Die Gartenlaube (1893)/Heft 3
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Nr. 3. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Dernburg und Egbert Runeck waren allein. Der erstere hatte
sich niedergesetzt und die Zeichnungen der Radefelder Leitung
wieder zur Hand genommen, die er noch einmal durchmusterte.
„Ich habe Deinen Plan zur Ausführung bestimmt, Egbert,“ sagte er. „Er ist der beste von allen, die mir vorliegen, und löst sämmtliche Schwierigkeiten in überraschender Weise. Gegen einzelnes habe ich noch Bedenken, Du wirst einige Aenderungen vornehmen müssen, im großen und ganzen aber ist der Plan vortrefflich, und die Arbeiten sollen sofort beginnen. Willst Du die Oberleitung übernehmen? Ich stelle es Dir frei.“
Der junge Ingenieur schien überrascht zu sein, er mochte wohl eine andere Einleitung erwartet haben; in seinen Zügen malte sich unverkennbare Genugthuung über diese Anerkennung von seiten des Chefs, der sonst mit seinem Lobe sparsam zu sein pflegte.
„Sehr gern,“ entgegnete er, „aber soviel ich weiß, hat der Herr Oberingenieur die Sache bereits in Händen.“
„Wenn ich es jetzt anders bestimme, so hat der Oberingenieur sich zu fügen,“ erklärte Dernburg mit Nachdruck. „Es hängt nur von Dir ab, ob Du die Ausführung Deines Plans selbst übernehmen willst, und in dieser Beziehung haben wir allerdings noch etwas anderes zu besprechen, das erst geklärt werden muß.“
Er hatte bis jetzt im ruhigen Geschäftston gesprochen, aber Egbert war hinlänglich vorbereitet – er wußte, was nun zur Sprache kommen sollte, doch er scheute es offenbar nicht. Die flüchtige Milde, die er vorhin im Gespräch mit Erich gezeigt hatte, war längst wieder verschwunden, und das Starre, Trotzige in seiner Haltung trat unverhüllt hervor, als er den finsteren Blick seines Chefs jetzt fest erwiderte.
„Ich habe es längst bemerkt, daß Du als ein ganz anderer zurückgekommen bist,“ hob Dernburg wieder an. „Das ist in mancher Hinsicht selbstverständlich. Du warst drei Jahre in Berlin, zwei Jahre in England, da erweitert sich der Gesichtskreis, und ich selbst habe Dich ja in die Welt hinaus geschickt, damit Du sehen und urtheilen lerntest. Jetzt aber sind mir Dinge zu Ohren gekommen, über die ich Dich doch um nähere Auskunft ersuchen möchte. Ich liebe die langen Umschweife nicht, also kurz und klar: ist es wahr, daß Du mit den Sozialdemokraten in der Stadt regelmäßig verkehrst, daß sie Dich öffentlich für einen der Ihrigen ausgeben, daß Du zu ihrem Führer, dem Landsfeld, in den allervertrautesten Beziehungen stehst? Ja oder nein?“
„Ja,“ sagte Egbert einfach.
Dernburg schien ein so rückhaltloses Zugeständniß denn doch nicht erwartet zu haben. Seine Stirn furchte sich noch tiefer.
„Also wirklich! Und das sagst Du mir so ruhig ins Gesicht?“
„Soll ich die Wahrheit ableugnen?“
„Und seit wann bist Du Mitglied der Partei?“
„Seit vier Jahren.“
„In Berlin also hat die Sache angefangen, ich dachte es mir. Und Du hast Dich wirklich umgarnen lassen? Freilich, Du warst damals noch sehr jung und unerfahren, aber ich hätte Dich doch für klüger gehalten.“
Man sah es dem jungen Manne an, daß die Art, wie er zur Rede gestellt wurde, ihn verletzte. Ruhig, aber mit scharfer Betonung entgegnete er: „Das sind Ihre Ansichten, Herr Dernburg; ich bedaure, daß die meinigen davon abweichen.“
„Und darum habe ich mich nicht zu kümmern, meinst Du?“ ergänzte Dernburg. „Da bist Du doch im Irrthum, Ich kümmere mich um die politischen Ansichten meiner Beamten. Allein ich lasse mich nicht zu Auseinandersetzungen mit ihnen herbei, sondern schicke ihnen in solchem Falle einfach die Entlassung zu. Wem es hier in Odensberg nicht gefällt, der mag gehen, ich halte keinen; wer aber bleibt, hat sich unbedingt zu fügen. Entweder – oder! Ein Drittes giebt es hier nicht.“
„So werde ich wohl dies ‚Oder‘ wählen müssen,“ sagte Egbert kalt.
„Wird es Dir so leicht, uns zu verlassen?“
Der junge Mann sah finster vor sich nieder.
„Ich bin in Ihrer Schuld, Herr Dernburg, ich weiß es –“
„Das bist Du nicht! Wenn ich Dir Erziehung und Ausbildung gewährte, so hast Du mir dafür meinen Erich gerettet, ohne Dich hätte ich den einzigen Sohn verloren! In dem Punkte sind wir quitt, wenn wir uns denn doch einmal auf den reinen Geschäftsstandpunkt stellen wollen. Ziehst Du das vor, so sage es offen heraus, dann sind wir zu Ende!“
„Sie thun mir unrecht,“ sagte Runeck mit unterdrückter Bewegung. „Es wird mir schwer genug, Ihnen so gegenüberzutreten.“
„Nun, wer zwingt Dich denn dazu? Doch nur die unsinnigen Ideen, in welche Du Dich verrannt hast! Denkst Du, es wird mir leicht, Dich zu verlieren? Nimm Vernunft an, Egbert! Es ist nicht der Chef, welcher zu Dir spricht, der hätte längst ein Ende gemacht! Du aber bist jahrelang fast ein Kind meines Hauses gewesen.“
Der halb väterliche, halb gebieterische Ton verfehlte seinen Eindruck vollständig. Der junge Ingenieur hob mit trotzigem Selbstbewußtsein das Haupt, als er antwortete: „Ich habe mich eben ‚verrannt‘ in die ‚unsinnigen Ideen‘ und bleibe dabei. Es kommt eine Zeit, wo auch die Kinder mündig werden, und ich bin es geworden da draußen in der Welt, ich kann nicht zurück in die Unmündigkeit des Knaben. Was Sie von dem Ingenieur, dem Beamten verlangen, das will ich leisten mit meiner besten Kraft. Die blinde Unterwerfung, die Sie auch vom Menschen fordern, kann und will ich nicht auf mich nehmen. Ich muß freie Bahn haben im Leben.“
„Die hast Du also bei mir nicht?“ fragte Dernburg in gereiztem Tone.
„Nein!“ sagte Egbert fest, „Sie sind ein Vater Ihrer Untergebenen, so lange diese sich unbedingt fügen, aber man kennt in Odensberg nur ein Gesetz – Ihren Willen. Der Direktor beugt sich ihm ebenso bedingungslos wie der letzte Arbeiter, eine eigene freie Meinung giebt es nicht auf Ihren Werken und wird es nie geben, so lange Sie an der Spitze stehen.“
„Das sind ja recht schöne Dinge, die Du mir da anzuhören giebst,“ brauste Dernburg auf, „Du sagst es mir unverblümt, daß ich ein Tyrann bin. Freilich, Du hast Dir von jeher mehr herausnehmen dürfen als die anderen zusammen, hast es auch redlich gethan, Du warst nie der willenlos Gehorchende, und von Dir verlangte ich es auch nicht, denn – doch davon sprechen wir später. ‚Freie Bahn‘! Das ist wieder eins Eurer Schlagworte. Bei Euch soll ja alles nieder, alles, dann habt Ihr freie Bahn – zum Abgrund!“
Er hatte sich erhoben und schritt, wie um sich zur Ruhe zu zwingen, einigemal auf und nieder; jetzt blieb er vor dem jungen Manne stehen und sagte mit bitterem Hohne: „Du scheinst trotz Deiner Jugend schon eine recht bedeutende Rolle in Deiner ‚Partei‘ zu spielen. Man verhehlt es nicht, daß man die größten Hoffnungen auf Dich setzt und in Dir einen der zukünftigen Führer sieht. Die Herren sind gar nicht so unklug, sie kennen ihre Leute, und mit Geringerem hätten sie Dich auch nicht geködert.“
„Herr Dernburg!“ fuhr Runeck auf, „trauen Sie mir niedrige Berechnung zu?“
„Nein, aber Ehrgeiz!“ sagte der ältere Mann kalt. „Du magst es selbst noch nicht wissen, was Dich in jene Reihen getrieben hat, ich will es Dir sagen: ein tüchtiger Ingenieur sein und sich allmählich zum Oberingenieur heraufarbeiten, das ist eine ehrenhafte Laufbahn, aber viel zu bescheiden für eine Natur wie die Deinige. Tausende mit einem Worte, einem Winke leiten, im Reichstag zündende Reden hinausschleudern, die das ganze Land hört, als Führer auf den Schild gehoben werden, das ist Macht, das reizt Dich. Widersprich nicht, Egbert, ich sehe mit meiner Erfahrung weiter als Du – in zehn Jahren wollen wir uns wieder sprechen!“
Ob die Worte trafen oder nicht, ließ sich nicht entscheiden; Runeck stand mit finsterer Stirn und zusammenpreßten Lippen da, aber er erwiderte keine Silbe.
„Nun, mein Odensberg werdet Ihr mir wohl einstweilen noch lassen müssen,“ hob Dernburg wieder an. „Hier bin ich
[39] Herr und ich dulde keine Nebenregierung, weder eine offene noch eine geheime, das sage Deinen Herren Parteigenossen, wenn sie es noch nicht wissen sollten. Doch was hast Du Dir eigentlich gedacht, als Du mit solchen Ansichten hierher zurückkamst? Du kennst mich doch! Warum bliebst Du nicht in England oder in Berlin und sagtest mir von dort aus die Fehde an?“
Egbert antwortete auch jetzt nicht, allein es war nicht jenes trotzige Schweigen wie vorhin, in dem zehn Widersprüche lagen; jetzt sank sein Auge zu Boden und eine dunkle Röthe stieg ihm langsam bis in die Stirn. Dernburg sah das und sein eben noch so finsteres Gesicht hellte sich auf, es dämmerte sogar etwas wie ein leises Lächeln darin auf, als er in milderem Tone fortfuhr:
„Nun, wir wollen annehmen, es sei Anhänglichkeit an mich und meine Familie gewesen. Erich und Maja sind Dir ja auch zugethan wie Geschwister. Aber, ehe Du uns wirklich verloren gehst, sollst Du doch wissen, was Du aufgiebst und welche Zukunft Du Dir verschüttest mit Deinen tollen Streichen.“
Runeck sah ihn fragend an, er errieth offenbar nicht, wohin die Worte zielten. „Sie meinen –?“
„Ich meine Erichs Gesundheit, die mir noch immer ernste Sorgen macht. Wenn die Gefahr für sein Leben auch beseitigt ist, die völlige Genesung hat er im Süden nicht gefunden. Er wird immer der Schonung bedürfen, sich nie einer angestrengten Thätigkeit hingeben können, und überdies ist er eine weiche unselbständige Natur, allen möglichen Einflüssen zugänglich. Ich kann es mir nicht verhehlen, daß er seiner dereinstigen Stellung nicht gewachsen ist, und ich will, wenn ich einmal die Augen schließe, meine Schöpfung gesichert und in kraftvollen Händen wissen. Dem Namen nach wird Erich mein Nachfolger, der That nach muß es ein anderer sein – und dabei hatte ich auf Dich gerechnet, Egbert.“
Egbert zuckte zusammen, und in seinen Zügen prägte sich eine beinahe angstvolle Ueberraschung aus. „Auf mich! Ich soll –?“
„Dereinst die Zügel in Odensberg führen, wenn meine Hand es nicht mehr kann,“ ergänzte Dernburg. „Von allen, die ich in meiner Schule herangebildet habe, hat nur einer das Zeug dazu und der will mir jetzt all meine Zukunftspläne über den Haufen werfen. Meine Maja ist noch ein halbes Kind, ich kann es nicht voraussehen, ob ihr dereinstiger Gatte für eine solche Stellung taugt, obgleich ich es dringend wünsche. Ich gehöre nicht zu den Narren, die sich für ihre Töchter irgend einen Grafen- oder Freiherrntitel kaufen, mir gilt nur der Mann, gleichviel welche Stellung er einnimmt und aus welchen Verhältnissen er hervorgegangen ist, vorausgesetzt, daß ihm die Neigung meines Kindes entgegenkommt.“ Er sagte es langsam, aber mit vollem Nachdruck.
Es war eine blendende Verheißung, die da nur halb ausgesprochen und doch deutlich genug vor dem jungen Manne auftauchte, und er verstand sie nur zu gut. Seine Lippen zuckten, mit einer raschen Bewegung trat er einige Schritte näher und sagte gepreßt:
„Herr Dernburg – schicken Sie mich fort!“
Jetzt flog ein Lächeln über Dernburgs Züge, er legte dem Erregten die Hand auf die Schulter.
„Nein, mein Junge, das thue ich nicht. Erst wollen wir beide es noch einmal miteinander versuchen. Vorläufig übernimmst Du die Radefelder Leitung, ich werde Dir genügende Selbständigkeit dabei sichern. Wenn wir alle verfügbaren Arbeitskräfte heranziehen, können wir bis zum Herbste fertig sein. Willst Du?“
Egbert kämpfte offenbar mit sich, es vergingen einige Sekunden, ehe er antwortete, dann sagte er halblaut:
„Herr Dernburg, das ist ein Wagniß – für uns beide!“
„Möglich, aber ich will’s wagen mit Dir, und ich denke, mit Deiner Volksbeglückung wird es auch nicht solche Eile haben, daß Du Dir die Sache nicht noch ein paar Monate lang überlegen kannst. Einstweilen schließen wir Waffenstillstand. Und nun geh’ zu Erich! Ich glaube, er hat eine heillose Angst vor dem Ausgang unseres Gesprächs, und Maja wird sich auch freuen, Dich wieder einmal zu sehen. Du bist ja immer draußen in Radefeld. Heute aber fährst Du erst abends hinaus und bleibst zu Tische. Abgemacht!“
Er reichte ihm die Hand, und Egbert legte schweigend die seinige hinein. Man sah es, wie die Güte des sonst so strengen und unbeugsamen Mannes auf ihn wirkte und vielleicht mehr noch die Erkenntniß, was er diesem Manne werth war, der so zu ihm sprach. Dernburg hatte das rechte Mittel ergriffen, das einzige, das hier Erfolg versprach. Er forderte kein Versprechen und kein Opfer, die jedenfalls verweigert worden wären, aber er zeigte seinem trotzigen Günstling unbedingtes Vertrauen und nahm ihm damit die Waffen aus der Hand.
Die Dernburgschen Eisen- und Stahlwerke hatten einen Weltruf
und konnten sich in der That den größten dieser Art zur
Seite stellen. Odensberg lag in einem der Waldthäler des Gebirges,
dessen Hauptreichthum in seinen unerschöpflichen Erzgruben
bestand, und der Vater des jetzigen Besitzers hatte vor einem
Menschenalter hier ein einfaches Eisen- und Hüttenwerk gegründet,
das sich mit den Jahren immer mehr erweitert
hatte. Den eigentlich großartigen Aufschwung aber nahm es
erst unter seinem Sohne, der die jetzigen Werke mit ihrer riesigen
Ausdehnung schuf. Er brachte nach und nach die sämmtlichen
Gruben und Hütten der Umgegend in seinen Besitz, zog alle
Arbeitskräfte an sich und gab seiner Schöpfung eine Ausdehnung,
daß er das industrielle Leben der ganzen Provinz beherrschte.
Es gehörte freilich eine ungewöhnliche Thatkraft dazu, ein solches Unternehmen zu schaffen und zu leiten, aber Dernburg war der Aufgabe gewachsen. Er hatte ein ganzes Heer von Ingenieuren, Technikern und Verwaltungsbeamten, indessen der Direktor wie der letzte Arbeiter wußten, daß alle Fäden in der Hand des Herrn zusammenliefen, daß er alles Wichtige selbst entschied und beschloß. Dieser Herr galt allerdings für streng und unbeugsam, aber auch für ebenso gerecht, und wenn er sich der ganzen Macht seiner Stellung bewußt war, so hatte er auch einen hohen Begriff von seinen Pflichten.
Die Einrichtungen, die er zum Besten seiner Arbeiter geschaffen hatte, standen an Großartigkeit denen seiner Werke nicht nach und wurden überall als mustergültig gepriesen. Sie waren nur einem Manne möglich, der über Millionen verfügte und mit seinem Reichthum nicht kargte, wenn es galt, für seine Untergebenen zu sorgen. Aber Dernburg forderte dafür auch unbedingte Unterordnung unter seinen Willen und stemmte sich wie ein Fels der neuen Zeit entgegen, welche freie Ueberzeugung für jeden einzelnen fordert. In Odensberg kannte man keine Auflehnung, keine Streitigkeiten und Kämpfe wie in den anderen Industriestätten. Man wußte, daß der Chef sich nichts abzwingen ließ, die Leute verloren mit der Arbeitsstelle auch die gesicherte Zukunft für sich und ihre Familien – so konnten all die Aufreizungen von außen, an denen es auch hier nicht fehlte, keinen Boden gewinnen und, wenn sie auch hie und da Gehör fanden, doch keinen wirklichen Erfolg davontragen.
Und dieser Mann, der die verkörperte Kraft war, besaß einen einzigen Sohn, um dessen Leben er fortwährend bangen mußte. Erich war von seiner frühesten Jugend an zart und kränklich gewesen, und jener Sturz in das Wasser, den seine eigene Unvorsichtigkeit verschuldet, hatte ihm eine lebensgefährliche Krankheit zugezogen, die monatelang dauerte. Zwar gelang es, ihn am Leben zu erhalten, aber völlig erholte er sich nicht wieder, und vor zwei Jahren hatten sich sehr bedenkliche Anzeichen eingestellt, ein Bluthusten, der Erichs schleunige Entfernung aus dem rauhen Klima der Heimath und einen längeren Aufenthalt im Süden nothwendig machte.
Das eigenthümliche Verhältniß, in dem der Lebensretter des jungen Erben zu dem Dernburgschen Hause stand, war in Odensberg von jeher ein Gegenstand der Verwunderung und vielfach auch des Neides gewesen. Egbert Runeck, der Sohn eines Arbeiters, welcher bei den Eisenhütten angestellt war, hatte seine Jugend in den einfachsten Verhältnissen verlebt und war ganz in dem Kreise aufgewachsen, dem seine Eltern angehörten. Wenn er trotzdem mehr lernte als alle seine Altersgenossen, so verdankte er das in erster Linie den vortrefflichen Schulen, die Dernburg für die Kinder seiner Arbeiter errichtet hatte und denen er eine eingehende Fürsorge zuwendete. Der ungewöhnlich begabte Knabe mit seinem eisernen Fleiße hatte schon früher die Aufmerksamkeit des Chefs erregt, und als er diesem nun vollends den einzigen Sohn rettete, war seine Zukunft entschieden. Er theilte den Unterricht Erichs, wurde fast als ein Kind des Hauses betrachtet und endlich zu seiner weiteren Ausbildung nach Berlin gesandt. –
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[41] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [42] Das Herrenhaus lag eine Strecke von den Werken entfernt, auf einer Anhöhe, die das ganze Thal beherrschte. Es war ein mächtiges Gebäude in vornehmem Stil, mit einer breiten Terrasse, langen Fensterreihen und einem großen säulengetragenen Altan über der Eingangspforte. In die weit ausgedehnten Parkanlagen hatte man die Ausläufer des Bergwaldes hineingezogen, die mit ihren prachtvollen uralten Bäumen einen äußerst wirkungsvollen Hintergrund bildeten. Es war ein schöner stolzer Wohnsitz, der wohl den Namen eines Schlosses verdient hätte, aber Dernburg liebte es durchaus nicht, wenn man ihm diese Bezeichnung gab, und so war und blieb er denn das „Herrenhaus“ von Odensberg.
Die Familie pflegte den größten Theil des Jahres hier zuzubringen, obgleich Dernburg noch verschiedene Güter besaß, die weit schöner lagen, und auch in Berlin einen Wohnsitz hatte. Er kam aber nur nach der Hauptstadt, wenn seine Pflicht als Mitglied des Reichstages ihn dorthin rief; auch seinen Gütern stattete er meist nur kurze und flüchtige Besuche ab, Odensberg forderte die Hand und das Auge des Herrn, und es war seine eigenste Schöpfung. Hier auf diesem Boden war er unumschränkter Herrscher, hier konnte Großes gewonnen oder verloren werden, und deshalb war und blieb es sein Lieblingsaufenthalt.
Wie die äußere Stellung, so war das Familienleben Dernburgs ein tadelloses. Er hatte mit seiner Gattin, einer weichen unselbständigen Natur, die sich dem kraftvollen Manne gänzlich unterordnete, eine musterhafte Ehe geführt. Jetzt vertrat seine einzige Schwester, eine verwitwete Frau von Ringstedt, die Dame des Hauses. Sie lebte seit einer Reihe von Jahren bei dem Bruder und ersetzte seinen Kindern die früh verstorbene Mutter. –
Es war gegen Ende des April, aber das Wetter blieb rauh und unfreundlich. Im Süden hatte der Frühling schon vor zwei Monaten die Erde mit seiner Blüthenfülle überschüttet, hier im Norden wagten sich Blätter und Knospen noch kaum aus ihrer Hülle hervor, und über dem ernsten dunklen Tannengrün der Waldberge lag ein grauer wolkenumzogener Himmel.
Im Herrenhause wurden heute Gäste erwartet. Die Vorhänge der Fremdenzimmer im oberen Stocke waren weit zurückgeschlagen, und der kleine Salon, der zu diesen Räumen gehörte, hatte ein festliches Aussehen. Ueberall dufteten und blühten Blumen; zarte farbenreiche Frühlingskinder, die freilich jetzt noch den Treibhäusern entstammten, schmückten in verschwenderischer Fülle den offenbar für eine Dame bestimmten Raum.
Es waren auch zwei Damen, die sich augenblicklich hier befanden. Die eine, jüngere, unterhielt sich damit, einen kleinen weißen Seidenspitz zu necken, den sie unaufhörlich zum Springen und Bellen reizte, während die andere prüfend den Salon musterte, hier einen Sessel zurechtschob, dort einen Vorhang weiter zurückschlug und das Schreibgerät auf dem Schreibtisch nochmals ordnete.
„Müssen Sie denn Ihren Puck fortwährend um sich haben, Maja?“ sagte die Aeltere mißbilligend, „Er richtet nichts als Unfug an und hätte vorhin beinahe die Decke sammt der Blumenvase vom Tische gerissen,“
„Ich habe ihn ja eingesperrt, aber er ist entwischt und mir nachgelaufen,“ rief Maja, „Ruhig, Puck! Du mußt artig sein, Fräulein Friedberg befiehlt es mit blutgieriger Strenge.“
Sie rief es lachend und schlug zugleich mit ihrem Taschentuch nach dem kleinen Thier, das sofort mit lautem Gekläff das Tuch zu packen versuchte. Fräulein Friedberg zuckte nervös zusammen und stieß einen Seufzer aus.
„Und das will nun eine erwachsene junge Dame sein! Ich habe es neulich erst Herrn Dernburg geklagt, daß mit Ihnen nichts anzufangen ist. Sie stecken noch ganz voll Kinderpossen und überbieten den Puck womöglich noch in allerlei Koboldstreichen, Wann werden Sie endlich ernst und vernünftig werden!“
„Hoffentlich noch lange nicht,“ erklärte Maja. „Es ist ja alles so schrecklich ernsthaft und vernünftig in Odensberg, der Papa, die Tante, Sie, Fräulein Leonie, und mit Erich war in der letzten Zeit auch gar nichts anzufangen, der seufzte und sehnte sich fortwährend nach seiner Braut. Und nun soll ich auch noch vernünftig gemacht werden! Aber das lassen wir uns nicht gefallen, nicht wahr, Puck? Wir wenigstens wollen lustig sein!“ Und sie faßte Puck bei den Vorderpfoten und ließ ihn auf den Hinterbeinen Tanzübungen machen, obgleich er sein Mißfallen darüber sehr deutlich kundgab.
Maja Dernburg, die sich so nachdrücklich gegen die Vernunft wehrte, war offenbar eben erst dem Kindesalter entwachsen und konnte höchstens siebzehn Jahre alt sein. Sie war eine jener frischen Gestalten, bei deren Anblick jedem das Herz aufgeht, die jeden anmuthen wie heller Sonnenschein, Das reizende Gesichtchen, das nur eine sehr entfernte Aehnlichkeit mit dem Bruder zeigte, strahlte in der rosigen Farbe der Jugend und Gesundheit, und die schönen braunen Augen hatten nichts Verschleiertes wie die Erichs, sie blickten klar und leuchtend, noch von keinem Schatten getrübt, in die Welt. Das blonde, hie und da goldig schimmernde Haar floß, nur von einem Bande gehalten, voll und lockig über die Schultern herab, während einzelne kleine Löckchen, die sich dem Bande nicht fügen wollten, sich eigenwillig über der Stirn kräuselten. Die Züge waren noch halb kindlich und die feine zierliche Gestalt hatte sich augenscheinlich noch nicht zu ihrer vollen Höhe entwickelt. Aber gerade dies gab dem jungen Mädchen einen unsagbaren Reiz.
Fräulein Leonie Friedberg, die Erzieherin der jungen Tochter des Hauses, die noch immer ihres mitunter nicht leichten Amtes waltete, obgleich die eigentliche Ausbildung Majas vollendet war, stand in der Mitte der Dreißig und war eine wenn auch nicht mehr jugendliche, doch ansprechende Erscheinung, eine schlanke sehr zarte Gestalt mit dunklen Haaren und Augen und einem etwas leidenden Ausdruck in den blassen angenehmen Zügen. Sie beantwortete die übermüthige Bemerkung ihres Zöglings mit einem Achselzucken und warf dann einen prüfenden Blick durch das Zimmer. „So, nun wären wir fertig! Sie sind aber allzu verschwenderisch mit den Blumen gewesen, Maja, der Duft ist fast betäubend.“
„O, eine Braut muß man überschütten mit Blumen! Cäcilie soll es schön finden in ihrer künftigen Heimath, und Blumen sind das Einzige, womit wir sie bei der Ankunft begrüßen können, da Papa nicht will, daß irgend ein größerer Empfang stattfinde.“
„Selbstverständlich, wenn die Verlobung erst von hier aus öffentlich angekündigt werden soll.“
„Aber dann giebt es ein Verlobungsfest und eine große große Hochzeit!“ jubelte Maja. „O ich bin so neugierig, Erichs Braut zu sehen. Schön muß sie sein, wunderschön, Erich schwärmt mir fortwährend davon vor, aber er stellt sich so komisch an als verliebter Bräutigam. Am helllichten Tage träumt er immer nur von seiner Cäcilie! Papa ist schon einigemal ernstlich böse darüber geworden und gestern sagte er zu mir: ‚Nicht wahr, meine kleine Maja, Du wirst Dich verständiger benehmen, wenn Du einmal Braut bist?‘ Natürlich werde ich das, ungeheuer verständig werde ich sein!“ Und um das nachdrücklich zu beweisen, nahm sie Puck auf den Arm und wirbelte mit ihm im Zimmer herum wie ein Kreisel.
„O ja, das ist sehr wahrscheinlich!“ rief Fräulein Leonie entrüstet. „Maja, ich bitte Sie um Gotteswillen, benehmen Sie sich nicht wieder wie eine wilde Hummel, wenn die neuen Verwandten eintreffen. Was sollen Baroneß Wildenrod und ihr Bruder von Ihrer Erziehung denken, wenn sie eine beinahe siebzehnjährige junge Dame so herumtollen sehen!“
Maja hatte inzwischen ihren Rundtanz beendet und ihren Puck freigegeben, jetzt stellte sie sich mit feierlicher Miene vor ihre Erzieherin hin.
„Ich werde mich zur allerhöchsten Zufriedenheit benehmen, ich weiß ganz genau, wie man es macht. Miß Wilson hat es mir beigebracht, die englische Gouvernante mit dem gelben Gesicht und der spitzen Nase und der unendlichen Gelehrsamkeit – sehen Sie doch nicht so böse aus, Fräulein Leonie, ich spreche ja nicht von Ihnen! – Miß Wilson war wirklich sehr langweilig, aber den Hofknix habe ich bei ihr gelernt, sehen Sie, so!“ – sie machte eine feierlich tiefe Verbeugung – „damit werde ich meiner künftigen Schwägerin imponieren, und dann falle ich ihr um den Hals und küsse sie, so und so –“ und damit überfiel sie das ahnungslose Fräulein mit stürmischen Liebkosungen.
„Aber Maja, wollen Sie mich totdrücken?“ rief die Dame ärgerlich, indem sie sich mit einiger Mühe befreite. „Mein Gott, da schlägt es schon zwölf Uhr! Wir müssen hinunter, ich will nur noch einen Blick in die Schlafzimmer werfen, ob dort alles in Ordnung ist.“
Sie verließ den Salon, und Maja flatterte wie ein Schmetterling die Treppe hinunter, während Puck ihr selbstverständlich nachlief.
Das Mittagsschläfchen.
( gemeinfrei ab 2025)
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[45] ( gemeinfrei ab 2025)
[46] Erster Textabschnitt: ( gemeinfrei ab 2025)
Alle Rechte vorbehalten.
Die Wanderzeichen der Zigeuner.
Die echten Zigeuner stammen aus Vorderindien, und so sind sie von der indogermanischen Vetterschaft her auch unsere Verwandten. Freilich sind diese Vettern durch ihre Lebensweise so weit von uns geschieden, daß zwischen ihnen und uns eine fast unüberbrückbare Kluft besteht, eine Kluft, die nur der zu überschreiten vermag, welcher trotz aller entgegenstehenden Schwierigkeiten die Sprache der Zigeuner lernt und sich ihr Vertrauen zu erringen weiß.
Ein solcher Mann ist der in Siebenbürgen lebende Dr. H. von Wlislocki, und seine jetzt erschienene Schrift „Aus dem inneren Leben der Zigeuner“ (Berlin, Emil Felber) bringt Aufschlüsse, die außer ihm zur Zeit niemand würde geben können, der nicht geborener Zigeuner ist. Der Zigeunersprache völlig kundig, ist Wlislocki jahrelang mit Zigeunern in den Donauländern, aus denen auch die in Deutschland lebenden Zigeuner eingewandert sind, umhergezogen und hat mit den einflußreichsten und kundigsten Männern und Frauen des merkwürdigen Volksstammes verkehrt. Von den vielen durch ihn mitgetheilten Einzelheiten über Sitte und Seelenleben der Zigeuner sollen uns hier ihre Wanderzeichen beschäftigen, die Zeichensprache, mit der die schweifenden Gruppen sich untereinander zu verständigen vermögen.
Für einen wandernden, halb wilden, der Schriftsprache wenig kundigen und mit nicht ungerechtfertigtem Mißtrauen verfolgten Volksstamm wie die Zigeuner ist es eine in den Verhältnissen liegende Nothwendigkeit, daß die eine Wandergruppe der anderen, die nach ihr des Weges zieht, in unauffälliger, für Nichtkenner unmerklicher Weise Benachrichtigungen zukommen läßt, Weisungen über die einzuschlagende Richtung, Anzeigen, Mahnungen und Warnungen verschiedener Art.
Denken wir uns einmal, es habe zu Anfang September des Jahres 1890 eine Zigeunerfamilie das Dorf N. berührt. Nicht weit von der Stelle, wo sie das Dorf verlassen hat, beginnt die Heide, und da spaltet sich die aus dem Dorfe führende Straße in drei Fahrwege. Der Leser, der dort seine Spaziergänge zu machen pflegt, kommt einen Tag später desselben Weges gegangen. Ist er ein guter Beobachter, etwa ein Insektensammler oder Botaniker, der gewohnt ist, sich auf seinen Gängen viel umzuschauen so wäre es möglich, daß sein Auge bei einem Baume am Kreuzweg auf einigen Dingen haftet, die er an den vorhergehenden Tagen nicht bemerkt hat. Neben dem Baume nämlich sind vier längliche Steine übereinander geschichtet. Da sie arg beschmutzt sind, wendet der Spaziergänger sich davon ab, ohne sie etwa mit dem Stock auseinander zu werfen. Darum entgeht ihm wohl, daß jeder Stein mit einem Pferdehaar umwickelt ist. Ganz dicht dabei ist ein kleines Aestchen mit drei Zweigen in die Erde gesteckt, und der mittelste Zweig zeigt auf den nach rechts führenden Arm des Kreuzweges. An dem Baume selbst ist ein kleines Stück Leder angenagelt, mit mehreren eingenähten Stichen von rother Wolle und einem quadratförmigen und zwei runden Löchern. Ein kleiner verkohlter Fliederzweig mit Stroh und zwei durcheinander gezogenen rothen Fädchen steckt hinter dem Lederstück, ebenso ein kleiner Birkenzweig mit zwei rothen, nicht verbundenen Fädchen. Angespritzter Kuhdünger schreckt die Neugier oder die Zerstörungslust des Beobachters zurück, und er geht weiter, ohne zu ahnen, daß er eine Reihe von Nachrichten vor sich gehabt hat, welche einer zweiten, vielleicht nach vier Tagen denselben Weg ziehenden Zigeunersippe durch die vorausgezogene Gruppe mitgetheilt werden sollen.
Der Führer der zweiten Zigeunergruppe findet, an allen Kreuzwegen ausspähend, die angegebenen Zeichen und übersetzt sie den übrigen Zigeunern mit folgenden Worten:
„Der bei der ersten Gruppe anwesende Stammesvorsteher thut uns kund: die Frau des Vorstehers ist gestorben, sein Sohn ist verhaftet. Wir alle müssen auf der Hut sein, weil die Behörden uns wegen Diebstahls verfolgen. Wir haben von den drei Wegen den Weg rechts einzuschlagen. In dem Dorfe, welches jenseit der nächsten auf diesem Wege anzutreffenden Stadt und des dann folgenden Dorfes liegt, sollen wir uns spätestens bis zum Dienstag den 16. September einfinden.“
Es hat nämlich mit den erwähnten Zeichen folgende Bewandtniß: jeder Stamm hat sein von allen ihm zugehörigen Familien geführtes Wanderzeichen, und das besteht in unserem Falle in einem Pferdehaar. Die geschichteten, mit einem Pferdehaar umwundenen Steine bedeuten, daß die hier abzulesenden Nachrichten für diesen Stamm und nur für ihn bestimmt sind. Wäre dies Zeichen nicht gegeben worden, so würde die zweite Gruppe die Benachrichtigung nicht auf sich beziehen, sondern voraussetzen, daß die Angehörigen eines anderen Stammes hier eine Benachrichtigung finden sollen.
Die Richtung des mittleren Zweiges zeigt natürlich den zu wählenden Weg an; drei in eine Linie gelegte, an die aufgeschichteten Steine stoßende kleinere Steine würden dieselbe Bedeutung haben.
Ein angekohlter Fliederzweig mit Stroh bedeutet einen Todesfall. Das Zeichen des Vorstehers ist die rothe Farbe, und zwei verbundene rothe Fäden bezeichnen seine Frau. Der Birkenzweig kündigt eine Verhaftung an, und zwei getrennte rothe Fäden verrathen, daß es der Sohn des Vorstehers ist, der verhaftet wurde; drei Fäden würden auf den Enkel deuten
Die Verwendung von Fell oder Leder schließt immer den Befehl ein, sich zu einer wichtigen Zusammenkunft einzufinden. Die Nähstiche geben einen Zeitpunkt an. Die Zeitrechnung geht von den drei hohen Festen und dem Michaelistage aus, in der Weise, daß Nähstiche, der Länge nach in das Leder gezogen, die seit dem letzten Hauptfeste laufenden Sonntage, die quer gezogenen Nähstiche aber die Wochentage bezeichnen. Nun sind auf dem Lederstück sechzehn Längsstiche und zwei Querstriche zu finden; es ist also der zweite Wochentag nach dem sechzehnten Sonntag nach Pfingsten als Termin gesetzt, d. h. Dienstag der 16. September.
Von den Löchern im Leder deuten die viereckigen auf Städte, die runden auf Dörfer. Jenseit der nächsten Stadt wird sich noch einmal ein solches Lederstück an einem durch seine Stellung auffallenden Baume finden, und in diesem Stücke wird das viereckige Loch fehlen. Der wandernde Zigeuner sieht darin die Bestätigung der ersten Nachricht und er weiß, daß das zweite der beiden Dörfer, die er jenseit der Stadt antreffen wird, sein Ziel ist. Der Kuhdünger meldet, daß Verfolgung wegen Diebstahls stattfindet. Alle Arten von Schmutz dienen zugleich dazu, die Zerstörung der Wanderzeichen zu verhindern.
Hatte dieser Zigeunerstamm ein Pferdehaar als Wanderzeichen, so haben andere Stämme eine Anzahl Schweinsborsten, Kürbiskerne, Stechapfelsamen, Längs- oder Querschnitte in Holz, geschälte oder gespaltene Zweige oder Hölzer, Risse in Tuch- oder Lederlappen, mit Kohle ausgeführte Zeichnungen. Familienhäupter haben außer dem Stammeszeichen noch ein persönliches Zeichen, wie der erwähnte Vorsteher die rothe Farbe. Jüngere Männer bekommen vom Stammeshaupt erst dann ein Abzeichen verliehen, wenn sie sich einer solchen Ehre würdig gemacht haben. Das Verleihen des besonderen Abzeichens verpflichtet den also Geehrten, den Vorsteher und die Verwandten mit Wein oder Branntwein zu bewirthen.
Bedeutete ein angebrannter Fliederzweig einen Todesfall, so deutet ein frischer auf Krankheit. Mehrfach zerknickte Fliederzweige mit Stroh kündigen einen Armbruch, ohne Stroh einen Beinbruch an. Ein Tannenzweig meldet Verlobung, ein Weidenzweig mit rothem oder weißem Faden die Geburt eines Knaben oder Mädchens, ein Eichenzweig die Rückkehr eines entsandten Zigeuners zu seiner Truppe. Ein Büschel Hundshaare am Wanderzeichen mahnt die nachfolgende Gruppe, die Richtung des Wanderzuges sofort abzuändern. Kleine Glasscherben besagen, daß ein Hausthier der Gruppe tot sei, große, daß ein Hausthier sich verirrt habe oder daß es gestohlen worden sei; reine Scherben weisen auf ein Pferd, beschmutzte auf ein Schwein hin.
Von den Zeichnungen, welche die Zigeuner mit Kohle an Gebäuden anbringen, sagt ein Kreuz, daß hier nichts zu haben sei, ein Doppelkreuz, daß man hier unmenschlich behandelt werde, ein Kreuz in einem Kreise, daß man an den Einwohnern dieses Hauses Rache nehmen möge, ein Kreis allein, daß man Geschenke erhalten habe, ein Dreieck, daß durch Kartenschlagen Geld zu verdienen sei, zwei schlangenförmige Linen, daß die Hausfrau sich Kinder wünsche, ein Dreieck mit einer Schlangenlinie, daß der Hausherr gestorben sei. Weil auf diesem Wege eine Zigeunergruppe die nachfolgende über die Hausbewohner unterrichtet, können die Kartenschlägerinnen und Wahrsagerinnen der zweiten Gruppe in dem betreffenden Hause oft Angaben machen, welche die Bewohner in Erstaunen setzen, da diese von dem Benachrichtigungssystem keine Ahnung haben.
Auf der Wanderung kündigen zwei Pfiffe und zwei Eulenrufe eines voranziehenden Zigeuners eine zum Rasten geeignete Stelle an. Pfiffe und Kuckucksrufe abwechselnd warnen vor Gefahr. Rasches Schwenken beider Arme dient ebenfalls als Warnungszeichen. Das Emporstrecken des linken Armes heißt: „Die Bahn ist frei“. während der rechte Arm emporgestreckt zur Vorsicht räth.
In Gegenwart einer fremden Person, z. B. vor Gericht, oder wenn sie einer Wahrsagerin einen vorher von ihnen etwas ausgefragten Kunden zuführen, verständigen sich die Zigeuner untereinander z. B. so, daß der eine den rechten kleinen Finger bewegt; dann weiß der andere, daß die fremde Person nach einem gestohlenen Gegenstand sucht.
Ein Verrathen dieser Zeichen durch Zigeuner an Nichtzigeuner ist außerordentlich selten. Selbst ausgestoßene Zigeuner hüten sich, diese Geheimnisse preiszugeben oder Wanderzeichen zu zerstören, weil sie der Ueberzeugung sind, daß der Verräther oder Zerstörer von bösen Dämonen und vom Unglück verfolgt werde.
Auf Geben und Nehmen.
(2. Fortsetzung.)
Während sich der Lieutenant mit Behagen dem Zauber
hingab, welchen Hilde bei dem einfachen Mahl als kleines
Hausmütterchen entfaltete, sollte auch dem einsamen Frettwurst sein
Theil vom Glück dieses Tages zufallen. Hilde hatte ihre
Verpflichtung nicht vergessen und schickte Trina, die ebenso robuste
als treue Magd des Schulhauses, mit einem sehr ausgiebigen
Abendbrot zu dem Hüter der „Bachstelze“ hinaus.
Frettwurst lachte über das ganze Gesicht, als Trina sich ihm vorgestellt und Rothe Grütze, Käse, Butter und Brot vor ihm ausgebreitet hatte. Eine Weile sah sie ihm dann vom Stege aus zu, während er trotz seines inneren Kummers mit unvermindertem Appetit einen planmäßigen Angriff auf die Leckerbissen unternahm.
„So so, bie’n Scholmeister is min Leutenant?“ meinte er, behaglich kauend.
„Ja, und wat uns’ Fräulen is, de Hilde, de hett mi herschickt. Se kunn mi gor nich genog för Di uphalsen, jüst, as wenn se Din langen Liew all mal sehn hat.“
Dabei lachte Trina nicht ohne Wohlgefallen den Hünen vor ihr an, obschon sie als reife Vierzigerin es längst aufgegeben hatte, sich zu verheirathen. Ihr Ehrgeiz bestand einzig darin, der Familie Jaspersen bis an ihr Ende die Stütze zu bleiben, die sie ihr bereits seit fünfzehn Jahren gewesen war, und über das Wohl jedes einzelnen Familiengliedes mit eifersüchtigen Augen zu wachen.
Frettwurst hatte bei den Worten der Magd hoch aufgehorcht; ihm begann plötzlich ein Licht über die Nadelgeschichte zu dämmern. „Is Din Fräulen wull so ’ne lütte Deern’, so ’n Katteker[1], dat awerst ok höllisch forsch sin kann?“ fragte er eindringlich.
Trina erklärte diese Beschreibung für zutreffend. „Denn hest Du se doch wull all sehn?“ meinte sie mißtrauisch. „Büst Du mit Din Leutenant all öfters hier west?“
Frettwurst schüttelte unwillig das Haupt. „Dat geiht Di gor nix an, min Söte! Ob min Leutenant se all kennt hett, weet ick nich; ick heff ehr blot een Mal so nah den Barg dor herupkajohlen sehn un dach mi glik, dat se hier rüm wahnen müßt’. Awerst se mutt en goodes Hart hebben, dat se mi den gansen Kram hier schickt.“
„Hest Du dor en Tmiefel an hatt? Wenn Din Leutenant awerst blot so ’n windigen Kirl is, de de Mätens dummes Tüg vörflunkert, as de Mannslüd dat so an sick hebben, denn hebbt Yi beter wegbliewen künnt!“
„Snack doch nich as de Buer vun’t Schipp! Wenn min Leutenant in Yi Hus kümmt, denn is dat ’ne grote Ehr’ för Yu. Wat he seggt, dor kann sick jede Deern’ up to verlaten! Un riek is he ook, wat man vun ’n Scholmeister wull nich seggen kann.“
„Nanu! Wi hebbt ook noch to bieten!“ rief Trina ärgerlich, indem sie ihre rothen Arme in die Seite stemmte. „Wat Yi Mariners sick man inbilt! Is dat de Dank för dat schöne Eten von uns’ Fräulen?“
Frettwurst sah ein, daß er im Begriff gewesen war, über der Vertheidigung seines Herrn die schuldige Dankbarkeit außer acht zu lassen. „Na, schimp man ni furt![2]“ lenkte er gutmüthig ein. „Dat hett mi verdammt fein smeckt; ick lat mi ok veelmals bedanken.“
Trina war besänftigt. Da der Matrose jetzt mit dem letzten Bissen fertig war, packte sie das Geschirr wieder in ihren Korb, und die beiden ehrlichen Seelen verabschiedeten sich voneinander in gegenseitiger Zufriedenheit. – –
„Fru Jaspersen,“ sagte Trina daheim, als Herbert gegangen war, „de Leutenant vun de Mariners is en rieken jungen Mann, aß[3] sien Burß mi vertellt het, und smuck is he ok. Meenen Se wull, dat he um uns’ lütt’ Hilde to friegen[4] kamen is?“
Mutter Jaspersen wurde böse. „Ich bitte mir aus, Trina,“ rief sie, „daß Du Hilde nichts von solchem dummen Zeug hören läßt! Dem Herrn ist es bei uns behaglich, das ist alles. Im übrigen pflegen sich die Officiere nicht gerade Lehrerstöchter zu ihren Frauen zu wählen!“
Aber trotz dieser entschiedenen Abwehr ward Frau Jaspersen in der Tiefe ihres mütterlichen Herzens Trinas Frage nicht so ohne weiteres los. Waren ähnliche Verbindungen nicht schon öfters dagewesen? Und war Hilde nicht mit allen Vorzügen des Körpers und Geistes ausgestattet? Noch ein wenig Schliff, und das Mädchen stand der vornehmsten Dame nicht nach! Wie dem aber auch sein mochte, vorläufig galt es, still zu beobachten und die Ruhe des Töchterchens vor Störungen zu hüten.
So oft Herbert nun erschien, und das geschah im Laufe der nächsten Wochen ziemlich häufig, bezeigte sie ihm eine sich stets gleichbleibende Liebenswürdigkeit. Das Nämliche geschah von seiten ihres Mannes, nur bewahrte dieser vollständig die ursprüngliche Harmlosigkeit seines Wesens. Die Möglichkeit einer Heirath zwischen den beiden jungen Leuten kam ihm gar nicht in den Sinn, und eine bloße Liebelei hielt er bei Herberts Ehrenhaftigkeit und Hildes Charakter für ausgeschlossen; der Verkehr zwischen beiden zeigte auch immer mehr das Bild einer fröhlichen Kameradschaft, bei der man gut Freund ist, ohne die Wege der Leidenschaft zu suchen.
Nur Trina mit ihrer Menschenkenntniß machte andere Beobachtungen. Aber da ihr Frau Jaspersen Schweigen geboten hatte, so begnügte sie sich damit, bedenklich den Kopf zu schütteln und sich vorzunehmen, wie ein Engel über jeden Schritt von Hilde wachen zu wollen.
Da Herbert nicht, wie es ihn trieb, jede freie Stunde im Schulhaus zubringen konnte, sondern schicklicher Weise immer wieder einige Tage zwischen seinem Kommen verstreichen lassen mußte, so benutzte er diese nothgedrungenen Pausen, um der Bank auf der Strandhöhe lange Besuche abzustatten. Dann saß er voll sehnsüchtiger Hoffnung unter der Buche, oder er wanderte über das Feld, bis er die Fenster des Schulhauses zu sehen vermochte.
Und Hilde war es nicht anders zu Muthe als Herbert. Mehr als einmal schon war sie leichtfüßig zu ihrem Lieblingsplatz hinaufgeeilt. Dort pflegte sie träumerisch nach der Binnenföhrde zu blicken, wo die „Preußen“ vor Anker lag. In ängstlicher Spannung folgte sie jedem vorübergleitenden Segel, lauschte sie, ob nicht der „Liebe Augustin“ vom Strand heraufklänge, um sich, wenn nichts zu vernehmen war, mit geschlossenen Augen in die Bank zurückzulehnen und erinnerungsreichen, süßen, süßen Phantasien nachzuhängen.
Auch heute saß sie dort oben und schaute hinunter auf die Bucht. Plötzlich pochte ihr Herz gewaltig und eine jähe Röthe überströmte ihr Gesicht – sie hatte in einem heransegelnden Fahrzeug die „Bachstelze“ erkannt. Vorschreitend spähte sie dem Kutter entgegen, und bald erkannte sie in dem scheinbar theilnahmlos am Ruder sitzenden Manne den Bewunderten – den Geliebten!
Nun huschte sie zur Bank zurück und schlug ihr Buch auf. Doch sie las nicht eine Zeile. Kein Knarren der Takelung, kein Befehlsruf, kein Schritt auf den Brückenbrettern und dann auf dem nahen Pfad entging ihrem Ohr. Jetzt krachte ein trockenes Reis und hinter den Haselbüschen hervor drang ein bekannt klingendes Räuspern zu ihr her.
Mit zitternden Fingern strich sie das krause Haar aus der heißen Stirn und nahm das Buch dicht vors Gesicht.
„Hilde!“ – Das war ein Ruf der freudigsten Ueberraschung, er zuckte Hilde wie Feuer durch die Nerven, so daß sie nicht imstande war, ihre Maske festzuhalten. Sie sprang auf und voll Verwirrung ging sie dem Ankömmling einige Schritte entgegen.
Herbert eilte auf sie zu. „Sie hier, Hilde? Welche Freude!“ rief er fast jauchzend. Und alle Schranken vergessend, ergriff er ihre Hand und drückte sie stürmisch an die Lippen.
„Wollten Sie zu uns?“ stammelte das junge Mädchen mit unsicherer Stimme.
„Nein, nur hierher! Hier auf diesem gesegneten Platze wollte ich dessen doppelt gedenken, was ich all mein Lebtag nicht vergessen werde!“
Das Mädchen zitterte und griff hinter sich nach der Banklehne, es schien, als ob eine Ohnmacht sie anwandle. Aber schon hatte Herbert sie umfaßt und gestützt. Mit einem dankbaren Blicke sah sie ihm in die leuchtenden Augen, dann senkte sie die Lider so rasch, als wenn sie sich vor einer gefährlichen Flamme hüten müßte.
Da konnte Herbert nicht länger widerstehen - er preßte seine Lippen wieder und wieder, immer länger, immer glühender
[48] auf die ihrigen. Und Hilde – schlang ihre Arme um seinen Hals und überließ sich willenlos dem süßen Taumel, in den er sie hineingerissen hatte.
„Mein, mein, Du heißgeliebtes Mädchen!“
„Geliebter!“
Er leitete sie zur Bank, auf der sie sich niederließ, die Arme noch immer um seinen Hals, den Kopf an seine Brust gelegt. –
Sanft hob er ihr das Kinn in die Höhe. „Schau mich an, Hilde!“ bat er mit seiner tiefen weichen Stimme. „Einen Blick nur, einen einzigen, gönne mir zum Zeichen, daß Du mein sein willst, wie ich Dein bin!“
Langsam lösten sich die dunklen Wimpern von den brennenden Wangen. Ihre feuchtschimmernden Augen sahen ihn an mit einem Blicke noch voll tiefster Beschämung, aber zugleich voll verzehrender Leidenschaft. Und alles um sich vergessend, weder an Vergangenes noch Zukünftiges denkend, suchte sie mit ihren Lippen seinen Mund. „Hast Du mich denn gleich damals lieb gehabt, Herbert?“ flüsterte sie selig.
„Vom ersten Augenblick an, wo ich Dir ins Gesicht sah. Aber Du – Du hast mich wohl anfangs gründlich verabscheut?“
„O nein, Geliebter! Zuerst meinte ich freilich, daß ich Dich hasse und mich vor Dir fürchte. Aber jetzt weiß ich, daß mein Bangen etwas ganz anderes bedeutete, daß es Liebe war, was ich empfand, wenn Deine Gestalt vor mich trat. Ach, ist das sonderbar mit der Liebe! Wie ein Blitz hat sie eingeschlagen, und ich fasse es noch nicht, ob all dies Traum oder Wirklichkeit ist!“
Ein Kuß war die ganze Antwort, die sie erhielt; er sollte sie wohl vergewissern, daß sie nicht träume. Eine Pause entstand, dann fragte Hilde zagend: „Wann mußt Du fort nach Radegast?“
„Ungefähr in drei Wochen, mein Schatz.“
„Schon!“ Sie seufzte tief. „Aber nach einem Monat bist Du dann wieder hier?“
„Unbedingt!“
„Aber wenn Du nachher noch einmal auf die Reise müßtest, auf so eine lange, schreckliche?“
„Daran wollen wir nicht denken, Hilde,. Wahrscheinlich bleibe ich ja den ganzen Winter hier.“
Sie jubelte auf. Doch schon im nächsten Augenblick fragte sie bedenklich: „Kannst Du denn aber im Winter auch mit der ‚Bachstelze‘ herüberkommen?“
„Nein, Schatz, die ‚Bachstelze‘ hält dann ihren Winterschlaf. Allein wozu sind denn die Dampfer da!“
„Und werden Deine Besuche nicht seltner sein als jetzt?“
„So oft es dienstlich möglich sein wird, komme ich – vorausgesetzt, daß Deine Eltern uns keinen Strich durch die Rechnung machen.“
Die Eltern! Die düstere Frage: „Was nun ?“ stieg in Hilde auf. Sorgenvollen Auges schaute sie auf den Hafen hinaus, durch den eben, wie ein kleiner schwarzer Teufel, ein Torpedoboot mit schier unglaublicher Geschwindigkeit der offenen See entgegen sauste, einen Schaumberg vor sich hertragend. Das
gab ihren Gedanken eine neue Richtung.
„Weißt Du, Herbert, ich möchte schrecklich gern einmal in die See hinaus. Ich habe voriges Jahr den Horizont durch ein großes Fernrohr gesehen – das war ein Tanzen der Wellen da draußen, daß ich mir seitdem nichts Schöneres denken kann, als im schnellen Boote über sie hinzufliegen!“
„Das Vergnügen kann ich Dir verschaffen! Wollen wir einmal auf der ‚Bachstelze‘ einen Ausflug unternehmen?“
„Und die Eltern? Sie werden nicht wollen!“
„Dann mit Dir allein, mein Mädchen!“
„Herbert, wie kannst Du so etwas denken!“ rief Hilde vorwurfsvoll. Allein trotz dieser ernsthaften Abweisung setzte sie doch hinzu: „Kann sich die kleine ‚Bachstelze‘ wirklich allein auf das hohe Meer hinauswagen?“
Herbert lachte. „Dazu ist sie ja gebaut. Du solltest nur sehen, wie flink sie über die Wellen wegklettert. Das geht sanfter wie auf den Dampfern mit ihren schlagenden Maschinen. Und dann haben wir ja auch Frettwurst bei uns, der eine ausgezeichnete Hilfskraft und außerdem ein so scharfer Tugendwächter ist, daß ich Dir auf der ganzen Fahrt kaum einmal verstohlen die Hand küssen dürfte.“
Hilde blickte ihn zweifelnd an. „Du,“ sagte sie dann, „hat er Dir garnichts verrathen?“
„Verrathen? Nein! Etwas von Dir?“
„Ja, von mir. Ich hab’ deshalb schon so viel Gewissensbisse gehabt, aber nichts sagen wollen, weil ich mich vor Dir scheute. Sieh’ mal – weißt Du, wem Du die Rückgabe dieses Besitzes zu danken hast?“ Sie tippte an die kleine Nadel.
„Dir etwa?“
„Ja, mir! Ich hab’ sie gefunden, heimlich an Frettwurst gebracht und mir sein Ehrenwort geben lassen, daß er mich nicht verrathen werde.“
Herbert lachte fröhlich auf. „Ei der tausend, das ist mir allerdings ganz neu, daß Ihr schon so alte Bekanntschaft miteinander [49] habt! Und schau ’mal einer den Frettwurst an! Erzählt mir der abgefeimte Schwindler, er habe die Nadel im Boot gefunden. Wer hätte das von ihm gedacht!“
„Du wirst ihn doch nicht schelten, Herbert?“
„I wo! Im Gegentheil! Nun sag’ aber, wo hast denn Du die Nadel gefunden?“
Hilde sah halb schelmisch, halb verschämt zu ihm empor. „Rathe einmal!“
„An Dir selbst etwa?“
Sie nickte, „Am Kleid. Ich fand sie abends und war schrecklich böse auf Dich.“
„Weshalb? Du wirst doch nicht gar geglaubt haben, es sei Absicht von mir gewesen?“
WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
„Na, weißt Du! Ich konnte doch einen Zufall kaum annehmen. Bei näherem Besinnen aber dachte ich besser von Dir, weil Du trotz Deines schlimmen Ueberfalls so gute Augen hattest. Und dann machte ich mich an den Matrosen, Hinter dem ich Deinen Burschen vermuthete, und wie der Dich so lobte, da verschwand auch der letzte Verdacht und Zorn. Sein Verdienst ist’s, wenn ich Mama auch nachher nichts gesagt habe.“
„Der gute Frettwurst! – Willst Du mir einen großen, großen Gefallen thun, Hilde?“
„Von Herzen gern!“
„Dann behalte die Nadel als Andenken! Siehst Du, durch diesen Anker hat das Schicksal mein Herz, das ein sehr unruhiges Fahrzeug war, an das Deine als an sicheren Grund festlegen wollen. Da mußt Du diesen kleinen Handlanger des Schicksals doch als Dein Eigenthum ansehen!“
Sie zögerte. Das Schmuckstück erschien ihr wie eine große Kostbarkeit, und das machte ihr die Annahme unbehaglich. Und doch hätte sie sich kein lieberes Andenken von ihm gewünscht als dies.
Herbert legte die Nadel in ihre Hand. Hilde betrachtete sie eine Weile mit leuchtenden Augen, drückte sie dann plötzlich an die Lippen und rief leidenschaftlich aus: „Kleiner Anker, halte ihn fest – fest auf immer!“
„Auf immer!“ wiederholte Herbert.
In die Seligkeit dieses Augenblicks fuhr vom Walde her ein Husten mißtönig hinein. Im Nu saß Herbert in der einen und Hilde in der anderen Ecke der Bank.
Als der Lieutenant den Kopf zu wenden wagte, sah er eine derbe Frauengestalt sich unter häufigem Bücken nach Kräutern oder Blumen auf die Buche zu bewegen.
„Da kommt jemand, Hilde!“
Voll Bangen lugte diese ein wenig über die Schulter zurück. Heiliger Himmel, Trina! Wie in aller Welt kam die gerade jetzt hierher! Wenn sie nun etwas gesehen hatte! Hilde hätte bei diesem Gedanken vor Scham in die Erde sinken mögen.
Indessen plänkelte sich Trina, scheinbar ganz in ihre liebliche Beschäftigung vertieft, bis dicht in die Nähe der Bank, und erst jetzt nahm sie, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, eine angenehm überraschte Haltung an. „Süh, süh!“ rief sie gutmüthig, „lütt’ Hilde, büst Du hier? Un ok de Herr Leutenant? Dat dröppt sick ja wunnerschön! Ick wull mi man ’n beten Mösch plöcken.“[5]
„Mösch?“ entgegnete Hilde entrüstet, „um diese Zeit giebt’s doch keinen Waldmeister mehr!“
„Na, denn wull ick wull anner lüttje Blöm söken. Rük mal an!“ Dabei hielt sie Hilde ein paar wahllos ausgeraufte Waldblumen dicht unter die Nase, und sich nun an den Marineoffizier wendend, fuhr sie fort: „Wullen Sie auch mal an rüken, Herr Leutenant?“
Herbert schnitt ein deutlich ablehnendes Gesicht.
„Nich? Sie mögen doch kleine Blöm gern leiden, wie mich scheint. Wenn man ihr in sein Haus tragen und uphegen will, is das auch gans schön, sonßen aber is es schad um ihr. Da soll man ihr in ihren Wald nich stören und ihr tot machen. – Hilde ihren Papa und Mama sünd zu Haus, wenn Herr Leutenant ihr heut’ besuchen wollten!“
Hilde bekam einen richtigen kleinen Vorgeschmack der Hölle. Verzweifelt wand sie ihr Taschentuch um den Daumen. Herbert drehte an seinem Schnurrbart, vergeblich bemüht, den vierschrötigen Schutzengel durch ein erzwungenes Lächeln über seine Gefühle zu täuschen. In möglichst ruhigem Tone erwiderte er: „Ich danke Ihnen für Ihre gütige Aufforderung, verehrte Trina, aber leider kann ich den Besuch nicht mehr ausführen. Uebrigens habe ich Fräulein Jaspersen hier ganz zufällig getroffen, also werden Sie hoffentlich keine Geschichten machen, die Ihrem Fräulein unangenehm sein könnten!“
„Ich mach’ kein’ Geschichen, Herr Leutenant! Wenn anner Lüd das blots nich thun!“
„Trina!“ flehte das Mädchen, einen thränenfeuchten beschwörenden Blick auf die Herzlose werfend, die sich gemüthlich neben ihr an die Bank lehnte.
[50] Trina strich ihr sanft über das Haar. „Laß’ man, Kind!“ tröstete sie und dann fuhr sie zu Herbert gewendet fort: „Ihren Burß sagt, daß Sie einen guten Herrn sünd. Ich will für uns’ lütt Hilde hoffen, daß dar was an is. Dann wissen Sie woll auch, was Sie zu thun haben. Bis dahin will ich gern ein huschen töben[6] un Frau Jaspersen nix von Ihre Extravisiten erzählen, wenn Sie das angenehmer is.“
Der Offizier sah ein, daß irgend eine Verstellung hier keinen Zweck mehr habe. Die unheimliche Trina war zweifellos Zeugin des Stelldicheins gewesen. Wollte er nicht alles aufs Spiel setzen, so mußte er seinen Stolz in Demuth vor der alten Magd beugen und sie zu beruhigen suchen.
Er sprang auf, faßte sie vertraulich unter den Arm und zog die Widerstrebende ein Stück mit sich fort.
„Seien Sie gut, Trina!“ sagte er leise. „Ich heirathe ja Hilde, aber kein Mensch darf es noch wissen – sie selbst sogar nicht! Sonst kann alles schief gehen.“
Trina schaute ihn unsicher an. Allein Herbert, der in diesem Augenblick, wo ihm außer Hilde die ganze Welt nichts galt, selber an die Wahrheit seiner Worte glaubte, machte eine so ernste überzeugende Miene, daß die Schwankende wirklich Vertrauen gewann.
„Schön, Herr Leutenant! Is dat so, heff ick vörlöpig nix sehn, denn nehmen Se mi man nix för ungot!“ entgegnete sie mit gedämpfter Stimme.
„Es ist so! Und jetzt gehen Sie, bitte, und machen Sie Hilde nachher keine Angst. Sie wird bald nachkommen, also gehen Sie nur ruhig zu!“ Dabei drückte er ihr fest die grobe Hand, und Trina rief laut:
„Na, ick heff nu Blöm nog funn, ick will man lever nah Hus gahn. Adjüs, Herr Leutenant! Adjüs Hilde! Kumm man bald nah, wie hebbt Bookwetenpankoken[7] mit Sürup vörn Abend!“
Hilde war ebenso erleichtert wie erstaunt über den unerwarteten Abgang des Störenfrieds. „Mein Gott, Herbert, was hast Du ihr denn gesagt, daß sie sich plötzlich so freundlich zurückzieht?“
„Das bleibt Geheimniß zwischen Trina und mir, mein Schatz!“
„Aber Herbert!“ Ein leises Schmollen lag in diesem „Aber“.
„Es soll das erste und letzte Geheimniß zwischen uns sein, Hilde, und auch dieses wirst Du später erfahren.“
„Nun, da muß ich mich wohl beruhigen, obgleich ich es schrecklich gern sofort wissen möchte. Mir thut’s bloß leid, daß sich Trina so dreist gegen Dich benommen hat. Es war aber alles nur Sorge um mich, Geliebter. Und daß Du sie beruhigt hast, beruhigt auch mich. O Herbert, wenn ich an das Schöne denke, das die Zukunft bringen kann –“ Von innerem Glück überwältigt, warf sie sich an seine Brust und überließ sich abermals selbstvergessen seiner Zärtlichkeit. Dann riß sie sich hastig aus seinen Armen.
„Jetzt muß ich unbedingt nach Hause, Herbert! Ach, wenn ich doch immer, immer bei Dir bleiben dürfte! Ich mag gar nicht an zu Hause denken. Wenn Trina nun nicht schweigen oder Mama mir etwas anmerken würde!“
„Trina schweigt unbedingt, und Du mußt Dich ein klein wenig zusammennehmen, hörst Du! Bis an die Dorfstraße will ich Dich noch bringen –“
„Nein, nein! Es könnte uns jemand zusammen sehen. Bitte, steig’ hier gleich durch die Büsche nach dem Strand hinunter!“
„Wie ängstlich Du bist!“
„Du hast vorhin erfahren, wie vorsichtig wir sein müssen.“
„Das weiß der Himmel!“
„Wann sehen wir uns wieder, Herbert?“
„Morgen und übermorgen habe ich Wache. Also leider, leider erst in drei Tagen!“
„So spät erst? Dann mußt Du mir schreiben! Doch nein, nein – thu’s lieber nicht!“
Noch ein letztes Mal fielen sich die Liebenden um den Hals, dann flog Hilde wie der Wind davon. –
Während der Offizier zu der Landungsstelle hinabstieg, suchte er seine stürmischen Gedanken zu ordnen. Das war der glücklichste Tag seines Lebens gewesen, und doch – auch dieser hatte nicht ungetrübt sein sollen. Diese ungeschickte Küchenfee, wie sie ihn zu dem Versprechen fast gezwungen hatte! Aber wenn er es auch nicht versprochen hätte, sich dem holden Geschöpf für immer zu verbinden – war er nicht ohnehin dazu verpflichtet? Wollte er’s denn selbst anders? Bei Gott, er wollte es von ganzer Seele! Aber, aber – die Verhältnisse! Zum Henker, warum mußte er gerade einem Stand voll schroffen Kastengeistes angehören und sie eines Schulmeisters Tochter sein!
Mit solchen Erwägungen beschäftigt, war er an den Strand gelangt, wo Frettwurst ihn erwartete. Herbert reichte seinem Getreuen die Hand. „Sie sind ein zuverlässiger Kerl, Frettwurst! Ich kenne jetzt die Nadelgeschichte, verzeihe Ihnen die kleine Lüge und billige nachträglich Ihr Verhalten. Auch das Fräulein läßt Sie grüßen und sich bei Ihnen bedanken. Im übrigen bleibt, was geschehen ist und noch geschehen sollte, unter uns. Verstanden?“
Frettwurst athmete tief auf, als sei ihm eine Centnerlast von der Brust genommen, und antwortete dann mit einem so feierlichen „Zu Befehl, Herr Leutenant!“ daß es wie ein Schwur klang. Wie stolz und selig fühlte er sich. Auf der Heimfahrt schaute er seinen Herrn verstohlenerweise förmlich verliebt an, als ob nicht dieser, sondern seine Lena da hinten am Steuer säße.
Hilde war keine Schauspielerin. Ihre Aufregung zu verbergen, fiel ihr während der nächsten Tage unendlich schwer. Ein Glück nur, daß Trina so that, als ob sie niemals auf einer unschuldigen Blumensuche sonderbare Entdeckungen gemacht habe, und sich gegen Hilde genau so benahm wie zuvor. Die schwierigste Aufgabe aber wurde an diese gestellt, als nach zwei Tagen der Geliebte wieder im Schulhaus erschien. Ihm begegnen zu müssen, als sei er bloß ein guter Bekannter, ihn mit „Herr Lieutenant“ und dem langweiligen „Sie“ anzureden, ohne nur ein einziges Mal aus der Rolle zu fallen – das war eine Aufgabe, die fast das Unmögliche forderte. Nur in ein paar unbeobachteten Sekunden konnten sich die Augen beider Wonne und Leid der Seele anvertrauen.
„Du blühst ja heute wie rother spanischer Pfeffer, mein Kind“, sagte der Schulmeister harmlos, indem er seiner Tochter auf die Wange klopfte.
„Es ist aber auch drückend heiß“, kam Frau Jaspersen der verlegen lächelnden Hilde zu Hilfe.
„Ja wahrhaftig, so gut hat’s die Sonne in diesem Jahre noch nie gemeint!“ bestätigte Herbert in dem Bewußtsein, daß auch er sehr wohl durch Anzeichen erhöhter Temperatur auffallen könnte, und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu.
„Na, ich dächte doch, wir hätten es schon schlimmer gehabt,“ bemerkte der Lehrer, „ich habe es heute mittag längere Zeit sogar in praller Sonne bei dem Bienenstand ausgehalten. Es ist nämlich ein Schwarm ausgeflogen, den ich von dem Birnbaum dort herunterholen und einem neuen Asyl überweisen mußte. Wollen wir die Gesellschaft betrachten, Herr Lieutenaut?“
Dieser erklärte sich gerne bereit, Hilde schloß sich an, und so fand sich die erste Gelegenheit, in aller Eile, während der Vater, an nichts Böses denkend, zum Stock hineinvisierte, den ersten Wiedersehenskuß auszutauschen.
Eine zweite Gelegenheit bot sich abends vor der Trennung. Herbert pilgerte mit der ganzen Familie Jaspersen, der er endlich seine „Bachstelze“ zeigen wollte, durch den Wald dem Strande zu. Der Schulmeister erzählte dabei, daß er am nächsten Tage die Freiheit des letzten Ferientags benutzen wolle, um mit seiner Frau in einem Dorfe mehrere Meilen landeinwärts einen befreundeten Amtsgenossen zu besuchen, und Hilde setzte lachend hinzu, sie für ihren Theil habe sich die Erlaubniß erbeten, daheimbleiben zu dürfen; sie trage ganz und gar kein Verlangen danach, die über die Maßen langweiligen Unterhaltungskünste dieser Bekannten einen ganzen Tag lang bis spät abends zu genießen.
Mittlerweile war man an einer Biegung des Weges angelangt, und Herbert, der an Hildes Seite ging, blieb mit dieser ein wenig hinter den voranschreitenden Eltern zurück. Flugs hatte auch der kleine geflügelte Herr mit den gefährlichen Pfeilen dem Pärchen einen ehrwürdigen hundertjährigen Buchenstamm gewiesen, hinter dem Herbert die Geliebte ans Herz schließen konnte.
„Das trifft sich morgen ausgezeichnet, Hilde!“ flüsterte er hastig. „Ich hole Dich mit der ‚Bachstelze‘ ab – gegen drei Uhr – wir treffen uns auf der Strandhöhe! Du darfst mir keinen Korb geben, Schatz! Wer weiß, wann wir wieder einen halben Tag für uns erobern können!“
„Aber Herbert, wenn uns jemand sieht!“
[51] „Niemand sieht uns, verlaß Dich drauf! Und wir sind rechtzeitig wieder zurück. Ich nehme Dir’s schrecklich übel, wenn Du nicht mitfährst!“
„Herbert!“ Mit diesem halb ängstlichen, halb schmerzlichen Ausruf nahm die Unterhaltung ein Ende, denn in der Ferne rief Frau Jaspersen den Namen ihrer Tochter.
Frettwurst lachte den Ankommenden verständnißinnig und respektvoll zu; er war heute im Auftrag des Fräuleins durch Trina wahrhaft fürstlich bewirthet worden und stand noch unter dem Eindruck der genossenen Gottesgaben. Außerdem hatte er die Magd gründlich ausgeholt, während diese, wie er wohl gemerkt hatte, der Meinung war, daß sie ihn aushole. Allein Trina hatte gar nichts herausbekommen, wohingegen er, Frettwurst, jetzt alles wußte!
Als Herbert sich unter vielem Händeschütteln verabschiedet hatte und schon im Boote stand, rief Hilde: „Ach, Papa, ich möchte schrecklich gern einmal auf der ‚Bachstelze‘ segeln!“
„Möchtest Du? Versuch’ es nur einmal, dann wirst Du finden, daß man solche Matrosen wie Dich kaum an Bord gebrauchen kann,“ erwiderte der Lehrer scherzend.
„Wer weiß!“ sagte sie. „Es käme also auf diesen Versuch an!“
Inzwischen hatte Frettwurst das Großsegel gehißt, und die „Bachstelze“ begann, sich vom Steg abzudrehen.
„Adieu! Adieu! Auf baldiges Wiedersehen!“
Zwei Augenpaare suchten sich festzuhalten, so lange es irgend ging, Frettwurst aber, dessen von Dankbarkeit verschönte Blicke fast ebenso zärtlich wie die seines Herrn an Hildes zierlicher Person gehangen hatten, murmelte nachdenklich in sich hinein: „Na, nu heff ick dat doch mit mien egen Ogen sehn, dat de Putt[8] klar[9] is! Wenn he nich he un ick nich Frettwurst wär un nich mien Lena har, har ick dütt lütt Katteker ok wull friegen müggt!“
„Hilde, wo wullt Du henn?“ fragte Trina am nächsten Nachmittag kurz vor drei Uhr, mit teigbedeckten Fingern die Küchenthüre öffnend und die ungewöhnlich ausgerüstete junge Dame, welche unbemerkt entwischen wollte, eben noch abfassend.
„Nah ’n Strand, Trina.“
„Wat, so in ’n Sündagsnahmiddagsstaat un mit dat dicke Dook?“
Statt eine Antwort zu geben, fiel Hilde ihr um den Hals.
„Frag’ nich mehr, Trina! Ick bün to rechte Tied wedder hier.“
„Weet Vadder dorüm?“
„Ja, wenn ok nich vun hüt. Awerst segg em lever nix!“
Trina wiegte unschlüssig ihr Haupt. Sollte sie das dulden? Konnte aus dieser Heimlichkeit etwas Gutes entstehen? Aber der Lieutenant hatte ihr ja gesagt, daß er Hilde heirathen wolle. Am Ende verdarb sie ihrem Liebling durch ihre Strenge die ganze glänzende Partie! Immer noch besorgt, indessen schon nachgiebigen Tones sagte sie dann: „Kind, Kind, wenn dat man good geiht!“
„Wat schull dar slecht bie gahn, Trina? Du weest ja, dat he mi leev hett. Lat mi doch dat Vergnögen för düssen enen Nahmiddag!“
„Is sien Burß ok dorbie?“
„Ja, ümmer!“
„Na, dat is all wat! Dat is en trugen Jung, de aß en Tüg[10] för slimme Saken nich to bruken is.“
„Slimme Saken, Trina? Wat ’n Snack! Kannst Du sowat vun dien lütt Hilde glöwen?“
„Nee, egentlich nich. Blots dat so ’ne lütte Deern’ aß Du de Mannslüd nich utkennt. Na – denn gah man. Awerst jo nich to lat[11] wegbliewen, ick wüß ja gor nich, wat ick to Vadder un Mudder seggen schull! Ich back Di ok en schöuen Krinthenstuten[12] mit, mien lütt Snut, den scha’st[13] Du hüt abend warm ut’n Aben eten, wenn Du tiedig kümmst, hörst Du?“
„Dank ok! He schall mi wunnerschön smecken. Adjüs, mien lewe, lewe Trina!“
Ein herzlicher Kuß auf Trinas derbe Lippem und fort war das Mädchen, einer Schwalbe gleich, die aus dem Nest um die Hausecke schießt.
Tief in Sorgen über die Folgen ihres gutmüthigen Mitwirkens in dieser heimlichen Liebesgeschichte blieb Trina zurück. „Wenn dat man good geiht!“ murmelte sie. „Doch de Minsch is man enmal jung; ick wull de bei’n doch so girn de lüttje Freud günnen, de veel söter smeckt, as wenn nahher allens in de Reeg[14] is.“
(Fortsetzung folgt.)
BLÄTTER UND BLÜTHEN.
Der neueste Begas’sche Entwurf des Nationaldenkmals für Kaiser Wilhelm I. in Berlin. (Zu den Bildern S. 37, 48 und 49.) Endlich ist diejenige Skizze des großen Nationaldenkmals, die auf der Schloßfreiheit zu Berlin zur Ausführung kommen soll, vollendet. Sie rührt, wie bekannt, von Reinhold Begas her und ist, wie gleichfalls bekannt, keine der aus den beiden Wettbewerben siegreich hervorgegangenen Arbeiten, sondern ein vom Kaiser, entgegen dem Entscheid der Preisrichter, beim Künstler bestellter und nur vom Kaiser gutgeheißener Entwurf. Durch besonderen Beschluß hatte ja der Reichstag auf seine gesetzmäßige Mitwirkung bei diesem größten Denkmal der deutschen Heldenzeit verzichtet und die Entscheidung allein dem Kaiser überlassen.
Auf Reinhold Begas’ endgültigem Entwurf sehen wir den alten Kaiser Wilhelm im Feldherrnmantel und in der Generalinterimsuniform, den Helm auf dem Haupte, den Feldherrnstab in der Rechten, auf stolz daherschreitendem Rosse, das von einer die Siegespalme tragenden Viktoria am Zügel geführt wird.
Das Reiterstandbild soll in Bronze ausgeführt werden. Der 10 Meter hohe Sockel, auf dem es steht, wird aus Granit errichtet. Auf den Breitseiten des Sockels befinden sich prächtige Reliefs, die den „Krieg“ und den „Frieden“ darstellen, und ihnen lagert zu Füßen je eine männliche Figur, welche die Allegorie der Reliefs in neuen Formen wiederholt. Die Schmalseiten des Sockels tragen allerlei Insignien, die vordere auch eine Tafel, auf welche die noch nicht bestimmte Inschrift des Denkmals zu stehen kommt. Um die Tafel ist die Kette des Schwarzen Adlerordens gelegt; darüber ragt die Kaiserkrone. Unter der Tafel verkündet eine Pergamentrolle die Worte „Einheit, Recht, Gesetz“ als Rechtssymbol für das „Neue Reich“, während auf der hinteren Seite Kettenpanzer, Ritterhelm und Morgenstern, die auf einem geschlossenen Buche liegen, das „Alte Reich“ versinnbildlichen.
An den Ecken des Sockels stehen auf Kugeln vier Viktorien, Kränze in den gespreizten Armen: echt Begas’sche Figuren, diejenigen Nebengestalten des Denkmals, die am meisten Begas’schen Geist athmen und die auch ausschließlich vom Meister herrühren; an den anderen Theilen durften die Begasschüler kräftig mitarbeiten, unter ihnen Hidding und Karl Bernewitz, von denen der letztere besonders an dem Zoologischen des Denkmals großen Antheil hat.
Der Sockel wird getragen von einer Basis, einem runden, aus zwölf Stufen bestehenden Treppenbau. Er hat vier vorspringende Eckplatten, auf denen vier prachtvolle Löwen ruhen. Jeder der Löwen ist besonders individualisiert: der eine wachsam ruhend, der andere drohend, der dritte wuthbrüllend, der vierte zum Sprunge ansetzend. Reiche Waffenskulpturen bedecken die Löwensockel.
Das ganze Denkmal mit Sockel und Basis ruht auf einer Plattform.
Auf dieser Plattform erhebt sich außer dem oben beschriebenen Denkmal noch die weite, mächtige und vielgliedrige architektonische Umrahmung.
Die Architektur auf den ersten für den Wettbewerb hergestellten Entwürfen von Begas war ein Werk des Baumeisters Professor Ihne. Dieser erste Plan, der eine halbkreisförmige, in ruhigen Linien gehaltene Säulenhalle vorschlug, wurde in „zwölfter Stunde“ noch von maßgebender Seite abgelehnt. Man warf ihm vor, daß er den Blick auf das Standbild nicht von allen Seiten, sondern nur von vorn oder sonst nur aus allernächster Nähe innerhalb der Architektur gestatte. So hat Reinhold Begas sich zuguterletzt seine eigene Architektur gesucht, und er kam auf einen im wesentlichen geradlinigen Bau, der sich drei Stufen über die Plattform erhebt.
Die Hinterwand und die Seitenflügel sind geradlinig und stehen senkrecht aufeinander; nur die Verbindungsstücke rechts und links springen im Bogen nach innen. Die Seitenflügel gehen nicht bis zur Fluchtlinie des Standbildes, und so bleibt dieses von beiden Seiten weithin sichtbar, vom Schloßplatz wie vom Lustgarten. Die geradlinige Form. der Hinterwand wurde durch die Bedürfnisse der Spreeschiffahrt vorgeschrieben. Die früheren Entwürfe nahmen einen halbkreisförmigen Einbau in das Spreebett an und bedingten damit eine Verengerung des Wasserlaufes, die bei der Ausführung auf wesentliche Schwierigkeiten gestoßen wäre.
[52] Die Seitenflügel laufen nach vorn in zwei großartigen Thorbauten aus. Die Komposition dieser Thore ist ein höchst gelungener Wurf. Sie schmiegt sich innig an die Architektur des gegenüberliegenden gewaltigen Schloßportals an, das von Eosander von Göthe herrührt. Bei der Enge der zwischen dem Schloß und dem Denkmalsbau verlaufenden Straße - der sogenannten Schloßfreiheit - bestand das Problem darin: Wie ist die Denkmalsanlage mit der übermächtigen Eosanderschen Schloßfassade so in Uebereinstimmung zu bringen, daß sie von dieser nicht erdrückt wird und, mit ihr verbunden, gleichsam ein architektonisches Ganzes bildet?
Für die Denkmalsanlage ließ sich im Verhältniß zum Schloß die nöthige Wucht durch annähernd gleiche Größenmaße gewinnen. Und in der That wird das Standbild bis zur Helmspitze eine Hohe von 21 Metern, das ist die Höhe des Schloßgesimses, erreichen, und die umgebende Architektur wird 11 Meter hoch, 80 Meter breit und 45 Meter tief. Das sind ganz gewaltige Maße! Die Einheit jedoch in der Gesammtarchitektur der Schloßfreiheit wird durch die beiden Begas’schen Thorbauten aufs glücklichste hergestellt. Wie das Portal Eosanders von Göthe, so sind auch die beiden Begas’schen Säulenthore im reichen Zopfstil gehalten. Posaunenengel flankieren sie, und über diesen schwebt die Kaiserkrone.
Ueber den Seitenflügeln erblickt der Beschauer Viergespanne, demjenigen vergleichbar, das auf dem Brandenburger Thore thront. Die Lenkerinnen dieser Gespanne, Viktorien, tragen halbentrollte Fahnen in der zügelfreien Hand. Allegorische Figuren krönen die hinteren Enden der Seitenflügel, ragende Embleme (Adler etc.) die beiden Enden des Mittelflügels. Eine galerieartige Brüstung schließt in der oberen Linie die Säulenhalle ab.
Die Säulenhalle selbst, der Wandelgang, besteht aus gekuppelten Doppelsäulen. Zu beiden Seiten der Thorhallen, sowie auch an passenden Stellen zwischen den Säulen, insbesondere in den vorspringenden Eckbogen, sind Postamente von noch unbestimmter Anzahl vorgesehen, auf denen die Paladine und Mitarbeiter des Kaisers Wilhelm in 4 Meter hohen Standbildern Aufstellung finden sollen. Welche Persönlichkeiten hierfür ausgesucht werden, steht noch dahin, das heißt beim Kaiser. Sie sollen nicht ebenfalls von Begas gemacht, sondern an mehrere andere namhafte Bildhauer in Auftrag gegeben werden.
Außer diesen Standbildern, die Kaiser Wilhelms hervorragendste Helfer darstellen sollen, sind in der Säulenhalle noch zahlreiche Hermen in Aussicht genommen. Sie sollen die Büsten minder berühmter Schwerteshelden tragen, und unter diese sollen sich dann auch die friedlicheren Züge einiger Geisteshelden aus der Aera Wilhelms I. mischen. Endlich ist in der Säulenhalle noch der Platz für zwei größere Reiterreliefs vorgesehen.
Die Rück-, das heißt die Wasserseite der Anlage wird mit mehreren allegorischen Figuren, Emblemen, Trophäen etc. geschmückt werden, über die jedoch sammt und sonders noch keine endgültige Bestimmung getroffen ist. Ueberhaupt stehen zahlreiche Einzelheiten noch nicht fest, und mit dem Wasser, das bis zur endlichen Ausführung des Denkmals die Spree hinunterlaufen wird, mag noch manche Figur, manche Arabeske, manches Sinnbild verrinnen, um neuen Platz zu machen.
Die Figuren der Denkmalsanlage, die Posaunenengel der Portale ausgenommen, sollen nach dem vorläufigen Plane sämmtlich in Bronze ausgeführt werden, der Säulenbau in Sandstein, die Plattform in Steinmosaik.
Von der Plattform führen sieben langläufige Stufen auf die Straße herab.
Unser erstes Bild auf S. 37 giebt das eigentliche Denkmal, ein wenig von der Seite gesehen, unser zweites auf S. 48 und 49 die gesammte Anlage, gesehen von einem Beschauer, der vom Lustgarten herkommt und die Schloßfreiheit herunter auf das Denkmal zuwandelt.
Die Kraft des Eises. Daß man im Winter eine verschlossene Glasflasche sprengen kann, wenn man sie mit Wasser füllt und ausfrieren läßt, ist eine sehr bekannte Erscheinung. Ja, die Kraftentfaltung des gefrierenden Wassers ist eine so ungeheure, daß man Kanonen, gewaltige Felsmassen damit zu sprengen vermag.
Die Gründe für diese Erscheinung liegen in einer besonderen Stellung, die gerade das Wasser unter den Körpern in Bezug auf sein physikalisches Verhalten einnimmt.
Im allgemeinen gilt das bekannte Gesetz, daß die Körper sich durch Wärme ausdehnen, durch Kälte zusammenziehen. Schon darin verhält sich das Wasser anders.
Wenn man Wasser von 9 Grad C. in einem gemessenen und mit Maßzeichen versehenen Gefäß allmählich abkühlen läßt, so wird man zunächst in Uebereinstimmung mit dem, was man erwartete, beobachten, daß es sich zusammenzieht. Bei 4 Grad C. aber hat es seine höchste Dichte und damit sein höchstes spezifisches Gewicht erreicht. Von 4 bis 0 Grad dehnt es sich wieder aus und nimmt zuletzt dasselbe Volumen ein wie bei 9 Grad.
Aber eine noch größere Ueberraschung bietet das Wasser beim Gefrieren. Für gewöhnlich nehmen die Körper, wenn sie aus dem flüssigen, geschmolzenen Zustand in den festen übergehen, in dem letzteren einen geringeren Raum ein, werden also schwerer. Das Wasser dagegen zieht sich nicht zusammen, wenn es gefriert, sondern es dehnt sich aus und entfaltet bei dieser Ausdehnung eben jene ungeheure Kraft, von der die oben erwähnten Beispiele Zeugniß ablegen. In der Natur ist diese Eigenschaft des Wassers von der größten Wichtigkeit. - Da das Eis einen größeren Raum einnimmt als ein gleiches Gewicht Wasser, also spezifisch leichter ist, so schwimmt es auf dem Wasser; deshalb gefrieren auch unsere Gewässer von oben nach unten. Wäre das Umgekehrte der Fall, so würden viele Gewässer in kalten Wintern vollständig ausfrieren und an die Fortexistenz einer Thierwelt im Wasser wäre nicht zu denken.
Honorar für Sprüche. Hinter dem Urwalde von Kamerun, an der Grenze des Sudan, erstreckt sich ein an Elfenbein reiches Gebiet. In diesem herrscht ein Häuptling Namens Ngilla, der bereits von der mohammedanischen Kultur beleckt ist. Zu ihm kommen Händler aus fernen Ländern, kommen mit Perlen und Stoffe, um das Elfenbein billig einzukaufen. Sie erhalten dort um den Werth von 5 Pfennig einen Zahn, der an der Küste um 450 Mark zu verkaufen ist, und darum rühmen sie das Land; denn „zu Ngilla braucht man nur einmal im Leben zu kommen, um ein reicher Mann zu werden!“ Die schönsten und meisten Zähne besaß dort in den letzten Jahren, als Premierlieutenant C. Morgen das Land besuchte, ein Mann, der weder Perlen noch Zeuge, sondern nur Papier, Feder und Tinte führte. Er war ein Oberpriester vom fernen Nigerstrome, schrieb kurze Koransprüche auf Stücke Papier, nähte sie in Ledertaschen und verkaufte sie als Amulette an die Gläubigen. Das Honorar, das er für diese Leistungen forderte, war ungemein hoch, aber er wußte seine Forderung durchzusetzen. Als Häuptling Ngilla einen solchen Talisman einmal billiger haben wollte, erwiderte der schlaue Oberpriester: „Herr, mir ist es gleich, ob Du mir einen größeren oder einen kleineren Zahn gibst, aber nicht so Allah: wenn Du seine heiligen Worte nicht so hoch anschlägst, wird er Dich weniger gut beschützen.“ Dies wirkte. Oberpriester Mahomet machte glänzende Geschäfte; denn die Talismane waren sehr begehrt und erst nach einer anständigen Bezahlung übten sie ihre Wirkung.
Ein Stückchen Unendlichkeit, durch drei Ziffern dargestellt. Wie groß ist die größte Zahl, die man durch drei einfache Ziffern ohne Zuhilfenahme von Klammern oder andern graphischen Zeichen darstellen kann?
Nun, was ist einfacher als das? werden unsere Leser denken. Die höchste derartige Zahl ist doch wohl 999, denn 9 ist der größte Zifferwerth der Einheiten in unserm Zahlensystem, und dieser, dreimal nebeneinander gestellt, wird naturgemäß den größten, mit drei Ziffern darstellbaren Werth ergeben.
Weit gefehlt!
Man könnte nämlich die Ziffern auch so schreiben: 999; das heißt in der mathematischen Ausdrucksweise „99 zur neunten Potenz“ oder man soll 99 mit sich selbst multiplizieren, das Ergebnis wieder mit 99 und so fort, bis 99 neun Mal als Faktor aufgetreten ist.
Die Ausführung dieser Rechnung liefert die ganz respektable Zahl von rund 913574 Billionen.
Schreiben wir aber 999, so heißt das, dem Gesagten entsprechend, man soll die Zahl 9 in derselben Weise 99 Mal als Faktor setzen. Das liefert aber eine Größe, die der menschlichen Vorstellung vollständig unzugänglich ist, denn in runder Zahl sind’s 29512 Quindecillionen, also rund die Zahl 29512 mit dahinter stehenden 90 Nullen, wobei wir der Einfachheit halber die Null an die Stelle der wirklichen Zahlen einführen.
Worüber soll man sich mehr wundern, über die Große der Zahl oder über die Einfachheit ihrer Darstellung mit den drei Ziffern?
Aber ein Versuch, sich die Größe der Zahl 999 vorzustellen wird ja doch gestattet sein.
Ein Kubikmeter ist eine recht greifbare Größe, man reicht ganz bequem mit ausgestreckten Armen von einer Kante desselben zur andern, vom Boden bis zur obern Fläche; er ist nur einen Meter lang, einen Meter breit und einen Meter hoch; eine Packkiste von einem Kubikmeter Inhalt hat eine ganz geläufige Größe. Aber ein solcher Kubikmeter hat erstaunlich viele Kubikmillimeter. Wollte man aus Kubikmillimetern, von denen einer nach dem andern – in jeder Minute 60 Stück – eingezählt und angeschoben würde, einen Kubikmeter aufbauen, so wäre das eine recht mühsame und langwierige Arbeit.
Nehmen wir an, zwei Knaben von 14 Jahren machten sich an diese Aufgabe und beide arbeiteten Tag für Tag 10 Stunden und legten unverdrossen in jeder Minute ihre 60 Kubikmillimeterchen zu, so werden sie ziemlich genau in ihrem sechzigsten Lebensjahre mit der Aufgabe fertig. Sie haben dann tausend Millionen Kubikmillimeter – eine Milliarde – zusammengelegt.
Aber nun noch einen Schritt weiter!
Es ist ja heutigen Tages nicht mehr schwer, die Welt zu umreisen. Mit Hilfe der Lokomotive und des Dampfschiffes ist das schon in sieben bis acht Wochen zu ermöglichen. Allerdings bekommt man bei dieser Art zu reisen kaum eine Vorstellung, wie gar weit die Welt ist. Eher würde das einem Fußgänger zum Bewußtsein kommen der – einen glatten Fußweg um die Erde vorausgesetzt – sich auf die Wanderschaft macht, und der, wenn er täglich 40 Kilometer zurücklegt, von seiner Reise um die Welt nach drei Jahren und vier Monaten in seiner Heimath wieder anlangt.
Eine kurze Rechnung ergiebt, daß die Erdkugel viele, viele Kubikmeter faßt, in runder Summe 1083 Trillionen. Denken wir uns die ganze Erdkugel aus Kubikmillimeterchen zusammengesetzt, so würden von diesen rund eine Quintillion erforderlich sein. Das reicht aber noch lange nicht an den Werth 999.
Wir wollen keine langen Umschweife machen und nur noch ein Beispiel anführen:
Die Entfernung der Erde von der Sonne beträgt rund 148 670 000 000 Meter. Stellen wir uns vor, die Bahn der Erde um die Sonne bilde die Grundlage für eine Kugel, die sich unendlich hoch über und unter diesem großen Kreise wölbt, so würde eine solche Kugel bei weitem noch nicht 999 Kubikmillimeter enthalten. Man müßte solcher Kugeln rund 2170 Octillionen nehmen, um die angegebene Zahl von Kubikmillimetern zu erhalten. –
Also kurz gesagt: eine für uns ganz unfaßbare Größe und dazu
noch unfaßbar oft genommen – und das wird alles ausgedrückt durch
die drei unscheinbaren Ziffern 999. H.
Inhalt: Freie Bahn! Roman von E. Werner (2. Fortsetzung). S. 38. – In höchster Noth. Bild. S. 40 und 41. – Das Mittagsschläfchen. Von W. Berdrow. S. 43. – Wie Du mir – So ich Dir! Bilder. S. 44 und 45. – Die Wanderzeichen der Zigeuner. Von Eduard Schulte. S. 46. – Auf Geben und Nehmen. Novelle von Johannes WIlda (2. Fortsetzung). S. 47. – Blätter und Blüthen: Der neueste Begas’sche Entwurf des Nationaldenkmals für Kaiser Wilhelm I. in Berlin. S. 51. (Mit Abbildngen S. 37, 48 und 49.) – Die Kraft des Eises. S. 52. – Honorar für Sprüche. S. 52. – Ein Stückchen Unendlichkeit, durch drei Ziffern dargestellt. S. 52.