenne Patienten, bei denen alle Liebesmüh’ verloren ist,“ erwiderte Hagenbach gelassen. „Aber nun zu meinem Anliegen. Sie kennen meinen Neffen, der seit drei Wochen in Odensberg ist?“

„Den Sohn Ihres Bruders, jawohl! Der junge Mann besitzt ja wohl keine Eltern mehr?“

„Nein, er ist Doppelwaise und ich bin sein Vormund, habe überhaupt die Sorge für seine Zukunft übernehmen müssen, denn seine Eltern sind so pflichtvergessen gewesen, ihm auch nicht einen Pfennig zu hinterlassen. Sie meinten wahrscheinlich, daß ich als Junggesell und angehender Hagestolz einen Erben brauchen könnte.“

Leonies Gesicht verrieth deutlich, daß sie diese Art, sich auszudrücken, sehr unzart fand, der Doktor sah das auch, aber er kümmerte sich nicht im geringsten darum, sondern fuhr in demselben Tone fort:

„Das Gymnasium hat Dagobert nun hinter sich, das Abiturientenexamen hat er gemacht, obwohl mit Ach und Krach, denn ein besonders heller Kopf ist er nicht. Nun sieht er jämmerlich aus von dem Stubensitzen und dem fortwährenden ‚Büffeln‘. Denken Sie, der Junge ist auch schon nervös oder bildet sich wenigstens ein, es zu sein, deshalb habe ich ihn in die Kur genommen. Ich werde ihm die Nerven schon abgewöhnen.“

„Dann will ich nur hoffen, daß der junge Mann die Kur auch wirklich aushält,“ sagte das Fräulein scharf. „Sie lieben die Gewaltmittel, Herr Doktor!“

„Wo sie am Platze sind, allerdings. Uebrigens werde ich meinen Neffen nicht gerade umbringen, wie Sie zu fürchten scheinen. Er soll den Sommer über hier bleiben und sich erholen, ehe er auf die Hochschule geht. Wenn der Junge aber gar nichts zu thun hat, verfällt er auf allerlei Dummheiten, deshalb soll er wenigstens etwas Sprachen treiben, neuere Sprachen natürlich. Latein und Griechisch haben sie ihm eingetrichtert, aber mit dem Englischen und Französischen sieht es sehr schwach aus, und da wollte ich nun anfragen, ob Sie die Güte haben wollten, ihm darin etwas nachzuhelfen. Sie sprechen ja beides vorzüglich.“

„Wenn Herr Dernburg nichts dagegen hat –“

„Herr Dernburg ist einverstanden, ich habe soeben mit ihm darüber gesprochen – es fragt sich nur, ob Sie wollen. Ich weiß zwar, daß ich bei Ihnen nicht sehr in Gnaden stehe –“

„Bitte, Herr Doktor,“ unterbrach ihn das Fräulein kühl. „Ich freue mich sehr, daß Sie mir Gelegenheit geben, mich dankbar zu beweisen für den ärztlichen Beistand, den Sie mir schon verschiedenemal geleistet haben.“

„Bei Ihren ‚Nervenzufällen‘, jawohl. Nun, dann wäre die Sache ja in Ordnung. Dagobert, Junge, wo steckst Du denn? Komm’ herauf!“

Er rief die letzten Worte mit Kommandostimme die Treppe hinab. Leonie schrak dabei förmlich zusammen und meinte mißbilligend: „Sie behandeln den jungen Mann noch völlig wie einen Schulknaben.“

„Soll ich etwa mit dem Jungen besondere Umstände machen? Er möchte allerdings schon gar zu gern den Herrn spielen – und dabei wird er roth und stottert, sobald er mit einem Fremden spricht! – Nun, da bist Du ja, Dagobert! Das Fräulein will die Güte haben, Dich als Schüler anzunehmen. Bedanke Dich!“

Dagobert machte wieder eine ungemein tiefe und ehrfurchtsvolle Verbeugung, wurde wieder roth und begann:

„Ich bin dem Fräulein sehr dankbar – ich freue mich außerordentlich – ich kann gar nicht sagen, wie ich mich freue –“

Da blieb er stecken, Leonie aber kam seiner Verlegenheit zu Hilfe und wandte sich freundlich zu ihm.

„Ich werde Ihnen keine strenge Lehrerin sein und ich denke, wir werden miteinander fertig werden, Herr Hagenbach.“

„Sagen Sie doch einfach ‚Dagobert‘,“ unterbrach sie der Doktor in seiner rücksichtslosen Weise. „Er hat doch nun einmal den vertrakten Namen.“

„Haben Sie an dem Namen etwas auszusetzen? Ich finde ihn sehr schön.“

„Ich ganz und gar nicht,“ erklärte Hagenbach, ohne auf die tiefbeleidigte Miene seines Neffen zu achten. „Von Rechts wegen hätte der Junge Peter heißen müssen, so heiße ich nämlich, und ich bin sein Pathe. Aber das war meiner Frau Schwägerin nicht poetisch genug, und so verfiel sie auf den ‚Dagobert‘. ‚Dagobert Hagenbach‘ – es ist zum Zungenbrechen!“

[55] Um Fräulein Leonies Lippen spielte ein unverkennbares Spottlächeln, als sie erwiderte: „In dem Falle hatte Ihre Frau Schwägerin aber unzweifelhaft recht. Der Name Peter hat wirklich nicht nur die Poesie gegen sich.“

„Was haben Sie denn daran auszusetzen?“ rief der Doktor ärgerlich, indem er sich kampfbereit aufrichtete. „Peter ist ein guter Name, ein berühmter Name, ein biblischer Name. Ich dächte, der Apostel Petrus wäre ein tüchtiger Mann gewesen.“

„Nun, von dem Apostel haben Sie wohl nur das Streitbare – sonst nichts,“ bemerkte Leonie. „Also, Herr Dagobert, ich erwarte Sie morgen nachmittag, da wollen wir zunächst die Zeit und den Plan für den Unterricht festsetzen.“

Der schüchterne Dagobert schien sehr angenehm berührt von dieser Freundlichkeit und begann eben wieder zu versichern, daß er sich ganz außerordentlich freue und so weiter, als sein Onkel in höchst ungnädiger Stimmung dazwischenfuhr. „Wir haben das Fräulein nun aber lange genug aufgehalten. Komm’, Dagobert, sonst gerathen wir noch als ungebetene Gäste in den Familienempfang!“

Damit verabschiedete er sich samt seinem Neffen. Als sie die Treppe hinunterstiegen, erlaubte sich dieser die Bemerkung:

„Fräulein Friedberg ist eine sehr liebenswürdige Dame.“

„Aber nervös und überspannt,“ brummte Hagenbach, „Kann den Namen Peter nicht leiden! Warum kann sie ihn nicht leiden? Hätten Dich Deine verehrten Eltern Peter getauft, so wäre ein anderer Kerl aus Dir geworden! So aber siehst Du aus wie ein bleichsüchtiges Mädchen, das aus Versehen Dagobert genannt wurde!“ Er legte einen sehr verächtlichen Nachdruck auf den Namen.

Sie hatten inzwischen das Haus verlassen und traten jetzt auf die Terrasse hinaus, wo ihnen Egbert Runeck begegnete. Der Doktor wollte mit einem kurzen, sehr gemessenen Gruße an ihm vorüberschreiten, aber der junge Ingenieur blieb stehen und sagte:

„Ich war eben in Ihrer Wohnung, Herr Doktor, um Ihre Hilfe zu erbitten. Einer meiner Leute hat bei den Sprengarbeiten durch eigene Unvorsichtigkeit eine Verletzung davongetragen. Sie ist nicht gefährlich, so viel ich beurtheilen kann, aber es wird doch ärztlicher Beistand nöthig sein, Ich habe ihn mit nach Odensberg gebracht und im Krankenhaus gelassen, ich darf ihn wohl Ihrer Fürsorge empfehlen.“

„Ich werde sofort nach ihm sehen,“ entgegnete Hagenbach. „Sie wollen nach dem Herrenhaus, Herr Runeck? Man erwartet dort gerade jetzt die Herrschaften aus Nizza, und Herr Dernburg wird kaum –“

„Ich weiß,“ unterbrach ihn Runeck, „ich komme eben deswegen von Radefeld herein. Guten Morgen, Herr Doktor!“

Er grüßte und ging; Hagenbach sah ihm nach, stieß seinen Stock auf den Boden und sagte halblaut: „Das ist stark!“

„Hast Du es gesehen, Onkel, er trug unter dem Ueberrock den Gesellschaftsanzug,“ bemerkte Dagobert. „Er ist eigens eingeladen.“

„Das scheint wirklich so!“ brach der Doktor grimmig los. „Eingeladen bei diesem Empfang, den man ausgesprochenermaßen nur auf den engsten Familienkreis beschränken will – das sind ja merkwürdige Zustände hier in Odensberg!“

„Und ganz Odensberg spricht auch schon darüber,“ sagte Dagobert leise, sich vorsichtig umsehend. „Es ist nur eine Stimme des Tadelns und Bedauerns über diese unglaubliche Schwäche des Herrn Dernburg für –“

„Gelbschnabel, was weißt denn Du davon!“ fuhr der Doktor auf. „In Odensberg tadelt man weder den Chef noch bedauert man ihn – man gehorcht ihm einfach. Herr Dernburg weiß immer, was er will, und hier wird er es wohl erst recht wissen, wenn ihm sein Günstling nicht zufällig einen Strich durch die Rechnung macht. Der setzt auch einen Trumpf auf seinen Willen, gerade wie sein Herr und Meister, und wenn Stahl und Stein zusammen kommen, giebt es Funken. Aber nun mach’, daß Du nach Hause kommst, ich will erst nach dem Radefelder Arbeiter sehen.“ Damit schlug er den Weg nach dem Krankenhaus ein und entließ seinen Neffen, der offenbar froh war, als er den tyrannischen Onkel im Rücken hatte.




Runeck war in das Haus getreten und traf hier mit Fräulein Friedberg zusammen, die eben die Treppe herunterkam. Auch hier wurde sein Gruß nicht gerade zuvorkommend erwidert; das Fräulein trat dabei drei Schritte zurück und schickte einen schier hilfesuchenden Blick umher, so daß ein leises Spottlächeln auf den Lippen des jungen Ingenieurs erschien, als er sich mit der größten Artigkeit erkundigte, ob Herr Dernburg in seinem Arbeitszimmer sei.

Die Antwort wurde der Dame erspart, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Thür und Dernburg selbst trat heraus, in Begleitung seiner Tochter, die sofort auf Runeck zueilte und ihn mit der unbefangensten Vertraulichkeit begrüßte.

„Bist Du endlich da, Egbert! Wir glaubten schon, Du würdest den Empfang versäumen, der Wagen kann jede Minute eintreffen.“

„Ich wurde durch einen Zwischenfall aufgehalten,“ versetzte Egbert, „und mußte überdies sehr langsam fahren lassen, da ich einen Verletzten bei mir hatte, sonst wäre ich längst hier.“

Er trat zu Dernburg und berichtete ihm den Vorfall, während Fräulein Leonie, die mit einem förmlichen Entsetzen diese Begrüßung des Ingenieurs durch Maja mit angesehen hatte, ihrem Zögling zuflüsterte: „Aber Maja, welch unpassende Vertraulichkeit – Sie sind doch kein Kind mehr! Wie oft habe ich Sie schon gebeten, Ihre Jahre und Ihre Stellung zu bedenken. Muß ich denn wirklich die Autorität Ihres Vaters in Anspruch nehmen?“

Maja hörte gar nicht auf die Strafpredigt, nicht die erste, die ihr in dieser Beziehung gehalten wurde, sie wartete ungeduldig, bis Runeck mit seinem Bericht fertig war. Dernburg erkundigte sich eingehend nach der Art der Verletzung und schien befriedigt, als er hörte, daß sie nicht gefährlich und der Arzt bereits benachrichtigt sei; endlich gab er Egbert frei, der sich nun zu dem jungen Mädchen wandte.

„Sie hören es, Fräulein Maja, die Verspätung war nicht meine Schuld, Sie dürfen mir nicht böse deswegen sein.“

„Sehr böse bin ich Dir, wenn Du so eigensinnig darauf bestehst, mich ‚Fräulein‘ und ‚Sie‘ zu nennen!“ rief Maja schmollend. „Du hast das während unseres ganzen letzten Zusammenseins gethan, aber ich leide es nicht, hörst Du, Egbert, ich leide es nicht!“

Sie trat sehr nachdrücklich mit dem Füßchen auf und nahm eine allerliebste zornige Miene an. Fräulein Leonie schickte einen entsetzten Blick zu dem Hausherrn hinüber – es war die höchste Zeit, daß seine Autorität eintrat, wo die ihrige so vollständig versagte. Aber Dernburg schien ihre Empörung durchaus nicht zu theilen, denn er sagte mit voller Gelassenheit:

„Nun, wenn Maja durchaus darauf besteht, so thu’ ihr den Willen, Egbert! Du gehörst ja doch eigentlich zur Familie.“

Leonie traute ihren Ohren nicht – die Erlaubniß erschien ihr so ungeheuerlich, daß sie sich zum Widerstand aufraffte.

„Herr Dernburg, ich meine –“

„Was, Fräulein Friedberg?“

Es war nur eine kurze, ganz ruhig ausgesprochene Frage, aber das Fräulein verlor auf der Stelle die Luft zur Fortsetzung ihres Widerspruchs und setzte schleunigst hinzu: „Ich meine, wir sollten einen Diener draußen auf der Terrasse aufstellen damit es rechtzeitig gemeldet wird, wenn der Wagen in Sicht kommt.“

„Jawohl, geben Sie nur den Befehl dazu,“ sagte Dernburg. „Aber ich denke, wir gehen jetzt hinein, Erich kann sich möglicherweise auch verspäten.“ Er schritt nach dem Salon, Maja mit ihm, aber sie wendete muthwillig den Kopf zurück.

„Sie haben es gehört, Herr Ingenieur Runeck, das ‚Du‘ ist von allerhöchster Stelle befohlen! Wirst Du nun gehorchen, Egbert, gleich auf der Stelle gehorchen?“

Es lag eine so reizende Schelmerei in ihrem Ton und Blick, daß selbst der ernste Egbert sich dem nicht entziehen konnte, er machte eine scherzhafte Verbeugung. „Wie Du befiehlst!“

Maja jubelte auf wie ein Kind vor Freude über diesen Sieg, den sie über den starrsinnigen Jugendfreund errungen hatte, und Dernburg – lächelte dazu. Es lag ein seltener Ausdruck von Zärtlichkeit in seinen strengen Zügen, als er auf das liebliche sonnige Geschöpf an seiner Seite blickte. Man sah es deutlich, daß Maja sein Liebling war. –

Die Geduld der Wartenden wurde auf keine allzu lange Probe gestellt; schon nach Verlauf einer Viertelstunde kam die Meldung, daß der Wagen in Sicht sei, und die großen Flügelthüren der Eingangshalle wurden weit zurückgeschlagen. Dort stand Dernburg mit seiner Schwester, einer alten Dame in würdevoller, etwas steifer Haltung, neben ihnen Maja, ganz Freude und Erwartung, während Egbert und Fräulein Leonie sich in den Salon zurückgezogen hatten.

[56] Jetzt nahte der Wagen, ein halbverdeckter Landauer mit einem prachtvollen Isabellengespann, und hielt auf der Terrasse. Der Diener öffnete den Schlag. Erich sprang zuerst heraus und half seiner Braut beim Aussteigen, während hinter ihnen die hohe Gestalt des Freiherrn sichtbar wurde.

Dernburg war einen Schritt vorgetreten und stand hochaufgerichtet auf der Schwelle seines Hauses. Der ganze Stolz des Bürgerthums sprach aus seiner Haltung, als er den ahnenreichen Sprößling des alten Adelsgeschlechtes empfing, das ganze Selbstbewußtsein des Mannes, der durch eigene Kraft und Arbeit emporgestiegen ist. Er war es, welcher der Baroneß Wildenrod eine Ehre erwies, wenn er sie in den Kreis seiner Familie aufnahm.

Cäcilie verneigte sich leicht mit der ihr eigenen Anmuth, als Erich sie dem Vater zuführte. Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen und hob jetzt die Augen empor zu jenem strengen Gesicht, das ihr freilich keine Scheu einflößte. Sie kannte zu gut den Zauber, den ihre Erscheinung ausübte und der auch hier nicht versagen konnte. Jugend und Schönheit haben es immer leicht, selbst dem kalten prüfenden Alter gegenüber. Wohl ruhte Dernburgs Blick einige Sekunden lang scharf und forschend auf ihren Zügen, dann aber beugte er sich nieder und küßte ihre Stirn.

„Sei willkommen in meinem Hause, mein Kind!“ sagte er ernst, aber freundlich.

Erich athmete verstohlen auf. Mit diesen Worten war der Widerstand seines Vaters aufgegeben, Cäcilie von ihm als Tochter anerkannt und aufgenommen; sie hatte auch hier durch ihr bloßes Erscheinen gesiegt! Er empfand das mit freudigem Stolze.

Frau von Ringstedt folgte dem Beispiel ihres Bruders und empfing die junge Baroneß mit einfacher Herzlichkeit. Wildenrod begrüßte inzwischen den Hausherrn, während Maja in voller Bewunderung die schöne Schwägerin anstaunte. Sie vergaß darüber ganz den so feierlich versprochenen „Hofknix“ und flog ihr statt dessen stürmisch an den Hals mit dem Ausruf: „O, Cäcilie, ich habe nicht geglaubt, daß Du so schön bist!“

Cäcilie lächelte; so sehr sie auch an Huldigungen und Schmeicheleien gewöhnt war, dies neidlos kindliche Geständniß erfreute sie doch, und mit einer Aufwallung wirklicher Zärtlichkeit küßte sie die „kleine süße Maja, von der Erich schon so viel erzählt“.

„Sie überschütten meine Schwester mit so viel Liebenswürdigkeit, mein gnädiges Fräulein,“ sagte plötzlich eine tiefe aber klangvolle Stimme, „darf auch ich auf eine freundliche Begrüßung hoffen?“

Maja wandte sich um und schaute in ein Paar tiefer dunkler Augen, die auf ihrem Antlitz ruhten, mit einem Ausdruck, der sie seltsam, beinahe unheimlich berührte, und doch fühlte sie, daß Bewunderung darin lag. Aber es durchschauerte sie wie ein leises Grauen, wie eine ahnungsvolle Angst vor diesem Blick, und ihre Stimme hatte nicht den hellen muthwilligen Klang wie sonst, als sie halb fragend erwiderte: „Herr von Wildenrod –?“

„Oskar von Wildenrod, ja, der darum bittet, daß auch ihm die Hand zum Willkomm gereicht werde.“

Es lag ein leiser Vorwurf in den Worten. Maja hatte in der That dem neuen Verwandten noch nicht einmal die Hand gegeben; jetzt erst streckte sie zögernd, mit einer ihr sonst ganz fremden Befangenheit die Rechte aus. Wildenrod beugte sich nieder und drückte seine Lippen darauf. Es war die übliche Artigkeit, aber das junge Mädchen bebte leise bei der Berührung, während ihre Augen doch zugleich festgehalten wurden von jenem dunklen Blicke, der sie wie mit einem Banne umfing.

Dernburg bot jetzt seiner künftigen Schwiegertochter den Arm, um sie hineinzuführen. Der Freiherr trat zu Frau von Ringstedt und Maja hing sich mit einer hastigen Bewegung an den Arm ihres Bruders. Erich war in der glücklichsten Stimmung, er drückte dankbar und zärtlich die Hand der Schwester, die seine Braut mit so viel Liebe empfangen hatte.

„Also Cäcilie gefällt Dir?“ fragte er. „Habe ich Dir zu viel von ihr erzählt?“

„O nein, sie ist weit, weit schöner als ihr Bild. So habe ich mir immer die Märchenprinzessinnen vorgestellt!“

„Und wie findest Du meinen künftigen Schwager? Eine ritterliche Erscheinung, nicht wahr, obgleich er längst über die Jugend hinaus ist?“

„Ich weiß nicht,“ sagte Maja langsam. „Er hat so seltsame Augen – so tief und dunkel – beinahe unheimlich.“

„Närrchen, ich glaube, Du fürchtest Dich davor,“ scherzte Erich. „Das sieht unserer kleinen übermüthigen Maja ja gar nicht ähnlich, und Oskar wird nicht sehr erbaut sein von diesem Eindruck seiner Persönlichkeit. Aber lerne ihn nur erst besser kennen, er ist ein höchst anziehender Gesellschafter und hat eine wahrhaft blendende Unterhaltungsgabe.“

Maja antwortete nicht sogleich. Fürchten? Ja freilich, es war so etwas wie Furcht gewesen, was sie empfunden hatte, aber sie schämte sich jetzt sehr dieser kindischen Regung und sandte dem im Gespräch mit ihrer Tante voranschreitenden Freiherrn einen äußerst ungnädigen Blick nach. Ihr ganzer Muthwille kehrte zurück, und das Köpfchen zurückwerfend, rief sie lachend: „O, das Fürchten muß ich erst noch lernen wie der Held im Märchen!“

*      *      *

Das Wetter, das am Vormittag noch leidlich gewesen war, hatte sich verschlimmert. Die Berge lagen in dichtem Nebelschleier, von Zeit zu Zeit ging ein Regenguß nieder, und der Wind wühlte in den Bäumen des Parkes.

Um so traulicher war es jetzt in dem großen Salon des Herrenhauses, einem hohen weiten Raume mit dunkelrothen Tapeten und Vorhängen, geschnitzten Eichenmöbeln und einem mächtigen, mit schwarzem Marmor bekleideten Kamin. Die Farben waren etwas düster gehalten, doch durch die weiten Glasthüren, die sich auf die Terrasse öffneten, strömte das Licht voll herein. Die Wände waren nur mit wenigen aber auserlesenen Gemälden und einigen Familienbildern geschmückt. In dem Kamin loderte ein helles Feuer und der ganze Raum machte den Eindruck gediegenen Reichthums, vornehmer Behaglichkeit.

Man war soeben vom Tische aufgestanden, und die Jüngeren ließen sich in lebhaftem Geplauder am Kamin nieder; Frau von Ringstedt saß mit Fräulein Leonie auf dem Ecksofa, der Hausherr hatte sich in eine angelegentliche Unterhaltung mit Oskar von Wildenrod vertieft. Sie sprachen über die Odensberger Werke; der Freiherr verrieth nicht nur ein ungewöhnliches Interesse dafür, seine Fragen und Bemerkungen zeigten auch, daß er durchaus nicht so unbewandert auf diesem Felde war, wie Dernburg vorausgesetzt hatte, und dieser sagte soeben:

„Ich habe wirklich nicht geglaubt, daß Sie so vertraut mit solchen Dingen sind, Herr von Wildenrod. Ein Arbeitsfeld wie das unserige pflegt sonst nur für Fachleute einen Reiz zu haben. Sie scheinen es aber ziemlich genau zu kennen.“

„Ich habe manches darüber gelesen,“ versetzte Wildenrod leichthin, „Wer wie ich keinen bestimmten Beruf hat, treibt allerlei kleine Privatstudien, und ich habe von jeher eine Vorliebe für die Berg- und Hüttenkunde gehabt. Meine Kenntnisse sind allerdings nur die oberflächlichen eines Laien, aber vielleicht erlauben Sie mir, sie hier einigermaßen zu vervollständigen.“

„Ich werde Ihnen mit Vergnügen als Führer dienen,“ erklärte Dernburg. „Sie haben bei Ihrer Fahrt nur einen kleinen Theil der Werke berührt, aber hier von der Terrasse aus hat man einen ziemlich vollständigen Blick über das Ganze.“

Er öffnete eine der Glasthüren und trat mit seinem Gaste hinaus. Der Nebel war noch nicht gewichen, allein die Werke, die sich bis an den Fuß der Waldberge hin erstreckten, und das tausendfache Leben, das sich dort regte und bis zu dem Herrenhause herüberdrang, verloren darum nichts von ihrer Großartigkeit, die einem Fremden wohl überwältigend erscheinen mochte. Auch der Freiherr schien diesen Eindruck zu haben, seine Augen schweiften langsam von einem Ende des Thales zum andern, während er bemerkte: „Eine mächtige Schöpfung, dies Odensberg! Das ist ja eine förmliche Stadt, die Sie hier in der Berg- und Waldeinsamkeit haben erstehen lassen. Diese riesigen Gebäude, die hier im Mittelpunkte aufragen, sind –?“

„Die Walzwerke und die Gießereien; dort, weiter hinten, liegen die Hochöfen.“

„Und jene Anlage zur Rechten, die beinahe wie eine Villenkolonie aussieht?“

„Das sind die Wohnungen meiner Beamten – die Häuser der Arbeiter liegen auf der anderen Seite. Ich habe die Leute freilich nur zum kleinsten Theil in Odensberg selbst unterbringen können, die meisten wohnen in den benachbarten Dörfern.“

„Ich weiß, Erich zeigte sie mir auf der Fahrt. Wie viel Arbeiter beschäftigen Sie denn eigentlich, Herr Dernburg?“

[57]

Kritische Kundschaft.
Nach einem Gelände von F. Schnitzler.

[58] „Neuntausend hier auf den Werken; die Erzgruben in den Bergen haben ihre eigene Arbeiterschaft und ihre eigenen Beamten.“

Wildenrod sah den Mann an, der mit so vollkommener Gelassenheit und augenscheinlich ganz absichtslos vor ihm das Bild einer Macht und eines Reichthums entrollte, bei dem es einem anderen schwindelte. Jede einzelne dieser Gruben und Hütten, deren er so ganz nebenbei erwähnte, stellte ein Vermögen dar; von seinen anderen Gütern, die zu den einträglichsten der Provinz gehörten, sprach er gar nicht einmal. Und dabei lag in seinen Worten auch nicht die leiseste Spur von Prahlerei, er gab einfach eine erbetene Auskunft, nichts weiter. Der Freiherr lehnte sich an die steinerne Brüstung und blickte wieder hinaus, dann sagte er langsam: „Ich habe durch Erich und andere schon viel von Ihrem Odensberg gehört, aber von dieser Großartigkeit hat man doch erst einen Begriff, wenn man sie vor Augen sieht. Es muß ein berauschendes Gefühl sein, sich als unumschränkten Gebieter einer solchen Welt zu wissen und zehntausend Menschen mit einem einzigen Machtworte zu leiten.“

„Ich habe mehr als dreißig Jahre gebraucht, ehe ich soweit kam,“ antwortete Dernburg kühl. „Wer sich diese Welt und diesen Boden Schritt für Schritt erst hat erkämpfen müssen, den ‚berauscht‘ der Erfolg nicht mehr. Er giebt auch manche schwere Last zu tragen, die Sie, Herr von Wildenrod, wohl kaum auf sich nehmen würden. Ihnen war ja schon die Verwaltung Ihrer väterlichen Güter eine Last, die Sie abstreiften.“

Es lag eine gewisse Schärfe in den letzten Worten, die auch verstanden wurde; aber Wildenrod zeigte keine Empfindlichkeit, er entgegnete ruhig: „Sie machen mir einen Vorwurf daraus, Herr Dernburg?“

„Nicht doch, welches Recht hätte ich dazu! Es ist ja schließlich eines jeden eigene Sache, wie er sich sein Leben gestaltet. Der eine sucht die Befriedigung in der Arbeit, der andere –“

„Im Müßiggang, meinen Sie?“

„In dem Genuß des Lebens, wollte ich sagen.“

„Aber Sie dachten doch, was ich aussprach, und ich muß Ihnen leider recht geben, Aber mich hat von jeher nur die Thätigkeit im großen Maßstäbe gereizt, und mein Erbe war keine ausgedehnte Herrschaft, wo ich diesen Drang hätte verwerthen können. Ich brachte es nicht fertig, mich in die öde Alltäglichkeit des Landlebens zu vergraben, in den ewig gleichen Kreislauf einer Wirthschaft, die jeder tüchtige Inspektor ebensogut wie ich führen konnte. Dafür war ich nun einmal nicht geschaffen.“

„Weshalb blieben Sie denn nicht im diplomatischen Dienste?“ warf Dernburg ein. „Da stand Ihrem Ehrgeiz das weiteste Feld offen.“

Es war ein Ausdruck unsäglicher Bitterkeit, der bei dieser Frage um die Lippen Wildenrods zuckte, freilich nur eine Sekunde lang. „Das lag in persönlichen Verhältnissen. Ich hatte Unannehmlichkeiten mit meinem Chef gehabt, glaubte mich zurückgesetzt, übergangen und löste in rascher Empfindlichkeit die vermeintliche Kette. Ich war damals noch jung, und die weite Welt, die goldene Freiheit lockten mich unwiderstehlich – mit den Jahren ändert sich das! Ich habe es längst gefühlt, daß meinem Leben die eigentliche Wurzel fehlt, und werde es noch mehr fühlen, wenn Cäcilie mich verläßt. Es bleibt doch eine tiefe Unbefriedigung zurück bei einem solchen Dasein.“

„Für die Sie allein die Verantwortung tragen,“ sagte Dernburg ernst. „Sie stehen noch in vollster Manneskraft, haben ein unabhängiges Vermögen, es käme nur auf einen Entschluß an.“

„Ganz recht, auf einen Entschluß, und dazu habe ich mich bisher noch nicht aufraffen können. Mir ist solche Arbeit immer nur unter dem Bilde des Kleinlichen, Mühseligen erschienen. Hier im Angesicht Ihres Odensberg lerne ich zum ersten Male begreifen, welch eine Macht darin liegt, welch unglaubliche Erfolge sie zu schaffen vermag. Das könnte auch mich reizen, meine ganze Kraft einzusetzen, ich gestehe es! Wollen Sie den ‚Müßiggänger‘ einen tieferen Blick in Ihre Arbeitswelt thun lassen, Herr Dernburg? Vielleicht nützt ihm die Lehre doch!“

Es lag etwas ungemein Gewinnendes in der Bitte, in der ganzen Art des Freiherrn, und Dernburg war von dieser Offenheit sehr angenehm berührt. Seine bisher ziemlich kühle Artigkeit machte einem wärmeren Tone Platz, als er antwortete:

„Es soll mich freuen, wenn mein Odensberg Ihnen solche Lehren giebt. Ich habe freilich durch all dies Kleinliche und Mühselige hindurch gemußt. Wenn ich Kopf und Arme nicht gerührt hätte, so stände hier wahrscheinlich noch der einfache Eisenhammer, den mir mein Vater hinterließ, aber es muß ja nicht jeder von der Pike auf dienen. Wenn nur jeder etwas leistet und seinen Platz im Leben ausfüllt, das ist die Hauptsache!“

Ein neuer Regenguß, der eben heranzog und dessen erste Tropfen niederfielen, trieb die beiden Herren ins Zimmer zurück Dernburg hatte bereits das Vorurtheil aufgegeben, das er bisher gegen den künftigen Schwager seines Sohnes gehegt, und Oskar von Wildenrod hatte einen ersten Sieg erfochten, gerade an der Stelle, wo er am schwersten zu erringen war.

(Fortsetzung folgt.)




Das Deutschthum in Südafrika.

Von Rudolf Marloth.

Von dem gewaltigen Menschenstrom, welcher jahraus jahrein die deutsche Küste verläßt, wendet sich der bei weitem größte Theil nach Westen, nach den volkreichen Städten oder den weiten von der Kultur kaum berührten Flächen der Vereinigten Staaten. Nur kleinere Scharen von Europamüden erwählen sich die südamerikanischen Republiken oder Australien zum Ziel, noch weniger aber Südafrika. Die Zahl deutscher Einwanderer, welche alljährlich das Kap erreichen, beträgt für gewöhnlich nur einige Hundert, bei besonderen Gelegenheiten jedoch, z. B. bei der Entdeckung von Diamanten- oder Goldfeldern, wuchs die Zahl schon mehreremal in die Tausende.

Die Gründe, welche diese Landsleute veranlaßt haben, die deutsche Heimath mit Südafrika zu vertauschen, sind wohl im allgemeinen dieselben wie diejenigen, welche schon Hunderttausende oder vielmehr Millionen über den Ocean nach Westen getrieben haben. Gar viele zogen hinaus, den Handel der Heimathstadt auszubreiten. Sie gründeten Niederlassungen in den verschiedenen Häfen und zogen Freunde, Handwerker und Gehilfen nach sich. Andere trieb der Wunsch, leichteren Erwerb, reicheren Lohn für ihrer Hände Arbeit zu finden. Noch andere aber folgten nur dem altgermanischen Wandertrieb, der ihnen keine Ruhe ließ:

„Die Berge dünkten mich zu Haus zu flach,
Zu eng die Thäler und der Rhein ein Bach;
Ich wollte Alpen, Meer und Welten sehn.
Trotz bieten wollt’ ich Stürmen und Orkan,
Der Tropen Pracht mit eignen Augen schauen,
Gen Westen zieh’n ins neue Kanaan
Und am Ohio Mais und Weizen bauen.

So sang einst Konrad Krez. Es ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her, daß sein Gedicht in der „Gartenlaube“ erschien. Damals lernte der Jüngling die Verse, welche seine Einbildungskraft anregten; heute läßt sie der Mann an gleicher Stelle auferstehen, nachdem ihm eigene Erfahrung sie bestätigt.

So mancher von denen, welche voll glänzender Hoffnungen auszogen nach dem fernen Süden, mußte erfahren, daß auch hier wie überall „die Gänse barfuß gehen“, wie ein volkstümlicher Ausdruck meiner Heimath lautet.

„Und magst Du ziehn nach Süd und Nord,
Gen Ost und West, nach allen Winden,
So wirst Du stets dasselbe Losungswort,
Die Arbeit und des Lebens Mühsal finden.
Dasselbe Kämpfen um Dein täglich Brot,
Das sich nicht lohnt, so schwer verdient zu sein,
Erwartet Dich am Hudson wie am Rhein.
Ihr Bürgerrecht hat überall die Noth.“

Und doch, die Noth, die bleiche bittere Noth giebt es in dem sonnigen Kaplande nicht! Hunger und Kälte, die Quellen unsäglichen Elends in dem Gewühl der heimischen Fabrikstädte wie in den Hütten der schlesischen Berge oder der Eifelthäler, sind hier so gut wie unbekannt. Der faulste Hottentott wie der trägste Lump von weißer Farbe verdienen in einigen Tagen immer noch genug, um für den Rest der Woche den herrlichen Sonnenschein und das süße Nichtsthun genießen zu können.

Freilich, weit bringen es diese Drohnen der menschlichen Gesellschaft nicht, denn gerade infolge ihrer Unthätigkeit verfallen [59] sie schließlich dem Fluche auch dieses Landes, dem Branntwein. Aber die günstigen äußeren Bedingungen, welche es solchen Schmarotzern ermöglichen mit so geringem Kraftaufwande ihr Dasein zu fristen, kommen auch denen zu statten, welche vorwärts streben. Wer seinen Beruf versteht, sich der fremden Sprache, den fremden Zuständen anpaßt und dabei fleißig und genügsam ist, gelangt hier selbst als Arbeiter oder Handwerker verhältnißmäßig leicht zu einer gewissen Selbständigkeit.

Und das ist es auch, was so manchen Deutschen hier festgehalten hat, der auszog mit dem Gedanken, nach ein paar Jahren des Wanderns in fernen Landen wieder heimzukehren in das Vaterland. So kommt es, daß von den in Europa geborenen Einwohnern des Kaplandes 13½ Prozent Deutsche sind, während alle übrigen nicht aus Großbritannien stammenden Europäer zusammen noch nicht ganz sieben Prozent ausmachen. Nicht ganz so hoch dürfte sich die Verhältnißzahl stellen, wenn wir die gesammte weiße Bevölkerung in Betracht ziehen, aber ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich die Zahl der Deutschen in Südafrika auf mindestens zehn Prozent der Weißen, also etwa sechstausend Seelen schätze. In jedem Beruf sind daher auch unsere Landsleute zahlreich vertreten. Bei vielen ist der deutsche Ursprung allerdings nur noch in den deutschen Namen zu erkennen, aber wir finden deren unter Ministern, Richtern und anderen hohen Beamten, und der einzige Schriftsteller des Landes, oder richtiger die Schriftstellerin, welche auch in England berühmt geworden, ist Fräulein Olive Schreiner, deren Großeltern noch Deutsche waren.

Daß das musikalische Element zum größeren Theile aus Deutschland stammt, ist leicht erklärlich, denn noch jetzt zählt man nur sehr wenige Erziehungsanstalten des Landes, an denen der Musikunterricht nicht von deutschen Lehrkräften gegeben wird.

Deutsche Kaufleute und Handwerker giebt es überall; besonders zahlreich sind sie natürlich in den Hafenplätzen, und in den drei bedeutendsten derselben, in Kapstadt, Port Elizabeth und Durban, gehören deutsche Firmen unter die ersten des Landes. Das erklärt denn auch den verhältnißmäßig großen Antheil, welchen Dentschland an dem Handel Südafrikas hat. So sind z. B. die eingeführten Klaviere und Lampen zum größeren Theile deutsches Erzeugniß, und die Zahl der ersteren mag wohl an die tausend Stück im Jahre betragen. Deutsches „Lagerbier“ wird nicht nur von unsern Landsleuten, sondern auch vielfach von Engländern und Einheimischen bevorzugt, und bei den Cigarren wird das auf den Kistchen eingebrannte „made in Germany“ zwar immer noch nicht als eine Empfehlung, aber auch nicht mehr als eine Warnung betrachtet. Deutscher Zucker dürfte zu etwa einem Viertel den hiesigen Bedarf befriedigen. Glaswaren, Kattune, Chemikalien kommen in beträchtlichen Mengen und die Spielsachen für jung Südafrika fast ausschließlich aus Deutschland, auch wenn dieselben in London gekauft wurden.

Da die regelmäßige Einwanderung aus Deutschland nicht groß ist, so würde das Deutschthum in Südafrika niemals seine heutige Bedeutung erreicht haben, wenn nicht außer den nach den Diamant- und Goldfeldern Strömenden ab und zu größere Scharen hierher geleitet worden wären. Den Anfang dieser organisierten Einwanderung machte die deutsche Legion des Krimkrieges. Dieselbe hatte nach Beendigung jenes Feldzuges eine Stärke von ungefähr 7000 Mann, und als gegen Schluß des Jahres 1858 die angeworbenen Regimenter aufgelöst wurden, stellte es die englische Regierung auch den deutschen Legionären frei, entweder nach Empfang ihres Soldes in die Heimach zurückzukehren oder aber kostenfrei nach Südafrika befördert zu werden, wo ihnen unentgeltlich Land zur Ansiedlung überwiesen werden sollte. Die meisten wählten das letztere, doch als es endlich zur Abreise kam, waren fast zwei Drittel der Leute schon von andern Agenten für Argentinien angeworben worden.

Viele der nach dem Kapland Bestimmten wurden noch in aller Eile im Hafen von Portsmouth mit einer Hausfrau versorgt. Zu dem Zwecke wurden Scharen englischer Mädchen, welche Lust verspürten, ausgedienten Kriegern in die afrikanische Wildniß zu folgen, so schnell als möglich auf eine Hulk, d. h. auf ein altes abgetakeltes Schiff gebracht, und nachdem sich dort die Paare mit Kotillon-Geschwindigkeit gefunden hatten, ward sofort die allgemeine Trauung vollzogen. Der deutsche Feldprediger, welcher sich so ohne weiteres über die englischen Gesetzesbestimmungen bezüglich der Eheschließung hinweggesetzt hatte, mußte sich schleunigst aus dem Staube machen, und die Ehen selbst mußten noch nachträglich durch ein besonderes Gesetz des Kapländischen Parlamentes für gültig erklärt werden.

Bei ihrer Ankunft in der Tafelbai zogen viele der Söldner es vor, ihr Glück auf eigene Faust zu versuchen, die andern wurden nach Britisch-Kaffrarien gebracht und dort zwischen dem Buffalo und dem St. Johns Fluß angesiedelt. Doch den Leuten, welche aus Lust am freien Soldatenleben Heimath und Freunde verlassen hatten, behagte es nicht, jetzt im Schweiße ihres Angesichtes den Acker zu bestellen. Die meisten verließen ihr Land, und viele von ihnen folgten einem neuen Werberuf der englischen Regierung, welche Truppen zur Bekämpfung des Aufstandes in Indien brauchte.

Da kam der Gouverneur der Kapkolonie auf den Gedanken, an Stelle der ruhelosen Krieger deutsche Familien in jenen Gegenden seßhaft zu machen, um so an der östlichen Grenze der Kolonie eine lebendige Mauer gegen etwaige Einfälle der Eingeborenen zu schaffen. Durch Vermittlung des Kapstädter Vertreters des Hamburger Hauses Godeffroy wurden im folgenden Jahre mehrere tausend Familien eingeführt und zum größern Theile an der Mündung des Buffalo gelandet. Man wies ihnen Land an und gab ihnen darlehnsweise Unterstützung an Geld, Geräthen und Saatkorn. Da das Gebiet eines der fruchtbarsten von ganz Südafrika ist, so gelang es den meisten Leuten, vorwärts zu kommen. Wo sich damals noch gewaltige Büffelherden tummelten, wo Elefanten, Nilpferde und Giraffen umherstreiften, wo der Löwe herrschte, da finden wir jetzt blühende Dörfer und zahlreiche kleinere Ansiedlungen, umgeben von Weizen- oder Maisfeldern und von üppigen Obst- und Gemüsegärten. Viele der Orte und viele der Bewohner sind noch deutsch nach Sprache und Art. In Stutterheim, Frankfurt, Braunschweig, Berlin, Potsdam und Charlottenburg sind nicht nur die Namen, sondern auch die Leute deutsch, und auf dem Wochenmarkt zu Kingwilliamstown, der Hauptstadt jener Provinz, ist das Platt von den Ufern der Elbe, Havel und Ucker die herrschende Verkehrssprache.

Daß dies so ist, verdanken wir vor allen Dingen der Thätigkeit der deutschen Geistlichen, welche nicht bloß überall die Ansiedler zu kirchlichen Gemeinden vereinigten und ihnen in der heimathlichen Sprache predigten, sondern auch, wo es irgend angängig war, Schulen errichteten. So lernten die Kinder außer der Kaffernsprache, welche sie zum Verkehr mit den Arbeitern brauchten, Deutsch. Einige dieser Schulen, z. B. die von East London, entwickelten sich zu den bedeutendsten jener Bezirke, und wenn auch schließlich bei ihrer Umwandlung in regierungsseitig unterstützte Anstalten die deutsche Unterrichtssprache der englischen weichen mußte, so blieb Deutsch doch immer das wichtigste Nebenfach.

Weniger widerstandsfähig gegen ihre Umgebung haben sich die späteren Einwanderer erwiesen, welche zuerst im Jahre 1878 und dann 1883 in ähnlicher Weise ins Land gebracht wurden. Sie wurden zum Theil nach denselben Gebieten wie jene ersten geführt, zum Theil aber auch in der Nähe von Kapstadt, in der „Vlakte“ angesiedelt. „Vlakte“ heißt eigentlich ganz allgemein „Fläche“, doch wird es hier im besondern auf jene weite sandige Ebene angewendet, die sich vom Tafelberge aus nach Osten erstreckt und die in vielen Punkten der Lüneburger Heide gleicht, der Heimath eines Theiles dieser Einwanderer. Die Regierung gab ihnen freie Ueberfahrt und unterstützte sie auch im Anfang mit zinsenfreien Darlehen. Die meisten vermochten jedoch nicht die ersten Schwierigkeiten zu überwinden. Sie gaben ihr Land auf und suchten sich passende Arbeit in der Stadt. Manchen gelang es dabei, in einigen Jahren so viel zu ersparen, daß sie von neuem beginnen konnten, und heute leben wohl an die 2000 Menschen, meist deutscher Abkunft, in dieser Ebene.

Der Erfolg dieser Leute ist ein glänzendes Zeugniß für die Arbeitsamkeit des deutschen Landmannes. Die landeingesessenen holländischen Bauern lachten über den Gedanken, auf jenen Flächen Ansiedlungen zu gründen und waren sicher, daß alle diejenigen, welche es versuchen würden, elendiglich verhungern müßten. Diese Spötter hatten eben keine Ahnung davon, was Arbeit heißt. Die deutschen Einwanderer haben es ihnen gezeigt. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht waren sie thätig, den Boden urbar zu machen, einzuzäunen und zu bestellen. Anfangs wohnten sie in Zelten, die ihnen die Regierung geliefert hatte, dann bauten sie sich Lehm- und Reisighütten, später kleine Häuschen. Da der [60] Boden sehr arm ist und viel Dünger verlangt, so konnten sie natürlich zuerst nur ein kleines Stück bebauen. Darauf zogen sie allerlei Gemüse und betrieben zugleich Geflügelzucht. Später hielten sie sich Vieh und gewannen Milch und Butter. Einmal in der Woche brachten sie ihre Waren zum Verkauf nach der Stadt. Durch tiefen losen Sand zogen und schoben Mann und Frau die kleine Karre nach der meilenweit entfernten Hanptstadt und kehrten dann nachmittags mit den nothwendigsten Einkäufen wieder heim. Schrittweise verbesserte sich ihre Lage. Erst konnte ein Ochse oder eine Kuh, später schon ein Pferd vor die Karre gespannt werden, und heute sieht man diese Bauern flott mit ihren wohlbespannten Wagen zur Stadt kutschieren.

Denjenigen Einwohnern der Stadt, welche bisher achtlos an so viel Fleiß und Ausdauer vorüber gegangen waren, wurde im April des letzten Jahres Gelegenheit gegeben, sich von den Erfolgen dieser Leute zu überzeugen. Um die Regierung zu bewegen, ihnen bessere Wege anzulegen, hatten sie auf eigene Faust eine landwirthschaftliche Ausstellung veranstaltet, und man giebt ihnen allgemein das Zeugniß, daß sie dabei Hervorragendes geleistet haben.

Gerade der Umstand, daß sich diese Leute ihre jetzige bessere Lage durch jahrelange schwere Arbeit und Mühsal erkauft haben, erklärt es aber auch, daß ihnen jene schmerzlichen Empfindungen unbekannt sind, welche Freiligrath solchen Auswanderern andichtet:

„Wie wird es in den fremden Wäldern
Euch nach der Heimathberge Grün,
Nach Deutschlands gelben Weizenfeldern,
Nach seinen Rebenhügeln ziehn!

Wie wird das Bild der alten Tage
Durch Eure Träume glänzend wehn!
Gleich einer stillen, frommen Sage
Wird es Euch vor der Seele stehn.“

Das ist ergreifend geschildert, aber der Wirklichkeit entspricht es nicht, wenigstens nicht bei den deutschen Bauern der „Vlakte“. Wohl mag einzelne in der ersten Zeit der Noth ab und zu das Heimweh gepackt haben, all die anderen kannten und kennen nicht die Gefühle, welche ihnen der Dichter zuschreibt. Und das ist auch gar nicht zu verwundern. Fast alle diese Einwanderer waren arme Leute, ohne die geringste Aussicht, in der Heimath jemals ein Stückchen Land ihr eigen nennen zu können. Die Weizenfelder und die Rebenhügel gehörten dem Gutsherrn, für den sie sich hatten plagen müssen jahraus jahrein. Hier dagegen sind sie die Herren, hier ernten sie den Ertrag ihrer Arbeit, hier fahren sie die Weizengarben in ihre eigenen Scheuern, hier keltern sie die Trauben in das eigene Faß und hier beschließen sie selber, wie die Gemeinde, wie die Kreis- und Provinzialangelegenheiten, wie Schule und Kirche verwaltet werden sollen. Wer wollte da mit ihnen rechten, daß sie keine Sehnsucht haben, zurückzukehren an den Hof des früheren Herrn!

Die Gefahr des „Verafrikanderns“ ist allerdings bei diesen Bewohnern der „Vlakte“ viel größer als bei den Ansiedlern im Osten des Landes. Diese stehen Eingeborenen oder Engländern gegenüber, deren fremde Sprache die eigene nicht verdrängen kann; jene aber umgiebt das verwandtere Kapisch-Holländische als Sprache der Bauern und der Farbigen. Die Einwanderer selbst bleiben zwar meist in Sprache und Sitte deutsch, anders aber ist es schon mit ihren Kindern. Diese erlernen die verhältnißmäßig rohe und einfache Sprache der farbigen Arbeiter viel schneller als das schwere Deutsch. Daß sie trotzdem auch die Sprache ihrer Eltern sprechen lernen, ist meist nicht das Verdienst dieser selbst, sondern der Schule und Kirche, für welche die Bauern übrigens recht beträchtliche Opfer bringen.

Ganz ähnlich liegt die Sache bei den gebildeten Deutschen, welche hier eine zweite Heimath gefunden haben. Hat ein Deutscher eine englische oder holländische Frau an seinen Herd geführt, so ist es in den meisten Fällen um sein Deutschthum geschehen und die Kinder neigen fast stets der anderen Sprache zu, ja meistens lernen sie überhaupt nicht mehr Deutsch. Nur selten gelingt es dem Manne, in Haus und Familie die Sprache der Heimath zu erhalten. Aber selbst dann kann man die Kindeskinder kaum noch Deutsche nennen, und sie selbst werden das nur thun, wenn sie selbst sowohl wie ihre Eltern in Deutschland erzogen wurden.

Wie sollte es auch anders sein! Was ist ihnen Deutschland? Das Land ihrer Ahnen, das Land, von dem sie viel Herrliches und Schönes gehört haben; das Land, das sie sich sehnen, mit eigenen Augen zu schauen, wie der daheim geborene Deutsche für Italien schwärmt! Aber das Vaterland ist es nicht. Ihr Vaterland ist Südafrika! Mag ihre Wiege am Fuße des Tafelberges, auf den Hochflächen des Innern oder im Schatten natalischer Palmen gestanden haben, sie lieben das Land, darinnen sie als Knaben gespielt, sich als Jünglinge auf Rossen getummelt haben und darinnen sie als Männer wirken. Und wäre das Land selbst aller Reize bar, sie würden es lieben, weil es das Land ihrer Geburt ist.

Aber dieses Land ist herrlich und reich begünstigt von der Natur. Klima und Landschaft sind in vieler Beziehung gleich denen Italiens. Noch keinen habe ich gesprochen, der nach ein paar Jahren Aufenthaltes im nordischen Europa nicht gern zurückgekehrt wäre in die sonnige Heimath. Hier dräut kein Winter mit seinem Schnee und Eis, denn was man hier trotzdem Winter nennt, ist besonders in den Küstenstrichen immer noch milder als der deutsche Frühling. Wie kann man von Winter reden, wenn alle Gehänge, alle Flächen mit Blumen übersät, wenn die Orangenbäume mit goldigen Früchten beladen sind, wenn man den Schnee nur auf den Berggipfeln glänzen sieht! Hier ist eben ein halbes Jahr Frühling, das andere gehört dem Sommer mit seinen reichen Gaben an allerlei Früchten in Hülle und Fülle.

Wohl lernen noch viele dieser Söhne des Landes Deutsch, aber sie lernen es wie eine fremde Sprache, denn von Jugend auf mußten sie in Schule und Beruf englisch sprechen, englisch denken.

Gar viele Schriftsteller gefallen sich darin, es als eine ganz besondere Schwäche des Deutschen hinzustellen, daß er es nicht vermag, im Ausland seinen Kindern und Kindeskindern auch seine Sprache, seine Nationalität zu vererben. Aber verhalten sich denn die Angehörigen anderer Völker anders, wenn sie im fremden Lande von fremden Elementen umgeben sind? Würden etwa die Enkel nach Pommern eingewanderter englischer Bauern noch lieber englisch als plattdeutsch reden, und nennen sich die Nachkommen von Italienern, Engländern und Franzosen, welche einst in den Vereinigten Staaten eine zweite Heimath fanden, nicht mit Stolz Amerikaner? Anders freilich liegt die Sache mit denjenigen Deutschen, welche selbst schon ihre Sprache vernachlässigen. Was soll man dazu sagen, wenn deutsche Eltern mit ihren Kindern englisch sprechen, nur weil dieselben diese Sprache im Verkehr mit ihren Spielgenossen leichter erlernen! So kommt es wirklich vor, daß Kinder deutscher Eltern nicht imstande sind, ein deutsches Buch zu lesen oder sich über die alltäglichsten Dinge des Lebens in ihrer Muttersprache zu unterhalten.

Glücklicherweise sind solche Fälle selten. Die Mehrzahl der Deutschen Südafrikas hängt mit Liebe und Ausdauer an den deutschen Sitten und der deutschen Sprache, und sie pflegen beide eifrig in mancherlei Weise.

Fast überall, wo eine Anzahl Deutscher zusammen wohnt, finden wir auch eine deutsche Kirche. Es giebt jetzt schon mehr als 25 deutsche Gemeinden mit eigener Kirche und Schule, und diese vor allem waren es, welche schon vor Aufrichtung des Deutschen Reiches den Sinn für deutsches Wesen und deutsche Sprache auch hier wach gehalten haben. Und das haben sie gethan unter Opfern, wie sie zu Hause für gleiche Zwecke nur höchst selten öder überhaupt nicht gebracht werden. So kostete z. B. die deutsche Kirche von East London 50000 und die von Kapstadt 75000 Mark, wozu natürlich weder Staat noch Stadt einen Beitrag geleistet haben.

Mit der Wiedererstehung des Reiches erhielten auch die Deutschen im Ausland größeres Selbstbewußtsein, und heute herrscht ein reger nationaler Geist unter den Deutschen Südafrikas. Außer in Schule und Kirche wird derselbe vor allem durch die zahlreichen Vereine und die seit einigen Jahren bestehende „Südafrikanische Zeitung“ gepflegt. In jedem größeren Orte des Landes giebt es einen oder mehrere dentsche Vereine, darin sich die Männer vom Osten und Westen, vom Norden und Süden, von Oesterreich und der Schweiz zusammenfinden. Von diesen ist der „Deutsche Klub“ in Port Elizabeth der am besten begründete. Er besitzt ein eigenes Klubhaus mit großen Gesellschaftsräumen, Lese- und Spielzimmern, Kegelbahn und Garten. Dasselbe ist geräumig genug für größere Festlichkeiten, wie solche am 15. und 16. März vorigen Jahres gegeben wurden, als das aus den Schiffen „Leipzig“, „Sophie“ und „Alexandrine“ bestehende deutsche Geschwader auf [61]

Lisette.
Nach einem Gemälde von G. Courtois.

seinem Wege von Chile nach Sansibar auch Port Elizabeth anlief. Ein Kommers und am zweiten Tage ein Ball, auf welchem wohl 250 Personen anwesend waren, bewies den deutschen Offizieren, welcher Blüthe sich die dortige kleine Kolonie erfreut, und wie stolz sie darauf war, auch wieder einmal die deutsche Kriegsflagge in ihrem Hafen wehen zu sehen.

In Kapstadt mit seiner viel größeren, aber weniger wohlhabenden deutschen Bevölkerung bestehen zur Zeit zehn deutsche Vereine, von denen ein jeder einen besonderen Zweck verfolgt. Der „Hilfsverein“, der „Schulverein“, der „Jünglingsverein“, der „Plattdeutsche Verein“ und der „Kegelklub“ kennzeichnen sich durch ihre Namen; die „Germania“, der „Gothenbund“ und die „Palme“ pflegen besonders die Geselligkeit, die „Amicitia“ ist ein Krankenunterstützungsverein, und die Ortsgruppe des „Allgemeinen Deutschen Verbandes“ verfolgt ähnliche Zwecke wie der Verband in der Heimath. Sie alle aber sind Erhalter des Deutschthums am Kap.

Leider hat es keiner dieser Vereine bisher möglich machen können, ein eigenes Heim zu erwerben. Das Bedürfniß dafür ist jedoch in letzter Zeit so stark hervorgetreten, daß die Deutschen Kapstadts jetzt im Begriff sind, ein „Deutsches Haus“ zu begründen, das geeignete Versammlungsräume bieten und ein Mittelpunkt für die Deutschen Südafrikas werden soll. Vertreter der verschiedenen Vereine haben einen Ausschuß gebildet, um die nöthigen Mittel zusammen zu bringen. Die Zeichnungen zum Baukapital betragen schon über 35000 Mark, aber noch zweimal soviel dürfte erforderlich sein. Um einen Schritt weiter zu kommen, hat am 1. und 2. September 1892 ein großartiger Jahrmarkt und Bazar stattgefunden, welcher den stattlichen Reinertrag von 10000 Mark abwarf. Ist erst einmal die Hälfte des Baukapitals beisammen, so ist der Plan gesichert, und die deutschen Vereine Kapstadts, welche sich jetzt mühselig mit höchst unzureichenden Räumlichkeiten behelfen müssen, können sich dann unter eigenem Dache viel besser ihren verschiedenen Aufgaben widmen.

Und auch ihr, Landsleute in der Heimath, die ihr Werth darauf legt, daß dieser vorgeschobene Posten des Deutschthums gekräftigt und gestärkt werde, auch ihr könnt dazu beitragen![1]

Soll die vorstehende Schilderung der Stellung, welche das Deutschthum in Südafrika einnimmt, nicht unvollständig sein, so dürfen wir nicht unterlassen, auch die Leistungen der Missionsgesellschaften zu betrachten. In der Heimath haben freilich die meisten Leute eine höchst mangelhafte Kenntniß von der Thätigkeit derselben. Sie meinen, die Aufgabe der Missionäre bestehe nur darin, in unbekannte Gegenden vorzudringen, um den Wilden das Evangelium zu predigen und die rohen Heiden zu gläubigen Christen zu machen. Eine solche Wirksamkeit gehört jedoch zu den Ausnahmen. Die meisten widmen ihre Kräfte nicht der Eroberung neuer Gebiete, sondern der Erhaltung der gewonnenen. Sie widmen sich denjenigen Volksstämmen, welche schon zum Theil oder ganz zum Christenthum bekehrt sind; eine ganz beträchtliche Anzahl der Missionäre wohnt in den Städten und Dörfern des Landes als Seelsorger der farbigen Eingeborenen.

Von den vier deutschen Missionsgesellschaften, welche besonders erfolgreich in Südafrika wirken, unterhält die Hermannsburger 50, die Berliner 46, die Rheinische 25 und die Herrnhuter Mission 24 Stationen. Das sind also im ganzen 145, wozu wohl noch einige in den letzten Jahren gegründete, sowie einige Baptistengemeinden kommen. Von diesen Stationen haben sich einige im Laufe der Zeit zu ganz bedeutenden Niederlassungen entwickelt.

Betrachten wir z. B. Genadendal, eine Station der Herrnhuter Brüdergemeinde. Im Jahre 1792 in Baviaanskloof, einem Thale im Südwesten der Kapkolonie, gegründet, erhielt sie später die ziemlich ausgedehnten Ländereien von der englischen Regierung zum Eigenthum überwiesen. Heute besteht daselbst ein blühendes Dorf, von mehreren tausend Farbigen meistens hottentottischer Abkunft bewohnt. Die Leute treiben vorzugsweise Ackerbau und vermiethen sich auch als Tagelöhner während der Erntezeit oder an der Eisenbahn. Einige haben ein Handwerk erlernt und sind nun Maurer, Schmiede, [62] Zimmerer, Schuhmacher, Schneider oder dergleichen, während andere kleine Kaufläden haben, darin die Dorfbewohner die nothwendigen Einkäufe an Fleisch, Mehl und Krämerwaren machen können. Eine Schenke giebt es nicht. Die Verwaltung wird zum Theil von gewählten Gemeindeältesten bewirkt, die Oberleitung liegt natürlich in den Händen der Missionäre.

Die Kinder erhalten Unterricht ähnlich dem unserer deutschen Volksschule. Sind sie älter geworden, so werden die besseren in die Schmiede, die Schreinerei oder andere Werkstätten genommen und die begabtesten in dem Seminar zu Hilfslehrern ausgebildet. Die nöthigen Unterrichtsbücher und Gesangbücher, sowie zwei regelmäßig erscheinende Blätter, der „Bode van Genadendal“ und der „Kindervriend“, werden in der 1859 errichteten Druckerei und Buchbinderei hergestellt, und zwar von Eingeborenen, gerade wie das z. B. von seiten der englischen Mission für die Betschuanen in Kuruman geschieht.

Es ist selbstverständlich, daß eine so umfassende Thätigkeit auch eine größere Anzahl von leitenden Kräften erforderlich macht, und so finden wir hier neun Missionäre mit ihren Familien, welche mit den ihrer Obhut anvertrauten Eingeborenen ein großes patriarchalisches Gemeinwesen bilden.

Keine der anderen Missionsniederlassungen hat es nun allerdings zu derselben Bedeutung wie Genadendal gebracht, aber dennoch leuchtet es ein, daß die Thätigkeit dieser Männer für die Kultur des Landes von dem größtem Gewicht ist. Kommt sie auch nicht immer unmittelbar dem Deutschthum zu gute – diese Missionäre müssen sich natürlich der unter ihren Pfleglingen am meisten verbreiteten Sprache anbequemen – so ist es doch die Arbeit deutscher Männer, die hier im Dienste des Fortschritts und der Gesittung geleistet wird. Und das giebt ihr ein Recht, genannt zu werden, wo von dem Deutschthum in Südafrika die Rede ist.




Zum Antiquitätenschwindel unserer Zeit.

Von Georg Buß.

Unser Kunstgewerbe hat mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, um seine Leistungsfähigkeit zu behaupten und zu erweitern. Einer der tiefstgreifenden Schäden erwächst ihm aus der gesteigerten Vorliebe des Publikums für „Alterthümer“. Es mag diese Vorliebe aus einer erfreulichen Pietät gegen unserer Väter Werke erwachsen sein, aber sie ist allmählich zur Modesache geworden und entbehrt zumeist jenes kritischen Verständnisses, welches in dem Alten nur das Schöne und wirklich Schätzenswerthe bevorzugt. Der Grund für diese bedauernswerthe Erscheinung ist nicht weit zu suchen: er liegt in dem Beispiel, welches die öffentlichen Museen mit ihrem Sammeleifer gegeben haben, und in einer allzu stark betriebenen Schönfärberei bezüglich der Leistungen vergangener Tage.

Die begeisterten Schilderungen von den „gesegneten Zeiten der Renaissance“, wie das Schlagwort lautet, reden nur von behaglich eingerichteten Bürgerhäusern, von trefflichem Hausrath, von meisterlich getriebenen Silbergefäßen, von schön verziertem Linnen, von Glasmalereien, welche in den Strahlen der Sonne leuchten und funkeln wie Topas, Smaragd und Rubin. Aber diese Schilderungen vergessen ganz die elenden Hütten, an denen die mittelalterlichen Städte so reich waren, ganz der kleinbürgerlichen Aermlichkeit und Beschränktheit, die sich in diesen Hütten kundgab, ganz des genügsamen, schier spartanischen Sinnes, der in der Mehrheit der Bevölkerung vorwaltete. Sie vergessen ganz, daß dasjenige, was in unsere Museen gelangt, schon damals als hervorragende Leistung bewundert und aus diesem Grunde sorgsam gehütet wurde, so daß es dem Zahne der Zeit entgehen und auf unsere Tage gelangen konnte. Tiefe Einseitigkeit hat dem Publikum eine keineswegs zutreffende Vorstellung von dem Leben und den Leistungen jener Vergangenheit beigebracht: sie läßt es glauben, daß Schlechtes und Unschönes damals überhaupt kaum geschaffen worden sei.

„Alt“ und „schön“ wurden so gleichbedeutend - das Alte mußte schön sein, denn die Renaissance hat nur Vorzügliches aufzuweisen! So wird das, was patiniert, fleckig, wurmstichig, verbeult und verblaßt aussieht, mit aufrichtigster Hochachtung angestaunt, mag es auch im Grunde genommen Plunder sein.

Es giebt industrielle Naturen, welche ihre Zeit zu nehmen und aus den Verirrungen derselben Kapital zu schlagen wissen. Diese Naturen warfen sich auf den Handel mit Antiquitäten, um der steigenden Nachfrage zu genügen und ein gutes Geschäft zu machen. Und so blüht heute in jeder größeren Stadt eine Menge solcher Läden; man veranstaltet in ihnen große Auktionen und setzt immer neue Antiquitäten an Stelle der verkauften, so daß die staunende Frage berechtigt ist: wo kommen denn alle diese „Alterthümer“ her?

Aber nicht allein in den größeren Städten, sondern auch in den Badeorten sind solche Geschäfte in Menge anzutreffen. In gewissen süddeutschen Bädern ist der Kurpark mit Trödelläden geradezu umschlossen. In Fülle hängen da die tief gedunkelten und glänzend aufgefirnißten Bilder, welche der „Schule“ des Rubens, Rembrandt, Hals, Brouwer, Teniers, Steen, Metsu, Breughel oder gar einem großen Niederländer oder Italiener selbst zugeschrieben werden, und zu den Bildern gesellen sich Rüstungen, Schwerter, Spieße, Emaillen, Goldschmuckstücke, Möbel, Holzschnitzereien, Elfenbeinarbeiten und andere Dinge aus „alter“ und „ältester“ Zeit.

Auf den Bildern findet sich in irgend einer Ecke so etwas wie ein Monogramm, und die Phantasie des Beschauers wird angenehm erregt: sie findet ein P. W. heraus – gewiß, das ist ein Philips Wouwerman, zumal der Gegenstand „Aufbruch zur Jagd“ von dem Meister mehrfach gemalt worden ist. Der Händler erklärt, er werde selbst aus dem Monogramm nicht so recht klug, jedenfalls sei es ein gutes Bild, aber trotz alledem wolle er mit 500 Mark zufrieden sein. Und so zahlt der Enthusiast, der bereits einige Wouwerman in dem Museum der Hauptstadt flüchtig gesehen hat, in der frohen Hoffnung, ein vorzügliches Werk des Meisters zu erwerben, die 500 Mark für ein Bild, welches kaum 100 Mark werth ist.

Wie mit den Werken des Pinsels, so geht es mit allen anderen Kostbarkeiten, welche der Händler auf Lager hat – sie wandern zu hohen Preisen in den Besitz der Kurgäste, die ja so gern irgend ein Andenken an ihren Badeaufenthalt mit nach Hause bringen. Unter solchen Kurgästen befinden sich auch manche, welche in dem eigenen Aufspüren von Alterthümern ein ganz besonderes Vergnügen finden. Auch für diese Herrschaften ist gesorgt. Auf den umliegenden Dörfern, wohin sich die Spaziergänge der Kurgäste richten, besitzt der Herr Antiquitätenhändler seine Agenten in Gestalt pfiffiger Bauern und Wirthsleute. Man tritt in ein Bauernhaus ein, verlangt zur Erfrischung ein Glas Milch und erblickt zur größten Ueberraschung dort in der Ecke der Stube eine prächtige, tief gebräunte Eichenholztruhe. Bei näherer Betrachtung liest man an der Front des anheimelnden Möbels eine Jahreszahl aus dem 16. Jahrhundert, sieht auch die Wurmstiche, bewundert die schöne architektonische Gliederung und die Schnitzerei – kurz, man ist begeistert und sucht zu erfahren, woher das Kunstwerk stamme. Treuherzig erzählt die Bäuerin von alten Erbstücken, von den Urahnen, aus deren Hausrath sich noch manches bei ihr erhalten habe, von alten Schränken und Krügen, die noch auf dem Boden stehen, so daß der Heißhunger des Enthusiasten nach der Truhe nur noch mehr gesteigert wird. Aber die Bäuerin trennt sich nicht gern von dem „alten Erbstück“ und erst allmählich, nachdem das Geldgebot höher gestiegen ist, läßt sie sich erweichen – sie schlägt ihren Schatz für 400 Mark los.

Die Unschuld vom Lande hat ein gutes Geschäft gemacht, denn 25 Prozent sind ihr sicher.

Wie hier, so geht es auch in dem Krug, dessen Besitzer so hinterwäldlich und treuherzig aussieht. Auch dieser Biedermann hat noch eine Fülle von Hausrath „aus der Väter Tagen“ aufbewahrt. Erst nach langem Zaudern, Zureden und Bitten entschließt sich der Brave gegen gute Bezahlung zur Trennung von einem Theile seiner Schätze. Uebrigens hat er die alten Bilder, welche zu unserem Staunen in der Wirthsstube hängen, von einem Geistlichen geerbt, der einstmals Kaplan an der holländischen Grenze gewesen ist! Mit geheimnißvoller Miene weiß er auch [63] von einem zwei Meilen entfernt wohnenden Küster eines einsamen Dorfes zu erzählen, der viele Sachen aus einer umgebauten Kirche und dem zugehörigen Kloster besitze. „Der Kieselbauer,“ schlägt er dem Fremden vor, „kann Sie hinfahren. In anderthalb Stunden sind Sie dort. Die Fahrt ist lohnend.“ Was bei einem Küster steht, muß besonders echt sein – also wird der „Kieselbauer“ bestellt, und dieser ist denn auch bereit, die Hin- und Rückfahrt für zehn Mark zu unternehmen. Bei dem Küster, einem großen Alterthumskenner, findet sich ein ganzes Lager vor; aber wirklich alt, und zwar aus der Barockzeit stammend, sind nur etliche mäßig geschnitzte, bemalte und vergoldete Posaunenengel, die einst eine Orgel geschmückt haben, während die meisten anderen Gegenstände völlig oder wenigstens in einzelnen Theilen gefälscht sind. Da sie aber so ehrwürdig alt, verbeult, verrostet und wurmstichig aussehen, so schwört ihnen der Enthusiast ein Alter von mindestens dreihundert Jahren zu. Genug, er kehrt mit zahlreichen Schätzen, die er für schweres Geld erstanden, zu dem Badeort zurück, zeigt das Erworbene mit stolzem Gefühl seinen Bekannten und läßt sich endlich mit geheimnißvoller Miene herbei, die Quelle zu verrathen, aus welcher diese Merkwürdigkeiten stammen. „Aber erzählen Sie von dem Küster nur nicht weiter,“ so bittet er, „denn Sie wissen ja, wie sonst die Leute hinströmen und alles vorweg kaufen.“

Nun kann es ja nicht unsere Sache sein, diese reichen Sammler vor der Schädigung ihres Geldbeutels zu behüten. Wenn ihnen die Sachen soviel werth sind, als sie dafür auslegen – immer zu! Etwas anderes ist es mit der Saat von Lug und Trug, die in den Kreisen sonst einfacher und schlichter Leute auf solche Weise ausgesät wird. Denn wir werden gleich sehen, die Sache geht noch weiter.

Es haben also der Herr Antiquitätenhändler, die Bäuerin, der Krugwirth, der Kieselbauer und der Küster ein ganz vorzügliches Geschäft gemacht, welches sie zu weiteren Thaten aus diesem einträglichen Gebiete begeistert. Es wird daher die Anfertigung neuer „Alterthümer“ vorgenommen, und zwar im günstigsten Falle in der Weise, daß aus einem wirklich alten Gegenstande ein halbes Dutzend anderer hergestellt wird. Aus einer alten Truhe werden sechs fabriziert, von welchen die eine den alten Deckel, die zweite den alten Boden und jede der vier übrigen eine alte Wand erhält – die übrigen Theile werden, wie der Kunstausdruck lautet, „ergänzt“, und zwar gewöhnlich aus altem Holze. Aufs beste versteht man überhaupt, den alten Charakter zu wahren, indem man den braunen Ton, die Wurmstiche mit dem feinen Wurmmehl, die Risse und Sprünge täuschend wiedergiebt. Auch ist eine besondere Kunst in dem Angilben des Elfenbeins erreicht worden – so eine Statuette sieht aus, als ob ein halbes Jahrtausend über sie dahingegangen wäre, zumal der knittrige Faltenwurf, die anatomische Behandlung und Stellung des Körpers, sowie der Ausdruck der Züge dem gothischen Stil zu entsprechen scheinen. Nicht minder vortrefflich wird der milde, blasse Ton des Altsilbers und Altgoldes nachgeahmt und der Bronze eine so scharfe grüne Patina gegeben, als ob das Stück der Antike entstamme.

Ueberhaupt wird mit einer hervorragenden Geschicklichkeit verfahren. Selbst der Kenner hat zuweilen Mühe, die Fälschung herauszufinden. So ließ sich vor einer Reihe von Jahren ein erfahrener Alterthumskenner einer Stadt in Hannover mit einem in Elfenbein geschnitzten „Trinkhorn Heinrichs des Löwen“ anführen, welches man angeblich an der Stelle des von Heinrich zerstörten Bardowiek ausgegraben hatte. In stiller Abendstunde war zu dem betreffenden Herrn ein sehr ängstlich auftretender fremder Mann gekommen, hatte mit der Bitte, ihn nicht zu verrathen, vorsichtig aus einem Tuche das Elfenbeinhorn herausgewickelt und als das Ergebniß einer Ausgrabung, die er heimlich auf dem Boden von Bardowiek unternommen habe, bezeichnet. Der Kenner untersuchte – da stand richtig eine Inschrift, die auf Heinrich den Löwen Bezug hatte! Er zahlte den Spottpreis voll dreihundert Mark und schwelgte eine Zeitlang in der seligsten Wonne, bis von anderer Seite der Beweis erbracht wurde, daß man ihn fürchterlich hinters Licht geführt hatte. Der Schatzgräber von Bardowiek war natürlich auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Die Antwort auf die Frage, woher alle die Alterthümer kommen, ist in den vorstehenden Zeilen schon enthalten – ein erheblicher Theil ist gefälscht. Sogar „Pfahlbautenfunde“, ganz zu schweigen von mittelalterlichen Waffen, von Helmen und Schwertern in den seltensten Formen, werden gefälscht. Paris ist groß in dem Fälschen von Möbeln aus den verschiedenen Stilepochen des französischen Königthums, von Limousiner Emails, von getriebenen Silberplatten und Silberhumpen und von Bildern. Auch am Rhein und in Süddeutschland wird das Geschäft flott betrieben. Mittel- und Norddeutschland stehen kaum nach. So manches bayerische Städtchen besitzt seinen findigen Handwerker, der nur für den Antiquitätenhandel arbeitet und auch für eigene Rechnung mit den auf Entdeckungen ausgehenden Reisenden Geschäfte macht. Besitzt so ein Städtchen noch alte Mauern, Thorthürme und Warten, so ist eben der Reisende fest überzeugt, daß hinter diesen Mauern noch „Urväter Hausrath“ in Menge zu finden sein müsse. Aber im allgemeinen wird in Deutschland mehr für den Liebhaber gefälscht, welcher die „Alterthümchen“ zur Ausstattung seiner Wohnung benutzen will, in Paris hingegen für den Krösus, welchem Tausende von Franken zur Vervollständigung seiner Sammlung nicht zu viel sind.

Gegenüber den Fälschungen ist die Zahl der wirklich echten Antiquitäten gering, und ganz besonders die Zahl derjenigen, welche den Anspruch auf Schönheit erheben können. Die wirklich guten und bedeutenden Gegenstände sind eben längst in festem Besitz, in jenem der Museen oder der fürstlichen Sammlungen. Gelangen wirklich einmal bedeutende Gegenstände in den Handel, so kann man überzeugt sein, daß dieselben sofort von den kundigen Leitern der Museen aufgekauft werden. In den gewöhnlichen Antiquitätenhandel kommt meist nur Zeug welches des Ankaufs gar nicht werth ist.

Es soll nun keineswegs geleugnet werden, daß viele Händler wenigstens bestrebt sind, sich von Fälschungen frei zu halten, und ihren Stolz in das Angebot von wirklich echten Sachen setzen. Aber das macht die Sache kaum besser, denn wie schon betont, „alt“ und „schön“ sind keineswegs gleichbedeutend. Ja, in vielen Fällen ist die Fälschung sogar noch besser und schöner als der wirklich alte Gegenstand. Und ob echt alt oder gefälscht – das Hauptübel ist, daß der Verkaufspreis in keinem richtigen Verhältniß zu dem wahren Werthe des Gegenstandes steht, diesen vielmehr um ein Vielfaches übersteigt. Und die Leute kaufen leider zu diesen hohen Preisen, während sie für eben dieselben Preise tüchtige und schöne Leistungen des modernen Kunstgewerbes erwerben und diesem einen gesunden Boden verleihen könnten. Denn das ist stets zu betonen: ein Kunstgewerbe kann nur dann gedeihen, wenn ihm zahlreiche Aufträge zuströmen, und wenn seinen Mitgliedern die Gelegenheit geboten wird, etwas zu leisten, so daß sie, der Noth des Lebens möglichst entrückt, mit ihrer Leistung Freude am Schaffen und eine fortschreitende Uebung gewinnen. Was für Gefühle müssen aber diese Leute beseelen, wenn sie sehen, wie ihre mit Fleiß und Kunst hergestellten Erzeugnisse zurückgesetzt werden gegen alte Gegenstände, welche der Vorurtheilsfreie als Gerümpel bezeichnen muß! Sie werden alle an der Gerechtigkeit verzweifeln und in ihrem Schaffen eine tiefgreifende Lähmung erleiden.

Ueberlasse man also das Sammeln von Antiquitäten wirklichen Kennern, insbesondere den Vorständen der Museen, und verzichte man auf einen Geschmack, der sich künstlich für abgeblaßte Farben, Rost, Wurmlöcher und ähnliche Anzeichen hohen Alters begeistert! Hellebarden, Spieße und Schwerter gehören ebensowenig in unsere Wohnräume hinein wie die großen Zinnhumpen und mächtigen Krüge, denn die Ritterzeit mit ihrem Faustrecht ist längst vorüber und der Durst hat anscheinend eine erfreuliche Mäßigung erfahren. Statt der Butzenscheiben sollten wir uns der vorgeschrittenen Leistungen der Glasfabrikation freuen, statt Geräthe aus alter Zeit, die unseren Bedürfnisen nicht mehr genügen, sollten wir Gegenstände des modernen Kunstgewerbes bevorzugen, welche wir täglich benutzen können und die uns infolgedessen lieb und vertraut werden. Nicht der Ateliergeschmack soll in unseren Wohnungen herrschen, sondern ein gesunder bürgerlicher Geschmack, welcher den Räumen den Stempel der Wohnlichkeit und Behaglichkeit, der Sauberkeit und der Benutzbarkeit aufdrückt. Ein solcher Geschmack wird dem Antiquitätenschwindel den Boden entziehen, dem ehrlich ringenden Kunstgewerbe aber von Nutzen sein.



[64]

Auf Geben und Nehmen.

Novelle von Johannes Wilda.
(3. Fortsetzung.)


Als Hilde die Strandhöhe erreichte, stand Herbert schon wartend unter der Buche. Wie auf Kommando liefen sie aufeinander zu, und Herbert schwenkte das Mädchen gleich einem Federchen seitwärts hinter die grüne Coulisse, so daß ihr Hut davonflog. Hilde schalt und ließ sich doch den tollen Ausbruch seiner Zärtlichkeit so gerne gefallen.

Als der erste Sturm der Begrüßung vorüber war, schritten beide in geziemender Haltung, Hilde voran, auf die „Bachstelze“ zu. Festlicher als jemals sah das Fahrzeug aus. Frettwurst hatte das Messingputzen und Abwaschen des Holzes bis zu einem fast überirdischen Punkt der Vollkommenheit getrieben. Neue Segel waren untergeschlagen worden, kunstvolle Knoten bestachen das Auge nicht minder wie die Feiertagsdecken und Kissen und die beste Flagge. Und in Vervollständigung dieses Schmuckes prangte Frettwurst selbst in einem frischgewaschenen, blüthenweißen Hemd. Hildes Augen strahlten. Das alles war ihr zu Ehren geschehen!

Im Vollbewußtsein der Wichtigkeit dieses Tages grüßte Frettwurst stramm militärisch. Die junge Dame galt ihm von jetzt an ebensogut als Vorgesetzter wie sein Lieutenant. Nur in seinen Blicken spiegelte sich noch ein Rest der vertraulicheren Gefühle, die er einst dem mit ihm verschworenen kleinen „Katteker“ gewidmet hatte. Ins Unermeßliche aber stieg seine innere Wonne, als ihm Hilde kräftig die Hand drückte und sagte: „Sie haben mich sehr verpflichtet. Ich werde Ihnen das nicht vergessen!“

Respektvoll reichte nun der Schiffsherr seiner Dame den Arm; zierlich stieg Hilde über Bord, um dann großartig und behaglich zugleich als geehrte Hauptperson neben Herbert Platz zu nehmen. Und schon flog auch die Gaffel mit dem feingenähten, sich blähenden Linnen, von Frettwursts kräftigen Fäusten gezogen, zauberschnell empor, das Gaffeltopsegel entfaltete sich, und anmuthig seitwärts geneigt, glitt die „Bachstelze“ auf die sonnenbestrahlte blaue Fläche hinaus.

Hilde hätte aufjubeln mögen vor Lust. Wie stolz das Boot dahinflog, wie die Wasser rauschten! Und zur Seite den Geliebten, männlicher, schöner denn je!

Nur eines störte: die Unterhaltung mußte einen gewissen förmlichen Ton festhalten. Herbert hatte diesen absichtlich angeschlagen, da er ihm bei dem unklaren Verhältniß Hilde gegenüber um ihretwillen heute besonders geboten schien. Nur gestattete er sich, statt „Fräulein Jaspersen“ „Fräulein Hilde“ zu sagen.

Frettwurst hatte sich schon gestern abend über diese unerwartete Steifheit gewundert und wunderte sich jetzt noch mehr. Sie war doch seine „Würkliche“, warum duzten sie sich denn nicht? Indessen die feinen Leute hatten eben immer ihre Sitten für sich und fingen wohl erst nach der Hochzeit mit dem Duzen an!

Der Hafen zeigte sich sehr belebt. Gefüllt von Ausflüglern zuweilen mit Fahnen geschmückt und mit einer Musikbande an Bord, eilten Dampfer vorüber. Hier streiften elegante Jachten vorbei, dort kleine Fischerboote, braunrothe Segel an ihren Masten tragend.

Fahrzeugen der Marine segelte Herbert aus dem Wege. Nur als eine Ruderbarkasse ohne Offizier daherkam, ging er dicht vorbei, und Hilde fühlte sich kindlich mit geehrt, als die Matrosen zur Begrüßung des Vorgesetzten auf Kommando die Riemen horizontal ausgerichtet rasten ließen. „Wenn ich erst Kapitän bin, strecken sie die Ruder hoch in die Luft,“ scherzte Herbert.

Hilde träuntte ihn einen Augenblick als Kapitän und sich – Unsinn! Sie machte eine heftige Bewegung, um den dummen Gedanken zu verscheuchen. Dabei faßte der Wind ihren breiten Strohhut und entführte ihn ins Wasser.

„O weh, mein neuer Hut!“

Schon aber hatte Herbert, rasch gefaßt, die Wendung begonnen. Frettwurst mußte sich mit dem Haken bereit stellen und erhielt den Befehl, die äußerste Vorsicht anzuwenden, denn es sei ein ander Ding, so ein luftiges Gebilde von Damenhütchen zu fischen als eine Kommißmütze. Geschickt manövrierte der Offizier an dem verlorenen Gegenstand vorüber, so daß er selbft ihn im Vorbeigleiten mit der Hand ergreifen konnte, während Frettwurst aus lauter Zartgefühl ins Wasser statt in den Hut gehakt hatte.

Glücklich brachte Herbert das triefende Ding an Bord. Zwar war der duftige Besatz etwas mitgenommen, allein Hilde nahm das nicht schwer. Sie fühlte sich sehr erleichtert. Was hätte sie der Mama sagen sollen, wenn sie ohne Hut hätte zurückkehren müssen! Herbert belustigte sich über ihr noch halb besorgtes, halb wieder erheitertes Gesicht. „Solche Windfänger eignen sich überhaupt nicht für den Sport, Fräulein Hilde! Wir wollen das Gebäude in die Kajüte zum Trocknen legen. Aber was machen wir mittlerweile mit Ihrem Kopfe?“

Fröhlich ließ Hilde ihre Stirnhärchen im Winde wehen. „Ach, ich brauche gar nichts!“

„Doch, die Sonne scheint noch zu stark. Warten Sie! – Ist die Mütze von Frau Kapitän von Zarnin noch da, Frettwurst?“

„Ja, Herr Leutenant.“

Frettwursts Riesenleib zwängte sich in den Kajütenraum hinein; nach einiger Zeit tauchte der erfolgreiche Finder freudestrahlend mit einem Matrosenmützchen voll hellblauer Wolle wieder auf.

„Das ist ja famos! – Frau von Zarnin hat nämlich im vorigen Monat mit ihrem Gatten häufig meine Fahrten auf der ‚Bachstelze‘ mitgemacht, da sie den Seesport liebt, und da ist diese Mütze vergessen worden. Setzen Sie dieselbe einmal auf!“

Hilde drückte sich das kleidsame, oben durch einen Knopf verzierte Mützchen keck auf den Scheitel. Wie entzückend sie aussah! Herbert wünschte den guten Frettwurst zu allen Teufeln. Der aber schien plötzlich tiefsinnig geworden zu sein, vielleicht wegen seiner vorherigen Ungeschicklichkeit, obgleich er deshalb nicht so anhaltend nach Nordost hätte zu starren brauchen.

„Gucken Sie ein Loch in die Natur, Frettwurst?“

„Zu Befehl, Herr Leutenant! Ich glaub’, die ‚Teutoburg‘ kümmt.“

„Die ‚Teutoburg‘? Das ist ja herrlich! Geben Sie ’mal rasch das Doppelglas her! – Das Schiff kehrt von Chile zurück, Fräulein Hilde, und wurde schon vor mehreren Stunden erwartet. Bei dem guten Winde, den es jetzt hat – er bat sich sonderbarerweise wieder gedreht – wird es wahrscheinlich hereinsegeln. Wenn es dann salutiert, giebt es ein prächtiges Schauspiel. Das müssen Sie sich anschauen; wir wollen uns in der Nähe halten!“

Durch das Glas sah man über dem Horizont schon die drei segelbedeckten Masten der Fregatte. Bald wuchsen sie auch für das unbewaffnete Auge deutlich empor, und endlich wurde der Rumpf erkennbar. Die „Bachstelze“ kreuzte hin und her, bis die „Teutoburg“ mit rother gelbgekreuzter Flagge am vordersten Mast in die Hafenbucht einlief. Gern hätte Herbert die heimkehrenden Kameraden begrüßt und Hilde das stolze Bild mehr in der Nähe gezeigt, allein bei genauerer Ueberlegung hielt er es für richtiger, sich seitab zu halten. Der Anblick war auch so majestätisch genug.

Bis zum Großflaggenknopf, von dem langhin der Heimathwimpel wehte, in seine Leinwand gehüllt, eilte das Schiff dahin, eine schäumende Spur durch die See ziehend, während auf den Geschützläufen, die aus den dunklen Luken des Batterieganges hervorlugten, die Sonne glänzte. Durch das Fernglas erkannte Hilde deutlich die Offiziere auf der Kommandobrücke, die Matrosen, die in den Masten standen oder vorn auf der Back am Klarmachen des Bugankers arbeiteten. Ein schwarzes Pünktchen schwebte zu einer der Mastspitzen empor.

„Passen Sie auf, Fräulein Hilde, das ist eine zusammengerollte Flagge! Gleich wird ein Salut gefeuert!“

Da blitzte es auch schon roth in einer Stückpforte auf, ein weißes Wölkchen drängte sich kräuselnd heraus und ward immer größer und grauer. Nun ein gewaltiger Krach, vom Ufer her nachrollendes donnerndes Echo. Und jetzt stieg auch auf der dem Boote abgekehrten Breitseite Rauch auf, gefolgt von neuem, etwas gedämpfterem Getöse, und so ging es eine Weile fort, in demselben Tempo, in dem Herbert zu Hildes Belehrung nachahmend kommandierte: „Backbord ... Feuer! - - Steuerbord ... Feuer!“

Kaum hatte die „Teutoburg“ ihren ehrenden Gruß beendet, so wurde vom Hauptfort in gleicher Weise gedankt.

Obgleich dieser Ohrenschmaus für Hilde keineswegs neu war, so besaß doch das ganze Schauspiel, wie sie meinte, hier von der See aus eine ungeahnte Großartigkeit. Aber ihre Bewunderung war keine ungetrübte. Wenn ein Krieg ausbrechen würde und

[65]

Ständchen.

Schön schläft das müde Haupt der Nacht,
Auf Wolken hingebettet,
Die Perlenschnur gestirnter Pracht
Durchs dunkle Haar gekettet.
Noch einmal athmen tief und bang
Die Wälder auf und lauschen,
Und leise ziehn und rauschen
Die Wasser ihren Gang.

Nun leg’ auch du in Fried und Ruh
Das Haupt aufs Kissen nieder!
Der schönste Engel deck’ dich zu
Mit himmlischem Gefieder!
Die Fensterläden schließe dicht,
Auf daß der Mond, der helle
Neugierige Geselle,
Nicht in dein Stübchen bricht!

Bald wird der Himmel liebreich dich
In Schlaf und Traum versenken;
Doch schlaflos ruhen werde ich,
Beseligt dein zu denken.
Was mir durch Herz und Seele geht
An zärtlichen Gedanken,
Soll alles dich umranken
Als schützend Nachtgebet!

Richard Zoozmann.

[66] Herbert gegen solche verderbensprühende Ungeheuer ausziehen müßte! Sie lieh diesem Gedanken besorgten Ausdruck.

„Das ist nun einmal unser Handwerk, Fräulein Hilde, oder vielmehr unsere Pflicht gegen das Vaterland. Und diesem meinem Beruf mit jedem Blutstropfen zu dienen, ist mein höchstes Glück, denn einen edleren, männlicheren kenne ich nicht. Sollte ich ihn einmal aufgeben müssen – ich glaube, nichts in der Welt könnte mich für diesen Verlust entschädigen!“ Er war einen Augenblick ernst geworden.

„Ach, dürften wir Frauen wenigstens mitkämpfen und mitsterben, wenn unsere Lieben in Krieg und Tod gehen! Was nützt es, zu Hause zu bleiben und zu jammern!“ rief Hilde blitzenden Auges.

„Aber zur See würden etwa mitziehende streitbare Damen bald genug haben, und gewiß auch Sie! Warten Sie nur, unser Wikingerschiff beginnt bereits recht tiefe Verbeugungen zu machen!“

Allein Hilde klatschte zur Antwort entzückt in die Hände, so daß Frettwurst über ihre Tapferkeit seinen Mund aufs wohlwollendste verzog. Muthwillig griff sie über Bord und ließ den Schaum einer sich brechenden glasgrünen Welle über ihren Arm laufen.

„Um Gotteswillen Sie machen sich ja ganz naß!“

„Schad’t nichts!“ Uebermüthig, wie der Ruf erklang, schwenkte sie den weißen Arm, von dem das Wasser in den Aermel rann.

„– – Hoch hinaus, mein Drache gut!
Bade dir die schwarzen Seiten lustig in der salz’gen Fluth!
Heb’ die Schwingen zu den Wolken, wie dein Schweif die Welle schlägt,
Fleug, so fern die Sterne leiten und die Welle folgsam trägt!“

Laut strömten die begeisterten Worte von ihren Lippen.

„Das haben Sie wohl aus der Frithjofssage, Fräulein Hilde?“

„Sie fragen erst – kennen Sie die herrliche Dichtung nicht?“

„O doch, vor aschgrauen Zeiten las auch ich die schöne Sage von Frithjof dem Starken und der tugendhaften holden Ingeborg. Als ich das Buch aber das letzte Mal sah auf einer Bank am hohen Meeresbord, drückte ich nur einen Kuß darauf – freilich nicht auf den Namen Ingeborg, sondern auf einen anderen – und legte eine kleine Blume hinein. Aber jetzt muß ich mir doch auch den Inhalt wieder näher anschauen. Wie wär’s, wenn ein gewisses liebes Exemplar als Ersatz für ein kleines goldenes Symbol der Treue in meinen Besitz überginge? – Nun? So nachdenklich mit einem Male? War das Verlangen anmaßend? Ist Ihnen nicht wohl? Frettwurst, präsentieren Sie dem gnädigen Fräulein einen Schiffsbranntwein und etwas Zwieback!“

Hilde lächelte. „Falscher Verdacht, mein Herr Wiking, mir könnte auf dem festesten Lande nicht wohler sein! Uebrigens wird mein ‚Fritjof‘ stolz sein auf seinen neuen Herrn.“

Sie strich sich über die Stirn. Der Sonnenschein des Augenblicks hatte den Schatten der Erinnerung wieder verscheucht. Und schon stand auch Frettwurst vor ihr, bescheiden auf das kleine „Katteker“ herunterschmunzelnd und geschickt in dem jetzt sehr unruhigen Fahrzeug das Gleichgewicht bewahrend. Auf der silbernen Tablette stand eine zierliche Flasche nebst zwei Gläschen und einem Teller mit feinem Gebäck.

Herbert schenkte ein. „Prüfen Sie erst, ab es Ihnen auch schmeckt, Fräulein Hilde!“

Hilde tat es zögernd; aber das Getränk mundete. „Das soll ,Branntwein‘ sein, Herr Wiking? Seit wann sind die Herren Seeleute denn so für das Süße?“

„Seit sie solche süße Gäste mit sich führen dürfen. Also – auf gute Kameradschaft, glückliche Heimkehr und frohe Zukunftsfahrt!“

Sie stießen an und schauten sich dabei tief in die Angen.

Frettwurst blinzelte scheinbar geradeaus, dachte jedoch das Seinige, und sein vorzügliches Mienenspiel hatte für ihn den Erfolg, daß Herbert ihm zurief: „Sie können sich auch einen genehmigen, Frettwurst! Aber von dem richtigen!“ –

In solcher Unterhaltung ging die Fahrt unaufhaltsam vorwärts. Das Meer war unruhiger geworden, die „Bachstelze“ lag gehörig schief, das Wasser schäumte über Bord und das Großsegel war bis oben hin benetzt. Jeden Augenblick bäumte das Boot hoch auf, ritt spielend über den Wogenrücken hinweg und schoß, wie um einen Anlauf für den nächsten Berg zu nehmen, mit geneigtem Kopfe thalabwärts. Hilde vermochte sich nicht satt zu sehen an dem Ansturm der grünen weißbehelmten Riesen. Jedesmal, wenn ein besonders drohender, aus der Ferne sich herwälzend, näher und näher kam, paßte sie in freudiger Erregung auf den Augenblick, bis der Gigant zur Stelle war.

„Jetzt!“ rief sie dann. „Nein noch nicht, aber gleich! So –!“

„Da haben wir ihn! Welch ein Bursche! Halten Sie sich fest!“ mahnte Herbert, und mächtig ward die „Bachstelze“ emporgeschleudert, um dann graziös weiter zu tänzeln.

„Wollen Sie einmal steuern, Fräulein Hilde?“

„Wenn ich darf!“

„Kommen Sie her! Wir müssen den Platz wechseln!“ Entzückt saß Hilde jetzt am Ruder. Ihre Händchen hielten mit äußerster Muskelanspannung den Kopf der Steuerpinne fest, während sie mit dem Fuße sich energisch gegen eine Bootsrippe stemmen mußte, um einen Halt gewinnen und dem Druck widerstehen zu können, der gegen das Steuer wirkte.

Herbert hielt sich zu augenblicklichem Eingreifen bereit und genoß in vollen Zügen den Reiz des frischen Bildes. Konnte es etwas Anmuthigeres geben als dieses vor Lust und Muth glühende Mädchen, das wie eine Rose von glänzenden Wassertropfen benetzt war, während die Haare unter dem verwegenen Mützchen wild flatterten und der geschmeidige Körper sich kraftvoll zurückbog?

„Nicht wahr, so leicht ist es gar nicht?“

„Nein, aber noch kann ich’s aushalten!“

„Ein wenig mehr an den Wind steuern – ‚anluven‘ nennt man das! Die Brise wird zu steif. So! Nun geht’s etwas ruhiger.“

In diesem Augenblick brauste eine Küstenjacht hart an der „Bachstelze“ vorüber.

Herbert, der heimlich aufgepaßt hatte, lachte laut über den plötzlichen Schrecken Hildes, welche das Schiff hinter dem Segel nicht gesehen hatte. „Sehen Sie, so entstehen die Zusammenstöße auf dem Meer! Ein richtiger Steuermann muß alles im Auge behalten!“

Rasch, wie sie gekommen war, schwand die Bestürzung des Mädchens. Die grüngestrichene Lastjacht, obgleich gar nicht zierlich, bot einen prächtigen Anblick. Auch ihre röthlichen Segel waren durchnäßt, in Strömen floß das Wasser von ihrem Deck ab, wenn sie die breite Brust hoch aus der See hob.

„Hurra!“ rief Hilde, von Begeisterung hingerissen, indem sie ihr Mützchen nach dem Kauffahrteischiff hinüber schwenkte.

Der kranzbärtige Mann, der, in Südwester und Oelrock eingemummt, am Steuer stand, nahm hiervon keine Notiz, doch aus der Luke schaute eben eine Frau mit einem Kind im Arme hervor, welche freundlich mit dem blonden, von einem zurückflatternden rothen Tuche umhüllten Kopfe nickte.

„Die sind glücklich!“ sagte das junge Mädchen, der Schifferfamilie einen langen Blick nachsendend.

„Wir nicht, Geliebte?“ fragte Herbert leise.

„Wir auch!“

Da senkten sich ihre Augen wieder ineinander.

Und weiter stürmte das Boot! Hilde lernte die Segel voll halten und nach dem schwankenden Kompaß steuern, sie erfuhr, wie man ein Schiff mit Wendung durch den Wind oder bei zu starker See durch weit abführendes „Halsen“ vor den Wind bringe; kurz alle möglichen seemännischen Künste wurden ihr enthüllt, und sie gab sich mit Leib und Seele dem neuen Vergnügen hin. Keine Spur von Seekrankheit trübte ihr die Stunde. Sie vergaß alles, was hinter ihr lag – bis an das Ende der Welt hätte sie so mit dem Geliebten segeln mögen!

Auch Herbert dachte nur an die freudige Gegenwart. Die im Westen aufziehenden, zackig dunklen Wolken und der auffällig springend gewordene Wind störten ihn nicht, da ein schwerer Bleikiel die „Bachstelze“ sehr zuverlässig machte. Nur einmal sah er flüchtig auf die Uhr. „Wann können die Eltern zurück sein?“ fragte er, sich zu Hilde herabbeugend.

„Ungefähr um Mitternacht. Doch muß ich spätestens um Neun zurück sein, Herbert!“

Er nickte. „Es wäre Zeit zum Einnehmen unseres ohnehin verspäteten Fünfuhr-Thees. Hier ist es aber zu ungemüthlich dazu. Wir wollen dort um den Küstenvorsprung gehen, wo ruhiges Wasser ist. Also aufgepaßt!“

Unter locker gegebenem Segel sauste das Boot dahin. Bald war der Vorsprung und hinter ihm eine stille Bucht erreicht. Felder, durch grüne Hecken, Waldflecke und einzelne Ortschaften unterbrochen, lagen in sanfter Steigung malerisch landeinwärts. Hier lachte noch Sonnenschein, die rothen Dächer der Gehöfte in der Nähe des Strandes in warmen Tönen vergoldend.

„So, hier soll’s uns schmecken!“ rief Herbert, und Hilde, die sich bereits eines tüchtigen Appetits erfreute, nickte ihm lachend zu.

Von Thee war nun freilich keine Rede, aber sonst hatte Frettwurst für den Nachmittagsimbiß, zu dem jetzt ein kleiner Tisch [67] gedeckt ward, die verschiedensten Dinge besorgen müssen. Da bemerkte der gute Bursche, daß er eine wichtige Zuthat zu besorgen vergessen habe. Ganz niedergeschmettert nahte er sich seinem Gebieter, die Mütze verlegen durch die Finger gleiten lassend.

„Nun, was hat Ihnen die Petersilie verhagelt, Frettwurst?“

„Ach Herr Leutenant, ich hab’ die Botter vergessen.“

„Die Butter? Das ist mir eine schöne Geschichte! Man kann doch Damen aus dem Butterland kein trockenes Brot anbieten!“

„J, das macht gar nichts!“ erklärte Hilde.

Herbert gab sich aber nicht zufrieden. „Was machen wir nur, Frettwurst?“ fragte er nachdenklich.

„Soll ich flink mit die Jolle an Land fahren und welche von die Bauern ihre holen?“ schlug der Bursche vor.

Herbert sah ihn mit einem billigenden Blicke an. Das war’s, was er gewünscht hatte, einen Anlaß, den Getreuen auf ein halbes Stündchen los zu sein! Trotzdem Hilde dabei beharrte, daß ihretwegen die umständliche Besorgung ganz unnöthig sei, stimmte er seinem Burschen zu. Die „Bachstelze“ näherte sich dem Ufer, soweit es der flache Strand erlaubte, die winzige Jolle wurde ins Wasser gelassen, und unmittelbar darauf ruderte Frettwurst mit kräftigen Riemenschlägen auf den Brandungssaum zu.

So, nun befanden sich die beiden allein. Eiu Kuß hinter dem schützenden Segel leitete diesen netten Zustand ein.

Es dauerte ziemlich lange, bis Frettwurst eine geeignete Landungsstelle gefunden hatte, und langsam begleitete die „Bachstelze“ seine Suche. Als man endlich den Gelandeten auf das nächste, immerhin in ziemlicher Entfernung liegende Gehöft zutraben sah, bemerkte Herbert: „Was meinst Du, mein süßes Herz, sollen wir mittlerweile vor Anker gehen?“

Eine eigenthümliche Scheu, so in der Ruhe mit ihm allein zu sein, überkam Hilde. Sie wünschte eine harmlos ablenkende Thätigkeit. „Darf ich mich nicht lieber hier im stilleren Wasser noch ein bißchen im Kreuzen üben, Herbert?“

„Das könntest Du ja ebensogut zu anderer Zeit. Doch wie Du willst! Nur müssen wir dann wieder eine Strecke hinausfahren. Wir wollen die Taue besser anholen. Also etwas links das Ruder! So ist’s gut! Und hier hast Du auch etwas zum Knabbern dabei, damit Du mir nicht flau wirst!“ Er schob ihr durch die blanken Zähne ein Brödchen, auf das sie zufrieden einbiß.

Sie näherten sich wieder dem Küstenvorsprung, welcher den Seegang abhielt. „Jetzt paß auf, Hilde, wir wollen wenden!“

„Ach bitte, erst noch ein kleines Stück weiter!“

„Aber nicht viel! Merkst Du, wie wir den Wind schon wieder bekommen? Halte gut fest, hörst Du! Oder wart’, ich will Dir’s leichter machen!“

Herbert befestigte eilig einen kleinen Flaschenzug auf den Steuerhandgriff, so daß Hilde mit dessen Hilfe ohne große Mühe das Ruder zu regieren vermochte.

Aber urplötzlich brauste ein tückischer Windstoß einher, erfaßte die Segel und drückte die „Bachstelze“ tief auf die Seite. Der junge Offizier, der gerade eine verdächtige Befestigung des Großsegels geprüft hatte, sprang zurück. „Luv, luv, Hilde!“ schrie er.

Allein Hilde hatte ihre Sache schon zu gut gemacht und statt nur an den Wind zu drehen, schoß das Boot in ihn hinein und verlor vollständig die Fahrt. Von den sprühenden Wellen getroffen, wurde es nun auf und nieder geworfen, während das windgepeitschte Großsegel, den Segelbaum hin und her schleudernd, gewaltig flatterte.

Und von dem Schlagen und Tosen ganz verwirrt, ließ Hilde, ihres Amtes vergessend, das Steuer im Stich.

Eilig bückte sich Herbert, um, unter dem Segelbaum wegkriechend, auf der neuen Windseite an das losgelassene Ruder zu kommen. Im nämlichen Augenblick jedoch erfolgte ein zweiter, noch stürmischerer Windstoß, der schwere Baum holte über und - man hörte es förmlich krachen – traf mit seinem Eisenring den Offizier an die Schläfe. Lautlos stürzte der Getroffene zusammen, und aufschreiend warf sich Hilde über ihn.

Eine Sekunde später krachte oben die Maststenge mit dem Gaffeltopsegel fort, unten verwirrte sich die Leine des Flaschenzuges am Steuer, so daß dieses unbeweglich stand. Und wie ein Roß mit seinem bügellosen Reiter durchgeht, so sauste die „Bachstelze“, einen wilden Schaumschwall aufwühlend und mit dem prallen Großsegel fast auf dem Wasser liegend, rasenden Laufes in das tobende Meer hinaus.

*      *      *

Frettwurst trat vergnügt aus dem Bauernhaus. Er hatte spottbillig prachtvolle Butter eingehandelt und roch wohlgefällig an dem in frische Kohlblätter eingeschlagenen Stück, das er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, indem er bei sich dachte: „Dunnerslag, dat is en annern Kram, as de Stebelsmeer an uns Back![2] Dor ward sick mien Leutenant und sien Fräuln wat över högen!“[3] Jetzt streifte sein Blick zufrieden über die Butter weg in der Richtung der aufwärts stehenden Nase gen Himmel; da – erstaunt, bedenklich blieb das Auge haften, während die Butter sich senkte.

„So wat lewt nich mehr!“ murrte er. „Petrus hett dat ja bannig hild[4] mit hatt. Nu nümm dien Been man in de Hand, mien Jung, süns kann ‚Bachstelze‘ nich mehr tiedig rinner kamen und mag sick hier buten[5] den Schaden besehn!“

Er schlug einen kleinen Galopp an. Daß dabei seine Finger immer tiefere Beulen in das Butterstück drückten, dafür konnte er nichts. Als er aber, aus den Knicks herauskommend, den Strand übersah, wurde er von einer neuen Ueberraschung ganz überwältigt. Wie vom Donner gerührt blieb er auf dem Fleck stehen.

Die „Bachstelze“ befand sich nicht mehr in der Nähe, sondern weit, weit draußen! Den scharfen Augen des Matrosen entging das mehr als sonderbare Manöver, das sie soeben machte, nicht. Statt nach der Regel flott zu wenden, verlor sie die Fahrt, als wenn sie völlig steuerlos geworden wäre. Gleich darauf wurde sie von einer Bö gepackt, die ihr das Gaffeltopsegel wegnahm, sie auf die Seite preßte und offenbar in See verschlug. Ohne ihren schweren Bleikiel hätte sie bereits kentern müssen!

Regungslos, die Augen entsetzt aufgerissen, stand Frettwurst da. Es war rein unmöglich, daß sein Lieutenant ein solches Stück machen, daß dieser selbst die Herrschaft über das Steuerruder haben konnte! Ihm mußte etwas Schlimmes begegnet sein! Wenn er über Bord gefallen wäre – wenn das junge Mädchen allein da draußen segelte – barmherziger Himmel!

Mit einem Blick umfaßte der sonst langsam denkende Mann die Gefahr, welche ihm durch die fernen Zeichen verkündigt wurde. Blitzschnell begriff er, daß sein Herr der raschesten Hilfe bedürfe und daß niemand diese bringen könne außer ihm.

Aber wie sollte er sie bringen? Mit der Spielzeugjolle in die See hinauszugehen, wäre an sich schon ein bedenkliches Unterfangen gewesen – bei dem Wetter, das eben hereinbrach, war es offenbare Tollheit.

Und doch – der treue Bursche sah im Geiste seinen Herrn mit den Wellen ringen und das Fahrzeug mit dem Mädchen umschlagen, und ohne sich eine Sekunde weiter zu besinnen, rannte er, was ihn die Beine trugen, auf seine Jolle zu.

Gleich darauf schoß der „Seelenverkäufer“ wie ein Pfeil durch die Salzfluth, erst nur wenig, dann stärker und stärker sich hebend und senkend, bis er schließlich außerhalb des Landschutzes wie ein Kork von der rauhen See auf und ab geschleudert wurde, wobei jeder Wogemamprall einem Wasserrest in ihm zurückließ.

Längst war Frettwursts Mütze davongeflogen. Die Aermel über die sehnigen Arme zurückgestreift, arbeitete er sich in waghalsiger Entschlossenheit vorwärts, und der Schweiß rann in ganzen Bächen über sein sonnenverbranntes Gesicht.

Von Zeit zu Zeit schaute er sich forschend um, damit er den Kutter im Auge behalte. Doch nur zu bald sah er nichts mehr von dem weißen Segel und gleich darauf auch nichts mehr vom Lande; nur die dunkeln, mit Regen gemischten Böen und Welle auf Welle fegten über ihn weg.

Nun begriff er, daß er nichts mehr retten könne; nichts mehr! Auch sich nicht! Und er gedachte seiner Braut, und ob er nicht ihretwegen die Umkehr versuchen sollte.

Aber was half dies noch? Gegen die höher und höher steigende Brandung anzukommen. war jedenfalls unmöglich, und zudem trieb es ihn vorwärts mit jeder Faser seines treuen Herzens, so hoffnungslos das Beginnen auch war.

Vorwärts, vorwärts in das pfadlose endlose Grauen ließ er sich verschlagen. Doch nicht lange sollte es mehr dauern. Eine mächtige Woge warf sich wie ein Raubthier von hinten auf die Jolle. Im nächsten Augenblick war das kleine Ding, als ob es ein Stier auf die Hörner genommen hätte, emporgehoben und kopfüber in die tobenden Wasser geschleudert.

(Fortsetzung folgt.)


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Blätter und Blüthen.


Der Patronatsherr. (Zu dem Bilde S. 53.) Würdevoll und machtbewußt sitzt der alte Freiherr und Kirchenpatron in seiner Loge auf der Emporbühne der Kanzel gegenüber und betrachtet sich den predigenden Geistlichen. Der erste Augenschein durch den großen Nasenquetscher hatte ein befriedigendes Ergebniß: Candidatus ist kein finsterer Asket wie sein Vorgänger, sondern ein wohlgenährtes Männlein, dessen muntere Gesichtszüge eine Tischunterhaltung erhoffen lassen, wie sie der alte Freiherr nöthig hat, um die Abgeschiedenheit seines Herrenschlosses zu ertragen. Dieses steht wohl im schönen Gartenland Oberösterreich und bietet einen sehr annehmbaren Ruhesitz für einen, der sich im böhmischen Kriege und am Rheine unter kaiserlichen Fahnen umgetrieben und manchen harten Strauß mit hat ausfechten helfen. Aber – wer Schlachten geschlagen hat, will davon erzählen, und was thut ein alter Kriegsmann mit einem blondlockigen Töchterlein, sei es auch sonst so lieblich und hilfreich wie nur möglich, als einziger Zuhörerin? ...

Da muß Wandel geschafft werden, und deshalb sitzt unser Freiherr mit so wichtigem Sorgenantlitz vor der Entscheidung. Heute senkt sich nicht auf seine Lider der Kirchenschlaf, der ihn sonst hier unter dem Wappen seines Hauses und den ruhmreichen Schlachttrophäen so sanft umfängt, heute horcht er angestrengt. Aber was er hört, gefällt ihm: der Kandidat macht den Bauern die Hölle heiß, wie es sich gehört. Jetzt noch die Hauptprobe: einen tiefen Trunk bei der Mahlzeit und ein Kartenspiel hinterher! Besteht der junge Gottesmann auch hierin, dann ist ihm die Pfarre gewiß, und der Patronatsherr fühlt sich von seinen Sorgen erlöst! Bn.     

Futterstelle für Vögel im Englischen Garten zu München.
Nach der Natur gezeichnet von P. Bauer.

Kritische Kundschaft. (Zu dem Bilde S. 57.) „Frische Eier – sechsundzwanzig für eine Mark!“ Der verlockende Ruf zieht die Hausfrauen scharenweise herbei; nur sprechen sie mit Dr. Faust:

„Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“

Wenn nur drei faule unter den sechsundzwanzig sind, so ist der ganze Profit hin – man hat Erfahrungen, man ist gewitzigt! Also beginnt sofort eine allseitige eifrige Untersuchung. Streng wissenschaftlich, hält die alte Professorsfrau das Ei vor das Auge, während die dicke Haushälterin eine auf Ueberlieferung beruhende Perspektivwirkung zu erzielen sucht. Die Rentiersgattin in der Sammetmantille, welche den Eierkauf grundsätzlich keinem Dienstboten anvertraut, kennt das Geheimniß des Griffes beim Herausheben, die Arbeiterfrau daneben macht es einfacher und hält ein zersprungenes an die Nase; alle, auch die soeben mit einem gefüllten Korbe abziehende Händlerin, die noch einen vergleichenden Blick zurückwirft, sind voll Mißtrauen. Das macht aber dem alten ehrlichen Hannes nichts. Er steht wie der Fels in der Brandung, unbewegt, mit seiner Pfeife im Munde, er versteht sich auf den Markt – und die Weiber – und den Eierverkauf. Nur eines scheint er nicht recht zu verstehen: das richtige Herausgeben. Kopfschüttelnd zählt die Alte rechts die erhaltenen Nickelstücke wiederholt durch, auch die Herrschaftsköchin mit den gebrannten Löckchen, welche eine nähere Prüfung der Eier unter ihrer Würde erachtete, findet doch an dem Mißverhältniß zwischen ihrer und seiner Rechnung etwas auszusetzen und wirft dem alten braven Hannes einen entrüsteten Blick zu, der ihn freilich gerade so gleichmüthig läßt als die Zweifel der übrigen Kundschaft. Ja es scheint sogar, als entwickle sich ein ganz leises Schmunzeln in seinem verwetterten Gesicht, wenn er ihre eifrigen Bemühungen betrachtet!

Es ist ein hübsches Stückchen aus dem lebhaften Treiben eines großstädtischen Marktes, welches hier der Künstler mit Geschick und Humor herausgegriffen hat.



Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

F. H. v. B. in St. Wo am meisten geraucht wird? Nach der Statistik in den Niederlanden; denn dort kommen 2,8 kg jährlicher Tabakverbrauch auf den Kopf der Bevölkerung. Ihnen folgen die Vereinigten Staaten und die Schweiz mit je 2,3 kg auf den Kopf, Oesterreich-Ungarn mit 2,1 kg und Belgien mit 2 kg. Deutschland gestattet sich nur 1,51 kg, Großbritannien und Italien – offenbar Eldorados der Nichtraucher – gar nur 0,6 kg. Sie finden übrigens diese nebst einer Masse anderer interessanter und wissenswerther Dinge in einem ganz dünnen Büchelchen von nur 88 Seiten beieinander: „Auskunftsbuch im öffentlichen Leben und Verkehr“ (München, Oldenbourg).

Fr. Gbh. in Hof. Das läßt sich in zwei Worten nicht auseinandersetzen. Doch giebt Ihnen jedes bessere Konversationslexikon Auskunft.

Hochschule der Musik für Blinde. Wir verweisen Sie auf unsere Mittheilung in Nr. 21 des Jahrgangs 1892. Der Ausschuß erneuert jetzt seinen Aufruf zu gunsten dieser im höchsten Sinne menschenfreundlichen Gründung mit der Bitte an alle, welche mitzuhelfen bereit sind, ihre dahingehende Absicht beim Musiklehrer Herrn George Neumann, Königsberg i. Pr., Oberhabersberg 93 anzeigen zu wollen. Ebendahin sind auch Beiträge zu richten. Wo die „Hochschule der Musik für Blinde“ errichtet werden soll, ist noch nicht fest beschlossen. Der Aufruf spricht in dieser Beziehung nur von „einer deutschen Hauptstadt.“


Inhalt: Freie Bahn! Roman von E. Werner (3. Fortsetzung). S. 53. – Der Patronatsherr. Bild. S. 53. – Kritische Kundschaft. Bild. S. 57. – Das Deutschthum in Südafrika. Von Rudolf Marloth. S. 58. – Lisette. Bild. S. 61. – Zum Antiquitätenschwindel unserer Zeit. Von Georg Buß. S. 62. – Auf Geben und Nehmen. Novelle von Johannes Wilda (3. Fortsetzung). S. 64. – Ständchen. Gedicht von Richard Zoozmann. Mit Abbildung. S. 65. – Blätter und Blüthen: Der Patronatsherr. S. 68. (Zu dem Bilde S. 53.) – Kritische Kundschaft, S. 68. (Zu dem Bilde S. 57.) – Futterstelle für Vögel im Englischen Garten zu München. Bild. S. 68. – Kleiner Briefkasten. S. 68.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Die Redaktion der „Gartenlaube“ ist gern erbötig, Beiträge für diesen Zweck zu übermitteln.
  2. Stiefelschmiere an unserem Schiffstisch.
  3. freuen.
  4. schrecklich eilig.
  5. außen.