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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[389]

Nr. 24.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.
 (10. Fortsetzung.)
15.

Der Kanonikus von Wildenfels, der Verwandte und zur Zeit der Gastfreund des Oberjägermeisters von Nievern, war ein schöner großer blonder Mann von heiterem Angesicht. Er saß gut zu Pferde, auf seinem stattlichen brabanter Wallach, einem dunkel gefleckten Grauen, und es war ihm jetzt, da er das Jagdgewand trug, wenig Geistliches anzumerken, wenn nicht in der Neigung zu fleischiger Fülle, welche die ganze Gestalt und besonders das frisch geröthete Angesicht mit seinem Doppelkinn zeigte. Aber das that der Gefälligkeit der adligen Züge mit den scharfen Augen und der kräftig gebogenen Nase keinen Abbruch.

Ja, anziehende Männer waren sie beide, und der dunklere sehnigere Nievern wahrlich nicht minder als sein geistlicher Vetter. Sie hatten es auch wieder erprobt; hatten sie doch eine Reihe üppiger Feste hinter sich, zu welchen sich die Jagden gestaltet, die der Graf von Arlon zu Ehren seiner Nachbarin, der lebensfrohen Aebtissin von St. Truyden, abgehalten hatte. Jetzt zogen sie von Arlon gemächlich heim, das heißt nach Malmedy, wo der Domherr einen prächtigen Haushalt hatte. Das Gefolge, ein kleiner Trupp Berittener mit dem Jagdgeräth und dem Gepäck auf Saumrossen, hielt sich ein paar hundert Schritte hinter ihnen, so daß die beiden Herren in ihrer lauten Erörterung der genossenen Freuden ungestört waren.

Es ging auf den Abend und kühl strich aus Nordwesten der Wind über das Land, einen hohen Rücken, den nur hier und da Gehölz als Ueberrest früherer ausgedehnter Waldungen bedeckte. Das Wetter, zum Reiten gerade recht, hätte weit schlimmer sein dürfen, ohne den Herren etwas auszumachen. Hatte doch der Wirth zu Herve, ihrem letzten Rastort, zum Imbiß einen herrlichen alten Burgunder verschenkt – natürlich nur für solche weinkundige Gäste, wie es der Domherr und sein Anverwandter waren – und die Geister dieses Weines leuchteten noch aus den Augen wenigstens des Wildenfelsers, als er sie jetzt sorglos an dem von windzerrissenem düsteren Gewölk bedeckten Himmel hinschweisen ließ.

„Jetzt sage mir einmal ehrlich, Viktor,“ begann der Kanonikus, „welche von den Dreien ist es, die Dalhem, die de Wytt oder unsere gelbhaarige Venus, die Appenrode? Wenn Dir nicht dreifaches Erz die Brust umschließt, so kommst Du diesmal nicht unversehrt davon. Bei Gott, sie sind kühn, diese Schönen“ – er lachte bei der Erinnerung – „aber das lob’ ich mir. Soll ein Götterweib, wie die Dalhem, von uraltem Geschlecht noch dazu, dessen Männer stets stolz waren wie Lucifer, soll sie gleich einer Schäferin schmachten, wenn Deine hübschen Augen es ihr angethan haben, Du Glücklicher! Ha, wie sie beim letzten Bankett Dir den Becher brachte – wie sie sich zurückwarf auf ihrem Sitz, ein wenig weit vielleicht, aber diese Partie“ – er legte seine kräftige Hand breit vorn auf die Kehle; in Erinnerung an den weißen Hals der Dame, von der die Rede war – „bei Gott, die Kenner sollten wallfahrten zu so viel Schönheit.“

„O ja, sie ist vom Kopf bis zu den Füßen schön,“ sagte Nievern trocken. „Aber wie Du ins Zeug gehst! Gestattet denn das Deine alte Freundschaft für die blonde Grete?“

Unter diesem Namen ging niemand Geringeres als die Freiin Margarete de Wytt, auch Stiftsdame von St. Truyden, eine reife und vielerfahrene Schönheit, deren Gelübde und

Giuseppe Verdi.
Nach einer Photographie von A. Ferrario im Verlag von G. Ricordi u. Cie. in Mailand.

[390] Kreuz sie nicht daran hinderten, im Sattel und im Festsaal jahraus jahrein ein Leben rauschenden Genusses zu führen.

„Meine alte Freundschaft!“ lachte der Domherr kurz, in gutmüthiger Selbstverspottung. „Ja, diese Freundschaft hat schon viele Geburtstage gefeiert, zu viele vielleicht. Aber die Grete hält fest . . . es ist eine eigene Sorte, diese Weiber im Stift von St. Truyden . . . das Regieren haben sie los; Graf Arlon, auf welchen die Aebtissin langjährige Rechte geltend macht, weiß davon zu sagen. Und ich, ich spüre jetzt zuweilen etwas,“ – er reckte den starken Hals wie unter einem lastenden Drucke – „bei Gott, man könnte fast ebensogut verheirathet sein!“

Nievern lachte. „Ein Liebchen, das zehn Meilen entfernt sitzt, kann das Joch nicht allzu schwer auflegen,“ tröstete er. „Du bist immer noch ein freier Mann, Engelbert.“

„Nicht so frei wie Du,“ sagte jener. „Und es hat den Anschein, als wolltest Du es noch eine Weile bleiben. Aber sieh Dich vor! Es ist Dir ja bekannt, daß die schönen Hexen von Sankt Truyden nur halb geistlich sind, nicht fest gebunden wie wir, aber ich erinnere Dich noch einmal daran. Keine hat das letzte Gelübde abgelegt, das ihr die Vermählung ganz verwehrte. Was sie hindert und was sie sämtlich in die reifen Jahre hat kommen lassen, ist einzig und allein das herrliche Leben, welches sie führen. Kann irgend ein Ehemann in der Welt einer von ihnen das gewähren?“

„Was predigst Du mir das alles, Engelbert?“ lachte Nievern. „Du fehlst weit, wenn Du mich für den Mann hältst, der eine von Euern Schönen dem Stiftskreuz abwendig machen wolle.“

„Das sagst Du,“ meinte Herr von Wildenfels, den stattlichen Vetter von der Seite ansehend. „Wenn aber Gott Amor einmal einer von ihnen allzuscharf zusetzt? Dann mag der, der gemeint ist, sich in acht nehmen. Bei meinem Schutzpatron, Viktor, den ich selten genug zum Zeugen nehme: die Dalhem hatte das in den Augen, als sie Dir zutrank, was mich für Deine Freiheit fürchten läßt. Denn dies Weib ist ebenso klug und unermüdlich, wie sie göttlich schön ist. Und wenn sie, merke auf, ich sage nur, wenn sie ihrer Ungebundenheit und den Genüssen ihres Lebens hier entsagen wollte um Deinetwillen – Bruder, hättest Du das Herz, sie auszuschlagen? Dann muß das Ding mit dem Teufel zugehen, oder Du bist schon verliebt!“

„Dn folgerst em wenig rasch, vortrefflichster Kanonikus,“ sagte Nievern und blickte ruhig geradeaus. „Soll das heißen, daß, wenn man überhaupt in den Bereich der schönen Dalhem kommt, sie auch nothwendig die Herrscherin unseres Herzens werden müsse?“

„So ungefähr, ja; und wenn sie es erst einmal darauf anlegt, dann gewiß, ohne Hilfe und Rettung. Es müßte denn, wie ich eben sagte, jener Platz allbereits besetzt sein. Und die möcht’ ich wahrlich sehen, die ihn gegen diese gefährliche Sirene auf die Dauer zu behaupten vermöchte!“

Ob Nievern sie etwa sah, die jenen Platz behauptete? Die Schärfe seines Falkenblickes schien nach innen gekehrt, als gelte es irgend einer Erinnerung. Den versuchenden Worten seines Begleiters aber wich er aus. „Sirene nennst Du sie,“ begann er. „Sage lieber Bacchantin! Bacchantinnen sind sie alle . . . halte mich für einen armseligen Schächer, Bruder, aber ich gesteh’ es Dir: es graute mir zuletzt bei diesen Weibern. Jener Tanz gestern abend, in den schwarzen Kleidern und Schleiern –“

„Aus denen dann die Schultern und Arme desto weißer hervorleuchteten. Alabasterartiger ist die Haut der Grete, aber die der Dalhem hat den rosigen Anflug, ah –“ und der Wildenfelser küßte die Fingerspitzen mit einem Kennerlächeln.

„Daß Du sie ein wenig zu warm empfiehlst, um ihr einen Abnehmer zu sichern, merkst Du wohl nicht,“ sagte darauf der Herr von Nievern trocken.

Da fuhr der Kanonikus förmlich auf. „Das von einem Weibe, welches eine ganze Provinz toll gemacht hat!“ rief er. „Dik Steenkerk ist um sie, weil sie ihn nicht haben wollte, zum Teufel gegangen, das heißt, er ist in einer Matrosenschenke in Rotterdam, wo er sich herumtrieb, erstochen worden. Und der Herr von Tirlemont, da er ihr zu Liebe ritt, hat nächtens hart vor St. Truyden mit dem Pferde den Hals gebrochen!“

„Ich brech’ ihn nicht, oder in einer besseren Sache, Engelbert,“ entgegnete Nievern ungerührt. „Es müßte denn in den nächsten fünf Minuten sein, und das kann kommen, wenn wir uns hier nicht vorsehen.“

Der Weg wand sich jetzt steil abwärts in das scharf eingeschnittene Thal, aus welchem die Stadt an der gegenüberliegenden Berglehne emporkletterte. Es dämmerte schon stark; Nievern hatte auf seinen Gaul, ein junges unruhiges Thier, zu achten. Der von Wildenfels dagegen saß sorglos, mit lockeren Zügeln nach seiner Art und schenkte dem Voranreitenden einen letzten kleinen Hieb nicht. „Mit Dir ist es nicht ganz richtig, Bruder! Dem Wirthe ziemt es nicht, seinen Gast allzu genau auszufragen, aber welcher Wind Dich damals von Deinem Birkenfelder Hofe hierhergeweht hat, das soll ich heute noch von Dir erfahren!“

Nievern parierte mit einem Scherzwort, und dann ließ der Weg kein Zwiegespräch mehr zu, bis sie zur Stadt kamen. Sie ritten durch den Thorthurm, ehrerbietig gegrüßt vom Wärter, der eben die Thore schließen wollte für die Nacht, durch die dunkelnden Gassen und hinauf zum stattlichen Burghause des Domherrn.

Hier wurde der Wildenfelser mit seinem Gast als der große Herr, als welcher er lebte, von einem zahlreichen Gesinde empfangen. Die Diener eilten mit Windlichtern die Treppen herunter, obwohl am tiefgewölbten Eingangsthor auf hoher Pechpfanne ein Feuer brannte und den ganzen Platz erhellte. Je ein Page leuchtete jedem der beiden Herren in sein Gemach, und Nievern fand in dem prächtigen Gastzimmer, das er innehatte, die Kerzen auf silbernem Armleuchter und im Kamin ein lustiges Holzfeuer flackern.

Der rothe Feuerschein spielte über die kostbaren bilderreichen Gewebe aus Arras, welche die Wände bekleideten, über heroische und üppige Männer- und Frauenglieder, die da abgeschildert waren, denn die Teppiche stellten Scenen aus der heiligen Geschichte dar, aber in barock-griechischem Gewande. Nieverns Blick streifte heute die sinnliche Pracht jener Bilder abfällig, ja mit Widerwillen. Er fand sich mit einem Male seltsam gereizt gegen die Ueppigkeit dieses ganzen Lebens und schalt sich einen Thoren, daß er sich so lange freiwillig hierher verbannt habe. Seine Freiheit, die er bisher so übermäßig hoch geschätzt hatte, kam ihm nachgerade schal und unersprießlich vor.

Als er umgekleidet war, warf er sich noch einmal in einen Sessel vor dem Kamin und übersann das innere und äußere Getriebe der letzten Wochen. Es wäre ihm nicht leicht geworden, dem Vetter Engelbert die ausreichende Erklärung für seinen plötzlichen Entschlnß zum Ritte nach Malmedy zu geben, die dieser kluge Herr bisher vermißt hatte. Jetzt versuchte er aber, mit sich selber wenigstens darüber ins klare zu kommen.

Die Beweggründe waren freilich nicht einfach gewesen und schwer zu entwirren. Um die Wahrheit zu sagen, sich selber, vorweg: die wachsende Gnnst der Pfalzgräfin hatte begonnen ihren Empfänger zu drücken. Und doch – hatte er nicht, bewußter oder unbewußter Maßen, gerade auf dieser Gunst gefußt, als er dem Unwillen ohne weiteres nachgab, den die Behandlung der Leyens durch die Fürstin, diese Behandlung vor dem ganzen Hofe, in ihm erregte? Er war gegangen ohne Abschied: so viel durfte sich nur ein Bevorzugter und einer, der wußte, daß er es war, erlauben. Aber er sah auch der Möglichkeit, den guten Hillen der Fürstin durch seine Reise verscherzt zu haben, mit großer Ruhe entgegen. Er hatte das starke Bedürfniß gefühlt, einmal jenem abgeschmackten Hofleben, wie er es bei sich bezeichnete, auf eine Weile zu entgehen.

Aber war das alles gewesen? Nein! Wenn er es früher nicht hatte wissen wollen, jetzt wußte er es. Er hatte vorauszufühlen geglaubt, daß, wenn er bliebe, gerade nach jenem Jagdabenteuer bliebe, seiner Freiheit Gefahr drohe, aber von ganz anderer Seite her als von dem Pfalzgrafenstuhle des Birkenfelder Ländchens herab. Einer heiteren und kühlen, selbstsüchtigen Lebensweisheit fröhnend, war er unvermählt geblieben, und wenn er gegen Frauenreiz auch durchaus nicht unempfindlich war, so hatten doch die heirathsfähigen Töchter eines jeden Ortes, an dem er sich befand, stets nur geringer Beachtung durch ihn sich zu erfreuen gehabt. Und als er, vor noch nicht allzu langer Zeit, zum ersten Mal auf eine reine weibliche Jugend seines Standes aufmerksam geworden war, da war es, wie ihm deuchte, eher mit einem Gefühle spöttischen Befremdens als mit etwas anderem gewesen. Wohl hatte Polyxenens eigener herber Reiz sich ihm rasch ins Auge gestohlen und war, fast zu seiner Verwunderung, seinem Kennerblicke je länger je wohlgefälliger geworden. Sonst aber hatte sie ihm wenig zugesagt, wie er selber gemeint. Der Blick ihrer ernsthaften unschuldigen Augen war etwas, worüber es seinesgleichen zu lächeln geziemte.

So war es gewesen bis zu dem Tage der Hofjagd, an welchem das Fräulein von Leyen so unverschuldet jene unerhörte Kränkung erfuhr. Als er da im Anfang schwieg, anstatt allsogleich für ihre Hilflosigkeit und ihr Recht auf den erlegten [391] Hirsch, das ihm wohl bekannt war, einzutreten, da hatte er es gethan, weil etwas Unerklärliches in ihm vorging. Unsäglich rührend, hinreißend für ihn war sie, als man sie mißhandelte; einen grausamen Reiz hatte der Ausdruck der Pein auf ihrem holden Gesicht für ihn gehabt, der Ausdruck ihres kindlichen reinen, freventlich zu Boden getretenen Stolzes, so daß er gestanden hatte wie im Banne, die ganze Seele in den Augen, welche ihre Gestalt verschlangen. Noch niemals hatte er dergleichen für irgend ein Weib empfunden. Und selbstsüchtig, wie er gewohnt war zu sein, hatte er dies Neue, Wunderbare auskosten wollen bis auf die Neige und deshalb so lange nur als Zuschauer – aber als was für ein Zuschauer! – dabei gestanden. Selbstsüchtig, ja – aber nicht bis zur Unehrenhaftigkeit und nicht etwa aus kleinlichen Beweggründen der Furcht. Selbstverständlich hatte er daher die Leyens, als es hoch an der Zeit war, gegen die erboste und zügellose Pfalzgräfin in Schutz genommen. Daß er indessen so auffällig sich auf jene Seite gestellt, daß er der Fürstin zum Tort das Fräulein am Arme fortgeführt hatte, dafür wußte nur er den Grnnd und sonst niemand in der Welt. Uebermächtig war mit einem Male das Verlangen in ihm geworden, ihre schlanke Gestalt zu berühren, zu fassen und zu halten. Warum hätte er sich zügeln sollen? Aus Rücksicht auf diesen lächerlichen Hof? Da hätte er ein anderer sein müssen, als er war. So war es denn geschehen. Und der erfahrene Mann hatte mit allen Fibern ihre Nähe empfunden während der wenigen Schritte, die sie nebeneinander gemacht. Ganz erfüllt hatte ihn der köstlich herbe Anhauch, der von dieser jungfräulichen Blüthe ausging, und um so feiner, geistiger war dieser einzige Reiz gewesen, je unbewußter dabei das verstörte liebliche Geschöpf selber war.

Als er sie aber dann an jenem Tage nicht mehr vor Augen gehabt, da war er noch einmal frei geworden, da waren noch einmal alle Geister seines bisherigen Lebens mächtig in ihm erwacht und hatten ihn gewarnt, wie er meinte. Nur nicht sich selber verlieren, nur nicht das kühle Herz, das sich so wohl befindet, indem es jeder Wärme spottet! Und lügenhaft, wie jene Geister sein konnten, sobald es ihr Vortheil erheischte, hatten sie ihm vorgespiegelt, wenn er jetzt gehe, so gehe er, um sich dem Verhältniß zur Pfalzgräfin auf eine Weile zu entziehen, da dieses Verhältniß allerdings auch auf dem Punkte stand, drückend zu werden.

Und nun? Wochen waren seitdem vergangen, zum Theil in rauschender Lust, und die Erinnerung daran bildete einen üppigen Reigen, den schöne, verführerisch schöne Weiber um ihn schlangen. Der Herr von Nievern hatte während dieser ganzen Zeit nach seinem besten Wissen nicht einmal deutlich an die arme Polyxene gedacht. Wie kam es, daß ihm trotzdem jetzt mit einem Male klar wurde, ihr und nur ihr, ihrem unschuldigen und unerklärlich mächtigen Reize habe er eigentlich entfliehen wollen, als er dem Hofe der Pfalzgräfin den Rücken kehrte? Vielleicht war es die Macht des Gegensatzes, die hier gewirkt hatte. Mitten zwischen den verwegenen Schönen, die sich ihm in die Arme warfen, hatte Nievern einen Ueberdruß und dabei doch eine innere hungrige Leere verspürt. Seit einiger Zeit schon war er auf dem Punkte, zur Besinnung zu kommen. Da hatte nun Herr Engelbert von Wildenfels seinem Gaste heute, ohne es zu wissen, einen wunderlichen Dienst geleistet, indem er ihn ahnen ließ, das man auch mit dem toll sprühenden Feuer hier nicht so ungestraft spiele, wie Nievern vermeint hatte. Diese plötzliche, seltsamerweise ganz überraschende Erkenntniß aber bewirkte eine wunderliche Gährung im Gemüth des Oberjägermeisters. Wie, sollte er sich hier, wo er nur hatte genießen und – vergessen wollen, sollte er sich hier gar mühen, dreist gelegten Schlingen zu entgehen? Dem Dufte der wundersüßen dornigen Waldrose war er entwichen, als derselbe begann, seine Sinne zu umfangen, und hier sollte er nun Gefahr laufen, daß die wildwuchernden Ranken der betäubenden Giftblume sich um seine Füße legten und ihn hielten, während sie die Blüthe, die jetzt im Erschließen sich auch schon entblätterte, unbegehrt in seinen Schoß warfen? Herr Gott, wie trieb es ihn mit einem Male zurück, von wo er gekommen war! Er sprang auf und durchmaß mit großen Schritten das Gemach, ungeduldig im Geiste nach einer einigermaßen schicklichen Erklärung suchend, mit welcher er den Vetter Kanonikus abspeisen wollte, wenn dieser sich über die eilige Abreise wundern oder gar gastlich sich ihr widersetzen würde.

Da klopfte es an seine Thür. Der Oberjägermeister ging, zu öffnen, und nahm dem draußen stehenden Pagen von der silbernen Platte einen großen vielfach versiegelten Brief ab. Nievern verzog die Lippen zum Ansatz eines spöttischen Lächelns, als er beim Lichte der Kerzen den Umschlag näher betrachtete. Die gewaltigen rothen Siegel zeigten das Hauswappen der Frau Sabine Eleonore. Die Dame aber oder ihre Vertrauensperson hatte sparsamerweise anstatt eines Kuriers die Thurn und Taxis’sche Post zur Beförderung des Schreibens benutzt, wie die Vermerke auf demselben auswiesen.

Nievern erbrach es bedächtig und entnahm der Hülle zunächst einen Brief, der auf den drei beschriebenen Seiten die eigenhändigen Schriftzüge der Herrin des Birkenfelder Landes trug. Was sie schrieb, war trotzdem rasch gelesen. Da war aber noch ein Blatt. Dieses, mit einer anderen zierlichen Schrift bedeckt, rief einen belebten, fast gespannten Ausdruck auf dem Gesicht Nieverns hervor. Dasselbe zu lesen, hatte er aber jetzt keine Zeit oder keine rechte Ruhe mehr, denn die Eßglocke war schon geläutet worden. So schlug er denn die Blätter wieder zusammen, schob alles vorn ins Kollett und begab sich nach dem Speisesaal, wo der Vetter Kanonikus seiner wartete.

Eine Mahlzeit in diesem Hause war niemals etwas Nebensächliches; eine jede wurde mit dem Aufwand von Förmlichkeit, ja von Prunk in Scene gesetzt, der ihrer Wichtigkeit im Leben des Hausherrn entsprach. Denn eine gute Tafel hielt Herr Engelbert von Wildenfels für ein Haupterforderniß des Daseins, wie solches wenigstens eines Domherrn von St. Alban würdig war. In Uebereinstimmung hiermit war der Speisesaal seines Hauses ein imposantes Gemach. An den Wänden hohe Vertäfelungen von dunklem geschnitzten Holze, auf dem Simse kostbare Tafelgeräthe, mehr zum Prunk als für den Gebrauch bestimmt. Darüber Schildereien tüchtiger Künstler, die auf ihre Leinwand gleichsam noch einmal einen lockenden Ueberfluß alles dessen gehäuft hatten, was eine vornehme Tafel zu besetzen würdig ist. Die sorgsam und prächtig gedeckte Tafel war von zahlreichen Kerzen in silbernen Armleuchtern erhellt und wurde während der Mahlzeit von drei bis vier Dienern feierlich umgangen.

Der Kanonikus, in seidenem Haustalar, ein Urbild behaglichster Wohlgestalt, winkte seinem Vetter freundlich zu. „Beatus ille, qui – das heißt in diesem Falle: Glücklich, wer einmal wieder aus dem Sattel ist, nach vierzehn Stunden, und für seinen rechtschaffenen Hunger zu Hause ein paar Brosamen findet! Greif’ zu, Viktor! Ihr habt doch noch mehr Forellen bereit?“ Dies mit herrischem Auge zu dem auftragenden Diener, welcher ehrerbietig und stumm bejahte. „Gut, sie sollen noch eine Platte voll absieden! – Was meinst Du, Vetter, die unseren hier sind zarter und schmackhafter als die zu Arlon, deucht mir!“

„Mögen alle Brosamen Deines Tisches heute abend ihnen gleichen,“ sagte Nievern, der dem Geschäft der Tafel mit geziemendem Ernste sich hingab.

„Wohl gesprochen,“ lachte der andere. „Denn wer weiß, ob ich nicht Deine Nachsicht nöthig habe. Von wegen des Rehschlegels hat der Koch sich entschuldigen lassen ... er hatte heute noch nicht auf uns gerechnet.“

„Wenn man Dich ansieht, liebwerther Vetter, so möchte wohl ein jeder Kanonikus sein,“ meinte Nievern nach einer Weile, während sie weiter tafelten. „Und doch, als wir heute früh an St. Menehould vorübertrabten und dort hinter dem Gitter des Parkes die Zöglinge der frommen Väter sich so trübselig rekreieren sahen, immer zu zweien lustwandelnd, da dauerten mich die Bursche . . . geistlich sein steht unseren Jahren immer noch besser an als der Jugend.“

„Ja, dort im Jesuitenkolleg werden sie kurz gehalten,“ sagte der Kanonikus beschaulich. „Die Väter sind berühmt als Erzieher; das heißt, manchen wilden jungen Falken, der die Kappe nicht tragen wollte, haben sie dort schon zahm gemacht, so daß er nachher nur von ihrer Hand auszustoßen wußte, Sie nehmen aber auch so leicht keinen auf, um den es sich nicht lohnt.“

„Mich dünkt, die Väter von der Gesellschaft Jesu thun überhaupt so leicht nichts, was sich nicht lohnt,“ warf Nievern trocken dazwischen.

„Du liebst sie nicht; auch ich bin dem Orden nicht sonderlich grün,“ gestand der Kanonikus. „In Frankreich sind sie es, welche die endlosen Händel in den letzten Jahren des alten Königs Ludwig erregt haben. Die zu St. Menehould, wie gesagt, befassen sich fast nur mit jungen Edelleuten, jüngeren Söhnen und meist solchen, in denen das heiße adlige Blut durch scharfe Zucht erst einmal gekühlt werden soll.“

[392] „Arme Schelme,“ sagte Nievern halb vor sich hin. „Mir war im Vorbeireiten gerade, als winkte mir einer von ihnen heimlich zu. Es spazierten ihrer immer zwei längs des Gitters hin und einer nahm uns scharf aufs Korn ...“

„Ja, zwei und zwei gehen sie stets, damit einer auf den anderen aufpasse,“ schaltete der Kanonikus ein.

„Ein blutjunges Bürschchen, soviel ich von weitem sehen konnte, das sich wunderllch ausnahm in der geistlichen Tracht und mit dem kurzgeschorenen Kopfe Er war mit einem Male dicht am Gitter, als wollte er hindurch. Auch war mir, als säh’ ich ein weißes Tüchlein wehen, doch will ich nicht darauf schwören. Denn als ich mich im Weiterreiten noch einmal umschaute, sah ich nur die schwarzen Vögel wieder paarweis im Garten.“

„Es mag ein frischer Zögling gewesen sein, ein Junker, dem die Klausur dort noch nicht schmeckt,“ meinte Herr Engelbert gleichmüthig. „Hat er wirklich gewinkt, so ist es ihm schlecht bekommen. Denn, wie gesagt, alles, was widerspenstig ist, zu biegen oder zu brechen sollen sie doch in St. Menehould ausnehmend gut verstehen.“

Als die Herren beim Nachtisch angelangt waren und die aufwartende Dienerschaft sich entfernt hatte, da zog Nievern seinen Brief hervor. „Sieh, was mir hier zugeflogen ist, Engelbert,“ sagte er. Dabei entnahm er dem Umschlag aber nur das eine Schreiben, das der Pfalzgräfin, und reichte es dem Kanonikus über den Tisch hinüber.

Herr von Wildenfels zog lächelnd die Augenbrauen in die Höhe und las, erst murmelnd und dann laut, als setzte er voraus, daß Nievern so viel Huld, von seiner fürstlichen Herrin eigenhändig zu Papier gebracht, nicht ungern noch einmal von des Freundes Lippen hören werde. Die Pfalzgräfin war nämlich eitel Güte und Freundlichkeit in diesem Schreiben. Von Empfindlichkeit über den erzwungenen Urlaub und die verlängerte Abwesenheit ihres Kavaliers keine Spur! Allerdings zeigte sie die bestimmte Erwartung an, daß seine Rückkehr nun nahe bevorstehe. Und für diesen Fall geruhte sie ihm einen Auftrag zu geben – daß er ihr nämlich einen Edelfalken aus der vortrefflichen Zucht des Meisters Nikolas in Malmedy besorge.

„Der Tausend, Du hast eine sehr gnädige Frau an der Pfalzgräfin!“ sagte der Domherr, indem er noch einmal in das Blatt schaute und sich dabei leicht schmunzelnd mit der Hand ums Kinn strich. „Darfst das Weibchen am Ende nicht mehr allzu lange schmachten lassen, Viktor. Einer Pfalzgräfin kann man schon ein wenig zu Gefallen sein.“

„Ja, ich werde bald reiten müssen,“ gab der Oberjägermeister ruhig zur Antwort, welche Gelassenheit wohl die wirksamste Abwehr gegen den anzüglichen Scherz war. Nievern fühlte sich seit einer Stunde – genaner gesagt, seit er den Brief erbrochen hatte – wieder so sehr wie nur je im Vollgenusse seiner kräftigen Persönlichkeit, die alles Gelingen an sich bannte. Wie war ihm da wieder das Schicksal zu Hilfe gekommen! Die Rückkehr nach Birkenfeld ließ sich ohne eine gröbliche Beleidigung der ihm günstigen Fürstin nun nicht wohl länger verzögern. Und wie völlig lag diese Rückkehr in einer Richtung mit der Neigung, die er sich jetzt zu gestatten, ja die er voll auszukosten beschlossen hatte!

Die beiden Herren besprachen über dem Weine noch den Falkenkauf und sagten dann einander Gute Nacht. Während aber der Domherr auf seinem weichen Bett und unter seidenen Decken schon längst in gesundem Schlafe lag, saß Nievern noch im Sessel am Kamin, in seinem verschwiegenen Schlafgemach, und hatte den Brief in Händen, den er seinem Vetter und Gastfreund heute nicht gezeigt hatte. Es war nämlich das Schreiben der Fürstin zu ihm gereist in friedfertiger Gesellschaft mit einem anderen, von dessen Sendung im gleichen Umschlage Frau Sabine Eleonore offenbar keine Kenntniß gehabt hatte. Ihre ergebene Vertraute, die Frau von Méninville, hatte sich ohne viele Bedenken, wie es schien, die Gelegenheit zu nutze gemacht, dem Kavalier eine Probe ihres Briefstils zu geben. Und es zeugte diese Probe von einer so überraschenden Kunst, daß es wirklich schade gewesen wäre, wenn die fromme Frau ihr Licht ganz unter dem Scheffel gelassen hätte. Die Dame zeigte sich nicht nur federgewandt, sondern auch in ihren Wendungen voller Sinn und Anmuth. Sie kleidete die Freiheit, die sie sich nehme, in einen allerliebsten Scherz ein, verglich sich oder vielmehr ihren Brief in schalkhafter Demuth mit dem Vöglein, genannt Zaunkönig, welches, heimlich unter die Schwinge des Adlers geschmiegt, von diesem ohne sein Wissen durch die Luft dahin geführt werde, wohin sein Begehr sei, und that in geschickter Weise dadurch gleich dem Empfänger ihrer Epistel zu wissen, daß diese immerhin als ein kleines Geheimniß vor der Fürstin zu behandeln sein würde. Dann, anstatt steife Satzungeheuer zu bilden, wie es die deutsch schreibende Welt damals that, erzählte sie, leicht, flüssig, so daß man mit heiterem staunenden Genusse las. Und ihr Brief hatte an dem Herrn von Nievern durchaus keinen Unempfänglichen Leser. Sein kräftiger Geist, durch Reisen geschärft, besaß, wie man zu sagen pflegte, alle jene Studien, die einen vornehmen Herrn zieren durften, ohne daß er zum Gelehrten wurde, was sich nicht geschickt hätte. Und für einen guten Geschmack sorgte die glückliche Uebereinstimmung, in welche eine gütige Natur seine Sinne und Geisteskräfte gesetzt hatte. So las er denn mit seltenem Behagen und dachte dabei: Teufel, was für ein Weib! Wenn man die zur Seite hätte, sollte einem vor der Langweile nicht bange sein! Und er begriff, daß sogar die Pfalzgräfin sich diesem Einflusse nicht hatte entziehen können.

Am kleinen Birkenfelder Hofe seien dem Herrn Oberjägermeister, wenn er zurückkehre, einige Neuigkeiten gewiß, und sogar verwunderliche. Und wenn er jetzt durch allerlei Unterhaltung verwöhnt sei . . . Seltsames geschehe auch zu Hause – das war eine Art Köder für seine Neugierde, den die Schreiberin zuletzt noch auswarf, aber nicht, ohne das auch selber aufs anmuthigste einzugestehen und dadurch die Wirkung vielleicht noch zu verstärken. Was mag sie meinen, dachte er flüchtig, während er sich nunmehr anschickte, ebenfalls sein Lager aufzusuchen, wie es das ganze Haus wahrscheinlich schon längst gethan hatte. Und dann kam der Gedanke, den er aber bald als allzu unwahrscheinlich wieder verwarf: sollte sich für Polyxene von Leyen, für das Fräulein von Habenichts, wie die Fürstin sie boshaft nannte, etwa gar ein vornehmer Freier gefunden haben? Das wäre in der That „verwunderlich“ gewesen. Doch deshalb war es auch nicht anzunehmen. So folgerte Herr Viktor von Nievern in der sorglosen Sicherheit, welche sein stetiges Glück in ihm großgezogen hatte. Ein armes hübsches hochmüthiges Edelfräulein, ein solches Röslein im Dorn, würde wohl ruhig sitzen bleiben, und wenn es einmal sein Belieben sein würde, nach ihr auszuschauen, so würde er sie am alten Orte vorfinden!

So legte er sich, da die Abreise auf den übernächsten Tag beschlossen war, in völlig wiedergekehrter Gemüthsruhe nieder – derselbe Herr von Nievern, der, wenn er hätte ahnen können, welcher furchtbare Freier die arme Polyxene von Leyen schon in eiserner Umarmung hielt, nicht einen Augenblick gezögert hätte, in die Nacht fortzustürmen und sein bestes Pferd ihr zu Liebe zu Tode zu hetzen, ja selber Leib und Leben dabei einzusetzen.

(Fortsetzung folgt.)



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Weltverbesserer.

Von Dr. J. O. Holsch.
VI.
Robert Owen – Johann Georg Rapp.


Es giebt wohl keinen einzigen „Weltverbesserer“, in welchem der Fortschritt wirthschaftlicher Erkenntniß und Thatkraft, der die letzten 100 Jahre europäischer Entwicklung kennzeichnet, sich so anschaulich verkörpert wie in der Person des englischen Fabrikbesitzers Robert Owen.

Owen wurde am 14. Mai 1771 als siebentes Kind eines kleinen Kaufmanns, der zugleich die Postagentur des Städtchens besorgte, zu Newton in Wales geboren. Ein schwächliches Kind, mußte er sich früh an strenge Lebensregeln gewöhnen, die er zeitlebens beibehielt. In der Schule machte er so rasche Fortschritte, daß er mit acht Jahren dem Lehrer im Unterricht half. Mit zehn Jahren war er Kaufmannslehrling, mit zwölf Kommis in Hamford und London, später in Manchester, wo er mit Staunen, zugleich aber mit scharfem Verständniß den ungeheuren Aufschwung der Baumwollindustrie beobachtete; mit achtzehn Jahren machte er sich zum Theilhaber einer Maschinenfabrik, mit zwanzig wurde

[393]

Die Zerstörung des Klosters Hirsau durch die Franzosen unter Mélac.
Originalzeichnung von G. A. Cloß.

[394] er Direktor einer der größten Feingarnspinnereien Manchesters, einige Jahre darauf Besitzer einer eigenen Spinnerei, die er infolge seiner Verheirathung später, zu Beginn unseres Jahrhunderts, mit den durch ihn so berühmt gewordenen „New-Lanark-Mills“ (ebenfalls einer Baumwollspinnerei) in Schottland vertauschte.

Eine derartige, einzig dastehende Lebensentwicklung deutet zunächst weit weniger auf einen idealistischen Weltverbesserer hin als auf einen sehr praktischen Verbesserer seiner eigenen materiellen Lage. In der That läßt sich das ganze Wirken Robert Owens aus einer ebenso wahrheitsliebenden als unerschrockenen Verallgemeinerung seiner eigenen Grundsätze und Erfahrungen und ihrer thatkräftigen Anwendung auf seine Umgebung erklären. Er war, wie seine geniale Landsmännin Beatrice Potter zutreffend bemerkt, „kein bloßer Träumer, der in begeisterter Schwärmerei ideale Theorien in seinem Studierzimmer ausheckte; er war ein hartköpfiger self-made man, ein Mann, dessen Lebenslauf die Hauptereignisse der gewerblichen Umwälzung im kleinen darstellte“.

Da Owen die unheimlich rasche Umbildung und Verschlechterung des Menschenmaterials infolge der reißenden Entwicklung der Großindustrie seines Vaterlandes täglich vor Augen hatte, ebenso aber sich selbst gewissermaßen als Ergebniß derselben fühlte, so bildete sich in ihm die Ueberzeugung, daß man, um das Elend in der Welt auszurotten, nur die äußere Lage der Menschen von Grund aus zu verbessern habe und daß durch die zweckmäßig veränderten Umstände und durch eine vernünftige Erziehung der Charakter im Menschen vollkommen umgebildet werden könne – – Gedanken, die er noch am Schluß seines Lebens im Jahre 1858 bei einem Kongreß der „Assoziation der Gesellschaftswissenschaft“ zu Liverpool mit schon versagender Stimme als seine Lebensaufgabe bezeichnet hat.

Als die New-Lanark-Werke in seinen Besitz übergegangen waren, begann er die planmäßige wirthschaftliche Umbildung seiner Umgebung, vor allem seiner eigenen Arbeiter.

Das erste, was er that, war, daß er die Arbeitszeit, welche dazumal noch bis zu 17 Stunden im Tage dauerte, allmählich auf 10 Stunden herabsetzte, daß er ferner die Anstellung von Kindern unter 10 Jahren verbot. Robert Owen ist so der Vater der Arbeiterschutzgesetzgebung geworden, denn schon im Jahre 1816 empfahl er dem englischen Unterhause, die Arbeitszeit in allen Fabriken auf 10 Stunden zu beschränken, Kinder unter 10 Jahren gar nicht, 10- bis 12 jährige nur zur Halbschichtarbeit zuzulassen. Das Haus nahm damals den Entwurf nicht an; allein nach einem dreißigjährigen, durch Owen angeregten Kampf endigte die Bewegung im Jahre 1847 mit dem Siege des Prinzips einer gesetzlichen Regelung der Fabrikarbeit. Wie wenig utopistisch die weltverbessernde Thätigkeit Owens nach dieser Richtung hin war, das bewiesen die geschäftlichen Bilanzen, die er erzielte. In 4 Jahren hatte er 160000 Pfund Sterling verdient, abgesehen von einer 5%igen Verzinsung seines Kapitals und einer Wertherhöhung desselben um 50%! In einer Ansprache an seine Mitfabrikanten sagte er ebenso wahrheitsgetreu als wirthschaftlich weitblickend: „Wenn die rechte Sorgfalt für Ihre unbeseelten Maschinen so wohlthätige Folgen hervorrufen kann, wieviel mehr dürfen wir dann erwarten, wenn Sie Ihren beseelten Maschinen, die so sehr viel wunderbarer konstruiert sind, die gleiche Aufmerksamkeit widmen!“

Gleichzeitig mit der Verkürzung der Arbeitszeit suchte Owen auch sonst mit allen Mitteln wirthschaftlich befreiend und hebend auf seine Arbeiter zu wirken. Er baute seinen Arbeiterfamilien gute Wohnungen („cottages“, Häuschen mit kleinen Gärten), sorgte für guten und zweckmäßigen Unterricht, dessen Bezahlung er selbst übernahm, er beaufsichtigte und beeinflußte die Verkaufsstellen für die Lebensmittel, für deren möglichst billige und preiswürdige Lieferung er besorgt war, schuf Kinderbewahranstalten, Spielplätze, Lesezimmer und andere veredelnde Einrichtungen, um in jeder Beziehung seine Umgebung auf eine höhere gesellschaftliche Stufe zu heben. Daß ihm dies wirklich gelang, ist dadurch erwiesen, daß heutzutage noch, beinahe zwei Menschenalter nachher, die Bevölkerung New-Lanarks sich durch bessere Bildung vortheilhaft auszeichnet. Diese Seite des Owenschen Wirkens, die philanthropische, trug ihm denn auch eine Reihe bewundernder Besuche und Schreiben aus hohen Kreisen ein. Der Kaiser Alexander I. von Rußland und Friedrich Wilhelm III. von Preußen wandten seinen Gedanken, namentlich seinen erzieherischen, besondere Aufmerksamkeit zu; letzterer schickte ihm ein Handschreiben, worin er Owen mittheilte, er habe Befehl gegeben, das Erziehungssystem, das sich in Lanark so sehr bewährt habe, bei den preußischen Schulreformen so weit als möglich zu berücksichtigen.

Es ist begreiflich, daß Owen hiermit nicht zufrieden war, um so weniger, als weder seine Mitfabrikanten noch die Regierungen – die eigene wie die fremden – seinem dringenden Verlangen nach durchgreifender wirthschaftlicher Hebung des Arbeiterstandes Folge leisteten.

Es drängte ihn daher weiter, zu anderen Mitteln. Die eigene Vereinigung der Genossen sollte das ersetzen, was seitens der Regierung nicht geschah, und so wurde Owen auch der Ausgangspunkt für die verschiedenen Formen der Genossenschaftsbewegung. Ein Versuch, der in den Jahren 1826 bis 1832 mit einer Arbeitsbörse, einer Warentauschbank gemacht wurde, mißlang. Es war dies ein von Owen mit Kapital ausgestatteter künstlicher Markt, auf welchem jede Ware nach der Arbeitsmenge, die sie enthielt, gewerthet, bezw. gekauft wurde; die Einrichtung scheiterte natürlicherweise an dem nicht regelbaren Absatz. Ebenso wollten Konsumvereinsgründungen nicht recht in Fluß kommen; erst zwölf Jahre später nahmen sie unter dem Vorantritt der redlichen „Pioniere von Rochdale“ einen großartigen Aufschwung.

Alle diese Anregungen waren jedoch für Owen nur Mittel zum Zweck. Was ihm als letztes Ideal und Ziel vorschwebte, das war die „Heimkolonie“, welche er seit 1817 öffentlich befürwortete.

Die Heimkolonie ist eine Produktivgenossenschaft von 500 bis 2500 Menschen verschiedenen Geschlechtes, die unter Aufhebung des verderblichen Gegensatzes zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirthschaft mit vereinigter Kraft arbeitet, sich selbst verwaltet und durch besondere Vertreter sich mit den Verwaltungen anderer Heimkolonien in Verbindung setzt, wobei durch eine Art von Oberverwaltung Produktion und Verbrauch der verbündeten Heimkolonien geregelt werden. Mit dem ganzen Nachdruck seiner Person trat Owen für die Verwirklichung dieses Gedankens ein und scheute sich nicht, in öffentlichem Redestreit dafür zu sprechen; so vertheidigte er am 5. März 1839 in einer derartigen Erörterung einem Geistlichen der Dissenters gegenüber seine Aufstellungen, wobei er in den zwei letzten seiner vierundzwanzig Thesen ausdrücklich betonte, daß die von ihm erstrebte Bildungen mit weit weniger Opfern an Kapital, Zeit und Arbeit eingeführt werden könnten, als jetzt nöthig sei, um den widerspruchsvollen Zustand der Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Der Uebergang könne ohne irgend welche Unordnung oder Verwirrung in einer jedem Einzelnen wohlthätigen Weise bewerkstelligt werden.

In der That wagte es Owen, getreu seinem ganzen Wesen, das, was er in New-Lanark versuchsweise angebahnt hatte, auch wirklich zur Ausführung zu bringen. Im Jahre 1824 ging er zu diesem Zweck nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika und hielt dort aufsehenerregende Vorträge, sogar vor den Kongreßmitgliedern zu Washington im Kapitol. Die erste Gemeinde, die ihm folgte, 900 Köpfe stark, fand ihr Heim in dem Dorfe New-Harmony an den Ufern des Wabash im Staate Indiana, das die Rappisten, von denen wir unten näheres hören werden, verkauften. Anfangs herrschten auf dem etwa 30000 Acker (12000 ha) umfassenden Gebiete helle Begeisterung und reger Arbeitseifer. Aber schließlich kam es über der Frage, ob Owen Diktator werden solle, zu Zwistigkeiten; viele Glieder verließen das Dorf, und der gemeinsame Besitz mußte aufgetheilt werden. Die „Heimkolonie“ war gescheitert! Warum? Es waren „Unehrliche“ unter den 900, es waren Trinker darunter, auch Faulpelze; sie waren eben nicht alle „von Natur gut“. Ebenso erfolglos verlief der Versuch, den eine Verehrerin Owens, Francis Wright, in Nashoba in Ost-Tennessee machte; auch dieser mißlang, wie die Dame selbst gesteht, infolge der Selbstsucht der Vertrauenspersonen; sie versicherte nachher, eine Kommunistengemeinde werde nur dann bestehen, wenn alle ihre Mitglieder höhere Wesen wären! Ihr Unternehmen hatte sich nur zwei Jahre gehalten, über ein halbes Dutzend weiterer Versuche brachten es nicht einmal soweit; sie brachen zusammen, ganz ähnlich wie die auf Fourier mittelbar zurückzuführenden Gründungen auf dem unermeßlichen und besonders geeigneten Versuchsfeld Nordamerika.

[395] In Europa wagte 1830 der irische Grundbesitzer Vandaleur eine Probe. Er vereinigte etwa 40 Arbeiter in eine Gesellschaft unter seiner Leitung. An sie verpachtete er sein Gut Ralahine in der Grafschaft Clare unter genaueren Bestimmungen, welche den Owenschen Grundsätzen nachgebildet waren. Diese Gesellschaft gedieh so sehr, daß nach zwei Jahren die Zahl der Genossenschafter sich verdoppelte. Da verspielte Vandaleur, der die Leitung in der Hand hielt und Besitzer des Grunds und Bodens war, „zufällig“ sein Vermögen, und die Gläubiger bemächtigten sich des auf den doppelten Werth gestiegenen Gutes. Diesen Schlag könnte man zunächst versucht sein, als eine jener Ironien der Weltgeschichte zu bezeichnen, vor denen manchmal der Geschichtschreiber rathlos und schmerzlich bewegt steht. Allein hier wird diese Thatsache als solche der Beweis dafür, daß eben nicht alle Menschen von Natur gut und charakterfest sind – wie Owen es war und auch von anderen immer voraussetzte.

Der Irrthum Owens war der, daß er glaubte, es sei einem Einzelnen vorbehalten, ganze Bevölkerungsschichten, ja gerade die herrschenden, umzubilden. Er hatte einstens in einer großen Rede, in der er sich auch vom Christenthum öffentlich lossagte, unter dem größten Staunen der Anwesenden behauptet, das Gewissen der Menschen, ihr ganzer geistiger Charakter werde gerade so gut fabriziert wie ein Baumwollstoff oder irgend eine andere Ware. Wenn er seinen großen Landsmann und Zeitgenossen Darwin zuvor gefragt hätte, so hätte ihm dieser kühle Forscher vielleicht gesagt: „Ja, aber nur durch die Arbeit der Jahrhunderte,“ und ein Spencer hätte dies in seiner Art bestätigt. „Unser guter Owen litt Schiffbruch,“ sagt darum ein Freund des Mannes, „weil er nicht recht verstand, daß alle Dinge, die leben, sich aus sich selbst heraus entwickeln.“

Trotz alledem bedeuten Owens Gedanken ein erstes Hereinleuchten wissenschaftlicher Klarheit in das bisher noch so dunkle Gebiet der Gesellschaftswissenschaft. Was Owen aber als Mensch seinem Volke und der Welt war, das drücken wir am besten aus mit seinen eigenen Worten, die er kurz vor seinem Tode einem Geistlichen erwiderte: „Ich habe mein Leben nicht fruchtlos verschwendet. Ich habe der Welt wichtige Wahrheiten verkündet, und hat die Welt sie nicht angenommen, so ist es, weil sie dieselben nicht begriffen hat. Ich tadle die Welt darum nicht. Ich war meiner Zeit voraus.“

So war es: die Geschichte des englischen Genossenschaftswesens und Arbeitsschutzes , ja die ganze Gegenwart ist eine glänzende Bestätigung dieses nicht ruhmrednerischen, sondern streng sachlichen und wahren Selbstzeugnisses.


Johann Georg Rapp.

Zu dem Engländer Owen steht in einem bemerkenswerthen Gegensatz ein deutscher Kommunist, der die „Gartenlaube“ schon mehrfach beschäftigt hat, Johann Georg Rapp. (Siehe u. a. Jahrg. 1890, Nr. 47.) Während Owen die Religion verpönte und offen mit ihr brach, finden wir sie bei Rapp als die innere Wurzel des Ganzen und, mit der Persönlichkeit zusammengeschmolzen, auch als Werkzeug der äußeren Leitung. Johann Georg Rapp, 1757 als Bauernkind zu Iptingen bei dem schönen Kloster Maulbronn in Württemberg geboren, zeigte schon früh neben allgemeiner Begabung besondere religiöse Empfänglichkeit und Herrschtalent. Er wurde Leineweber, „Separatist“, d. h. Frommer auf eigene Eingebung und, wie man diese Leute dort zu Lande nennt, „Pietist“, „Stundenhälter“, in welcher Rolle er bald zum großen Leidwesen seines Pfarrers großen Zulauf gewann. Er zeigte sich gegenüber allen Verwarnungen und Strafen der Regierung, die damals auch noch Religionsverweigerungen ahndete, vollkommen empfindungslos, theilte das Abendmahl unter die 12 bis 15 Stunden weit herkommenden Landleute aus, veranstaltete mittels der mitgebrachten Nahrungsmittel großartige Liebesmahle und genoß ein vollkommen patriarchalisches Ansehen. 1803 wanderte er mit seinem Sohn und zwei Anhängern nach Amerika aus, welches er als das von Gott zur Sammlung der Seinen auserwählte Land ansah. Er predigte drüben mit großem, auch finanziellem Erfolg und kaufte schließlich bei Pittsburg 6000 Acker Land. Daraufhin kamen etwa 700 seiner Anhänger aus Württemberg im Jahre 1804 drüben an. Geleitet von jenem Vers der Apostelgeschichte (Kap. 4, 32): „Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein,“ gaben sie ihrer ersten Niederlassung den Namen „Harmony“ und gründeten dieselbe auf einen Gesellschaftsvertrag, dem gemäß die Kolonisten ihr Vermögen zusammenlegten und sich zu gemeinschaftlicher Arbeit verpflchteten. Rapp war geistiges Oberhaupt, sieben Aelteste waren ihm beigeordnet. Allein Rapp war ein gestrenger Herr, und etwa 80 Familien sonderten sich bald ab, weil sie zu viel arbeiten mußten. Die verkleinerte Kolonie selbst gedieh jedoch außerordentlich rasch, bis 1815 Rapp sie wegen der ungünstigen Verkehrswege theuer verkaufte und mit den Seinen nach Indiana zog, wo er „New-Harmony“ gründete. Neue Heimathgenossen kamen, auch hier blühte alles prächtig auf, bis Rapp auch diese Kolonie 1824 um 500000 Dollars an Owen und seine Leute verkaufte. In Pennsylvanien wird nun am Ohio die dritte Kolonie, „Economy“, gegründet. Abermals ging die Entwicklung unter Rapp ganz gut von statten. Rapp war der geistliche wie der weltliche Diktator des Ganzen, was sich ganz offen in seinen äußeren Verhältnissen wie in seiner Art, sich zu geben, aussprach. Er speiste auf Silber, hielt 4 Pferde und einen Kutscher, hatte eine Art Thron bei seinen Vorträgen und pflegte offen zu sagen: „Mein Wille ist Gesetz.“ Seit 1807 predigte Rapp gegen die Ehe und duldete keine Eheschließungen mehr, da die Wiederkunft Christi von ihm auf den 15. August 1829 angesetzt worden war. Schon 1820 hatte er sich zum alleinigen Eigenthümer des Gesamtvermögens der Kolonie machen lassen, wobei alle etwa Austretenden im voraus aus ihre Antheile verzichteten.

Der äußerliche Zustand der Kolonie wird 1826 von Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar, der sie besuchte, als ein ganz erstaunlich guter geschildert. Die Wiederkunft Christi erfolgte zwar 1829 nicht, wohl aber kündigte sich ein „Gesandter Gottes“ an. Im Jahre 1831 zog er pomphaft in Economy ein und brachte bald eine Spaltung der Gemeinde zuweg, bei der 500 Glieder für Rapp, 178 für „Graf Léon“, alias Bernhard Müller, sich entschieden; letztere gründeten das rasch wieder hinsiechende „Neu-Jerusalem“. In Economy herrschte Rapp bis zu seinem Tode, 7. August 1847, nach ihm Romelius Backer bis 1871 und seit 1871 Jakob Henrici. Infolge mangelnden Zuzugs ist die Kolonie am Aussterben, und es ist wegen des 5 bis 12 Millionen Dollar betragenden Vermögens ein Erbschaftsprozeß in Sicht, der diejenigen Gemeinden Württembergs, aus denen die ersten Kolonisten ausgingen, seit längerer Zeit in nicht geringer Aufregung erhält.

Das Urtheil über Rapp wird immer ein gemischtes sein. Er war halb religiöser Schwärmer, halb eigensinniger, herrschsüchtiger Bauernführer. Seine Geschichte zeigt, wie viel auf das Organisationstalent und die persönliche Macht eines einzelnen Mannes ankommt. Die Welt wollte er nicht verbessern, wohl aber hat er ihr gezeigt, daß religiöse Mächte vorläufig immer noch ein wirksamerer Kitt für die Organisation der Massen sind als die reine Vernunft und das kindliche Zutrauen zu der guten Natur aller Menschen. Insofern sind Owen und Rapp merkwürdige Gegensätze.

Wie es einstens dem Dichter Lenau drüben in der Rappschen Kolonie nicht recht behaglich werden wollte, so ging und geht es noch manchem anderen bis auf diesen Tag. Weder der französische Elan eines Fourier und Cabet, noch die englische Nüchternheit Owens, noch endlich die süddeutsche, mit religiöser Schwärmerei verbundene Zähigkeit Rapps waren imstande, eine neue Gesellschaft aus dem Boden zu stampfen. Sie brachten immer die alten Menschen mit, der Wurm stak schon zuvor im Apfel. Echte und dauernde Begeisterung für Gemeinsamkeit in Arbeit und Genuß kann nur da auf die Dauer wohnen, wo gleichen Ansprüchen gleiche Einsätze entsprechen. Nur Menschen, die sich an Charakter, Bildung, Neigung und Bedürfnissen sehr nahe kommen und gleichzeitig geistig überhaupt sehr hoch stehen müßten, könnten „vielleicht“ das Ideal einer wirthschaftlichen Gemeinschaft im kleinen wirklich durchführen. Da aber solche Menschen leider auch ausgangs dieses Jahrhunderts, wie anfangs desselben, noch sehr selten sind, so bleiben sie vorläufig wohl besser in der Gemeinschaft der übrigen, um an der allmählichen Hebung der unten Stehenden selbstlos zu arbeiten.




[396]

Das wiederauferstandene Wikingerschiff.

Mit Zeichnungen von Hans Bohrdt.

Ungefähr ein halbes Jahrtausend, ehe die Karavellen des Kolumbus den Atlantischen Ocean durchfurchten und statt der gesuchten Gestade Indiens die eines unbekannten Landes fanden, hat, wie bekannt, ein kühnes Seefahrervolk auf anderem Wege bereits den Boden desselben Kontinents erreicht. Es waren die skandinavischen Normannen, die, wie sie die Küsten Mitteleuropas und seiner Inseln auf schweifenden Raubzügen heimsuchten, so auch nach dem nordischen Meere ihre Fahrten ausdehnten, die Orkney- und Shetlandinseln, die Faröer besetzten, Island und Grönland in ihren Machtbereich zogen und von hier aus schließlich auch an der Ostküste des heutigen Amerikas hinabsegelten.

Das Wikingerschiff für Chicago auf hoher See.


Bjarne Herjulfson war nach alten Berichten der erste, der, als er seinen Vater in Grönland aufsuchen wollte, durch heftigen Nordwind nach Süden verschlagen wurde und in die Gegend von Neu-Fundland und Neu-Schottland gerieth, ohne doch dort zu landen. Seine Erzählung von dem neuen unbekannten Lande reizte Leif, den Sohn Eriks des Rothen, die Fahrt ihm nachzuthun. Mit 35 Genossen machte er sich auf seine kühne Entdeckungsreise, berührte Neu-Fundland und Neu-Schottland und ging schließlich an einer Stelle vor Anker, die man in dem heutigen Massachusetts suchen zu dürfen glaubt. Er errichtete daselbst eine Ansiedlung, in der er mit seiner Schar den Winter verbrachte. Die Gegend erwies sich als äußerst fruchtbar, und als besondere Merkwürdigkeit fanden die Seefahrer Weintrauben in Hülle und Fülle.

Mit dieser Entdeckung der Trauben verknüpft sich eine hübsche Geschichte, aus der wir zugleich – die Glaubwürdigkeit der alten von Rudolf Cronau in seinem Werke über Amerika benutzten Berichterstatter vorausgesetzt – entnehmen können, daß auch unsere engere germanische Heimath bei dieser Wikingerfahrt nach Amerika nicht ganz unbetheiligt war. Um nämlich eine genauere Untersuchung des Landes zu bewerkstelligen, hatte Leif Erikson seine Mannen in zwei Abtheilungen getheilt, von denen die eine zur Bewachung der „Leifsbudir“ getauften Ansiedlung zurückblieb, während die andere Streifzüge in die Umgegend zu unternehmen hatte. Eines Tages ereignete es sich nun, daß einer der zur Kundschaft ausgesandten Männer fehlte, und dieser Vermißte war ein Deutscher Namens Tyrkir (Dietrich), ein unansehnliches Männchen, aber sehr geschickt in allerlei Handwerk. Derselbe hatte schon in den Diensten von Leifs Vater gestanden und hatte Leif von dessen Kindheit an sehr geliebt. Um den Vermißten zu suchen brach Leif selbst sofort mit zwölf Männern auf, doch war man noch nicht weit gekommen, als Tyrkir ihnen entgegeneilte, augenscheinlich in einem ganz aufgeregten Zustande. Die Fragen Leifs beantwortete er in der Erregung zuerst in deutscher Sprache, zugleich lachte er vor sich hin. Erst nach einer Weile fing er an, isländisch zu reden, und berichtete, daß er Weintrauben und Reben in Fülle gefunden habe, welche er von seinem deutschen Heimathland aus sehr wohl kenne.

So kam es, das man dem neu entdeckten Lande den Namen „Winland“, Weinland, gab.

Andere Normannen folgten, und bald kam es auch zu Kämpfen mit den Eingeborenen. Es waren Gestalten von dunkler Hautfarbe, mit bösartigem Aussehen, struppigen Haaren, großen Augen und breiten Backenknochen – eine Beschreibung, aus der man auf ihre Zugehörigkeit zu einem Eskimostamme schließt. Sie waren im Besitz von Fellbooten und erwiesen sich als gewandte Bogenschützen. Thorwald Erikson fiel unter den Pfeilen der Skrälinger – „Schwächlinge“, so hießen die nordischen Helden die unscheinbaren Bewohner – ein anderer, Thorfinn Karlsefni, hatte bereits eine regelrechte Schlacht gegen sie zu bestehen. Nichtsdestoweniger setzten sich die Wikingerzüge nach der verführerisch schönen und reichen Küste noch jahrelang fort, bis nach Karolina sollen sie sich ausgedehnt haben. Endlich aber wurden sie durch eine Reihe ungünstiger Umstände unterbrochen, die Ansiedlungen auf amerikanischem Boden gingen wie die auf Grönland ein, und immer dunkler und verschwommener wurde die Kunde von dem Vinland im fernen Westen. Ein dauernder Verkehr zwischen der Alten und der Neuen Welt hat sich an die Fahrten eines Leif Erikson nicht angeknüpft; einen solchen zu eröffnen und damit die Neue Welt wirklich mit der Alten zu verbinden, das ist erst dem kühnen Genuesen Christoforo Colombo beschieden gewesen.

Wenn somit die Fahrzeuge der nordischen Seehelden sich an geschichtlicher Bedeutung nicht mit den Karavellen des Kolumbus messen können, so ist ihr Antheil an der Vorgeschichte Amerikas doch immer noch groß genug, um sie den Reliquien an die Seite zu stellen, welche uns an jene alten Zeiten erinnern. Es war darum ein ganz folgerichtiger Gedanke, wenn man auf der Wellausstellung zu Chicago der Flotte des Kolumbus, d. h. ihrer naturgetreuen Nachbildung, auch eine solche der „schaumhalsigen Wellenrosse“ jener nordischen Seekönige beigesellen wollte.

Dieser Gedanke ging aus von einem norwegischen Seemann Namens Magnus Andersen, und in Norwegens Hauptstadt stand ja auch die beste Vorlage für diesen Zweck zur Verfügung. Im Archäologischen Museum der Universität Christiania sind nämlich die Reste eines Wikingerschiffs aufbewahrt, das im Jahre 1880 in einem Grabhügel bei Gokstad in der Nähe des Seebadeortes Sandefjord am westlichen Ufer des Christianiafjords gefunden wurde und nach zuverlässigen Annahmen etwa aus dem Jahre 900 n. Chr. stammt.

Es war eine in dieser Zeit – die Gelehrten bezeichnen sie als das „jüngere Eisenzeitalter“ – nicht selten geübte Sitte, daß man die Toten auf und mit dem Schiff begrub, das sie im Leben getragen. Man zog das Fahrzeug auf den Strand, zimmerte darin eine Grabkammer, welche die mit vollem Waffenschmuck bekleidete Leiche aufnahm, und wölbte darüber die Erde. Einer solchen Bestattung verdanken wir auch den Fund von [397] Gokstad; der Hügel, in welchem er ruhte, hieß im Volksmunde der „Königshügel“, und es ging von ihm die Sage, daß darin ein König mit allen seinen Schätzen begraben liege. Als nun die Bewohner der Umgegend, von jener Sage gereizt, auf eigene Faust nachzugraben begannen, da legte sich die Antiquarische Gesellschaft zu Christiania ins Mittel und unternahm, um alles weitere abzuschneiden, selbst eine planmäßige Ausgrabung des Hügels. Da kam jenes alte Schiff zu Tage, vorzüglich erhalten, dank einer Schicht blauen Thons, welche es umgab. Ueber 20 Meter lang war sein Kiel, seine Breite betrug in der Mitte 5 Meter; es führte einen Mast und 32 Ruder. Man fand darin Menschenknochen, Schiffsgeräthe, kupferne und eiserne Gebrauchsgegenstände und Waffen, sowie vergoldete, silberne und bronzene Beschläge, die offenbar für Gürtel und Reitzeug bestimmt waren und theilweise schöne Gravierungen trugen. Eine ganz besonders merkwürdige Erscheinung bilden für unser Auge die runden Schilde an der Seite des Schiffes. Dort war der Platz, wo die Bemannung während der Fahrt ihre Schilde aufhing, und da diese, wie gerade auch aus den Gokstader Resten hervorgeht, in verschiedenen Farben, z. B. in unserem Falle gelb und schwarz, bemalt waren, so trugen sie nicht wenig zum Schmuck des Ganzen bei.

Das alte Wikingerschiff von Gokstad an seinem Fundorte.

In und bei dem Fahrzeuge lagen die Reste von drei kleineren Booten sowie Gerippe von Pferden und Hunden. Unsere obenstehende Abbildung zeigt uns den tausend Jahre alten Zeugen der nordischen Heldenzeit an seiner Fundstätte, von der er dann alsbald nach Christiania übergeführt wurde.

Nach diesem Muster nun wurde auf Betreiben Andersens mit Hilfe von Beiträgen aus ganz Norwegen das Wikingerschiff für Chicago gebaut und es befindet sich nunmehr bereits unterwegs nach seinem Bestimmungsort. Die Fahrt über den Ocean, welche das im Verhältniß zu den neuzeitlichen Meerdurchfurchern doch gar bescheidene Fahrzeug – unser Bild S. 396 giebt ungefähr eine Vorstellung von dem Unterschied der Maße – ganz allein und selbständig durchführen will, ist kein kleines Wagniß; aber die heutigen Norweger wollen offenbar an Kühnheit und Entschlossenheit hinter ihren Altvordern nicht zurückstehen. Von New-York soll es dann den Hudson hinauf gehen bis Albany, von da durch den Eriekanal in den Eriesee, und weiter durch die kanadischen Seen bis nach Chicago. Hoffen wir, daß es, bis diese Zeilen in die Hände unserer Leser gelangen, das Ziel seiner Reise glücklich erreicht habe!

Eines aber möchten wir nicht unterlassen hier anzufügen. Auch in Kiel befindet sich der wohlerhaltene Rumpf eines Wikingerschiffs, das am 18. August 1863 im Nydamer Moor in Schleswig gefunden wurde. Es stammt aus dem vierten Jahrhundert n. Chr., ist also um ein volles halbes Jahrtausend älter als das norwegische. Wenn es bisher nicht dieselbe Berühmtheit erlangte wie jenes, so mag dies von seinem etwas ungünstigen Aufbewahrungsort herrühren. Es diente offenbar ausschließlich als Ruderboot, und während es an Länge dem Gokstader Schiffe gleich kommt, ist es bedeutend schmäler (3,30 Meter). Von jenem Schiffe aber, das in Chicago die Aufmerksamkeit der halben Welt auf sich zu ziehen berufen ist, soll ein ganz genau gleichgestalteter Bruder angefertigt werden, der dann zum Trost und zur Entschädigung solcher, welche nicht nach Chicago dürfen, diesen Sommer unter anderem auch in der Reichshauptstadt Berlin sich sehen lassen wird. H. E.     


Das Rechte.

Novelle von Adelheid Weber.

Wir schritten durch das goldgrüne Maigras. Mein Mann machte mit den Freunden einen Abstecher nach Burg Lochstädt und hatte mich, die ich zur Zeit schlecht zu Fuß war, in der Obhut unseres alten lieben Sanitätsraths am Seestrande zurückgelassen. Mir war sehr wohl zu Muth. Meer und Himmel lachten in strahlendem sonnendurchleuchteten Lichtblau, die gelben Blüthenkätzchen der Birken nickten auf ihren schwanken Stielchen lustig ins köstliche Blau hinein; die Blätter der Gebüsche drängten und stießen die rosigen Knospenhüllen mit Gewalt entzwei und hingen dann in Büscheln, ganz von Jugendglanz umgossen, aus den purpurnen Hüllen nieder; die Vogel hatten noch solch köstlich ungeübte, ein wenig heisere schüchterne Tönchen, und plötzlich schwang sich hie und da aus ihrem Stammeln ein Schrei empor – jauchzend, scharf, ungestüm, als sei er die Stimme der machtvoll dem Werden entgegendrängenden Natur. Ich konnte nicht anders: der Jubelschrei der Natur wollte auch aus mir heraus, ich machte wie die Vögel die Augen zu und den Mund auf und sang den Sonnenschein an.

„Da lockst du gar ins frische Grün
Die allerschönsten Mädchen hin!“

sang ich und hatte recht damit, denn Wald und Strand hatte der Sonntag mit ganzen Völkerschaften von kleinen Nähmädchen und großen Damen beschickt; sie trugen alle rothe, grüne, blaue Kleidchen, als hätte der Frühling selbst sie ihnen angezogen, und sie waren alle schön, alle, mit ihren lachenden Lippen und ihren sehnsüchtig strahlenden Augen – und sie sahen alle aus, als dämmere ihnen das Bewußtsein, daß sie und wir und Laub und Vögel und Wasser alle Kinder seien derselben großen Mutter und daß in uns allen derselbe ungestüme Werdedrang lache und weine, hoffe und bange.

Aber mitten in meinem Singen unterbrach mich der Sanitätsrath, indem er meinen Arm bedeutungsvoll, wie abmahnend berührte. Verwundert sah ich den alten Freund an, denn er war trotz seiner Sechzig voll Verständniß für Lebenslust, ja er hielt sich geradezu zum jungen Volk, damit es ihm die eigene Jugend – nicht etwa zurückbrächte, sondern festhielte; denn er fühlte sich frisch und thatkräftig wie der Jüngste und war der glücklichen Ueberzeugung, daß ein Tropfen wahrer Freude kräftig genug sei, einen Becher voll Leid mit köstlichem Aroma zu durchduften, mit rosigem Schimmer zu überglänzen und ein Körnchen echter Güte gleich dem Sauerteige fähig, ein gehäuftes Theil zäher Selbstsucht zu durchdringen und nutzbar zu machen.

So folgte ich denn, von dem plötzlichen Ernst betroffen, welcher das joviale Lächeln von seinem frischen Gesichte vertrieben hatte, seinem Blick und sah in einiger Entfernung von uns zwei Damen stehen, mit dem Gesicht dem Meere zugewandt, deren Erscheinung sich in dem Frühlingszauber freilich gleich einem Tintenfleck in einer schönen Malerei ausnahm. Sie waren beide von Kopf bis zu Fuß in Schwarz gekleidet, und die eine, größere, schlankere der beiden trug eine breite schwarze Binde über dem linken Auge, welche auch einen Theil der mir zugewandten Wange bedeckte und das Gesicht so verbarg und entstellte, daß man beim ersten Blick eigentlich nichts gewahrte als die Binde. Als wir den Damen dann näher kamen, sah ich freilich, daß die mit der Binde, nach der sehr weichen und feinen Rundung von Wange und Kinn und dem blüthenweißen Teint zu schließen, noch jung sei und vielleicht ohne die Entstellung schön gewesen wäre, während die alte Dame ein unschönes verbittertes und vergrämtes Gesicht hatte. Einige Schritte von ihnen spielte ein weißgekleidetes kleines Mädchen im [398] Sande. Alles in allem war der Anblick der beiden, die eng aneinander geschmiegt, schwarz wie das leibhaftige frierende Unglück in dem Sonnenglanz dastanden, wohl geeignet, einen mit jenem Schauer die Schritte beschleunigen zu lassen, mit dem der Gesunde vor dem Anschauen unheilbarer Krankheit flieht.

„Es ist meine Hauswirthin, Frau Doktor Kolw, mit ihrer Tochter“, flüsterte der Sanitätsrath. „Sie begehen heute den fünften Jahrestag des Ereignisses, das dem Mädchen da das linke Auge gekostet hat.“

„Die Arme!“ rief ich aus. „Sie kann noch nicht alt sein und war jedenfalls nicht häßlich.“

„Sie ist heute sechsundzwanzig Jahre alt und war einundzwanzig, eine Schönheit, die Braut eines sehr reichen Mannes von bestrickender Liebenswürdigkeit, der sie vergötterte, als ihr das sogenannte Unglück in einer Sekunde die volle Sehkraft, Jugend, Schönheit, den Geliebten und die Zukunft raubte,“ antwortete mein alter Freund.

„Das sogenannte Unglück?“ wiederholte ich befremdet. „Ich meine, vor Thatsachen gleich dieser müßte auch Ihr Optimismus die Segel streichen, Doktor. Schönheit und Liebe auf einen Schlag zu verlieren – wo gäbe es ein schlimmeres, unversöhnlicheres Geschick als dieses?“

„Wenn nun aber in dieser Schönheit und dieser Liebe der Keim eines noch größeren dauernden und unversöhnlichen Unglücks verborgen gewesen wäre?“ erwiderte mein Begleiter. „Denn darüber sind wir wie alle nachdenklichen Menschen doch wohl miteinander einig, daß Glück und Unglück – das echte Glück und das wahre Unglück, nicht die sogenannten, die in äußeren Umständen beruhen – ganz individuell sind und im Frieden oder Unfrieden mit uns selbst, im Sichausleben oder Unterdrücktwerden unserer Natur, das heißt unserer stärksten drängendsten Eigenschaften und Kräfte bestehen. Und wenn die Geschichte dieses Mädchens wieder einmal schlagend die Richtigkeit des so klaren und doch immer wieder vergessenen Satzes von der individuellen Prägung von Glück und Unglück bestätigte? – Aber statt zu docieren, will ich Ihnen erzählen. Kommen Sie weiter in den Wald hinein, damit wir ungestört sind!“

Und im Weiterschreiten erzählte mein alter Freund:

„Ich muß weit ausholen, wenn ich Ihnen Mariannens Geschick ganz verständlich machen soll. Denn es ist, wie gesagt, das Ergebniß ihrer Charakteranlage, und die Bildung und Entwicklung des Charakters greift weit in die Kindheit, ja in Charakter und Geschick der Eltern zurück. Ich kannte Mariannens Eltern genau; als bester Schulfreund eines jüngeren Bruders ihres Vaters war ich fast täglicher Gast in dessen Elternhause; als dann Fritz – so hieß Mariannens Vater – als rasch zu Namen gekommener Frauenarzt eine Klinik errichtete, machte er mich, der eben promoviert hatte, zu seinem Assistenten und nahm mich in sein Haus und an seinen Tisch. Ich bin ihm Dank schuldig und habe ihn auch ohne das rechtschaffen lieb gehabt; denn er war ein guter Kerl, so, was man ‚eine Seele von einem Menschen‘ und ‚ein fideles Haus‘ nennt, von jener Gutmüthigkeit, die eigentlich in Leichtsinn, und jener Heiterkeit, die in Oberflächlichkeit ihren Grund hat, die aber, verbunden mit einem sprudelnden Humor, seine Persönlichkeit bis ins reife Mannesalter mit dem Zauber unverwüstlicher Jugendlichkeit umgab. Zudem war er ein bildschöner Mensch – Gardelieutenants-Typus – blond, prächtige Figur, breite Schultern, schmale Hüften, das unwiderstehliche Schwerenötherlächeln unter dem kecken Schnurrbärtchen und in den kornblumenblauen Blitzaugen. Natürlich war er Don Juan und Herzenbrecher bis ins reife Mannesalter, und ebenso natürlich ein schlechter Haushalter, der nicht nur seine reichen Einnahmen, sondern auch das große Vermögen seiner Frau in Sekt und Spiel und noblen Passionen mit guten Freunden verthat. Und nun diese Frau! Es lief eine Anekdote über seine Werbung um, von der ich zu seiner Ehre annehmen will, daß sie erfunden war, die aber so treffend seinen Charakter und sein Verhalten kennzeichnet, daß ich sie in höherem Sinne wahr nennen muß. Er war der sehr reichen Betty Löwenberg auf einem Juristenball vorgestellt worden und hatte einen Walzer mit ihr getanzt. Darauf geht er sofort ans Büffett und sagt zu einem Corpsbruder: ‚Brr – einen Schnaps! – Aber ich nehm’ sie doch!‘

Von der Ehe, die auf solchen Grundlagen ruhte, können Sie sich einen Begriff machen. Ober Sie können’s doch nicht; denn was den Konflikt verschärfte und unheilbar machte, war der Charakter der Frau. Betty Löwenberg hatte früh gewußt, daß sie sehr häßlich sei: etwas schief gewachsen, klein, mit rundem Rücken, großer Nase, schmutzig braunem Teint. Sie hatte allerdings sehr schöne, große, traurige, schwarze Augen – Marianne hat sie von ihr geerbt – aber wer schaut einem so häßlichen Mädchen in die Augen? Weil sie aber einen scharfen und klaren Verstand hatte, war sie sich früh über ihre Häßlichkeit und deren Folgen klar geworden und zog sich von der Welt zurück, die für sie keine Freuden übrig hatte. Je älter sie wurde, desto mehr vereinsamte sie, desto mehr warf sie sich in ihre Bücher und Studien hinein und wurde so eine gelehrte Frau – eine Menschengattung, die damals noch mehr als heute von der Dummheit und Oberflächlichkeit, die nie dem Warum und sehr selten dem Wie auf den Grund geht, als eine Abnormität geächtet und verspottet wurde. Armes Geschöpf! Natürlich gab ihr bißchen oberflächliche Frauenbildung ihren Studien keine feste Grundlage; natürlich konnte sie auf dem der Frau überall versperrten Wege nicht zu einem Ziele kommen, das des aufreibenden Kampfes verlohnt hätte; natürlich schätzte sie das Erreichte viel zu hoch, weil sie’s mit so großer Mühe erlangt hatte – und natürlich hatte darum die Welt recht, wenn sie diese kleine arme ‚Gelehrte‘ eine verbildete verbitterte Närrin nannte. Und zu ihrem Unglück hatte dies arme Ding ein heißes Herz, und das schrie um so lauter nach Freude und Liebe, je länger es von fremdem Uebelwollen und eigener Selbstbeherrschung grausam geknebelt worden war. Als nun der schöne, von Heiterkeit und Liebenswürdigkeit strahlende Doktor Kolw auf jenem Balle, den Betty einer Freundin zuliebe mitmachte, sie mit seinen scheinbar von innen herausstrahlenden hübschen Huldigungen überschüttete, da sprang das geknebelte Herz auf und jubelte laut. – Armes Ding! Ob sie sich wirklich über die Beweggründe seiner Werbung getäuscht, ob die spät aufflammende Leidenschaftlichkeit ihrer Natur um jeden Preis nach Befriedigung verlangt hat – wer weiß es! Sicher ist nur eins: daß sie unglücklich werden mußte und in der That schon in den Flitterwochen bis zur Verzweiflung unglücklich war. Denn was das Schlimmste war: sie liebte ihren Mann, alle die Jahre hindurch, und schämte sich bitter dieser Liebe, über die er lustig und gutmüthig gelacht hätte, wenn er von ihr gewußt hätte. Aber sie verbarg sie ihm freilich gut genug unter der abweisendsten starrsten Kälte, denn sie wußte, daß er sie fortwährend betrog, und all ihr Stolz und ihre Frauenwürde sträubten sich dagegen, ihm das Geheimniß ihres Herzens zu verrathen. So verbitterte und vergrämte sie immer mehr.

Ich befand mich damals schon in ihrem Hause. Ich war ein junger Mensch, urtheilte oberflächlich und stand – in der ersten Zeit wenigstens – naturgemäß auf seiten des liebenswürdigen lustigen Mannes gegen die finstere scharfzüngige geizige Frau. Viel später erst habe ich die Tragik begriffen, die darin liegt, wenn ein Mensch sich seiner natürlichsten Regungen schämen muß – dessen schämen, was anderer Glück und Stolz ausmacht – nur darum, weil äußere Umstände bei ihm zur Lächerlichkeit stempeln, was andere schmückt und adelt.

Bei Mariannens Geburt – nach zehnjähriger unglücklicher Ehe – that ich den ersten Blick in dies vereinsamte heiße Herz.

Fritz Kolw hatte als Arzt und Ehemann gefordert, daß das Kind gleich nach der Geburt, welche der Mutter fast das Leben gekostet hatte, von der Schwerkranken getrennt und einer Wärterin übergeben werde. Als er nun von der letzteren hörte, daß Betty sich entschieden weigere, das Kind von sich zu lassen, war er sehr ärgerlich in ihr Zimmer und an das Bett getreten. Da lag das Püppchen, roth und zufrieden wie das Leben selbst, in ihrem Arme, und sie – das Haar hing ihr grau in die Stirn, ihre Züge waren verfallen wie bei einer Todkranken; die Hände hatte sie geballt, die Zähne aufeinander gebissen, als leide sie unsägliche Schmerzen. Da, als er mit einem Machtwort der Quälerei ein Ende machen wollte, hob sie die Augen zu ihm auf. Und diese schwarzen großen ausdrucksvollen Sterne, die er viele Jahre nur verfinstert oder in bitterem Zorne glühend gesehen hatte, strahlten von einer wahrhaft himmlischen Glückseligkeit.

‚Laß sie mir – sie darf ich lieben!‘ flüsterte die Frau.

Das war auch dem leichtherzigen Fritz Kolw durch und durch gegangen, und er erzählte es mir, um sich von dem Eindruck zu entlasten. Ich aber sah damals zuerst in den Abgrund von [399] Schmerz, den das Leben so mancher Frau birgt. Und wie jede erste große Wahrnehmung erschütterte diese mich tief und beeinflußte fortan mein Denken und Verhalten gegen die Frau.

Als Betty gesund geworden war, trieb sie’s ähnlich mit dem Kinde weiter. Es war ein schwaches Pflänzchen und kümmerte in seinen ersten Lebensjahren so hin, jeden Augenblick bereit, das Köpfchen zu senken und umzufallen. Daß es gegen alles Erwarten leben blieb, hat ganz allein die Mutter möglich gemacht, Tag und Nacht – und wie viele Nächte! – trug sie’s herum, bettete es kühl, wenn es fieberte, und warm, wenn es fror, päppelte es mit der peinlichsten Sorgfalt, hätschelte es, hielt mit Bitten und Schelten, mit wahrer Todesangst und lächerlichem Raffinement jedes Geräusch von ihm fern, wenn es schlief, wachte mit Argusaugen, daß niemand es belästige oder aufrege – ja, meine Liebe, damals lernte ich Goethes Wort verstehen: ‚Zwanzig Männer vereint ertrügen nicht solche Beschwerde.‘ Daß die Frauen, solche wie Betty meine ich, sie eigentlich auch nicht ertragen, das heißt, daß sie sie mit ihrer Jugend und Gesundheit und jedem Restchen von leichtem Sinne bezahlen, der uns anderen so gut durchs Leben hilft, das hat Goethe zu erwähnen vergessen, und wir Männer vergessen es alle und wundern uns hinterher, wie rasch manche Frau äußerlich und innerlich altert, wie gedrückt und kleinlich sorgenvoll sie einherwankt, während ihr Mann den Kopf hoch hält und die Welt in ihrer Weite überschaut.

Und wenn wenigstens die Kinder selbst es wüßten und beherzigten! Dann würde wohl die aberwitzige Lehre der Neuzeit nicht aufgekommen sein, daß nur die Eltern für die Kinder, nicht die Kinder für die Eltern da seien, daß der Mensch keine Dankesschuld für seine Existenz abzutragen und das jetzige Geschlecht sich und die ungehinderte Entfaltung seiner Stärke zu bedenken und über das Vorlebende wie über alles Schwache, Kranke, Alte kühn hinwegzuschreiten habe. Eine bequeme Moral – für Bestien! Dankbar sind freilich auch die Hunde.

Entschuldigen Sie die Abschweifung, liebe Frau; mir läuft immer die Galle über, wenn mir diese allermodernste Bestienmoral in den Sinn kommt. Freilich lebte es sich bequemer in der Welt ohne Gewissen und ohne Mitleid, mit dem Rechte des Starken – bis dann die Bestien sich alle untereinander aufgefressen hätten. Denn das wäre natürlich das letzte Ende. Ich gönn’s ihnen von Herzen. Wohl bekomm’s! Unterdes halt’ ich mich zu meinem Herzenstrost an Menschen wie die Marianne.

Ja, also wie gesagt – oder hab’ ich’s noch nicht gesagt? Die Marianne war von klein auf ein besonderes Kind. Schon äußerlich. Sie sah aus wie eine Prinzessin – Sie verstehen schon, ich meine die im Märchen oder in der Volksphantasie, Haare von ganz feinen Goldfäden, in hundert Löckchen wie ein Strahlenkranz um den Kopf zitternd, ein Teint – nun, die Kinder gleichen ja oft Apfelblüthen, aber die Marianne war doch ganz besonders zart, wie durchsichtig – und sie blieb’s auch. Dazu die schwarzen schimmernden Augen mit dem großen fragenden forschenden Blick. Ich sage Ihnen, Frauchen, mich überlief’s manchmal, wenn sie zu mir aufschauten, als wären sie dem Unbekannten, Ungeheuern, Göttlichen noch ganz nahe.

Merkwürdig auch, wie sie sich zu anderen Kindern und diese sich zu ihr verhielten. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie vor ihrem Elternhaus an der Pumpe steht. Es war auf dem Hinterroßgarten, einer Straße, in deren Hintergebäuden viele kleine Leute wohnen, deren Kinder natürlich die Gasse bevölkerten. Da steht der zweijährige Punkt in seinem weißen Spitzenkleidchen, mit den goldenen Haaren, ganz allein – die Betty lag natürlich im Hinterhalt, aber sie ließ dem Kinde sein Vergnügen an dem früh erwachten Selbständigkeitstrieb. Die Marianne steht also ganz allein da und blickt mit ihrem ernsthaften Gesichtchen still und furchtlos vor sich hin. Jetzt kommt Bewegung unter die Straßenjungen. Sie stürzen in die Thorwege hinein, und dann einer nach dem andern wieder heraus, und jeder trägt in der Hand eine Blume oder einen ganzen Wisch, hastig von der Wiese mitsamt den Grashalmen zusammengerafft, und nähert sich dann fein langsam und artig der Marianne, die schon damals nach nichts verlangte als nach Blumen. Und dieser kleine Punkt streckt das winzige Händchen aus, nimmt die Blumen und sagt: ‚Bitte‘ – denn sie verwechselt noch die Höflichkeitsformeln. Wenn aber einer der Jungen wagt, ihr näher zu kommen, streckt sie den Finger aus und sagt streng; ‚Dadeiben!‘ genau wie eine Königin oder eine Gottheit in ihrer unnahbaren Hoheit – und der unnütze unbändige Straßenjunge zieht sich stracks beschämt und gehorsam wie ein gescholtener Pudel von der kleinen Hoheit zurück. Diese Unnahbarkeit blieb ihr zugleich mit einer nicht nur aus ihrer Schönheit zu erklärenden merkwürdigen Anziehungskraft, die namentlich das männliche Geschlecht zu ihr hinzog. Sie aber ging immer still dahin, als wäre sie von einer Isolierschicht umgeben, die niemand durchdringen konnte. Auch ich nicht, der ich, auch nachdem ich mich längst selbständig gemacht hatte, Haus und Tisch mit meinen alten Freunden theilte – ich war der Betty nach und nach ein Freund geworden und gab mich, da ich Junggeselle blieb, gern in ihre hausfrauliche Obhut. Aber auch dem Vater habe ich Marianne nie vertraulich begegnen sehen, obgleich er sie mit Spielsachen, Näschereien, Blumen förmlich überschüttete. Denn er war sehr stolz auf ihre poetische Schönheit. Einmal traf er sie, als sie gerade wieder ‚Weihnachten‘ spielte. Sie hatte alle Topfblumen, die sie schleppen konnte, in ihr Kinderzimmer getragen und um ihr Tischchen gestellt, den Teppich davor mit Blumen bestreut, ihre Puppen ausgeputzt und mit Blumen geschmückt und saß nun, ein Kränzchen von Tausendschönchen auf dem Kopfe und Blumen im Schoße, auf der Erde und sang mit ihrem lieblichen Stimmchen: ‚Vom Himmel hoch da komm’ ich her.‘ Sie sprach damals selten, sang aber alles nach, was sie nur hörte. Da hob Fritz in einer Aufwallung von Zärtlichkeit sie von dem Teppich in die Höhe und bedeckte ihr Gesichtchen mit Küssen. Sie ließ es lautlos und reglos geschehen; als er sie aber wieder auf die Erde setzte, wischte und rieb sie mit ihrem Tüchlein über die Wange, als wollte sie Flecken davon vertilgen. ‚Seht die Margell!‘ rief er halb belustigt, halb geärgert – ‚ist mir selten passiert, daß die Mädels meine Küsse abwischten. Weißt Du nicht, wer ich bin, Prinzessin?‘

Die Kleine sah ihn ernsthaft an. ‚Du bist nur der Papa,‘ sagte sie.

Nur der Papa!‘ rief Fritz Kolw. Da sah er auf und begegnete dem Blick seiner Frau. Voller, gesättigter Triumph flammte darin und daneben ein Entzücken, eine Glückseligkeit, die dem Fritz das Blut in die Stirne trieb. Von diesem Augenblick an begann die Vergeltung für ihn. Er warb um die Liebe seines Kindes, mit Zärtlichkeit und Strafen, mit Scherz und Ernst, mit Geschenken aller Art. Je mehr er ihr aber nahe zu kommen trachtete, desto ernster zog sie sich von ihm zurück und schmiegte sich an die Mutter. Nicht daß sie für Betty und Betty für sie viel äußere Zärtlichkeitsbeweise gehabt hätte – selten sah ich Mutter und Kind einander küssen – aber sie saßen und gingen stets eng nebeneinander und verstanden einander ohne Worte, durch den Instinkt, in jedem Athemzug und Herzschlag. Und so hat die Marianne jedenfalls viel früher, als wir ahnen konnten, gewußt, wie Vater und Mutter miteinander standen; und ihr Herz hat sich auf die Seite der Mutter gestellt und zum Vater gesagt: ‚Dableiben!‘

Das fühlte der Fritz wohl, und sein erstes vergebliches Werben, das um die Liebe seines eigenen Kindes, brach ihm das fröhliche Selbstvertrauen und allmählich die Lebenslust und den Lebensmuth, trieb ihn aus seinem Hause zu anderen, und von diesen wieder nach Hause. Denn er wurde jetzt inne, daß er draußen nur flüchtige Leidenschaft oder oberflächliche Neigung, aber nie die echte Liebe gefunden hatte – jene Liebe, wie sie seine Frau und sein Kind mit stillen Banden unlöslich zusammenband. Ein verborgen keimendes, rasch fortschreitendes organisches Leiden mag dazu gekommen sein, seinen Leichtsinn und Frohmuth zu brechen: er alterte rasch, kränkelte und starb – treu und sorgsam gepflegt von seinem Weibe, von allem Komfort umgeben, aber ohne Liebe, Betty war nicht unversöhnlich gegen ihn – auch den starrsten Groll bricht die Nähe des Todes – sie liebte ihn nur nicht mehr. Jahrelange Kränkung, Entrüstung und Scham hatten ihre Liebe zu ihm für immer getötet, zumal ihr leidenschaftliches Fühlen sich genug thun konnte in der Liebe zu ihrem Kinde.

Als Fritz Kolw tot und der Nachlaß geordnet war, stellte es sich heraus, daß der Verstorbene nicht nur seine reichen Einnahmen, sondern auch das Vermögen seiner Frau bis auf einen geringen Rest verbraucht hatte. Da zeigte sich mir denn der ganz besondere Charakter dieser Frau wieder in neuem Lichte. Weit entfernt, daß sie den Kopf verloren oder sich das Herz durch Angst vor der Zukunft schwer gemacht hätte! Sie sagte, als ich [400] ihr die trostlose Sachlage zaghaft und stückweise eröffnet hatte, ganz ruhig: ‚Da wird mir denn meine viel gescholtene Gelehrsamkeit den ersten Nutzen einbringen!‘ Am nächsten Tage schon kündigte sie sich in allen drei Zeitungen der Stadt für Sprach-, Musik-, Mal- und Litteraturstunden an, kurz für allen den Krimskrams, mit dem sich die ‚höheren Töchter‘ von heutzutage behängen. Sie hatte die Marianne, die damals zehn Jahre alt war, immer allein unterrichtet und sich dadurch einige Uebung im Lehren erworben. Und der Ruf ihrer Gelehrsamkeit, den ich natürlich thunlichst ausposaunte, auch wohl das Mitleid mit der jähen Veränderung ihres Loses führte ihr wirklich Scharen von Schülerinnen zu, die sich, da in der That viel von ihr zu lernen war, mit jedem Jahre erneuerten und vermehrten. Dazu kam die Miethe für einen Theil des Hauses, den sie nun an andere abtrat, das Kostgeld, das ich ihr zahlte – kurz, sie erwarb für sich und die Tochter nicht nur einen ganz auskömmlichen Lebensunterhalt, sondern legte allmählich ein artiges Sümmchen für alte oder kranke Tage zurück. Und nun hätten Sie sehen sollen, wie die Frau aufblühte! Wie ihr so lange zertretenes, verkümmertes Selbstvertrauen freudig ins Blatt schoß, als sie bemerkte, daß sie wirklich etwas zu leisten, sich und ihr Kind aus eigener Kraft weiterzubringen vermöge, und wie mit dem Selbstvertrauen und dem Respekt, den man ihr nun überall entgegenbrachte, eine ernste Lebensfreudigkeit, ja eine gewisse Liebenswürdigkeit, ein Geltenlassen der anderen, die nun sie gelten ließen, in die verbitterte Frau einzogen! Sie hielt sich freilich nach wie vor von den Leuten fern – ich glaube, zumeist aus eifersüchtiger Liebe zu Marianne. Jeder Blick, jeder Puls in ihr schienen zu sagen: ‚Mein Kind und ich! Ich und mein Kind! Ihr anderen: bleibt draußen!‘

Und auch die Marianne – ich mußte immer wieder daran denken, wie sie an der Pumpe stand und den Zeigefinger gegen die Straßenjungen ausstreckte: ‚Dadeiben!‘ Und wie diese ihrer Schönheit ehrerbietigst den schuldigen Tribut zu Füßen legten.

Nun, es liefen ihr bald ganz andere Jungen nach. Denn sie wurde immer schöner, und das Besondere an ihr, die unsichtbare Isolierschicht, in der sie gerade und abgemessen und doch wieder lieblich und rührend daherging, reizte die Männer. Sie aber sah keinen an; sie hatte aus den Leiden ihrer Mutter eine Art zorniger Geringschätzung gegen unser ganzes Geschlecht geschöpft, das ihr leichtsinnig und zutappend und von einem gröberen Stoff erscheinen mochte, welcher mit dem feinen, aus dem sie und die Mutter geschnitzt waren, keine Gemeinschaft haben konnte. Und sie mochte recht haben damit. Denn als auch ihr Tag kam, als das junge Blut auch in ihr zu Worte kam und dann mit der starken Leidenschaft, die unter ihrer stillen Art schlummerte, nach Glück rief, da hatte ich die bestimmte Empfindung, daß sie an beiden willenlosen gefesselten Händen in ihr Unglück gezogen werde. Andere Leute nannten es freilich ein schier märchenhaftes Glück – wie denn überhaupt die Geschichte von Marianne und ihrer Mutter eigens gemacht scheint, um zu beweisen, daß, was anderen Glück scheint, unser Unglück, und was sie Unglück nennen, unser Glück sein kann.

Ich selbst war der unfreiwillige Vermittler der Geschichte. Ich sehe die Scene vor mir, als hätt’ ich sie gestern erlebt. Es war ein Maitag wie heute und Mariannens zwanzigster Geburtstag. Die Betty hat den Kaffeetisch im Garten decken lassen, und wir beiden Alten sitzen beim Kuchen, essen aber nicht, sondern schauen wie in Verabredung die Marianne an. Sie hat dem Geburtstag zu Ehren und ihrer Mutter zur Freude ihr bernsteinfarbenes Haar gelöst; das wallt ihr nun in tausend Goldfäden um die Schultern, und die Sonne zittert und blitzt darin. Ein Kränzchen von Leberblümchen liegt auf ihrem Kopfe, und das Blau der Blumen macht ihr Haar noch goldener. Sie trägt ein weißes Kleid, wie sie’s immer gern that – es paßt zu ihr, als gehöre es zu der schlanken knospenden Gestalt und der fremdartigen Lieblichkeit des Gesichts. Sie hat den Arm um eine junge Birke geschlungen und blickt zu dem Ahorn im Nachbargarten empor, dessen gelbe Blüthen sich just so golden vom blauen Himmel abheben wie ihr Haar von dem Blau ihres Kranzes. ‚Wie schön das ist!‘ sagt sie leise, und wir Alten denken dasselbe, meinen aber ihren eigenen Anblick. Da höre ich ein leises Geräusch und sehe zur Seite einen jungen hochgewachsenen Menschen stehen und auf das Mädchen starren. Er faßt sich, da ich mich nun erhebe, mit einem Ruck zusammen und tritt auf mich zu. Er hat mir Grüße von seinem Vater zu bringen, der mein Corpsbruder gewesen ist und den Jungen, der hier promovieren will, an mich gewiesen hat. Na, gut; ich lade den Jungen ein – Kurt von Trenk heißt er, und sein Vater ist mein Leibfuchs gewesen, ein Sausewind, aber ein honetter Kerl – neben uns niederzusitzen und mit uns Kaffee zu trinken. Er thut’s nur zu gern, wie ich merke, und mir geht ein infames Gefühl durch den Leib, obschon ich doch kein altes Weib bin, das an Ahnungen leidet. Aber er starrt die Marianne zu toll an – unverschämt, denke ich und wundere mich, daß sie nicht vom Kaffeetisch, an dem sie neben der Mutter Platz genommen hat, aufsteht oder daß sie nicht mit ihrem ernsten großen Blick den seinigen in die Flucht schlägt. Sie thut aber nichts dergleichen, sondern sitzt still da, und das Blut kommt und geht in ihren Wangen, während sie die Augen in die Kaffeetasse senkt und ab und zu blitzschnell hebt und einen scheuen Blick nach dem jungen Menschen hinüberschießt. Und das muß ich ja zugeben: er war des Anschauens wohl werth, und ich habe nie ein gleich schönes Paar junger Menschen nebeneinander gesehen, wie sie in ihrer zarten blonden Schönheit und ihn, brünett, mit einem kühn geschnittenen Rassegesicht und dem Wuchs einer jungen Tanne. Dazu blitzen und funkeln seine Augen von Geist und Lebenslust, und er läßt vor uns – eigentlich natürlich vor Marianne – seinen Geist und Witz wie ein Feuerwerk prasseln und sprühen.

Sie spricht nicht viel, aber ihr Gesicht erhellt sich immer mehr, und endlich ist es, wie ich’s nie gesehen: ganz in Licht und Glanz getaucht wie der Maitag um uns, nur tausendmal schöner. Als dann der Junge nach einer Stunde sich nothgedrungen empfiehlt und mit einer Verbeugung gegen mich und Betty fragt, ob er wiederkommen dürfe, denke ich in meinem Innern: ‚Hol’ Dich der Kuckuck!‘ laut aber brumme ich als wohlerzogener Mensch und Freund seines Vaters: ‚Wird mir sehr angenehm sein.‘ Die Betty sagt gar nichts; sie hat ganz weiße Lippen, und die Hand, die sie auf den Tisch gestützt hat, zittert. Marianne sagt auch nichts und zittert auch, aber Wangen und Lippen glühen ihr wie Purpur, und der Maientrieb schimmert in ihren Augen. Als er dann fort ist, erblaßt sie und schließt gleichsam ihren Kelch zu, als wolle sie seine Blicke darin verwahren. So geht sie die Woche bis zu seinem Wiederkommen in glückseligem Traum herum. Uns Alten aber ist’s beiden gleich zu Muth, ich weiß es, ohne daß wir ein Wort darüber tauschen: wir haben Angst. Nur daß der Betty außer der Angst um diese Wendung in Mariannens Geschick noch die andere ungeheure das Herz zusammenkrampft: ihr Kind, ihr Alles vielleicht auf immer zu verlieren. Aber ihr bindet etwas die Hände: wenn sie Marianne ansieht, wie sie aus einer weißen, vom Licht abgewendeten Blume zur rothen Rose wird, die in seligem Entzücken der Sonne den Kelch darbietet, dann muß sie denken, daß die Mutter kein Recht habe, ihr eigenes Glück dem des Kindes in den Weg zu werfen. Und je höher in der Folge ihre Angst steigt, um so mehr schilt sie sich selbstsüchtig und verharrt in stummer Zurückhaltung. Ich lege denn aber nicht unthätig die Hände in den Schoß, sondern schreibe nach Jena, wo der Kurt Trenk studiert hat, an einen mir befreundeten Professor um des Burschen Leumundszeugniß. Nun, das kommt auch, macht mich aber nicht viel klüger; denn es paßt auf die meisten jungen und reichen Menschen: Liebesgeschichten, flottes Leben, großer Hochmuth, Verschwendung, auch hier und da hervorbrechende Rohheit und Skrupellosigkeit – kurz, was man so heut’ ‚einen schneidigen Kerl‘ nennt. Daneben ein meinem guten alten Professor unerklärlicher Zauber auf die Weiber. Na, ich verstehe den Zauber schon, wenn ich in das schöne Gesicht des Jungen, in seine geistsprühenden Augen und auf die Gestalt sehe, der aus jeder Bewegung und jedem Muskel Kraft und Jugendlust herausspringen, und noch besser, wenn ich den rücksichtslos herrischen Zug um den festen Mund und die grausamen spitzen weißen Zähne betrachte. Denn so wenig ich für die Bestienmoral bin: daß ein Stückchen Bestie im Menschen einen bestrickenden schreckhaften Zauber gerade auf feine und einfache Naturen übt, das habe ich denn doch schon lange vom Leben gelernt.

Doch hatte ich einmal einen freudigen Schreck, weil ich zu sehen glaubte, daß dieser Zauber für die Marianne zerriß und sie ihren Anbeter in seiner wahren Gestalt erschaute.

(Schluß folgt.)


[401]

Kirchensteg im Albthal.
Originalzeichnung von P. Bauer.

[402]

Aus Verdis Heimath und Heim.

Von Woldemar Kaden.

Das Goethesche „Sonnenland“ jenseit der Alpen ist nicht überall das ideale Land, wo Lorbeer und Myrthen unter dem sanften Hauche des Meerwinds sich grüßenb neigen oder Citronen und Orangen dem Wanderer in den durstigen Mund wachsen. Der deutsche Reisende, der mitten im Winter, schmutzigem Boden und trübem Nebelhimmel der Heimath entfliehend, schon beim Namen Mailand an sonnigen italienischen Maienzauber denken möchte, erlebt zunächst eine arge Enttäuschung, wenn er von Lodi ab über Piacenza nach Parma hin in das Flachland am Po einfährt: herber und starrer Boden, kultiviert nur im Laufe der Jahrhunderte unter stetem Ringen mit den wild gegen die Menschen-Herrenhand sich auflehnenden Naturkräfte, die das hier seit Römerzeiten angesiedelte Geschlecht eben auch herb und zähe, tüchtig und bieder, zu einem zuverlässigen Menschenschlag herangezogen haben, aus dem schließlich sogar kräftige Geister erstehen konnten.

Diesem trefflichen Ackerbauerngeschlechte, das hier an den Nebenflüssen des Po sitzt, ist Giuseppe Verdi entsprossen.

Wer von Piacenza nach Bologna fährt, kommt dicht an seiner Heimath und an seinem Heim vorüber – das wissen aber die Wenigsten.

Gelangweilt von der starrmürrischen Landschaft, hören sie von dem eiligen Zug aus, oder lesen sie die Namen unberühmter Stationen, nach Piacenza Pontenure, Cadeo, Fiorenzuola, Alseno – sehen sie eine Menge Flüsse und Flüßchen das Land durchirren, die alle dem altehrwürdigen Vater Po zuhasten, und dann werden wohl von italienischen Mitreisenden bedeutungsvoll die Namen Busseto und Roncole und Sant’ Agata ausgesprochen und es wird links hinausgedeutet, wo hinter dichten entblätterten Baumreihen eine weiße Villa erscheint, dazu ertönt in begeisterten Tönen der Name Giuseppe Verdi.

Wohl, das starre Land da ringsum, das die Via Aemilia und der Po durchschneiden, ist die Heimath des „Schwans von Busseto“, auf diesem Boden ist seine Familie erwachsen, die in ihrem letzten Gliede allen italienischen Landen zu so klingendem Ruhm verhelfen sollte. Eine Stunde etwa von seinem Vororte Busseto entfernt liegt das Dörflein Roncole, eine armselige Häusergruppe, von etwa 1200 ackerbautreibenden Menschen besiedelt und weithin verstreut über das Feld-, Wiesen- und Baumland.

Ein armselig Nest war auch die Lokanda, selten besucht von wandermüdem Volk der Landstraße, wo am Anfang dieses Jahrhunderts ein junges Ehepaar, Carlo Verdi und Luise Utini, sein Wesen trieb, der Vater Zucker, Kaffee, Schnaps, Essig, Heringe, Nägel und Zwirn soldoweise an die Bauern verkaufend, die junge Mutter spinnend.

Hier wurde am 9. Oktober 1813, während in Deutschland der große Befreiungskampf tobte, das Knäblein geboren, das zwei Tage darauf als „Joseph Fortunin Francis Verdi“ (die Landschaft gehörte damals noch zu den „Départements au delà des Alpes“) in das Civilstandsregister der Gemeinde Busseto eingetragen wurde.

Mit gerecktem Halse, weithinblickend über die in saubere Rechtecke eingetheilten Felder, hebt sich der Thurm der kleinen Kirche von Roncole über die niedern Häuser empor, und in der weißgetünchten Kirche steht als ehrwürdige Reliquie die altersschwache, nunmehr recht brustkranke Orgel, welcher der elfjährige Dorfknabe einst als Organist vorstand. Zeugen dieser Zeit sind noch einige hieroglyphenhafte Namensinschriften, von der unbeschäftigten Hand des Jungen mit dem Taschenmesser in die verwitternden Balken eingeschnitten.

Wundergeschichten aus seiner Jugend, aus denen man auf einen unwiderstehlichen Trieb für Musik schließen könnte, tischt der ehrliche Meister nicht auf, seine Biographen aber weben schon den Epheu der Legende um sein Haupt und erzählen, daß er wie der Knabe Mozart Musik im Rauschen der Wasser und Wälder gehört und den Maienvögeln die ersten süßen Melodien abgelernt habe. Gewiß ist nur, und das erzählte er so manches Mal schon in der heitersten Weise, daß man, wie überall damals im ganzen Lande, sich auch in dem kleinen weltfernen Roncole über die italienische Trübsal durch die alte Trösterin Musik hinwegtäuschen ließ und daß diese Tröstungen der sehr alte Schullehrer Baistrocchi, der die kleine Orgel bearbeitete, und ein wandernder Violinist übernommen hatten, ein zerlumpter, bettelarmer, zaundürrer Landstreicher, der vor der Thür der Verdischen Lokanda seine spanischen Tänze und alten Weisen aufspielte und damit einen großen Eindruck auf das Gemüth des Dorfjungen machte.

Eine rührende Geschichte ist es, wie dreißig Jahr später, als der Maestro, bereits vom ersten Sonnenschein seines Ruhmes bestrahlt, seine Villa Sant’ Agata gegründet hatte, derselbe land- und geigenstreichende Mann, immer dürrer geworden und immer noch in Lumpen, immer noch seinen uralten Weisen treu, vor das Gitterthor der Villa zu spielen kam. Verdi erkannte ihn, und an diesem Tage begingen zwei Menschen ein großes Fest: einer in Erinnerungen, der andere an reichbesetzter Tafel schwelgend. Mit Rührung gedenkt heute noch der Achtzigjährige jenes längst Verschollenen, der nicht bloß sein junges Ohr für weltliche Melodien anregte, sondern auch dem guten Vater rieth, seinen Sohn zur Musik anzuhalten.

Diese wurde zunächst in Roncole selbst auf einem überaus armseligen Klimperkasten in Angriff genommen, den der Vater unter einem großherzigen Ansturm auf seine kleine Sparkasse von einem benachbarten Priester erworben hatte. Das Instrument war ein aus irgend einem Urväter-Hausrath stammendes Spinett, der ebenso urväterliche Baistrocchi führte den jungen Giuseppe in die Geheimnisse der Skalen und Fingerübungen ein, und es war eine unendliche Freude für den Knaben, als er, für sich allein, den ersten C-dur-Akkord gefunden hatte. Leider vermochten die zarten Hämmerchen und Federspulen den harten Griffen des Knaben nicht lange Widerstand zu leisten, und wer weiß, ob nicht das ganze Musikvorhaben hier würde gescheitert sein, wenn nicht ein guter Handwerker aus Busseto helfend in die Mechanik eingegriffen hätte.

Das alte Möbel steht heute als Gedenkstück in der Villa Sant’ Agata, wo wir es im zweiten Stockwerk finden zur Seite einem andern, gleichermaßen in Ehren gehaltenen Wiener Pianoforte, das wir später kennenlernen werden. Wir wallfahrten indessen zur Villa, den Alten selbst zu sehen.

Wie Sonntagsfeier, wie der Duft eines hohen Festtages liegt es auf dem Lande; ein stiller Friedensglanz, der Wiederschein eines goldenen Sonnenuntergangs verklärt das Antlitz des schlanken stattlichen Greises, der, die Hände auf dem Rücken, das silbergeschmückte Haupt leicht zu den Blumen geneigt, zwischen dem frischgrünen Strauchwerk umherwandelt, nicht beunruhigt, nicht bethört und berauscht von dem tollen, rufenden Beifall, den ihm eben jüngst eine Welt zugeschrieen, nicht benebelt und nervös gemacht durch die dicken Weihrauchwolken, in die ihn die überspannten Opferer gehüllt. Lächelnd denkt er der bewegten Tage, froh, sie überstanden zu haben, und dazu achtzig Jahre alt!

Wer hätte das geahnt? Ein alter knorriger Stamm, der zu den abgestorbenen gezählt wurde, wird über Nacht von einem gewaltigen Frühling gepackt und ein ganzer Blüthenhimmel überwölbt seine Krone: der alte Verdi schenkt der blasierten Welt seinen lebensfrohen jugendfrischen „Falstaff“ und steht dabei, als ob sich das und noch einiges andere dazu von selbst verstünde. Er gehört zu jenen wenigen Gottbegnadeten, die das Alter in der Jugend abmachen, um dann im Sommer zu leben und im Frühling auszuklingen. –

Es ist ein einladendes Haus, diese Villa Sant’ Agata, ein Haus, dem man schon von außen die Behäbigkeit, die bequeme Gastlichkeit, die liebenswürdige anspruchslose Lebeweise des Besitzers ansieht. Der moderne, protzenhafte, goldprunkende Geist des Scheinenwollens ist in diese Räume nicht eingedrungen – ein oft wiederholtes Wort des Alten ist: „Ich will nicht auffallen, aber auch nicht abfallen“ – und wenn die Eleganz nicht fehlt, so muß man sie doch im höheren Grade sauber, zierlich, schmuck, heimelig nennen.

Der Maestro, der das einfache Haus um das Jahr 1849 ankaufte, hat es nach seinen Gedanken umgebaut; so haftet seine Seele an allem. Ursprünglich bestand es aus fünf, sechs Zimmern, dann, als seine Töne sich in klingendes Gold verwandelten, wurde von Jahr zu Jahr angebaut

„Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus –“

und doch ist, trotz des nicht ganz zufriedenen Besitzers, der sein Werk als ein „adattamento“, eine „Anpassung“, bezeichnet, ein einheitliches Ganzes entstanden, bescheiden, wie Verdi immer bescheiden war und heute noch ist.

[403] So mancher mag sich wundern, wie einer in dem an herrlichen Landschaften so reichen Italien und bei völliger Unabhängigkeit in der Wahl seines Wohnortes gerade dieses Fleckchen Erde zum Bau seines Heims erlesen konnte: am linken Ufer der unbedeutenden Ongina, in dem hügellos zum Po abfallenden Ackerlande, ohne Aussicht, höchstens daß vom Süden her die starren Berge von Massa und Carrara herüberblauen. Hierauf giebt es nur eine Antwort: die Heimathsliebe war mächtig in seinem Herzen, und darum siedelte er sich an auf seiner „süßen Vaterlandserde“, zwei Miglien von Busseto und vier von Roncole, auf dessen Fluren der Knabe gespielt hatte. Und nur hier, in dieser fast klösterlichen Abgeschiedenheit, ist es dem so tausendfach von hohler Neugierde in Anspruch genommenen Manne möglich, sechs Monate alljährlich in ziemlicher Einsamkeit zu verbringen. Keine lästigen Nachbarn wohnen störend um die Villa her; ein paar Gruppen stiller Bauernhäuser scharen sich zerstreut um das demüthige Kirchlein. Aber auch keine chinesische Mauer sperrt die Villenbewohner von der Außenwelt ab, man hat ihr sogar eine Brücke über das Flüßchen gebaut und der Weg darüber führt zwischen zwei sanften Trauerweiden hindurch gerade auf das zweistöckige Haus los, das mit seinen drei Fenstern Front in jedem Stockwerk und drei Bodenfenstern dir freundlich entgegenschaut. Hinter dem Hause dehnen sich Park und Garten, die Weinpflanzungen, durchsetzt von langen Reihen alter Bäume. Dort liegen auch die Wohnungen der Feldarbeiter, die sauberen Kuh- und Pferdeställe. Die Pferde sind des Meisters besonderer Stolz; er züchtet eine eigene Rasse, die nach ihm den Namen führt. Aber auch die Blumen haben seine große Zuneigung. Oft schon um fünf Uhr wandert er an Sommermorgen im Blumengarten umher, plaudernd mit dem alten Gärtner, Blumen schneidend für den Tafelstrauß. Ein liebliches Bild: der schöne Greis, eine Rose in der Hand, deren Duft er behaglich einsaugt. Um sieben Uhr trinkt er seinen Milchkaffee, um halb elf Uhr ruft das Glöckchen zu einer kräftigeren „Colazione“. Um zwei Uhr nimmt er die Tagesnachrichten seines Faktors entgegen, schreibt und liest bis um fünf, wo zu Tische gerufen wird. Nach dem Mittagessen spaziert er durch seine Felder und Wiesen, unterhält sich mit seinen etwa anwesenden Freunden, redet hier und da einen der Arbeiter an. Nach Sonnenuntergang geht er heim und widmet den Rest des Tages bei hellerleuchteten Zimmern der Unterhaltung im Gespräch, beim Spieltisch, am Billard.

Das wäre ein Tag des „Otium cum dignitate“, der schönen Muße, wo es nichts Absonderliches zu thun giebt. Anders geht’s, wenn der „Geist“ über ihn kommt. Dann wird der oft jahrelang verstimmt stehende große Erardflügel gestimmt und tönt oft stundenlang unter den Händen des Meisters.

Verdis Schlafzimmer, im Erdgeschoß der Villa, ist groß und dient – die Möbel ziehen eine Art Scheidewand – auch als Studierzimmer, das mit mancherlei köstlichen Erinnerungen geschmückt ist. Das Liebste wohl ist das Oelbild, das seinen einstigen Beschützer, Gönner und Förderer, dann unvergeßlichen Freund Antonio Barezzi, den Gewürzkrämer von Busseto, darstellt.

Der Name der Familie Barezzi wird in der Geschichte der italienischen Musik unverlöschlich bleiben und immer mit Ehren genannt werden. Der Eintritt Verdis als Kaufmannslehrling in das Barezzische Haus war eine jener Thatsachen, die ein günstiger Zufall schafft. Hinter den Zucker- und Kaffeesäcken, den Rum- und Heringsfässern suchte ihn sein Schicksal auf. Der Geschäftsherr, der selbst Flötist in der Kapelle der Kathedrale von Busseto war, alle Blasinstrumente kannte und Klarinette, Horn und das Ophikleïd spielte, war Vorstand eines Vereins von Musikfreunden, der in seinem Hause sein Wesen trieb und durch Ferdinando Provesi (auch dessen Bild findet sich in Verdis Villa), den ehrsamen Organisten des Städtchens, geleitet ward.

Der kleine Peppo schwamm in einem Meer von Wonne, als Barezzi ihm sein Wiener Pianoforte aus der Fabrik Fritz zur Verfügung stellte.

Dieser „Fritz“ und jenes Spinett stehen, wie gesagt, im Obergeschoß der Villa Sant’ Agata, beide „a. D.“, aber ehrenvoll verabschiedet. Das Spinett trägt noch das „Armuthszeugniß“ aus Verdis Kindheitsperiode. Stefano Cavaletti, der Pianofortestimmer von Busseto, hatte es aus lauter Gnade und Barmherzigkeit frisch beledert, ihm auch ein Pedal angehängt und darüber ein schriftliches Zeugniß in Handwerkerstil und -Orthographie ausgestellt, das wir noch jetzt an dem klapperigen Deckel lesen. Ins Deutsche übersetzt, würde es etwa lauten:

„Von mir, Stefano Cavaletti, wurden diese Hämmerchen erneut und mit Belederung versehen, auch das Pedal habe ich dazu gemacht, das ich geschenkt habe: wie ich auch die genannten Hämmerchen umsonst gemacht habe, da ich die gute Anstelligkeit des jungen Giuseppe Verdi sehe, dieses Instrument zu lernen und zu spielen, daß mir dies genügt, um damit in allem zufriedengestellt zu sein. Anno domini 1821.“

Auf dem Fritz’schen Pianoforte spielte auch Barezzis holdes Töchterlein Margherita, hier fanden sich, beim Vierhändigsplelen, zuerst die Hände Giuseppes mit den ihrigen, und sie ward später seine Frau, freilich nur auf kurze glückliche Jahre, da sie bereits 1840 starb. Ihr Bild zeigt ein schönes, heiteres Gesicht mit dem Haarputz der dreißiger Jahre. Seine zweite, noch jetzt lebende Frau, eine muntere, feinfühlende und feingebildete Dame, Giuseppina Streppani, war als Sängerin einst hochgefeiert in den ersten Verdischen Opern, so namentlich als Abigaïl im „Nabuccodonosor“; sie versteht es vortrefflich, die Ehren des Hauses zu machen.

Außer den zahlreichen Erinnerungsbildnissen schmücken noch viele Oelgemälde varzüglicher moderner Meister, alte Stiche und Zeichnungen die Wände; dazu kommen schöne geschnitzte Möbel, eine reiche Bibliothek mit allen Klassikern, mit Prachtwerken, Manuskripten, künstlerischen Erinnerungen, alles wohlgeordnet und übersichtlich dem Blicke der Freunde und Besucher bloßgestellt, ohne Aufdringlichkeit, ohne die hinweisende eitle Hand eines ruhmsüchtigen Hausherrn. Der Besucher auf Sant’ Agata merkt es sehr rasch, Giuseppe Verdi will nicht angeräuchert sein, nicht beobachtet, kaum beachtet, und so fühlt sich jeder wohl dem Hausherrn gegenüber, der, um es dem Gaste behaglich zu machen, seine täglichen Gewohnheiten auch nicht einen Augenblick verläßt und dem man aus diesem Grunde leicht anfühlt, wenn man ihn wirklich „stören“ darf. Er mag manchem rauh und kurz angebunden erschienen sein, wie er denn in seinem ganzen Wesen etwas gutmüthig Knorrig-Knurriges, das seine bäuerliche Abstammung verräth, bewahrt hat. Aber jener feine Herzenstakt, der wieder dem höchstgeborenen Menschen gar oft fehlt, hat Verdi nie verlassen, besonders nicht der stille große Humor, dem die Güte und Menschenliebe zur Seite stehen. Er hat aus früheren Zeiten die Gewohnheit beibehalten, kurz angebunden zu sein, wie es ein Mensch ist, der keine Zeit hat Leuten gegenüber, die deren zuviel haben, wie Stellenjäger, Neugierige, Eitle, Schwärmer, unverstandene Genies männlichen wie weiblichen Geschlechts. Diese alle werden vom Wahlspruch des Hauses betroffen: „Tempus meum ager meus est“, „meine Zeit ist mein Acker“ – und gehen davon und schimpfen auf den groben Alten.

Wer ihm je näher trat, liebt ihn.

Es giebt ja oft genug Stunden und Tage, wo der Meister „Mensch“ sein darf und dann ein wirklich liebenswürdiger Mensch ist. Da sind die Stunden der Tafel, von denen unter anderen sein Freund Giuseppe Giacosa, Dichter vortrefflicher Dramen, erzählt. Verdi ist kein Gourmand oder Schlecker; sein Tisch ist wirklich freundschaftlich, d. h. freigebig und einsichtsvoll. Die Küche von Sant’ Agata könnte auf die Bühne kommen, so malerisch ist sie in ihrer behäbigen Größe. Aber der ganze Apparat dient wesentlich der Gastfreundschaft, denn der Wirth ist unschwer zufrieden zu stellen. Er sitzt gerne zu Tische, wie alle gesunden arbeitsamen Menschen, dabei aber liebt er es über alles, um sich her an seinen Gästen die witzige und aufrichtige Heiterkeit strahlen zu sehen, die eine gute Mahlzeit zu begleiten pflegt.

Bei solchen Gelegenheiten und dann beim Kaffee erweist sich Verdi als geistreicher, lebhafter, farbenreicher Erzähler, der wie Nestor sich gern in Erinnerungen ergeht und dabei großen Humor und tiefes Gemüth entwickelt. Ein Lächeln, das seine Mundwinkel in seinen Fältchen umspielt, auch wenn er nichts sagt, ist bezeichnend für ihn und steht dem glücklichen Greise gar wohl an: es deutet auf die überlegene Selbständigkeit und Unabhängigkeit seines Geistes. Pfaffendiener und Hofschranze ist Verdi nie gewesen, er diente der Wahrheit und der Kunst, und aus der Kraft dieser schöpfte er seine Würde.

Im Jahre 1868 schickte ihm Broglio, der Minister des öffentlichen Unterrichts, das Komthurkreuz der Italienischen Krone, hatte aber gleichzeitig an Rossini einen Brief gesandt, worin er diesen in den „siebenten Himmel“ erhob, während keines anderen neueren italienischen Meisters Erwähnung gethan ward. Verdi [404] schickte die Dekoration mit einem sehr trockenen Begleitschreiben an den Minister zurück, und dessen freut er sich noch heute.

Und noch heute lacht er über den absonderlichen Kauz aus Reggio, der die lustigste Kritik übte, indem er das Geld für sein Theaterbillett zurückforderte. Dieser Biedermauu, durch den Hymnus verlockt, der sich zum Preise von „Aïda“ erhoben hatte, war nach Parma gekommen, die neue Oper zu hören. Sie gefiel ihm gar nicht. Voll Zorn darüber schrieb er an den Meister, klagte sich bitter an, sein Geld so übel ausgegeben zu haben, und forderte es unter Rechnungsablage kurz zurück: Fr. 5,90 Eisenbahn, Fr. 8 Theaterbillett, Fr. 2 für ein abscheuliches Abendessen im Bahnhofsrestaurant, und das alles mit 2 multipliziert, weil er, um seiner Sache gewiß zu sein, zweimal gekommen sei. An der ganzen „Aïda“ sei, außer der prächtigen Ausstattung, kein guter Bissen. Der Maestro lachte herzlich und beauftragte seinen Verleger Ricordi, dem unzufriedene Reggianer die Summe von Fr. 27,80 zur Verfügung zu stellen. „Er verlangt mehr,“ schrieb er dazu, „aber wie komme ich dazu, sein Abendessen zu bezahlen? Wahrhaftig nicht, er konnte das recht gut zu Hause abmachen. Selbstverständlich muß er eine Quittung ausstellen und sich förmlich verpflichten, meine neuen Opern nie mehr anzuhören, denn ein andermal bezahle ich ihm die Reise nicht.“

Es ist durchaus nichts Aufregendes, nichts Pikantes in den kleinen Geschichtchen, die von Verdi berichtet werden, oder die er selbst erzählt, und doch liebt die Zeitgeschichte Anekdoten, sie lebt von ihnen, wenngleich die wahren Größen dadurch oft verkleinert werden, während die falschen die ersten Erfinder und Verbreiter der Geschichten über sich selbst sind. Oft wird Verdis Vertrauter, Arrigo Boito, um solche dem großen Publikum wichtige Dinge befragt. Vor einiger Zeit antwortete er einem der Frager in schöner Weise: „Das Leben unseres Meisters ist seit vielen Jahren so ruhig und so abgeschlossen in den Studien und in seinem Hause, daß keinerlei merkwürdige Dinge oder bizarre Anekdoten dabei gedeihen. Das Pikanteste an diesem Leben ist, daß es von ihm nichts Pikantes zu erzählen giebt. Diese Eigenthümlichkeit freilich kann der Biograph nicht brauchen, dennoch ist sie beachtenswerth, denn sie zeigt die große Einfachheit des Künstlers und Menschen. Mit diesen wenigen Zeilen habe ich Ihre Anfrage beantwortet; alles andere, was ich Ihnen gesagt hätte, würde der Wahrheit nicht entsprechen.“

Ueber seine ehrliche und gerade Gesinnungsweise stellt sich der Meister selbst ein Zeuguiß aus in einem Briefe an Leopold Mastrigli, der ihm sein Buch über berühmte Musiker zugeschickt hatte. Er schrieb ihm von Sant’ Agata: „Geehrter Herr! Entschuldigen Sie mich, bitte, wenn ich Ihnen für das Buch, das Sie so liebenswürdig waren zu senden, noch nicht gedankt habe. Gleichermaßen bitte ich, mich zu entschuldigen, wenn ich Ihrem mir geäußerten Wunsche, meine Ansicht über Ihr Buch zu äußern, nicht nachkomme. In Sachen der Musik und der Arbeiten über Musik glaube ich weder an mein Urtheil noch an das anderer. Erinnern Sie sich der Gutachten Webers, Schumanns, Mendelssohns über Rossini, Meyerbeer und andere und sagen Sie mir, ob man Vertrauen in das Urtheil eines Komponisten haben kann!“

Gemessene Höflichkeit ist das Gepräge der Briefe Verdis an Personen, mit denen er nicht näher steht. Der Ton in Briefen an Freunde ist ein ganz anderer, in diesen herrscht herzliche Innigkeit. So erzählt man Wunderdinge von dem Briefwechsel mit dem Grafen Opprandino Arrivabene, mit dem Verdi von erster Jugend an in schriftlichem Verkehr stand. Die Veröffentlichung der Briefe erlaubt das Testament des nunmehr verstorbenen Grafen erst nach zwanzig Jahren, doch weiß man, daß sich darunter eine ganz absonderliche Korrespondenz befindet, geführt durch mehrere Jahre zwischen zwei Wesen, die sich im Leben liebten und denen Verdi und der Graf als Sekretäre und Dolmetscher dienten: zwischen dem Hündchen Verdis und der niedlichen Hündin seines Freundes. Verdi schrieb von Zeit zu Zeit im Namen des Hundes an die kleine ferne Braut und erhielt Antwort. Die beiden Herren versuchten allen Ernstes die Gefühle ihrer Thiere zu errathen und gaben ihnen manchmal Ausdruck in einer phantastischen Hundesprache. Verdi ist ein großer Freund des Fabulierens und liest Romane (die „Verlobten“ Manzonis sind sein Lieblingsroman) mit höchstem Genuß.

Dabei beschäftigen ihn die Gegenstände seiner Opern, sobald er eine neue in Angriff nimmt, im äußersten Grade. Ehe er sich an die Komposition seines „Othello“ machte, studierte er den Shakespeare, las die Uebersetzungen in Prosa und Versen nebst den verschiedenen Auslegungen. Nun ging er an das Deklamieren der Boitoschen Verse, und er ist ein hervorragender Deklamator. Mit immer steigender Betonung spricht er sie, bis sie in einer Art von musikalischem Rhythmus erklingen und er sie im Geiste in der ihnen bestimmten Melodie hört. Dann geht er ans Niederschreiben, und jetzt steht die ganze Musik fertig vor ihm da. Notizen hat er sich vorher nur wenige gemacht; die zu „Falstaff“ umfassen nur zwei Seiten. Alle Verdischen Partituren, die jüngsten wie die ältesten, sind von einer ausnehmenden Sauberkeit und Uebersichtlichkeit, und alle zeigen sie die gleiche Handschrift, die Notenköpfe wie Perlen aneinandergereiht.

Es wird aus seiner lebhaftesten Schaffensperiode erzählt, daß er am 1. November 1852 über den „Trovatore“ zu „sinnen“ begann, und am 29. desselben Monats war die Partitur zur Auffuhrung fertig und er trug sie von Sant’ Agata nach Cremona zu seinem Verleger Ricordi. Dann geht er in der Weihnachtswoche nach Genua, wo aber das Schiff, das ihn nach Rom führen soll, des Festes wegen erst in drei Tagen abgeht. In diesen drei Tagen schreibt er den ersten Akt der „Traviata“. Es folgt die Trovatore-Aufführung in Rom, 19. Januar 1853; er reist zurück in seine Sant’ Agatinische Einsamkeit, vollendet in dreizehn Tagen die „Traviata“, und am 6. März schon kommt sie in Venedig zur Aufführung.

Schon die mechanische Arbeit bei solchem Schaffen ist staunenswerth, denn man erinnere sich, daß jede Partiturseite aus etwa dreißig Notenzeilen besteht, auf denen die Noten zu Hunderten und Aberhunderten sich drängen, verdichten, gruppieren, dazu die unzähligen Vortragsbezeichnungen, die Textworte etc.!

So ging es rastlos weiter. Wohl klagte er in den allerletzten Jahren; „Ach was, Musik, die Kunst der Leidenschaft, verlangt Sinnenjugend, Blutwärme, Lebensfülle, um auf die Geister zu wirken“ – aber dann schuf der Achtzigjährige ein Jugendwerk, mit jugendlicher Kraft hat er sich daran gemacht. Zu frühester Morgenstunde stand er auf, beweglich und heiter wie ein verliebter Jüngling, und diese Oper war wirklich eine alte Jugendliebe. Schon 1847 schwebte ihm „Falstaff“ vor, und der Gedanke an ihn hat ihn nicht mehr verlassen.

Er schrieb am 3. Dezember 1890 darüber an den Kritiker des „Popolo Romano“, den Marquis Gino Monaldi: „Liebster Herr Monaldi! Was soll ich sagen? Vierzig Jahre sind es, daß ich wünsche, eine komische Oper zu schreiben, und bereits fünfzig, daß ich die ‚Lustige Weiber von Windsor‘ sah, doch . . . die gewöhnlichen ‚Aber‘, die überall sind, stellten sich diesen Wünschen immer entgegen. Jetzt hat Boito diese Aber beseitigt und mir eine lyrische Komödie geschrieben, die ihresgleichen nicht hat. Ich amüsiere mich höchlich, die Musik dazu zu schreiben, planlos, ohne zu wissen, ob ich sie vollende. Wie gesagt: ich amüsiere mich. Falstaff ist ein Halunke, der sich alle möglichen schlechten Streiche erlaubt, doch immer unter ergötzlicher Form. Er ist ein Typus ... Die Oper ist durchaus komisch. – Amen.
Ihr G. V.“ 

Als Mann der strengen Zucht zeigt sich Verdi auch darin, wie er die Proben zu neuen Opern, so jüngst zu „Falstaff“, abhält. Er ist von militärischer Pünktlichkeit und verlangt das Gleiche von den Künstlern. Mit Schwatzen verliert er keine Minute; er kommt, grüßt freundlich, und die Probe geht los. Er kennt die seiner Sache dienenden Kräfte ganz genau und sucht den besten Nutzen daraus zu ziehen. Er giebt, da ihm im Vortrage eine klare deutliche Aussprache über alles geht, seinen Sängern die Worte, ja die Silbe an, die hervorgehoben werden müssen, und erlaubt keinerlei Willkürlichkeit in Bezug auf Phrase und Rhythmus, keine (in Italien noch immer so beliebte) Fermate, die er nicht vorgeschrieben hat. So läßt er oft ein Wort, einen Takt zwanzig-, dreißigmal wiederholen. Sind diese technischen Grundlagen fertig, so beginnt die Farbengebung, und dies ist der anziehendste Theil seines Einstudierungswerkes. Nun wird Verdi selbst Sänger und Schauspieler und macht die Schritte, Handbewegungen, Stellungen, das Mienenspiel selbst vor. Sein Auge leuchtet, läßt den Darsteller nicht mehr los und begeistert ihn. Dasselbe geschieht mit dem Orchester. Während der Proben zu „Falstaff“ war der Alte ganz wieder Jüngling geworden. Von neun Uhr früh bis halb elf sah er die Partitur und die Rollen durch, von halb ein bis [405] halb fünf Uhr war Theaterprobe, von fünf bis sechs Einzelprobe verschiedener Künstler im Saale des Hotel Milan, von halb neun bis halb zwölf nachts wiederum Probe in der Scala, dazu gesellschaftliche Anforderungen, und dabei war er von höchster Liebenswürdigkeit.

In früheren Zeiten zeigte er sich wohl etwas herber, da mußte er noch etwas auf der Hut sein gegen die Anmaßungen der Künstler. In Florenz lebt heute noch die Sängerin Barbieri-Nini, eine vorzügliche Darstellerin. Sie erzählt, Verdi habe während der Proben fast kein Wort gesprochen, ob er zufrieden war oder nicht. Nie erscholl aus seinem Munde ein Wort der Ermuthigung, nie ein Bravo der Zustimmung. So war er beim Personal nicht beliebt, man nannte ihn den „Bischero“ den „Geigenwirbel“. Ein bestimmtes Duett in „Macbeth“ wurde mehr als hundertundfünfzigmal geübt. Am Abend der Generalprobe – das Theater war übervoll – verlangte Verdi von den Darstellern, daß sie im Kostüm singen sollten. Das Orchester saß bereit, der Chor stand auf der Bühne. Da winkte der Maestro der Barbieri und dem Varesi, mit ihm im Theatersaal noch eine Probe abzuhalten, jenes vielgeprobte Duett nochmals zu proben.

„Aber Maestro,“ rief verzweifelt die Primadonna, „wir stecken schon im schottischen Kostüm. Wie ist das zu machen?“

„Hängen Sie sich einen Mantel um.“

Und Varese, der Plackereien müde, wagte es, geärgert die Stimme zu erheben: „Aber das haben wir nun hundertundfünfzigmal geprobt!“

„In einer halben Stunde werden Sie das nicht mehr sagen, dann sind’s hunderteinundfünfzig.“

Verdis Geburtshaus in Roncole und seine Villa Sant’ Agata.
Nach Bildern aus dem Verlag von G. Ricordi u. Cie. in Mailand gezeichnet von Rich. Püttner.

Es mußte gehorcht werden, und der Sänger folgte dem voranschreitenden Maestro, die Hand am Degengriff, als wenn er ihn durchbohren wollte.

Aber – das Duett wirkte Wunder und mußte an einem Abende fünfmal wiederholt werden. Nach der ersten Vorstellung trat Verdi hastig in das Ankleidezimmer der tief ergriffenen Sängerin, bewegte die Hände, bewegte die Lippen, als ob er eine große Rede halten wollte, aber kein Wort kam aus seinem Munde. Die Barbieri lachte und weinte und war gleichermaßen sprachlos, und Verdi hatte die Augen voll Thränen. Er drückte der Sängerin heftig die Hand und stürzte dann hinaus.

Verdi war und ist ein Feind aller öffentlichen Huldigungen, ganz besonders der Reklame. Zur Zeit der ersten Aïda-Aufführung in Kairo schrieb ihm der berühmte Mailänder Musikkritiker Filippo Filippi, daß er dieser Aufführung beiwohnen werde. Verdi antwortete ihm: „Sie nach Kairo? Aber das ist ja eine der gewaltigsten Reklamen, die man für die ‚Aïda‘ ausdenken könnte. Ach, mir scheint’s, daß die Kunst, auf diese Weise behandelt, keine Kunst mehr ist, sondern ein Handwerk, ein Vergnügungsausflug, eine Jagdpartie, ein irgend etwas, hinter dem man dreinläuft, dem man nicht den verdienten Erfolg, sondern Aufstehen um jeden Preis verschaffen will. Mein Gefühl dabei ist Ekel, Verdruß und Kränkung. Immer muß ich mit Freude und Genugthuung der ersten Zeiten meiner Laufbahn gedenken, da ich, fast ohne einen Freund zu haben, ohne daß jemand von mir sprach, ohne Vorbereitungen, ohne Einfluß irgend welcher Art, mich dem Publikum mit meinen Opern vorstellte, bereit, füsiliert zu werden, und sehr glücklich, wenn es mir gelang, einen günstigen Eindruck zu machen. Jetzt hingegen, welcher Apparat für eine Oper! Journalisten, Künstler, Choristen, Direktoren, Professoren etc. – alle müssen ihr Steinchen zu dem Reklamebau herbeitragen und dergestalt eine Gesamtheit von Kleinlichkeiten schaffen, die dem Werth der Oper nichts hinzufügen, die ihn nothwendig vermindern würden, wenn welcher darin wäre!“

So hat er auch der Politik immer ferngestanden und nur ein einziges Mal sich fangen lassen. Cavour hatte einmal mit einem Freunde über die Wahlen der Provinz Parma gesprochen und sich scherzhaft geäußert: „Machen wir doch unsern Verdi zum Abgeordneten, in Italien brauchen wir so nothwendig ein bißchen Harmonie!“ Verdi nahm an und war Volksvertreter für eine Gesetzgebungsperiode. „Auf Politik,“ sagte er später, „verstehe ich mich nicht. Solange Cavour lebte, blickte ich in der Kammer auf ihn und erhob mich, zuzustimmen, wenn er zustimmte; ich that, wie er that, und war sicher, nicht fehlzugehen. Jetzt, mit den anderen Herren, die zweifellos auch sehr tüchtig sind, finde ich mich nicht mehr zurecht und habe Furcht, eine Dummheit zu machen.“

In der Kammer saß er neben seinem Freunde Sella, und während dieser mathematische Hieroglyphen malte, vergnügte sich Verdi, diese oder jene alberne Phrase der „Ehrbaren“ in Musik zu setzen. Verschiedene solcher verdianischen Autographen sind noch im Besitz früherer Abgeordneten.

Sechs Monate des Jahres lebt Verdi in der Abgeschiedenheit seines Sant’ Agatinischen Tusculums, die übrige Zeit meist in Genua. Hier bewohnte er in frühern Jahren den von Alessi erbauten Palast Sauli in Carignano, nicht fern vom Meere, dessen blaue Fluth er durch Cedern- und Magnolienbäume erblicken konnte. Später bezog er den am entgegengesetzten Ende der Stadt gelegenen historischen Palast der Campofregoso, der dann in den Besitz der Doria übergegangen war. Andrea Doria hatte ihn erweitern lassen, Perin del Vaga, ein Schüler Rafaels, mit Malereien geschmückt. Diese Wohnung wie die Stadt Genua liebt Verdi gar sehr. Seine Lebensweise gleicht der auf der weltfernen Villa. Auch hier steht er frühzeitig auf, dann aber mischt er sich in das lebhafte Treiben [406] der großen Hafenstadt auf der Piazza Carlo Felice, dem Centrum Genuas. Hier kauft er, langsam schlendernd, seine Zeitungen und kehrt langsam nach Hause zurück. Manchmal aber spaziert er bis zur Promenade Acquasola, oft zum Hafen, meistens unerkannt, oder, wenn erkannt, unbelästigt, und das freut den alten Herrn, der nun einmal nicht bewundert sein mag.

Nachmittags erneuter Schlendergang, und da hat man ihn gesehen, wie er gleich andern genuesischen Hausherren seine Einkäufe bei den Wursthändlern macht: Salami- und Schinkenschnitte für den „Antipasto“, das übliche Voressen bei dem italienischen „Pranzo“. Man hat ihn sogar gesehen, wie er im Volksviertel Prè ein paar Salatstauden einkaufte, die er mit ernsthafter Miene in sein seidenes Taschentuch wickelte und heimtrug.

Das ist so ungefähr Verdi als Mensch, den Musiker haben andere gewürdigt. Sein größtes Werk aber kennen sie noch nicht, die wenigsten kennen es, denn es wird erst nach seinem Tode erscheinen.

Mitten unter der „Falstaff“-Arbeit der letzten Zeit und lange vorher schon hat es ihn unausgesetzt beschäftigt, denn es soll die Krönung seines Lebens werden, eine Hoffnung und ein Trost allen Künstlern, die auf dem unbeständigen Meere der Kunst Schiffbruch gelitten und, alt, enttäuscht, lebensmüde, Brot nöthig haben und ein Feuer, die morschen Knochen zu wärmen. Wir meinen das von Verdi „den Invaliden der italienischen Kunst“ gewidmete Hospiz. Diese großartig geplante Wohlthätigkeitsanstalt wird in Mailand errichtet auf einem Plan von 3000 Quadratmetern. Das Gebäude ist auf eine halbe Million veranschlagt, der Verwaltung wird ein Kapital von zwei Millionen zugewiesen. Die Zahl der Aufzunehmenden (beiderlei Geschlechts) ist auf 130 berechnet. Und noch anderes ist bedacht. So beschäftigt den sorgsamen Stifter gar lebhaft der Gedanke, wie er am schicklichsten seine alten Sänger und Musikanten unterbringe, ob zu je zwölf in einer großen Kammer, damit sie nächtlich nicht allein seien – doch, meint er, würden sie dann die „Spittelgedanken“ nicht los werden. Er möchte dann wenigstens zwei zusammenbetten, um der Besorgniß vorzubeugen, daß so ein armer Alter in der Nacht, von irgend einem Uebel gepackt, hilflos dahinsterbe.

So denkt er Tag und Nacht vor und möchte in seiner feinen Gesinnungsweise auch nach seinem Tode keinen kränken.

Um seine Lorbeeren kümmert er sich nicht, die sind aber längst zu einem sturmgesicherten Wäldchen emporgewachsen.



Blätter und Blüthen


Deutsche Feldherren in Südamerika. Daß der von Kolumbus entdeckte Welttheil zunächst von den Spaniern als eine willkommene Beute betrachtet wurde, ist bekannt, und die Eroberungs- und Plünderungszüge wurden von spanischen Feldherren geleitet. Um so merkwürdiger ist die wenig bekannte Thatsache, daß auch deutsche Befehlshaber neben denselben genannt werden, die an Muth und Unternehmungslust nicht hinter ihnen zurückstanden. Das war in Venezuela der Fall. Das Bankhaus Welser zu Augsburg stellte bei Kaiser Karl V. den Antrag, ihm zur Regelung seiner Forderungen an die kaiserliche Kasse eine der entdeckten Landschaften in der Neuen Welt als Lehen zu überlassen. Ein Theil der Perlenküste von Venezuela wurde für diesen Zweck in Vorschlag gebracht. Die Grenzen der Statthalterschaft wurden genau bestimmt; die Inseln der abgegrenzten Küstenstrecke gehörten dazu. Das Haus Welser sollte auf seine Kosten vier Schiffe mit 300 Mann spanischer oder fremder Herkunft ausrüsten, in Venezuela binnen zwei Jahren zwei Ortschaften und drei Burgen anlegen und mit 50 kundigen deutschen Bergleuten Kontrakte für sämtliche Theile „Indiens“ abschließen. Dafür erhielt das Haus Welser die Statthalterschaft und das Militärkommando. Das war der Vertrag, durch welchen der deutsche Name neben dem spanischen in jenen Gegenden zur Geltung kam. Freilich waren die deutschen Statthalter nicht vom Glücke begünstigt, obschon auch sie, von der Goldgier getrieben, in wildem Kampfesmuth Eroberungszüge landeinwärts unternahmen, wo sie das wunderbare Goldland mit seinen reichen Schätzen suchten. Den Indianern gegenüber zeigten sie und ihre Scharen sich ebenso grausam wie die Spanier.

Der erste Statthalter, Ambrosius Alfinger, betrat am 24. Februar 1528 im glitzernden Waffenschmuck das Lehensgebiet des Hauses Welser. Die ersten Züge in der Umgebung des Golfs von Maracaibo hatten nicht den gewünschten Erfolg, wenn auch einige Indianer in die Gefangenschaft geschleppt wurden. Später drang Alfinger durch die Landschaften am Maracaibosee nach den Gebirgsgegenden vor. Die Goldschätze der Cendaguaindianer erregten den Golddurst seiner Truppen. Hatte man doch bei dem mit Baumwollstoffen umhüllten Holzsarg eines Kaziken an goldenen Rüstungen, Halsbändern, Ohren- und Armringen, Kämmen und Gefäßen einen Schatz von 2000 Pesos (93 200 Mark) gefunden! Allein Alfinger wurde auf dem Zuge dahin von den Indianern überfallen und von einem vergifteten Pfeile tief in die Kehle getroffen. Auf ihn folgte als Statthalter Georg Frohmuth von Speyer. Er unternahm einen drei Jahre dauernden Zug nach einem im Osten der Cordilleren gelegenen Theile Kolumbiens. Nur ein Drittel der Mannschaften kehrte an die Küste nach Coro zurück. Schon wollte er einen neuen Zug nach dem Märchenlande am Marañon unternehmen, wohin ein angebliches Amazonenreich lockte, als er 1540 dem tückischen Küstenfieber erlag. Sein Nachfolger war Philipp von Hutten, der ein noch tragischeres Ende fand als seine Vorgänger. Vier Jahre lang trieb er sich mit einer Handvoll Leute, unter denen sich auch ein Bartholomäus Welser befand, in den Wildnissen des westlichen Orinokostromgebiets umher, fast vom Hunger aufgerieben oder durch tropische Gewitterstürme, welche die Riesen des Urwalds entwurzelten, obdachlos dem Elend preisgegeben. Hutten hielt man in San Domingo längst für tot. Man hatte von dort Juan de Carabajal nach Venezuela geschickt, um wieder Ordnung in die verwahrloste Kolonie zu bringen, die jetzt abermals ganz den Spaniern gehörte, da das Haus Welser seinen Vertrag gekündigt hatte. Carabajal ließ Hutten nach Tokuyo holen und wollte ihn zur Anerkennung seiner, Carabajals, Statthalteransprüche zwingen; doch der tapfere Deutsche weigerte sich aufs entschiedenste. Carabajal gestattete ihm gleichwohl freien Abzug nach der Küste, in der Hoffnung, die schwache Truppe werde unterwegs den Angriffen der Indianer erliegen. Doch er sah, daß er sich getäuscht hatte, da viele seiner eigenen Soldaten, seiner Tyrannei müde, sich den Abgehenden anschlossen. So folgte er ihnen nach mit einer wohlbewaffneten Schar, warf Hutten und seine noch kampffähigen Leute nieder und ließ sie in Fesseln legen. Sein Auge funkelte wie das eines blutdürstigen Raubthiers, als er die Reihe seiner Opfer hinabschritt. Sein höhnisches Lachen antwortete dem Wehgeheul und den Bitten der Unglücklichen. Ein grinsender Neger trat auf seinen Zuruf vor und schnitt einem nach dem anderen den Kopf ab. Zuletzt rollten Welsers und Huttens Häupter auf den Boden.

Näheres über die Heldenthaten und Entdeckungszüge dieser Tapferen theilt Dr. Hugo Topf mit in seiner Schrift „Deutsche Statthalter und Konquistadoren in Venezuela“ (Hamburg, Richter). Es ist ein düsterer Ruhmesglanz, der jene Männer umgiebt, und die Anerkennung, welche man ihrem Wagemuth und ihrer zähen Ausdauer nothgedrungen zollen muß, wird stark beeinträchtigt durch den Abscheu, welchen ihre ungezähmte Goldgier in uns erweckt. †     

Verlängerung der Blüthendauer. Es giebt Pflanzen, die sich den ganzen Sommer hindurch mit Blumen schmücken. Es sind aber nicht dieselben Blüthen, die an ihnen unser Auge erfreuen; gerade bei diesen fleißig Blühenden welken die einzelnen Blüthen rasch dahin, um durch frische, die sich aus neuen Knospen entfalten, ersetzt zu werden. Pflanzen dagegen, die nur wenige Blüthen erzeugen, tragen in der Regel dauerhaftere Blumen. So giebt es eine unermeßliche Reihe von Abstufungen in der Lebenslänge der Blüthen. Wie es Eintagsfliegen giebt, so kennen wir auch Eintagsblumen, und die schnelllebigsten unter ihnen könnte man sogar „Augenblicksblumen“ nennen; denn zwischen dem Aufblühen und Verwelken liegt bei ihnen nur die kurze Spanne Zeit von drei Stunden. Andererseits sind Blumen nicht selten, die tagelang bestehen; die Blüthe des Safrans (Crocus sativus) erhält sich zwölf Tage frisch, und besonders bei einigen Orchideen kommt diese Langlebigkeit zum Vorschein. Die ausdauerndste Blüthe der Welt dürfte das Odontoglossum Rossii liefern, denn bei dieser Orchideenart welkt die Blume erst nach achtzig Tagen. Zu wissenschaftlichen Forschungszwecken oder aus Liebhaberei suchte man die Dauer der einzelnen Blüthe auf künstlichem Wege zu verlängern. In gärtnerischen Zeitschriften wird der Rath gegeben, möglichst frühzeitig den Griffel der Blüthe zu entfernen; die Botaniker gingen in ähnlicher Art vor, indem sie die Narbe der aufgeblühten Blume derart schützten, daß auf dieselbe kein Pollen gelangen konnte. Sie machten die Befruchtung unmöglich, und es gelang ihnen in der That, die Dauer der Blüthe zu verlängern, denn es besteht in der Pflanzenwelt das Gesetz, daß die Blätter der Blumenkrone welk werden und abfallen, sobald der Pollen in die Narbe des Griffels eingedrungen ist und die Blüthe ihren Zweck erfüllt hat. Es giebt Pflanzen wie den Nachtschatten und die Tollkirsche, bei denen man die Folgen des Eindringens des Pollens in überraschend kurzer Zeit beobachten kann. Bestreicht man die Narben der Blüthen mit reifem Pollen, so sieht man, daß schon nach einer Stunde der Griffel welk und braun wird und zu Boden fällt, worauf bald auch das Welken der Blumenblätter eintritt.

Diese Beobachtungen belehren uns, warum die gefüllten Blumen der Nelken, Tulpen, Levkojen u. a. drei, ja acht Tage länger sich erhalten als die einfachen: bei den gefüllten Blumen sind ja sämmtliche Pollen- und Fruchtblätter in Blumenblätter umgewandelt; die Narbe ist in diesen Blüthen von der Natur selbst entfernt worden. *     

Die Zerstörung des Klosters Hirsau durch Mélac. (Zu dem Bilde S. 393.) Im württembergischen Schwarzwald, unweit der Stadt Calw, liegt das Dörflein Hirsau, umrauscht von den Wellen der Nagold, umgeben von hohen, tannendunklen Bergen. Die wenigen Häuser des Ortes [407] scharen sich wie schutzsuchend um die ausgedehnten Ruinen eines Klosters her. Wer im Frühling oder Sommer von der Höhe einen Blick ins Thal herniederwirft, den berührt die verfallene Pracht mitten in dem lebendigen Grün wehmüthig und freundlich zugleich. Ein neues Leben sproßt aus den Ruinen; aus hohem, dachlosem Mauerwerk hat sich ein stolzer Baum zum Licht emporgerungen und überragt nun die Enge, aus der er kommt, mit seiner grünen Wölbung. Der eigenartige Reiz dieses Anblicks hat schon manchem ein verherrlichendes Lied auf die Lippen gedrängt; am bekanntesten und schönsten ist wohl Uhlands schlicht empfundenes Gedicht „Die Ulme von Hirsau“.

Einst erhob sich da, wo hellte nur noch die gewaltigen Reste der alten Bauten stehen, ein reiches Kloster, dessen Anfänge ins 9. Jahrhundert zurückreichen. Nach mannigfachen Schicksalen, die uns Pfarrer Klaiber in einem anregend geschriebenen Büchlein über Hirsau erzählt, nach Zeiten des Wechsels zwischen Blüthe und Verfall wurde es 1556 infolge der württembergischen Reformation in eine Erziehungsanstalt für evangelische Theologen umgewandelt und der Leitung eines evangelischen Abtes unterstellt. Der jagdlustige Herzog Ludwig von Württemberg ließ einen Theil der Gebäude, die ehemalige Abtei, niederreißen und in den Jahren 1586 bis 1592 ein Lustschloß in edler deutscher Renaissance an die Stelle setzen. Allein seine Schöpfung sollte nur ein Jahrhundert dauern. Im Jahre 1692, nach der verlorenen Schlacht bei Oetisheim, zogen die Franzosen unter Mélac das Nagoldthal hinauf und verbrannten das auf seine neuen Befestigungen trotzende Calw. Als bei ihrem Abzug ein Bürger dieser Stadt aus Rache den Adjutanten des feindlichen Führers niederschoß – man sagt, die Kugel habe Mélac selbst gegolten, sei aber fehlgegangen – da kehrte Mélac wüthend um, zerstörte, was von Calw noch stand, und auch das bisher verschonte Hirsau fiel seinem Zorn zum Opfer, das Kloster ging in Flammen auf. Die Zeichnung unseres Künstlers zeigt den Abzug des beutebeladenen Feindes, die Verzweiflung der Einwohner, die Zerstörung, welche der Brand in dem herrlichen Bau anrichtete.

Wie leider bei vielen jener mächtigen geschichtlichen Trümmerstätten unseres Vaterlandes, so hat auch beim Hirsauer Kloster Eigennutz und übel angebrachte Sparsamkeit vollendet, was Feindeshand begonnen. Um zu allerhand Zwecken Baumaterial zu gewinnen, hat man die noch erhaltenen Mauerreste barbarisch geplündert, bis das erwachende Verständniß für künstlerischen und geschichtlichen Werth diesem Treiben eine Schranke setzte. Was jetzt von der einstigen Pracht noch übrig ist – im ganzen das, was auf unserem Bilde sich unversehrt aus den Flammen hebt – insbesondere der eine Thurm der alten Klosterkirche, der aus dem 11. Jahrhundert stammt, die herrliche Kreuzganganlage und die hochaufragenden Giebelmauern des Lustschlosses, das wird sorgsam gepflegt; und wer an stillem Sommerabend durch die verfallene Stätte wandelt, dem mögen beim Rauschen des Windes, der sachte mit den Zweigen der Bäume spielt, weltverlorene Erinnerungen an entschwundene Zeiten wie ein Grüßen vergangener Geschlechter durch den träumenden Sinn gehen.

Katechismus der Toilettenkunst und des guten Geschmacks. Es gehört viel Erfahrung und Geschmack dazu, um über den Modejournalen, den Anpreisungen der Verkäufer und Modistinnen zu stehen, um die Wirkung der verschiedenen Farben, Muster und Schnitte auf die eigene Person sicher voraus zu berechnen; dies und noch manches andere lehrt ein sehr gutes Büchlein von C. von Franken, das unter dem oben angeführten Titel in Leipzig bei M. Hesse erschienen ist. Es legt die Erfahrungen einer Weltdame von Geist und feiner Bildung in die Hände der Allgemeinheit und lehrt an der Hand der Aesthetik sowohl als der wahren Bildung die nur wenigen Bevorzugten als Naturgabe eigenen Kunstgriffe, um die Vorzüge der Erscheinung ins rechte Licht zu setzen, die Mängel zu mildern oder zu verdecken. Die Kapitelüberschriften: „Kleide dich nach deiner Gestalt!“ – „Façon und Aufputz“ – „Kopfbedeckung“ – „Bei Sportbelustigungen“ – „Auf Reisen und in Badeorten“ – „Wie lasse ich mich photographieren?“ – „Wie schone ich meine Kleider?“ – „Das schwarze Seidekleid“ etc. geben einen Begriff von der Vielseitigkeit des Buches, welches überall Geschmack und feine Sitte neben den technischen Seiten der Toilette- und Wäscheangelegenheiten, der Kindergarderobe, der Festkleidung etc. hervorhebt, die rohen und unschönen Modeauswüchse dagegen mit ruhiger Entschiedenheit abweist. Bn.     

Neue Gegengifte. Vor einigen Jahren drangen überraschende Nachrichten über neue Heilmethoden in die Oeffentlichkeit. Man hatte schon früher festgestellt, daß zwei schwere und gefürchtete Krankheiten, die Diphtherie und der Wundstarrkrampf, durch Bakterien verursacht werden, daß diese Bakterien besondere Gifte erzeugen, die in das Blut gelangen und durch Vergiftung des Körpers die schweren Krankheitserscheinungen hervorrufen. Es gelang ferner, nachzuweisen, daß man Thiere gegen die beiden Krankheiten immun, d. h. unempfänglich, machen kann und daß das Blut immunisierter Thiere die Eigenschaft besitze, das Gift der Diphtherie- und Tetanusbacillen zu zerstören. Mit solchem Blute wurden an Thieren viele Heilungen erzielt und Mäuse, die schon infolge von Tetanus in Todeszuckungen lagen, noch gerettet. Viele Aerzte sprachen damals die Hoffnung aus, daß diese Blutüberführungen auch zu Heilzwecken bei Menschen verwerthet werden könnten.

Sind diese Verheißungen in Erfüllung gegangen? Darauf möge ein Hinweis auf weitere Arbeiten auf diesem Gebiete Antwort geben.

Professor G. Tizzoni in Bologna und sein Assistent Fräulein Dr. Giuseppina Cattani suchten zunächst das Gegengift aus dem Blute gegen den Tetanus immunisierter Thiere rein darzustellen. Sie fanden, daß dasselbe ein Eiweißkörper ist, und es gelang ihnen, durch Ausscheiden der Eiweißkörper des Blutes vermittelst Alkohols eine Art Pulver herzustellen, welches unter dem Namen „Antitoxin Tizzonis“ (Tizzonis Gegengift) bekannt geworden ist. Nachdem sich dasselbe bei Thieren als heilkräftig erwiesen, wurde es versuchsweise gegen den Wundstarrkrampf beim Menschen angewandt. Bis jetzt sind acht Fälle in verschiedenen Kliniken mit dem neuen Gegengift behandelt worden – und in allen wurde eine vollständige Heilung erzielt. Man rührte das Pulver mit Wasser an und spritzte es dem Kranken unter die Haut ein. Nach den Einspritzungen besserte sich das Befinden der Kranken, die Starre der Muskeln nahm zusehends ab, die Temperatur des Körpers fiel und es trat Schweißbildung ein.

Einige Heilungen können noch nicht als ein vollgültiger Beweis für die Wirksamkeit des Mittels betrachtet werden. Wenn wir aber bedenken, daß die Sterblichkeit beim Wundstarrkrampf 90 Prozent beträgt, so müssen wir in ihnen doch mehr als ein Werk des Zufalls erblicken, und die Hoffnung, daß wir auf diesem Wege neue Heilmittel gegen eine Reihe schlimmster Krankheiten erhalten werden, erscheint immer mehr begründet. Wir haben jener Hoffnung in den Artikeln Raum gegeben, die im Jahrgang 1891 der „Gartenlaube“ unter dem Titel „Der Kampf mit den Bakterien“ erschienen sind und welche die Heilung des Wundstarrkrampfes und der Diphtherie betrafen.

Aus diesem kurzen Nachtrag können unsere Leser ersehen, daß die Wissenschaft in der Bekämpfung der alten Erbfeinde des Menschengeschlechtes langsam, aber siegreich fortschreitet. *      

Kirchensteg im Albthal. (Zu dem Bilde S. 401.) „Wenn mer d' ganz' Woch' schafft wie's Vieh, muß mer am Sundig si Kirch' ha – un mer go –“ erklärte der Bauer unter der Thür seiner einsamen Hütte und schaute sich den Himmel an, der sich grau über die dunkel- grünen Höhen des Schwarzwalds hinzog. Das Nannile war eifrig mit einem „jo, jo!“ zur Hand, und so machten sich Vater und Tochter fertig, obgleich die Frau mit einem Blicke nach den grauen Wolken meinte: „Mer kann au d'heim bete –“

„A bewahr', domit isch em liebe Gott nit dient,“ erklärte der Mann, nahm Hut und Stock und rasch sich aufschürzend, folgte ihm das Nannile auf dem Fuß. Der schmale Steg, unter dem die Alb lustig dahin jagte, wankte unter ihren Tritten, und drüben hieß es vorsichtig von Stein zu Stein klettern; dann ging's in die Höhe, dichter Tannenwald, tiefe Ruhe nahm sie auf, von nichts unterbrochen als von den kräftigen Schritten der beiden Menschen. Bei jeder Lichtung warfen sie einen Blick rechts in ihr kleines Heimathsthal, in das jetzt ein noch verhüllter Sonnenstrahl sich schräg hernieder senkte. Die Alb glitzerte, und die Scheiben der Hütte blinkten; aus dem Schornstein wehte ein dünner Rauch gerade nach der Seite der Dahinwandelnden.

„Gutwetterwind,“ sagte der Bauer, und das Nannile setzte hinzu:

„Er kriegt heut ä suere Lebere, Vadder.“ – Der Weg führte wieder abwärts, drüben lag das Ziel ihres Marsches, und nach einstündigem strammen Gehen traf endlich das Paar schweißtriefend in der Dorfkirche ein.

Freilich, der Bauer verband mit dem Ausdruck „si Kirch' ha“ einen etwas weiten Begriff; er wußte, hinter der Kirche stand das Wirthshaus, und da gab's einen guten „Sauern“ und ein paar Männer, mit denen sich ein Ausführliches verhandeln ließ über Politik, Feldbau und Hagelwetter.

Und daß dem Nannile die Zöpfe so glatt lagen und das Mieder so stramm saß, das durfte sich das bescheidene Dorfkirchlein auch nicht ganz allein auf seine Rechnung schreiben H. Villinger.     

Rohes und gekochtes Fleisch. Die Hygieiniker Europas eifern vielfach und nicht mit Unrecht gegen die Sitte, verschiedenes Fleisch roh zu essen, weil die Menschen sich dadurch der Gefahr aussetzen, krank zu werden, Bandwürmer, Trichinen, Tuberkelbacillen und dergl. zu bekommen. Premierlieutenant Morgen bringt in seinem jüngst erschienenen Werke, „Durch Kamerun von Süd nach Nord“ (Leipzig, Brockhaus), eine interessante afrikanische Aeußerung über die Ungebührlichkeit des Genusses von rohem Fleisch, die schon darum auffallen muß, weil sie aus dem Munde des Henkers eines der kleinen „Könige“ im Hinterlande von Kamerun stammt, eines Mannes, der überdies in dem üblen Rufe des Menschenfressers stand. Als Morgen ihm diese Verirrung vorwarf, schüttelte der Kannibale treuherzig den Kopf und sagte: „Ja, Herr, das ist richtig, aber ich bin nicht einer von denen, die das Fleisch der eignen Landsleute fressen, ich verzehre nur das der gefallenen Feinde, und Herr, verzeihe, aber das ist doch nicht so schlimm wie das, was Du machst. Du trinkst rohe Eier und issest rohes Fleisch. Das kommt doch bei uns niemals vor. Wir essen nur das, was vorher gekocht oder gebraten ist. Rohes Fleisch fressen in der ganzen Gegend nur die wilden Thiere.“

Chlor und Spiegel. Zur Desinfektion von Wohnräumen wird öfter auch Chlor angewendet. Man verfährt dabei in der Weise, daß man auf die Chlorkalk enthaltenden Pfannen Salzsäure gießt, sich selbst dann so schnell als möglich aus dem Staube macht und das Zimmer so luftdicht, als es irgend geht, verschließt.

Nun wirkt das Chlor aber nicht allein tödlich auf viele schädlichen Mikroben und Bacillen sondern auch zerstörend auf Gegenstände des menschlichen Gebrauchs, so z. B. auf viele Farben; Kleidungsstücke thut man aus diesen Gründen gut, aus dem zu räuchernden Zimmer zu entfernen. Und noch eine andere überraschende Wirkung hat das Chlor: es macht nämlich die Spiegel, die im Zimmer hängen, vollkommen blind und unbrauchbar.

Die Erklärung dieser Erscheinung ist nicht schwer, wenn man sich die Ursache der spiegelnden Wirkung des Glases vergegenwärtigt. Bekanntlich wird diese dadurch hervorgerufen, daß die Glasplatten mit einer metallischen, das Licht nicht durchlassenden Schicht belegt werden, und zwar wird meistens zu diesem Zwecke das sogenannte Zinnamalgam, eine Legierung von Quecksilber und Zinn, benutzt. Nun wirkt aber das Chlor mit Leichtigkeit auf diese wie auf die meisten Metalle, indem es sich mit ihnen verbindet, also das Quecksilber und das Zinn in ihre Chlorverbindungen überführt. Dadurch verlieren sie ihren metallischen Charakter wie alle Metalle, wenn sie sich mit Nichtmetallen verbinden; sie gehen aus dem Zustand der Metalle in den der Salze über und können als solche die Zurückwerfung des Lichtes aus dem Glase nicht mehr hervorrufen. Auch die Spiegel gehören also zu denjenigen Gegenständen, die man, wenn man Schaden vermeiden will, bei einer Chlordesinfektion aus dem Zimmer entfernen muß.

[408] Schlafender Frosch. (Mit Abbildung.) Es giebt eine Anzahl von Thieren, namentlich Lurchen und Insekten, die mit der Eigenschaft ausgestattet sind, an spiegelglatten senkrechten und überhängenden Flächen mit erstaunlicher Fertigkeit zu laufen und sogar in überhängender Körperlage zu ruhen. Sie thun es ohne irgend welche Anstrengung; denn die Natur hat diese geborenen Akrobaten mit besonderen Sohlen ausgestattet. Unter den Eidechsen bilden die „Haftzeher“ eine besondere Familie, so genannt, weil ihre Zehen und Sohlen mit wirklichen Haftwerkzeugen ausgestattet sind, mit Saugnäpfen, mit deren Hilfe sich die Thiere an die glatten Flächen ansaugen. Die Fliegen dagegen sondern an ihren Füßen einen Leim aus, mit dem sie sich an die glatten Flächen ankleben, und ebenso sind die Zehen der Baumfrösche, als deren bekanntester Vertreter unser Laubfrosch gelten mag, mit feinen Drüschen versehen, aus denen gleichfalls ein Leim austritt, welcher dem Frosche gestattet, die wunderbarsten Körperstellungen einzunehmen.

Schlafender Frosch.
Originalzeichnung von Walter Püttner.

So dürfte auch die Lage, die der Frosch auf unserem Bilde für ein Nachmittagsschläfchen eingenommen hat, für seinesgleichen nicht besonders abenteuerlich sein. Daß er mit dem Kopfe nach unten über den Wassern schwebt, kann sogar als ein Zeichen seiner hygieinischen Weisheit gelten – hat doch vor einigen Jahren ein Arzt auch den Menschen empfohlen, mit dem Kopfe tiefer zu schlafen und zu diesem Zwecke das Fußende des Bettes zu erhöhen! Unser Frosch kann aber eines tiefen Schlummers sich nicht erfreuen; denn zum Entsetzen der Wasserjungfer, die auf demselben Aste sitzt, summen Fliegen heran, spazieren dem Frosche auf dem Kopfe, ja über das sonst so gefürchtete Maul hinweg. Solche „Reize“ stören den Schlaf und rufen Träume hervor, und vielleicht mag es sein, daß auch der Frosch auf dem Bilde von ungebratenen, aber desto zarteren Mücken, die einem in den Mund fliegen, träumt wie ein Menschenkind von gebratenen Tauben.

Ob auch Lurche träumen können? Wir müssen es der Phantasie unserer Leser und Leserinnen überlassen, die Thatsache und den Humor der Froschträume sich auszudenken. Wir wollen bei dieser Gelegenheit lieber von einer Schlafgewohnheit der Frösche berichten, die von einem trefflichen Naturkundigen, A. Franke, verbürgt wird. In seinem mustergültigen Terrarium in Stötteritz bei Leipzig hielt er auch Teichfrösche und da machte er die Wahrnehmung, daß jeder einzelne Frosch sein bestimmtes Nachtquartier bezieht, in dem er jedenfalls einen Theil der Nacht schlafend zubringt und das er am Tage nicht benutzt. Einem Freunde, der diese Thatsache bezweifelte, bezeichnete er genau die Stelle zwischen zwei Klettenblättern, die mit Eintritt der Dunkelheit von einem Frosche besetzt werden würde.

„Ich wußte schon im voraus,“ schreibt Franke, „daß der Frosch bei der geringsten Störung in zwei mächtigen Sätzen nach dem Bassin springen würde, und kannte den Fleck, von wo aus der zweite Sprung mit fast mathematischer Genauigkeit ausgeführt wurde. Um den Effekt zu erhöhen, setzte ich hierher ein weites, halb mit Wasser gefülltes Gefäß. Wir sahen im Halbdunkel den Frosch sich nähern und bemerkten an der Bewegung der Blätter, wie er sein Nachtquartier bezog. Eine halbe Stunde später wurde mit einem Stöckchen ein geringes Geräusch in der Nähe des Klettenbusches gemacht, so daß der beunruhigte Frosch mit seinem gewöhnlichen Sprunge hervorkam und jedenfalls zu seiner nicht geringen Verwunderung in das Wassergefäß patschte. Mein Freund wurde aus einem Saulus ein Paulus; der Frosch aber bezog sein altes Quartier nicht wieder.“

Psyche. (Zu unserer Kunstbeilage.) Curzons Bild, eine der hervorragendsten Schöpfungen des Meisters, die heute eine Zierde des Musée de Luxembourg zu Paris bildet, stellt uns die von Malern, Blldhauern und Dichtern so oft verherrlichte Psyche dar; und wer möchte bei ihrem Anblick nicht der Verse gedenken, mit denen Amor in Robert Hamerlings Dichtung gleich beim ersten Anblick ihre sieghafte Schönheit feiert:

 „Welche wunderfeinen,
Seidenweichen Strähnen, golden schimmernd,
Aehnlich einem Bündel Sonnenstrahlen!
Traun, aus ihren träumerischen Augen
Blüht ein Reiz, ein stiller, den ihr neiden
Müssen selbst olymp’sche Götterfrauen.
All ihr Wesen, all ihr Thun ist Seele.“

Auf dem Bilde von Curzon sehen wir Psyche als Büßerin eine jener schweren Aufgaben vollführen, welche der Zorn der Venus über sie verhängt hat. Aus dem Schattenreich muß sie von der Proserpina eine Büchse mit Schönheitssalbe holen. Sieghaft schreitet sie durch die Nacht, vorüber an dem Höllenhund, dem dreiköpfigen Ungeheuer. Auf dem Rückweg aber öffnet sie die Büchse, ein betäubender Dampf dringt heraus und Psyche sinkt bewußtlos zu Boden. Doch Amors Liebe, der sie mit dem Pfeil berührt, bringt sie wieder zu sich; das erzählt uns Apulejus in seinem Märchen „Amor und Psyche“. Als dieser sein Märchen verfaßte, im zweiten Jahrhundert nach Christus, da waren die Götter und Göttinnen schon etwas alt geworden, und es ist begreiflich, daß Venus selbst der Schönheitssalbe bedurfte und Proserpinens Toilettengeheimniß durch die geflügelte Sendbotin entlehnen mußte.

Das Märchen des Apulejus nennt Herder den zartesten und vielseitigsten Roman, der je erdacht worden sei. Eifersüchtig auf die reizende Psyche, welche im Ruhm der Schönheit mit ihr wetteiferte, beschließt Venus, sie zu bestrafen und befiehlt dem Amor, ihr die Neigung zu einem nicht ebenbürtigen Manne einzuflößen; doch Amor verwundet sich selbst mit dem Pfeil, welcher die Psyche treffen soll, und als diese auf das Gebot des Orakels an ödem Meeresstrand ausgesetzt wird, da weht ein sanfter Hauch sie von der Klippe in Amors Zaubergarten. Durch unbesonnene Neugier aber verscherzt sie ihr Glück und geräth bald darauf in die Gewalt der Venus, von der sie zum Aschenbrödel erniedrigt und zu harten Diensten gezwungen wird. Doch glücklich besteht sie alle Gefahren durch wunderbare Hilfe. Endlich erbarmt sich Zeus und giebt auf Amors Bitten seine Einwilligung zur Ehe des jungen Gottes mit der schönen Psyche. Bei dem Festmahl sind alle Götter und Göttinnen zugegen, auch Venus muß sich am Triumph ihrer Sklavin betheiligen: das ist das sinnige Märchen, das uns die Macht der Liebe über die Seele der Menschen in reizvollen Bildern vor Augen führt. †     


manicula 0Hierzu Kunstbeilage VII:0 Psyche.0 Von Curzon.

Inhalt: Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (10. Fortsetzung). S. 389. – Weltverbesserer. Von Dr. J. O. Holsch. VI. S. 392. – Die Zerstörung des Klosters Hirsau durch die Franzosen unter Mélac. Bild. S. 393. – Das wiederauferstandene Wikingerschiff. S. 396. Mit Abbildungen S. 396 und 397. – Das Rechte. Novelle von Adelheid Weber. S. 397. – Kirchensteg im Albthal. Bild. S. 401. – Aus Verdis Heimath und Heim. Von Woldemar Kaden. (Mit Bildniß und Abbildung. S. 389 und 405.) – Blätter und Blüthen: Deutsche Feldherren in Südamerika. S. 406. – Verlängerung der Blüthendauer. S. 406. – Die Zerstörung des Klosters Hirsau durch Mélac. S. 406. (Zu dem Bilde S. 393.) – Katechismus der Toilettenkunst und des guten Geschmacks. S. 407. – Neue Gegengifte. S. 407. – Kirchensteg im Albthal. S. 407. (Zu dem Bilde S. 401.) – Rohes und gekochtes Fleisch. S. 407. – Chlor und Spiegel. S. 407. – Schlafender Frosch. Mit Abbildung. S. 408. – Psyche. S. 408. (Zu unserer Kunstbeilage.)



In dem unterzeichneten Verlag ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen: 
Das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung.
Von C. Falkenhorst.0 Mit Abbildungen. 0Broschiert 5 Mark, gebunden 6 Mark.
Nicht nur in den „Höhlen“ und Kellerwohnungen verwahrloster Stadtviertel halten Krankheiten ihren Einzug – sie nisten sich auch in guten Wohnungen ein, wenn diese nicht gesundheitsgemäß erhalten werden. Darum wache jeder, namentlich aber die Hausfrau, am eigenen Herde, damit unser Haus auch in gesundheitlicher Beziehung unsere Burg sei. Die beste Auskunft über alle Gebiete der Haushygiene ertheilt das obengenannte Werk. Es ist das erste volksthümliche Buch, in welchem die Verhütung und Bekämpfung der Seuchen im eigenen Hause auf Grund der neuesten Errungenschaften der Wissenschaft ausführlich und klar gelehrt wird.
--- Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. ---

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.