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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[373]

Nr. 23.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.
 (9. Fortsetzung.)
14.

Der Oberst von Gouda war ein Mann von mannigfaltigen und keineswegs verächtlichen Gaben. Sein scharfer kalter Verstand war von einem rechtlichen Sinn begleitet; er hatte wenig Bedürfnisse und diese lagen weitab von dem, was der große Menschenhaufe sich als Genüsse erstrebt. Daß er uneigennützig war, floß aus dem von selbst – nicht mit jener Uneigennützigkeit aber, welche anderen Dienste aufdrängt, ohne Vergeltung zu suchen; dienstfertig war er überhaupt so wenig, wie es etwa ein Säulenheiliger sein kann. Er überließ einen jeden am liebsten sich selber, da sein Scharfblick ihm früh das Nutzlose der meisten Einmischungen in fremde Geschicke oder auch nur in fremde Gewohnheiten gezeigt haben mochte. Seine Uneigennützigkeit nahm vielmehr ihre Färbung von seiner wahrhaft ritterlichen Rechtlichkeit. Und so mochte ein Mann wohl zum Vormund schutzloser Waisen geeignet erscheinen, der ebenso leicht in Versuchung gekommen wäre, glühendes Eisen anzufassen, als sich mit fremdem Gut zu bereichern, und der auch der Verwaltung des ihm anvertrauten Besitzes allenfalls gewachsen war, wenn nicht seine einsiedlerischen Neigungen und tiefen Studien ihn hinderten.

Freilich, zum Erzieher paßte er um so weniger, dieser gelehrte Kriegsmann, der die Dinge ihren Lauf gehen ließ, so lange sie leidlich im Geleise blieben. Und so waren denn auch die beiden jungen Anverwandten mit geringer Förderung seinerseits aufgewachsen, fast bloß ihrer glücklicherweise guten und gesunden Natur nach. Wenig Sorge oder Kopfzerbrechen hatte dem Obersten sein Vormundstand gemacht bis zu dem Unglückstag, da Lutz zum Abendbrot nicht heimgekehrt war. Das war jetzt mit einem Male anders geworden. Aber die veränderte Lage der Dinge fand an dem Herrn von Gouda in gewisser Weise wenigstens ihren Mann.

Es war nicht so selbstverständlich, wie es scheinen könnte, und deshalb dem hageren Herrn mit dem gelben ledernen Gesicht doch auch anzurechnen, daß sein Scharfblick die Abgeschmacktheit jenes Verdachtes gegen Polyxene unverweilt durchschaut hatte und daß er somit auch nicht für den kleinsten Bruchtheil einer Sekunde stutzig oder an ihr irre geworden war. So gewann er alsbald Zeit, sich mit einer andern Frage zu beschäftigen und an ihr seinen Scharfsinn spielen zu lassen: hatte jener Argwohn wirklich noch eine andere Existenz, getrennt von der, welche er als Werkzeug in der Hand der Jesuiten führte? Schlich derselbe frei umher? War er am Hofe und gar in der Stadt verbreitet? Hierüber gedachte er sich ohne Aufschub nach Möglichkeit Gewißheit zu verschaffen.

Dieser Absicht folgend, ritt der Oberst am Tage nach dem nächtlichen Besuche, den er empfangen hatte, in die Residenz Birkenfeld hinein. So selten er sich auch hier zeigte, so war doch die Gestalt im verschabten Lederkoller und vertragenen Filzhut, mit hohen gelben Stiefeln an den hageren Beinen, den Bürgern wohl vertraut. Sie kannten alles an diesem seinem Reitanzug bis auf die schweren Sporen – deren er sich nie bediente – und freuten sich, wenn nach

Des Lieblings Frühstück.
Nach einer Zeichnung von Hans Looschen.

[374] fünf oder zehn Jahren das alles ebenso wiedererschien, wie sie es zuletzt gesehen, die jüngeren vielleicht nur von den älteren beschreiben gehört hatten.

Der Oberst ritt gemächlich durch die kothigen holprigen Straßen, und nicht nur, daß er mit bedächtiger Höflichkeit einen jeden Gruß, der ihm wurde, durch ein Rücken oder Lüften oder gar Abnehmen seines Schlapphutes erwiderte – er gab auch genau acht auf die Gesichter der Grüßenden; ja er verschmähte es sogar nicht, hier und da an einer Straßenecke, halb umgewendet auf seinem Gaule, festzustellen, ob hinter ihm die Leute etwa zusammenschossen, an Jost Bäckers oder Veit Krämers Gadenthür, wie das Volk thut nach dem Vorüberziehen eines, an dessen Fersen ein frisches Gerücht, ihn oder sein Haus betreffend, sich hängt. Er wurde aber nichts dergleichen gewahr. Vor einiger Zeit, als er mit Polyxenen zu jener nicht gewährten Audienz zu Hofe gefahren war, da war es anders gewesen. Er war kein schlechter Beobachter äußerer Dinge, dieser gelehrte Herr, der ja freilich einst dem Gotte Mars auf luftigem Felde gefolgt war und da alle seine Sinne brauchen gelernt hatte. Jenes Mal war ihm hier in der Stadt aufgefallen, wie die Leute mit ganz besonderen Gesichtern nach ihm und Polyxenen gestarrt hatten; denn Lutzens Verschwinden war etwas Neues gewesen und hatte ihn und das Mädchen zu Gegenständen einer erregten Neugier gemacht. Heute aber, nur wenige Tage später, war jenes räthselhafte Unglück schon in die Ferne gerückt für die Menge, und sie blieb gleichgültig bei dem Erscheinen des Obersten. Wäre jener fürchterliche Argwohn gegen Polyxene hier um ihn her, vor ihm und hinter ihm, durch die Gassen geschlichen, so hätten diese Menschen ihn anders angesehen.

Er hielt nun sogar am Hause eines alten Bekannten an, des Büchsenmachers Lorenz, da der Meister, das Käppchen in der Hand, unter die Thür trat. Das war ein ehrbarer Mann, der die Kundschaft der Leyens schon von seinem Vater erblich überkommen und als letzten nun auch den Junker Ludwig bedient hatte, frühe wie dies frische junge Blut zur Jagd die Büchse führte. Der durfte sich nun auch, da er im Gesicht seines alten Gönners eine gewisse Zugänglichkeit zu entdecken meinte, die Frage erlauben: „Noch immer keine Kunde über den Verbleib des gnädigen Junkers, Herr Oberst?“ Und er schüttelte bekümmert den Kopf, als er aus den Mienen des Herrn von Gouda sich die Antwort gleich entnehmen konnte. Unbefangener ehrlicher Antheil hatte aus der Frage geklungen, weiter nichts, und ebenso schlicht und ohne Arg kam heraus, was der Handwerksmann nun noch hinzusetzte: „Da dauert mich, mit gnädigem Verlaub, besonders unser Fräulein Polyxene, Herr Oberst. Die und der Junker waren stets zusammen wie Geschwister. Gebe doch Gott, daß Euer Gnaden bald etwas erfahren und zwar etwas Gutes!“

Dem stimmte der Oberst ernsthaft zu und ritt mit geziemendem Gruße davon, Und mit sich trug er die Ueberzeugung: mehr, als dieser Mann gesagt hatte, wußte er und wußte damit seine ganze Nachbarschaft auch nicht.

Jetzt führte ihn seine wohlerwogene Absicht in eine andere Sphäre; er hatte dem Fräulein von Motz, der Spielgefährtin Polyxenens von der Kinderzeit her und der ehrlichsten Seele von der Welt, seinen Besuch zugedacht. Fräulein von Motz bewohnte mit ihrer verwitweten Mutter ein altes Haus am Markte, welches das Wappen der Familie über der Hausthür zeigte. Sie lebten darinnen mit adligem Anstand, und keinem von den Bürgersleuten wäre es eingefallen, ihnen den standesgemäßen Respekt zu verweigern, obwohl die Damen spärlich bedient waren, der geringen Einkünfte wegen, und in ihrem ganzen Auftreten die Grenze der Aermlichkeit zu berühren zuweilen nicht vermeiden konnten.

Natürlich war dem Obersten dieses alles nicht fremd. Er stieg jetzt am steinernen Tritte der Thür ohne Hilfe vom Pferde, befestigte den Zaum seines ruhigen Thieres in dem rostigen Ring am Pfosten, läutete, nur um auf sein Kommen vorzubereiten, denn die Hausthür war unverschlossen und stand dann mit unerschütterlicher Ruhe in dem modrig riechenden Flur, während oben im Hause ein unterdrücktes Rufen, Fragen, Schlürfen und Regen begann. Von dem allem hatte er aber, seinem Gesicht nach, nicht das Mindeste vernommen als endlich nach langen Minuten das Inventarstück des Hauses, der alte Diener, im ebenfalls hochbetagten Livreerock erschien und ihn empfing. Der führte ihn dann die Treppe hinauf, und dem vorangehenden armen Kerl schien jeder seiner Füße ein Bleigewicht, im Bewußtsein der wenig präsentablen Verfassung, darin die untere Hälfte seiner Person sich befand.

Doch wie gesagt, der Herr von Gouda wußte zu rechter Zeit weder zu sehen noch zu hören, hatte auch wahrlich andere Dinge im Kopfe als die Mängel eines Haushaltes, dessen unverschuldete Armseligkeit er kannte. Auch von diesen Gedanken aber, die ihn eigentlich beschäftigten, verriethen, als er endlich im Staatszimmer den beiden Damen gegenübersaß, seine ernsthaften ledernen Mienen nichts.

Das gute kleine Fräulein von Motz mit dem unschönen Apfelgesicht, sowie die gnädige Mama, die ähnlich, nur wie ein vergessener Winterapfel um Ostern herum, aussah – sie beide hingen mit Spannung an eben jenen Mienen des Herrn von Gouda. Es war diese Spannung aber, wie sein Scharfsinn unschwer errieth, mehr nur auf die Ungewöhnlichkei seines Besuches zurückzuführen, da männiglich wußte, wie selten er seinem Studiergemach abtrünnig wurde. Die Damen hatten sich indessen darein zu finden, daß der seltene Gast einen Grund für sein Kommen ihnen nicht angab. Er erkundigte sich aufs höflichste nach dem Ergehen von Mutter und Tochter, als ob er weiter nichts bezwecke denn einen müßigen Morgenbesuch, bei dem man dies und jenes schwatzt und sich die spärlichen Neuigkeiten erzählt. Wohlgezogen und durch das Hofleben geschult, erleichterten beide ihm nun auch seine Zurückhaltung und thaten, als sei es das Natürlichste von der Welt, die wunderliche Gestalt da sitzen zu sehen. Nach kurzer Frist aber fuhr doch Cordula von Motz heraus: „Wie befindet sich meine liebe Polyxene, Herr Oberst? Und warum seid Ihr nicht im Wagen und seid ohne meine Herzensfreundin gekommen? Sie grämt sich um den Junker Lutz, wie? Aber Ihr dürft sie nicht allzu sehr sich versitzen lassen!“

Die Mutter mahnte freilich mit Wort und Wink, daß Cordelchen des unziemlich heftigen Fragens sich begebe, aber in der gleichen Harmlosigkeit, mit der die Tochter eben gesprochen hatte. Damit war der Hauptzweck von des Obersten Besuch hier schon erreicht, und was nun noch kam, nur mehr ein unvermeidlicher Schnörkel um die feste Linie seines Planes herum. Zunächst einmal verlangte die Frage des wohlgesinnten kleinen Fräuleins eine Erwiderung, und diese war nicht leicht. „Von dem heutigen Befinden meiner Nichte kann ich dem Fräulein keine Auskunft geben, da ich selbige gestern abend zuletzt gesehen habe,“ sagte er jetzt in seiner wunderlichen Weise. „Sie hat mich zu dieser Zeit verlassen, um im Kloster der Ursulinerinnen Aufenthalt zu nehmen –“

Er hätte wohl noch einige einschränkende Worte hinzugefügt, aber schon hatte Cordula aufgeschrieen: „Ins Kloster? Die Polyxene geht ins Kloster? O . . .“ und nun brach sie alsogleich in ein bitterliches Weinen aus und hörte nicht auf ihre Mutter, die ernstlich zu einem gesetzteren Verhalten mahnte. „Cordelchen hat sich schon längst um die Polyxene geängstigt,“ wandte sich die Dame darauf entschuldigend und erklärend an den Herrn von Gouda, und Cordula schluchzte dazwischen: „Ach, meine beste Herzensfreundin ... so schön und so gut und so wohlgemuth! Und die soll Nonne werden – und sich schwarz anziehen und ein langes Gesicht und eine spitze Nase kriegen vom Kasteien! Was ist ihr denn nur durch den Kopf gefahren ...“ Plötzlich wandte sie streitbar und mit einem lobenswerthen Mangel an Eitelkeit dem Obersten ihr schon roth und dick geweintes Gesicht mit dem bethränten Näschen zu. „Wie mögt Ihr als Vormund das nur leiden! Wenn sie vom Grämen um den armen Lutz zu sich kommt, wird es ihr bitter leid sein! Euch ist auch alles recht!“

„Aber, Tochter, Ihr macht mir Schande!“ rief die Mutter in großer Verlegenheit, während Herr von Gouda, ohne alles Mißfallen über diesen warmen Freundschaftseifer, die Gelegenheit ergriff, nunmehr zu Worte zu kommen. Es erfuhren die Damen von ihm, daß die Sache etwas anders liege, als sie gefürchtet hatten. Allerdings – dem Herrn von Gouda beliebte es, diesen Umstand hier bekannt werden zu lassen – hatten es die Jesuiten für nöthig gehalten, über das gefährdete Seelenheil von Fräulein Polyxene ihre besondere Wachsamkeit auszudehnen. Und von ihnen ging die fürsorgliche Absicht aus, das Fräulein eine Zeit lang im Kloster unterzubringen. Davon aber, daß sein Mündel den Schleier nehmen solle, sei, so versicherte er, keine Rede gewesen.

Aber das gereichte der guten Cordel von Motz zu geringer Beruhigung. Der Herr von Gouda merkte nicht ohne innern Beifall, wie bei dieser lieben Einfalt die lebhafte Empfindung des [375] Herzens ganz und gar die Stelle der schärfsten Einsicht vertrat. Selbst er, der nüchterne Philosoph, vergaß nicht sobald wieder den Ausdruck verwirrten Entsetzens, mit dem sie ihn angesehen hatte, als sie von ihm den weitern Umstand erfuhr, daß zwei der hochwürdigen Herren selber es fur der Mühe werth gehalten hätten, sein Mündel in einem Wagen abzuholen und ins Kloster zu führen. Dann ist alles aus! schienen ihre verstörten Mienen zu sagen.

Es ziemte sich diese hoffnungslose Ansicht für den erfahrenen Mann nun wohl nicht, aber auch in ihm wirkte jetzt das Vorgefühl, daß es sich hier um den Kampf mit einer schwer zu fassenden Macht, um einen Kampf mit sehr zweifelhaftem Ausgang handeln werde.

Von dem adligen Hause am Markte, in welchem er verweinte und betretene Gesichter zurückließ, begab sich der Oberst nach dem Residenzschlosse selber. Doch diesmal nicht als ein an allerhöchster Stelle Audienz Suchender. Er hatte seinen Besuch vielmehr der Obersthofmeisterin zugedacht. Der Herr von Gouda handelte damit wie ein Soldat, der um den Feind, dessen Ort er beschleicht, immer engere Kreise zieht. Dasjenige, dem er auf seine Art nahe kommen wollte, war die schnöde Anschuldigung gegen Polyxene. Wo das Uebel ungefähr saß, das konnte er erkennen: es mußte in der allernächsten Umgebung der Fürstin sein, zu welcher der vertraute Beichtvater gehörte. Wußte nun auch die Kallenfels nichts, dann schrumpfte das Gebiet jener unerhörten Beschuldigung so zusammen, daß Raum für kaum mehr als Einen oder Zwei darauf blieb. Und da würde es dann nicht mehr allzu schwer sein, auf den eigentlichen Urheber den Finger zu legen.

Und doch schwerer, als der Oberst von Gouda mit all seiner Kunst im Einnehmen fester Stellungen vermeint hatte! Ergab sich aber auch nicht völlig, was er wissen wollte, aus seiner Unterredung mit der Obersthofmeisterin, so erfuhr er in derselben doch mancherlei. Vor allem, daß diese Dame mit Wehmuth ihre eigene Charge am Hofe nur noch als den Schatten dessen, was diese seither gewesen war, betrachtete. Sie war des Vertrauens ihrer Fürstin beraubt, und nicht nur das: der redlichen Ausübung ihres Amtes, über die Formen und Regeln der Etikette, ja des Anstandes am Hofe zu wachen, erwuchsen stets größere Hindernisse. Es fielen jetzt „Horreurs“ in dieser Hinsicht vor, über welche die höchstseligen birkenfeldischen Herrschaften, hätten sie dieselben erfahren können, in ihren Gräbern sich würden herumgedreht haben. Welches Exempel wurde gegeben, wenn rang- und titellose Personen von keineswegs genügend bekannter Herkunft sich einer auffälligen Bevorzugung der Pfalzgräfin erfreuen durften! „Ich verhehle es Dero Gnaden nicht, daß meine Worte auf diese neue Figur am Hofe, auf die Frau von Méninville, zielen; sie thut es an Geltung bei meiner Fürstin uns allen zuvor,“ sagte die Würdenträgerin, mit der ihr eigenen trockenen Ergebenheit in ihr Schicksal; und gerade die hohe eintönige Stimme und das unbewegliche Repräsentationsgesicht mit seinen Spuren des Alters machten sie dabei für den tiefer Blickenden zu einem Gegenstande besonderen Mitleids. „Nicht nur, daß die Freundschaft mir entzogen ist, welche, wie ich wohl sagen darf, Frau Sabine Eleonore für mich hegte,“ fuhr die Obersthofmeisterin fort, „auch das Ansehen meines Amtes wird tagtäglich geschmälert durch beispiellose Vorkommnisse. Und das des Hofmarschalls nicht minder! Werdet Ihr es glaublich finden, geschätzter Herr und Freund, daß diese mehrerwähnte Person es letztlich auf sich nimmt, Audienz Suchende bei unserer Hoheit einzuführen, unter dem Vorgeben, ich sei nicht zur Stelle gewesen, um zu rechter Zeit Meldung zu thun? Daß eigene Handschreiben unserer Fürstin expediert werden, ohne daß das Hofmarschallamt ein Sterbenswörtchen davon erfährt? Um Euch ein Beispiel zu geben: Die Mittheilung, es seien heute vormittag schon Personen des Antlitzes der Pfalzgräfin theilhaftig geworden, muß ich, die Obersthofmeisterin, von Dritten erhalten!“

„Wer war hier zur Audienz? Der Pater Gollermann oder der Herr Dekan Zindler?“ warf hier der Oberst von Gouda kurz dazwischen. Die Dame sah ihn an, mit mehr Lebhaftigkeit, als sie bisher gezeigt hatte. „Also auch Euch finde ich informiert von Dingen, die ich billig zuerst wissen sollte. Ist der werthe Herr und Freund gekommen, um meiner zu spotten? Ich habe es kein Hehl: mein Brot hier esse ich mit Schanden – ich erfahre nichts und weiß nichts mehr.“

„Auch nicht, wer meiner Nichte Polyxene eine böse Suppe, wie mir fast scheinen will, eingebrockt hat?“ fragte unverweilt der Oberst, dessen unzweideutige Derbheit und Kürze nicht ohne wohlbedachte Absicht war.

„Ihr sprecht in Räthseln Herr,“ sagte Frau von Kallenfels, ihre Betroffenheit unter etwas wie steifem Unwillen verbergend. „Was meint Ihr?“

„Mit ausdrücklicher Bewilligung Euerer Frau Pfalzgräfin, wenn ich den Worten der beiden Herren trauen darf, haben der Pater Gollermann und der Dekan Zindler Polyxene gestern in das Ursulinerinnenkloster gebracht, angeblich, weil ihr Credo einer Revision bedürftig wäre,“ sagte der Oberst mit gleichmüthiger Stimme, aber die gute Dame genau im Auge behaltend.

Sie sah ihn sonderbar an, jedoch sein Scharfsinn deutete das Mißtrauen in ihrem Blicke richtig: ein flüchtiger Zweifel war ihr gekommen, ob auch der wunderliche Herr ganz zurechnungsfähig sei und nicht etwa von leeren Einbildungen beherrscht werde. „Ich berichte Euch, was wahr ist,“ sprach er mit ernsthaftem Nicken.

„Verzeiht“ – sie war jetzt, soweit dies bei ihr möglich, fassungslos; sogar die Farbe ihres Gesichtes hatte sich verändert und war fahler geworden, trotz der dauerhaften Verkupferung – „Verzeiht,“ sagte sie, „wenn ich meinen Ohren nicht traute. In dieser Sache waren also die beiden Patres heute schon hier! Herr, wenn so gegen eine vom Adel vorgegangen wird, so bedeutet das nichts Gutes für uns alle. Das beklagenswerthe Fräulein! Wessen sagtet Ihr, zeiht man sie? Es kann doch nichts Ernstliches sein?“

„Sie scheinen es in Sachen der Religion jetzt hier genauer nehmen zu wollen,“ sagte der Oberst trocken. „Meine Nichte ist verklagt worden, weil sie ein sieches Weib besucht hat, das im Kirchenbanne lag.“

„Sie hat nicht klug daran gethan. Und doch ist dies scharfe Vorgehen gegen ein junges Fräulein von Stand unerhört,“ meinte die Obersthofmeisterin bekümmert. „Wo soll das alles noch hinaus! Wir alle konnten eine üble Laune der Pfalzgräfin gegen das Fräulein von Leyen schon neulich auf der Hofjagd bemerken. Nie aber hat unsere Fürstin, wenn sie schon einmal grillig und, zu Euch im Vertraueu gesagt, widerhaarig war, eine solch eifrige Strenge und Härte gezeigt wie die, mit welcher man jetzt, und in ihrem Namen, sagt Ihr, gegen das Fräulein verfährt. Da möchst ich um alles mit Euch wetten: das kommt nicht von ihr allein. Das sieht ihr gar nicht gleich!“

Der Oberst erfuhr auf sein Befragen jetzt erst, wie peinlich die Vorgänge auf der erwähnten Hofjagd gewesen waren. Nach einigem Nachdenken begann er: „Fast möcht’ ich nun die Frage an die hochzuverehrende Dame stellen, ob sie vermeine, es habe meine Nichte Polyxene hier bei Hofe etwa einen Feind, der ihr hinterlistig schadet. Obwohl mir schwer fällt, einzusehen, womit sich ihre harmlose Jugend irgend eine Feindschaft sollte zugezogen haben.“

„O, das ist vielleicht nicht so schwer, wie der Herr meint,“ fuhr es der Obersthofmeisterin heraus. „Wir alle kennen hier eine Person, der es wohl zuzutrauen wäre, das Ohr unserer gnädigsten Frau gegen getreue Unterthanen, selbst vom Adel, einzunehmen, wenn sie sich dabei einen Vortheil ersähe!“

„Ihr meint die Frau von Méninville?“ sagte der Oberst. Das klang aber schon ablehnend, als wollte er sagen: wenn Euch Euer Groll gegen diese Frau nur nicht zu Phantasien verleitet!

„Und wenn ich sie meinte, Herr?“ gab die Dame zurück. Die beiden saßen in dem eigenen Gemache der Obersthofmeisterin, vor den Spähern und Lauschern sicher, an denen es einem Hofe nie gebricht. Die Kallenfels fuhr daher jetzt mit einem Nachdruck fort, mit dem noch wenige Menschen sie reden gehört hatten: „Verzeih’ mir Gott meine Sünde, wenn ich ihr zuviel thue, aber ich halte diese Person böslicher Einbläsereien wohl für fähig!“

„Welchen Zweck aber oder vielmehr welchen Nutzen hätten solche im Falle meiner Nichte für die beregte Dame gehabt?“ warf der Oberst mit Kopfschütteln ein.

„Danach fragt Ihr mich zur Zeit noch zuviel,“ gestand die Kallenfels. „Wie sie aber hier am Hofe in die Höhe gekommen ist, das ist etwas so Wunderbarliches, daß wir ihr auch noch ganz andere Pläne zutrauen können, Pläne, denen der Verstand rechtlicher Leute so leicht nicht nachzukommen vermag. Eins aber ist gewiß: die Méninville hat das Ohr unserer gnädigsten Frau mehr als irgend jemand sonst, und Ihr spürt, was dabei herauskommt. Wann wäre eine solche Strenge in religiösen Händeln sonst je erhört gewesen?“

[376] Der Oberst mochte sich im stillen sagen, daß der gerade und ehrliche und im langen Hofleben wettertüchtig gewordene Verstand der Obersthofmeisterin wahrscheinlich auf keiner falschen Fährte sei. Und wenn die Dame erst alles gewußt hätte! Von ihm, trotz des guten Zutrauens, das er ihr im ganzen schenkte, erfuhr sie nichts. Hinter seinen Lippen, die stets nur sagten, was sie wollten, ruhte das Geheimniß des schnöden Mittels, das man gebraucht hatte, um Polyxene ins Kloster zu locken, wie unter sieben Siegeln. Er war dem Ausgangspunkt der frevlen Anklage, das merkte er, jetzt dicht auf der Spur. Eine echt jesuitische Lüge war die Fassung gewesen, in welcher, wie er errathen konnte, das Fürchterliche des Mädchens Ohr erreicht hatte. „Ich soll den Lutz umgebracht haben,“ hatte sie in ihrer Verzweiflung ihrem wunderlichen Anhänger, dem alten Waldwart, verrathen. Das hieß so viel wie: alle Welt sagt es von mir; sie deuten aus allen Ecken mit Fingern auf mich. Das hatte man ihr vorgespiegelt. Daß es nicht so war, davon hatten die letzten Stunden ihn unwiderleglich überzeugt. Aber freilich nicht davon, daß es nicht so werden könnte. Und dann würde, auch das wußte er nun, das Gerücht den Weg, den er heute gekommen war, in umgekehrter Richtung nehmen. Aus den innersten Gemächern der Fürstin, an deren Schwelle er stand, hier hinaus ins Schloß. Von da in die adligen Häuser, zugleich aber auch, nun durch immer zahlreichere Kanäle sickernd, würde es dringen in den Gaden des Krämers, in die Werkstatt des Handwerkers und unter jedes Dach der Stadt. Und der Oberst sah in seinem Bereich kein Mittel, dies zu verhindern. Er war einsilbig, während ihm allerlei Möglichkeiten im Kopfe herumgingen, zu deren Mitwisserin er die ehrliche Obersthofmeisterin doch nicht machen konnte, und so erhob er sich jetzt.

„Ich wollte, ich hätte dem liebwerthen Herrn und Freunde bessern Trost geben können,“ sagte sie noch, „aber Ihr seid dafür hier an einem schlechten Ort. Wir sehen einander an und fragen, was will das werden? Und nun gar, seit der Oberjägermeister, der Herr von Nievern, sich einen langen Urlaub genommen hat, ist die Lanue dort“ – sie deutete mit dem Kopfe nach den Gemächern der Pfalzgräfin – „immer schlechter geworden. Er ging Knall und Fall nach jenem Jagdabenteuer, von dem ich dem Herrn vorhin berichtete. Die Biberen behauptet sogar: weil er Aergerniß an dem Verhalten unserer Hoheit gegen die arme Polyxene genommen! Aber die schwatzt mancherlei. Wäre es wahr, so hätte er dem armen Fräulein einen schlechten Dienst erwiesen.“

Hiernach verabschiedeten sich die beiden voneinander mit großer Würde. Und wie es manchmal geht: das Wort, das alle ihre übrigen theilnahmsvollen Reden aufwog, hatte die gute Dame achtlos und seine Bedeutung nicht ahnend zuguterletzt zwischen Thür und Angel noch fallen lassen.

(Fortsetzung folgt.)




Fortschritte der Elektrokultur.

Von C. Falkenhorst.

Mit beispielloser Schnelligkeit erringt die Elektricität Siege über Siege auf dem Gebiete der Technik. Elektrische Beleuchtung, elektrische Eisenbahnen, elektrische Schmelzöfen, elektrische Kraftübertragung – die Erfindungen jagen einander, und kaum haben wir uns mit dem Fernsprecher befreundet, so tritt ihm schon Elisa Grays Fernschreiber an die Seite, der von Geschäftsbureau zu Geschäftsbureau auf meilenweite Fernen briefliche Mittheilungen in kopietreuer Schrift, wahre Autographen tragen soll. Die Wunderkraft greift mit grenzenloser Gefügigkeit in die verschiedensten Gebiete menschlicher Thätigkeit ein. Sie bewegt Maschinen in allen Größen und Formen; aber man ist damit nicht zufrieden. Sie soll mehr leisten, soll mit ihren Schlägen und Strömen lebende Organismen durchdringen, soll die Pflanzen zwingen, daß sie rascher keimen und wachsen, schöner blühen und reichlichere Früchte tragen!

Man arbeitet seit lange an der Lösung dieser Aufgabe, und über die „Elektrokultur“, über die Anwendung der Elektricität zur Hebung des Pflanzenwachsthums, ist bereits eine umfangreiche Litteratur vorhanden. Aber die Erfolge sind auf diesem Gebiete nicht so augenfällig; die lebenden Wesen lassen sich nicht beliebig ordnen wie die Kohlenstäbe einer Lampe oder die eisernen Stangen einer Maschine; der „Elektro-Gärtner“ muß zuerst die Bedürfnisse der Pflanzen erforschen und ihnen die Elektricität anpassen, und da stößt er auf schwierige Fragen, die erst durch jahrelange Beobachtungen und Versuche gelöst werden können. Seine Bestrebungen sind jedoch nicht ganz aussichtslos, denn so weit man bis heute die mühevollen Arbeiten überblicken kann, erscheint die Hoffnung berechtigt, daß die Elektricität wirklich dereinst noch zur Füllung unserer Speicher beitragen werde.

Hat aber denn die Elektricität überhaupt einen Einfluß auf das Wachsthum der Pflanzen? Die Bauern, die eine eigene auf jahrtausendelanger Erfahrung aufgebaute Wissenschaft besitzen, haben diese Frage seit langem in bejahendem Sinne beantwortet, indem sie die Behauptung aufstellten, daß Gewitterregen besonders fruchtbar seien und nach Gewittern im Pflanzenleben ein kurzer, aber mächtiger Aufschwung zu bemerken sei. Die Naturforschung war in der Lage, diese Ansicht zu bestätigen. Schon im vorigen Jahrhundert zog Gardini in einem Turiner Klostergarten Metalldrähte über einige Pflanzenbeete, und da diese die atmosphärische Elektricität auffingen und ableiteten, so wurde sie den Pflanzen, die darunter wuchsen, entzogen. Die Folgen waren überraschend; unter den Drähten verkümmerten die Pflanzen sichtbar, erholten sich aber, wenn die Drähte entfernt wurden.

Vor fünfzehn Jahren wurden diese Versuche in ausgedehnterem Maße von Grandeau wiederholt; über die Pflanzen wurden weitmaschige Drahtnetze gespannt, während auf Nachbarbeeten Pflanzen derselben Art ohne diesen luftigen Panzer gezogen wurden. Da stellte sich heraus, daß die Entziehung der atmosphärsichen Elektricität die Gewächse sehr geschädigt hatte, denn sie lieferten 50 bis 60% weniger Früchte als die im Freien gezogenen und waren auch um 50 bis 70% im Wachsthum gegen die letzteren zurück geblieben. Versuche, die zur Probe von anderen Forschern angestellt wurden, bestätigten die Richtigkeit dieser Beobachtung.

Es besteht also in der That eine Wechselbeziehung zwischen der Elektricität und dem Gedeihen der Bäume, Kräuter und Gräser und es ist demnach möglich, daß dieses Gedeihen durch Zufuhr der wunderbaren Kraft erhöht werde; unsere Aufgabe besteht nun darin, diese Wechselbeziehung näher zu erforschen.

Der Gedanke der Elektrokultur ist nicht neu, nicht in unserer Zeit entstanden. Schon im Jahre 1746 führte Mombray in Edinburg zwei Myrthenstöckchen Elektricität zu und erzielte damit gute Erfolge. Seit jener Zeit wurden wiederholt ähnliche Versuche angestellt und in dem letzten Jahrzehnt sind sie überaus häufig geworden. Aus der Fülle der Thatsachen greifen wir nur diejenigen heraus, die einen wirklichen Erfolg darstellen, und wir erwähnen nur diejenigen Verfahren, die infolge ihrer Einfachheit und der verhältnißmäßig geringen Kosten, die sie verursachen, auch für einen weiteren Kreis unserer Landwirthe und Gärtner in Betracht kommen können.

Wir wenden uns zunächst der ersten und so überaus wichtigen Erscheinung des Pflanzenlebens zu, dem Keimen der Samen.

In den berühmten Gärten von Kew bei London setzte Spechnew verschiedene Sämereien der Einwirkung eines elektrischen Stromes aus, worauf sie ausgesät wurden. Zur Gegenprobe geschah dies gleichzeitig mit Samen derselben Art, die elekrisch nicht vorbehandelt waren. Der Erfolg war zufriedenstellend. Der elektrisch vorbehandelte Samen keimte früher aus und lieferte kräftigere Pflanzen; so keimten elektrisierter Roggen in 2 Tagen, nicht elektrisierter Kontrollroggen in 3 Tagen, elektrisierte Erbsen in 21/2 Tagen, Kontrollerbsen in 4 Tagen; elektrisierte Bohnen in 3 Tagen, Kontrollbohnen in 6 Tagen; elektrisierte Sonnenblumen in 81/2 Tagen, Kontrollsonnenblumen in 15 Tagen etc.

Paulin in Monbrison stellte eine Reihe von Versuchen mit Reibungselektricität an, die anscheinend noch bessere und sicherere Ergebnisse lieferten. Die Elektricität weckt in den Samen selbst die scheinbar schon verloren gegangene Keimkraft. Paulin arbeitete mit 20 Jahre alten Sämereien, die bei Anwendung der bisher üblichen Verfahren nicht aufgehen wollten, nach elektrischer Vorbehandlung aber sofort keimten. Samen ausländischer Pflanzen, wie z. B. Dattelkerne, keimen im gemäßigten Klima nur selten; als Paulin sie elektrisch behandelt hatte, gingen sie mit Leichtigkeit

[377]

In Kriegszeiten.
Nach einer Zeichnung von G. Hackl.

[378] auf. Weitere Proben bewiesen, daß von einer bestimmten Menge Samen, die in zwei gleiche Hälften getheilt wurde, der elektrisierte Theil mehr Keimlinge ergab als der nicht elektrisierte.

Das Verfahren, welches Paulin anwandte, ist nicht schwierig, und man bedarf zu seiner Ausführung nur einer gewöhnlichen Scheiben-Elektrisiermaschine. Man bringt den befeuchteten Samen in eine weithalsige Glasflasche, deren Außenwand mit Zinnfolie beklebt ist. Die Flasche wird, mit einem Kork verschlossen, durch diesen ein Kupferdraht gesteckt, der bis zu dem Samen hinabreicht. Das ist nun die wohlbekannte Leydener Flasche, bei welcher in diesem Falle der feuchte Samen die innere Füllung bildet. Man verbindet hierauf den Kupferdraht mit dem Konduktor der Elektrisiermaschine, setzt diese in Bewegung und ladet die Flasche bis zur vollen Sättigung. Diese Ladung wird stündlich wiederholt, und nach den Erfahrungen Paulins muß das Elektrisieren bei den Sämereien der gewöhnliche Küchengewächse 12 Mal, also einen Tag lang, erfolgen; bei Getreide dauert das Elektrisieren zwei Tage, die Nacht abgerechnet, so daß die Flasche 24 Mal geladen wird; die Behandlung des Samens der Obst- und Waldbäume soll dagegen 3 bis 8 Tage lang fortgesetzt werden. Der Samen muß aber sofort nach der elektrischen Behandlung noch im feuchten Zustande ausgesät werden; läßt man ihn austrocknen, so geht die Wirkung verloren.

Die zweite Aufgabe der Elektrokultur besteht in der Zuführung der Elektricität an Pflanzen, die bereits im Wachsthum begriffen sind. Man hat dies auf verschiedene Weise zu bewerkstelligen gesucht. Zuerst versetzte man abwechselnd Kupfer- und Zinkplatten in die Erde, verwandelte also den Ackerboden gewissermaßen in eine galvanische Batterie, in welcher der Strom beständig kreisen sollte; später führte man verschiedene elektrische Ströme, welche durch Dynamomaschinen erzeugt wurden, in das Erdreich. Die Ergebnisse, die man mit diesen Versuchsreihen erzielte, waren sehr unsicher; während in einigen Fällen ein ausgezeichnetes Wachsthum und gute Ernten verzeichnet wurden, wollte man in anderen einen geradezu schädlichen Einfluß der Elektricität auf die Pflanzen bemerken. Da diese Art der Zuführung von Elektricität außerdem sehr kostspielig ist und im praktischen Leben mit Vortheil nicht angewendet werden kann, so wollen wir darauf näher nicht eingehen und nur die Art der Elektrokultur in Erwägung ziehen, bei welcher die atmosphärische Elektricität nutzbar gemacht wird.

Bereits im Jahre 1848 beschäftigte sich Beckensteiner mit Lösung dieser Frage, indem er die atmosphärische Elektricität durch blitzableiterartige Stangen zu sammeln und in den Boden zu leiten suchte, damit sie dort auf die Wurzeln einwirkte. Die Ergebnisse der Versuche Beckensteiners waren ermuthigend, aber die elektrischen Lichterscheinungen, die namentlich während der Gewitter an den „Geomagnetifèren“, wie der Erfinder seine Apparate genannt hatte, auftraten, schreckte die Landwirthe von weiterer Anwendung ab. Später wurde die Angelegenheit wieder aufgenommen, indem man von gewöhnlichen Blitzableitern Drähte abzweigte und sie in die Nähe von Pflanzenwurzeln leitete. Diese Versuche mußten naturgemäß unbefriedigend verlaufen, weil in der Nähe der Blitzableiter in der Regel die Bedingungen zu einer zweckmäßigen Kultur völlig fehlten.

Acker mit „Geomagnetifère“

In neuester Zeit wurden die Geomagnetifèren wieder berücksichtigt, und es war wiederum Paulin in Monbrisen, der sie zu vervollkommnen suchte. Der verbesserte Apparat soll in folgender Weise zusammengestellt werden:

In der Mitte des zur Elektrokultur erwählten Platzes wird eine hölzerne, möglichst gut getheerte, etwa 10 bis 20 m hohe Stange aufgepflanzt. An der Spitze der Stange befindet sich ein Isolator aus Porzellan, und an diesem wird der Elektricitätssammler befestigt, ein Metallbesen aus fünf 4 mm dicken und 0,5 m langen Kupferdrähten. Von diesem Sammler läuft an Isolatoren die Stange hinab ein 4 mm starker Draht aus galvanisiertem Eisen bis in das Erdreich, wo er sich mit dem Elektricitätsvertheiler vereinigt; dieser besteht aus galvanisierten Eisendrähten, die zu einem quadratischen Netz (in unserer Zeichnung durch gestrichelte Linien angedeutet) geordnet sind, wobei ein Draht von dem anderen um etwa 2 m entfernt ist. Die Tiefe, in welche der „Vertheiler“ gelegt werden muß, richtet sich nach der Natur der angebauten Pflanzen: für Weinstöcke genügt eine Tiefe von 0,4 m, für Wiesen und Getreidefelder eine solche von 0,15 m.

Der Umkreis, in welchem der Geomagnetifère seine Wirkung ausübst, hängt von der Höhe der Stange ab; sie erstreckt sich auf eine Kreisfläche, deren Mittelpunkt die Stange bildet, während der Halbmesser dieses Kreises doppelt so lang ist wie die Stange. Die Stange muß aber alle Gegenstände innerhalb dieser Kreisfläche überragen; stehen in unmittelbarer Nähe des Magnetifères Bäume, die höher sind als er, so entziehen sie die Elektricität, und der Apparat ist völlig unwirksam.

Die ersten Versuche mit diesem Apparat wurden in Monbrison im Jahre 1891 angestellt. Wir heben nur einige Ergebnisse hervor. Auf einem Kartoffelfeld wurde ein 8,5 m hoher Geomagnetifère errichtet; die Elektrokultur erzeugte, auf das Hektar berechnet, eine Kartoffelernte von 28 000 kg, während die ohne Elektricisätszuführung gezogenen Kartoffeln nur 18 700 kg für das Hektar ergaben. Die elektrisch behandelten Kartoffeln zeichneten sich ferner in der Güte aus; denn wie die Analyse zeigte, hatten sie einen Stärkegehalt von 17,8 %;, während die Kontrollkartoffeln nur 15,3 %Stärke enthielten. Auch das Wachsthum von Kraut wurde durch die Elektrokultur begünstigt, und es gelang, Spinat von geradezu riesiger Größe zu erzielen. Mit einem 14 m hohen Magnetifère wurde ein Versuch in einem Weinberg gemacht, und hier ergab die Elektrokultur schönere und bedeutend zuckerreichere Beeren.

Die letzten Monate waren leider für eine weitere Prüfung der Elektricitätswirkung auf unsere Kulturgewächse sehr ungünstig; die große Hitze und Dürre, die im vorigen Sommer geherrscht, und die Dürre, die in den Monaten März und April und einem Theil des Mai dieses Jahres sich über weite Gebiete erstreckt hat, entzogen den Pflanzen das Wasser, ein Lebenselement, das durch die Elektricität nicht ersetzt werden konnte. Das Wachsthum blieb in jenen Zeiträumen zurück sowohl im freien Felde wie im Bereich der Magnetifèren.

In Belgien hat man zu noch einfacheren Mitteln bei der Elektrokultur gegriffen. Lagrange legte in 0,15 m Tiefe ein quadratisches Netzweck aus galvanisiertem Draht und pflanzte an verschiedenen Punkten desselben zugespitzte, nur einen halben Meter hohe Drahtstäbchen auf; diese saugten die atmosphärische Elektricität auf und führten sie durch das Netzwerk dem Boden und den Wurzeln zu. Ein Versuch mit Kartoffeln ergab auf gleich großen Ackerflächen folgende Ernten: Elektrokultur 103 kg; Kontrollbeet 80 kg Kartoffeln.

Die Elektrokultur befindet sich noch vollständig im Stadium des wissenschaftlichen Versuches; wir sind noch nicht in der Lage, bestimmte Winke für praktische Zwecke anzugeben. Es scheint, daß verschiedene Pflanzen sich verschieben gegen die vermehrte Elektricitätszufuhr verhalten, und es muß jedes Kulturgewächs nach dieser Richtung hin besonders geprüft werden. Aus den bereits erzielten Erfolgen geht aber doch hervor, daß die Elektricität in gewissen Grenzen als Befördrerin des Pflanzenwachsthums dem Landwirth sich dienstbar erweisen kann. Da die Ausgaben für Errichtung von Magnetifèren, sei es nach den Angaben von Paulin, sei es nach denen von Lagrange, nicht sehr hoch sind, so dürfte es vielen Gärtnern, Weinbergsbesitzern und Landwirthen möglich sein, nach dieser Richtung hin auf ihrem Grund und Boden Versuche anzustellen. Vielleicht wird dieser Aufsatz diesen ober jenen dazu anregen.



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Die Schwabenkolonien in Palästina.
Von Schmidt-Weißenfels.[1] Mit Zeichnungen von G. Bauernfeind.

Die erste Lokomotive.

An allen Punkten der Welt, wo es galt, der Kultur und Gesittung neue Sitze zu erobern, da griff auch der Deutsche, unternehmungslustig wie er war, wacker mit an. Er siedelte sich im fremden Lande an, machte sich vertraut mit Art und Sitte der Bewohner und übte so im stillen seinen erzieherischen Einfluß.

Aber für das Land der Türken hatte er entschieden keine Neigung. Der magische Zug dahin war seit dem Ende der Kreuzzüge, seit der Eroberung Konstantinopels durch die Mohammedaner und der Entdeckung des Seeweges nach Indien um Afrikas Südspitze herum überhaupt erloschen. Wenn auch der Kaufmann aus dem Westen seine Streifzüge machte durch das Reich des Großsultans, seßhaft werden unter seinem Szepter mochte kein guter Christ; denn als verachteter und gehaßter Fremdling setzte er nur Leben und Eigenthum aufs Spiel. Man wußte ja, wie es in diesem Reiche zuging, wie die Griechen, die Albanesen, Bulgaren, Kandioten etc., die als christliche Völker unter der Herrschaft des Halbmondes standen, den grausamsten Verfolgungen von seiten ihrer fanatischen Zwingherren ausgesetzt waren. Und immer wieder ward von Zeit zu Zeit die christliche Welt durch die Kunde über eine Niedermetzelung von Glaubensgenossen in Schrecken versetzt. Jeder Pascha schaltete in seinem Regierungsbezirke mit unumschränkter Willkür, gegen seine Gewaltthätigkeiten gab es keinen Schutz, kaum für den Inländer, geschweige denn für den argwöhnisch beobachteten Fremdling. Ein so gefährlicher Boden konnte also unmöglich etwas Verlockendes haben.

Indessen auch das Unerwartete und Unwahrscheinliche wird zuweilen Ereigniß.

Um die Mitte unseres Jahrhunderts lebte und wirkte im Schwabenlande ein Mann, der, von mächtigem Glaubensdrange erfüllt, jahrelang einer kleinen Anhängerschar unter seinen Landsleuten die biblische Weissagung vorhielt, daß ein neuer „Tempel“ zu Jerusalem errichtet werden müsse und daß dazu die gläubigen Brüder sich zu einer festen Gemeinde vereinigen sollten. (Vergl. Jahrgang 1875, Nr. 52). Ihm und seiner Mitarbeiter Einfluß gelang es, eine Schar frommer Leute zu der Ueberzeugung zu führen, daß sie als „Volk Gottes in Jerusalem“ berufen seien, den Tempel für das verheißene Tausendjährige Reich Christi in Jerusalem aufzurichten und zu behüten.

Der Gründer dieser neuen, zunächst nur im stillen blühenden Gemeinde war Christoph Hoffmann, und als Genossen standen ihm Chr. Paulus, G. D. Hardegg und L. Höhn zur Seite, lauter Schwaben, die von der religiösen Bewegung in Württemberg während der vierziger Jahre mächtig ergriffen worden und als Pietisten gegen die Landeskirche aufgetreten waren. Hoffmann selbst war der Sohn des Gründers und langjährigen Leiters der Pietistengemeinde Kornthal. Und aus dem Pietismus heraus hatte sich dann ein eigenes Sektenwesen gebildet, das rings im Lande seine Anhänger fand.

Hoffmanns schwärmerische und phantastische Natur verlieh ihm einen großen Einfluß auf seine Umgebung; für das Ansehen, das er genoß, mag am besten die Thatsache sprechen, daß er bei den Wahlen zum deutschen Parlament im Frühjahr 1848 gegen David Strauß in dessen Vaterstadt Ludwigsburg den Sieg davon trug. Einsam und verlassen saß er freilich in der Paulskirche zu Frankfurt a. M., aber die politische Erhebung bedeutete ihm auch wenig gegenüber der religiösen, die er für die Menschheit erträumte und von der er ihre paradiesische Glückseligkeit erhoffte. Darauf seine Mitmenschen vorzubereiten, die in christlicher Gemeinschaft zurückzuführen zur Einfalt der Apostel, damit sie sich würdig machten der Aufnahme in das Tausendjährige Reich – das war das ideale Ziel, zu dem Hoffmann aufschaute. In diesem Sinne sammelte und organisierte er 1853 das „Volk Gottes in


Die Kolonie Sarona bei Jaffa.

[380] Jerusalem“ als eine eigene Gemeinde, und trotz vielfacher Anfechtung erwies sich die Zahl der Anhänger so groß, daß man mit einiger Aussicht auf Erfolg an die Ausführung der letzten Pläne Hoffmanns, die wirkliche Ansiedlung in Palästina, herangehen konnte. Im Jahre 1854 richtete Hoffmann eine mit 439 Unterschriften versehene Bittschrift an den „Hohen Bundestag“ zu Frankfurt a. M., er möchte sich sich bei der türkischen Regierung dafür verwenden, daß sie der Gesellschaft behufs Uebersiedlung in das Gelobte Land Ackerboden um billigen Preis verkaufe und der Kolonie ihren Schutz angedeihen lasse. Der Bundestag aber hätte wohl beim besten Willen in dieser Angelegenheit nichts thun können und theilte denn auch den Bittstellern mit, daß er sich mit der beregten Sache nicht befassen könne. Der orientalische Krieg hatte zudem gerade seinen Anfang genommen und ließ vorläufig die Weltlage zur weiteren Verfolgung der Ansiedlungspläne als nicht geeignet erscheinen.

Hoffmann mit den Seinen ließ sich dadurch nicht irre machen. Er erwarb mit einem Theil der gesammelten Gemeindegelder den Kirschenhardthof bei Marbach, siedelte dahin über, und

Jaffa.

hier war nun siebzehn Jahre lang, von 1856 bis 1873, der Mittelpunkt des „Tempels“, die Hauptstation zur Sammlung der Gläubigen, die Vorbereitungsschule für die eigentliche Koloniegründung.

Im Jahre 1858 ging eine Kommission von drei Mitgliedern des Tempels, darunter Hoffmann selbst und Hardegg, nach Palästina. Mehrere Monate lang durchzog sie das Land von Berseba bis Dan, um darüber Bericht erstatten zu können, inwieweit es für die ihm in der Weissagung bestimmte Aufgabe tauge, den ersten Grund und Boden für das Reich Gottes auf Erden abzugeben. Der Bericht lautete nicht sehr aufmunternd, das Land befand sich in einem sehr herabgekommenen Zustande. Gleichwohl wurden einige Zeit darauf vier andere, diesmal junge Leute nach Syrien gesandt, um die arabische Sprache zu erlernen und gleichsam als Vorposten zu dienen. Ihnen folgten 1866 kleine Gruppen von jüngeren Leuten. Allein sie waren den Einflüssen des Klimas und den Schwierigkeiten einer Ansiedlung im Innern des fremden Landes weder geistig noch körperlich gewachsen und erlagen größtentheils dem Fieber.

Da, es war im Jahre 1868, entschlossen sich endlich Hoffmann und Hardegg selbst, mit ihren Familien nach Palästina zu reisen. In Konstantinopel suchten sie mit klugem Bedacht von der türkischen Regierung kostenfrei Land zur Anlage einer Kolonie zu erhalten; aber sie hatten damit kein Glück. So zogen sie denn weiter nach dem gelobten Lande selber, um zu sehen, was von den Türken an Ort und Stelle für Geld und gute Worte zu bekommen sein würde.

Nach sorgfältiger Umschau und Prüfung fanden sie in Haifa am Fuße des Berges Karmel den günstigsten Ort für eine erste Ansiedlung, die gleichsam als Empfangsstation und als Vorbereitungsplatz für weitere Kolonisierung dienen konnte. Bald darauf bot sich ihnen Gelegenheit, in Jaffa die Grundstücke und Gebäude einer wieder weg wandernden nordamerikanischen Sekte zu erwerben, und so entstand in Jaffa 1869 die zweite Tempelkolonie, deren Lage insofern von Bedeutung war, als Jaffa seit alten Zeiten der Hafen von Jerusalem ist.

In kleinen Nachschüben vollendete sich seitdem die Auswanderung der schwäbischen Tempelbrüder nach Palästina. Jahr um Jahr zogen neue Ansiedler an, meist mit Familie, und richteten sich mit ihrem Gewerbe oder ihrer Ackerbauwirthschaft in dem Lande ihrer Sehnsucht ein. In Haifa setzten sich ihrer etwa dreihundertfünfzig fest, in Jaffa zweihundert. Da in dem letzteren Orte für Ackerbau kein Raum war, so wurde eine Stunde von der Stadt entfernt eine dritte Kolonie, Sarona, angelegt, die hauptsächlich Landwirthe aufnahm und etwa achtzig Kolonisten erhielt. Endlich schlug eine Anzahl von Familien in Jerusalem selbst ihren Wohnsitz auf, insbesondere Handwerker und Gärtner; wieder andere in Nazareth und Ramle.

So vereinigte Hoffmann allmählich nahezu tausend Landsleute im Türkenreiche, auf den geweihten Stätten des Christentums, inmitten einer fanatischen islamistischen Bevölkerung, die nur mit Haß und Mißtrauen die Kolonisten unter sich duldete. Muthig trat er gegen alle Unbill der türkischen Beamten und der feindseligen Einwohnerschaft auf und wachte mit der Umsicht des Feldherrn über seine friedliche Eroberung. Zum Zwecke der einheitlichen Leitung der Angelegenheit seines kleinen Reiches ließ er sich zum Vorsteher sämtlicher Templerkolonien erwählen, die eine Art republikanischer Verfassung und Selbstverwaltung erhielten und nun inmitten asiatischer Depotenwirthschaft an die Aufgabe gehen konnten, dem Tausendjährigen Reich, an dessen Nahen sie glaubten, die Stätte zu bereiten. Am 8. Dezember 1885 starb Hoffmann, und Christoph Paulus, sein langjähriger Mitarbeiter, wurde sein Nachfolger.

Die deutschen Kolonien, zu denen schließlich noch Rephaim bei Jerusalem hinzutrat, blühten zwar nicht gerade üppig empor, denn der Grund und Boden war weit entfernt von paradiesischer Herrlichkeit. Aber der zähe Charakter der schwäbischen Bauern, ihr

[381]

Landschaft an der Bahnlinie von Jaffa nach Jerusalem.

Fleiß, ihre Gewohnheit, mit einem harten Boden zu ringen, ihr frommes Hoffen, das alles wirkte zusammen, sie die Hindernisse siegreich bestehen zu lassen. Das Klima war im ganzen milde, der Winter selten sehr kalt. Mehr und mehr warf der Ackerbau einen lohnenden Ertrag ab, und als man an günstigen Orten, besonders in Sarona, gar Wein zu bauen anfing, da machte man so gute Erfahrungen, daß der Weinbau jetzt im Haushalt der Kolonien die wichtigste Rolle spielt. Im Herbst 1892 wurden im Centralkeller zu Sarona etwa 3000 Hektoliter gekeltert.

Hauptstraße in Haifa.

Der Absatz ging bisher zum größten Theil nach Europa; erst neuerdings ist er durch die deutschen Eingangszölle und durch den Wettbewerb der italienischen Weine stark beeinträchtigt worden, so daß nunmehr Aegypten unter den Abnehmern des „Tempels“ in den Vordergrund getreten ist. In Stuttgart wird übrigens immer noch ein Lager von Weinen aus den Gärten der Kolonien unterhalten.

Zur Zeit rechnet man etwa 1500 Deutsche in Palästina; weitaus der größte Theil, etwa 1350 Köpfe in 248 Familien, gehört der Tempelgemeinde an. Bereits ist ein Geschlecht heraufgewachsen, dessen Wiege schon im Heiligen Lande stand. Aber die Fühlung mit der deutschen Heimath ist darum nicht lockerer geworden. Hat sich auch die Tracht in machen Stücken den veränderten Verhältnissen anpassen müssen, hat der schwäbische Bauer auch seinen schweren Dreispitz an den Nagel gehängt und ihn mit einem Korkhut oder leichten Filz vertauscht, so sind doch Sitte, Wohnart und Lebensweise deutsch geblieben, und in der Muttersprache allein verkehren die Leute untereinander. Nach deutscher Art wurde auch von Anfang an für ein tüchtiges Schulwesen gesorgt. Die Kolonien besitzen eine Anzahl gut geleiteter Volksschulen und in Jerusalem ein Lyceum, das ihren besonderen Stolz bildet. Seit 1882 gewährt auch das Deutsche Reich einen namhaften Beitrag für die deutschen Schulen in Palästina. Und das ist nur gerecht. Denn durch diese Schulen und durch eine Reihe weiterer gemeinnütziger Anstalten, wie z.B. die Spitäler in Jaffa und Haifa, die sämtlichen Europäern und Eingeborenen zugänglich sind, erwerben sich die Kolonien fortdauernd wesentliche Verdienste um die Ehre des deutschen Namens in der Fremde. Allmählich haben sie sich übrigens auch bei den türkischen Behörden ein gewissen Wohlwollen erobert, denn sie sind pünktliche Steuerzahler, und derartige bequeme Unterthanen kommen einem türkischen [382] Pascha nicht eben allzu häufig vor. – So haben die deutschen Kolonien in dem Vierteljahrhundert ihres Bestehens in mannigfacher Weise die Kultur des verwahrlosten Landes zu heben und zu fördern verstanden. Auch die Eisenbahn von Jaffa nach Jerusalem wäre wohl ohne sie und ihren stillen Einfluß nicht zustande gekommen, obwohl die Kolonien unmittelbar an der Gründung und dem Bau nicht betheiligt waren. Der letztere lag vornehmlich in französischen Händen, und auch die Arbeiter bestanden zumeist aus arabischen Fellachen, Aegyptern und wenigen Italienern. Lange hatte sich die türkische Regierung dem Bahnbau mit allen Mitteln widersetzt, und viel Geld und Arbeit ging verloren, bis am 31. März 1890 der erste Spatenstich gethan werden konnte. Zweieinhalb Jahre dauerte dann der Bau. Am Sonntag den 21. August 1892 kam die erste Lokomotive vor Jerusalem an, und Schrecken und Staunen über das fauchende Ungethüm erfüllte die neugierig herbeigeströmten arabischen Volksmassen. Wie der böse Feind selber erschien ihnen die unheimliche Maschine, sie sahen darin den Anfang vom Ende des Islam. Als am 26. September die feierliche Eröffnung stattfand, da schlachtete man auf dem Bahnhof zu Jerusalem zwei Widder, ließ ihr Blut auf das Schienengeleise tröpfeln, um die Bahn zu entsündigen. Europäische Reisende aber rathen, dieser Entsündigung nicht ganz zu trauen und sie jedenfalls durch eine beträchtliche Reiseunfallversicherung zu ergänzen.

Unser Bild auf S. 381 zeigt uns eine landschaftliche Ansicht von der Strecke, welche die Bahn durchläuft. Es fehlt ihr nicht an Reiz; aber das melancholische Gepräge der Oede kann sie nicht verleugnen; es ist eine Gegend, wo „sich Fuchs und Hase Gutenacht sagen“, wie unser Zeichner symbolisch angedeutet hat. Der Bahnhof Jerusalem liegt in unmittelbarer Nähe der deutschen Kolonie Rephaim, um deren Gebäude, wie aus der Abbildung auf S. 385 ersichtlich ist, die Bahnlinie einen großen Bogen beschreibt.

Ob die deutschen Kolonien im Bunde mit der Bahn wirklich der Ausgangspunkt einer Neugestaltung Palästinas, einer Wiedergewinnung dieses weltgeschichtlichen Bodens für die höhere Kultur sein werden, wer will es heute sagen? Soviel aber ist sicher: unsere deutschen Landsleute haben doch den Beweis geliefert, daß aus dem Lande noch etwas zu machen ist, wenn nur Erfahrung, guter Wille und Thatkraft sich gesellen. Daß man diese drei Eigenschaften bei den türkischen Beherrschern des Landes selten vereinigt findet, das ist allerdings wahr. Und so wird wohl noch mancher Tropfen Wein auf Saronas Flur gekeltert werden, mancher Pfiff der Lokomotive das Thal von Rephaim durchhallen, bis das ganze Land aus Oede und Zerfall einer neuen Blüthe zugeführt sein wird. Sollte dieses Los ihm in der Zeiten Ferne beschieden sein, dann wird man auch der schwäbischen Pioniere mit Ehren gedenken, in denen sich religiöse Schwärmerei in so fruchtbare gemeinnützige Thätigkeit umsetzte.




Freie Bahn!
Roman von E. Werner.
(Schluß.)


Es war Nacht geworden, eine dunkle Sturmnacht mit schwer umwölktem Himmel. Die Odensberger Werke, die noch vor wenigen Stunden von wüstem Leben erfüllt waren, lagen jetzt still und verlassen da, Es hatte keiner besondere Maßregeln, nicht einmal einer Aufforderung bedurft, um die Arbeiter zu veranlassen, sich nach Hause zu begeben. Seit ihr Abgeordneter ihren Führer niederschlagen hatte und selbst unter dem Messer eines der Ihrigen gefallen war, hatte sich eine dumpfe Bestürzung der Leute bemächtigt. Sie empfanden alle die Schwere dieser Vorgänge, wenn sie sich auch deren volle Tragweite noch nicht klar machten. Fallner wurde scheu gemieden, und als es vollends bekannt wurde, daß Landsfeld, der sich in der That schon nach einer halben Stunde wieder erholte, zu Fuß Odensberg verlassen habe, da schlug die Stimmung der Odensberger vollständig um. Es wurden bittere Anklagen und Vorwürfe laut aber nicht gegen den, der da drüben im Herrenhaus mit dem Tode rang, die ganze Bitterkeit richtete sich gegen Landsfeld allein. –

Durch Nacht und Sturm kam eine einzelne hohe Gestalt und blieb vor dem Herrenhaus stehen, wo hinter mehreren Fenstern noch matter Lichtschein sichtbar war, in dem Gemach, wo Egbert unter der Obhut Cäciliens lag, in den Zimmern Dernburgs und Majas. Sie alle schliefen nicht in dieser Nacht. Der Mann, der so regungslos unten stand, wußte nichts von den letzten Ereignissen. Er hatte wohl auch das Lärmen aus den Werken gehört, als er den Rosensee verlassen, und er kannte auch die Befürchtungen, die man für heute abend hegte, aber was ging ihn jetzt noch Odensberg an, was das Leben überhaupt?

Oskar von Wildenrod war bereit zum letzten Gange. Er wußte, daß er seine Braut nicht mehr wiedersehen könne und dürfe, und doch zog es ihn mit unwiderstehlicher Sehnsucht noch einmal in ihre Nähe, zu der Stätte, wo das Einzige weilte, das er auf Erden wahrhaft geliebt. Er hatte es bewiesen, wenn auch erst in allerletzter Stunde. Die Rettung, die ihm in dieser Stunde geboten wurde, hatte er von sich gestoßen um Majas willen, und mit diesem Opfer fiel alles ab, was an seiner Liebe Berechnung gewesen war. Sie blieb das einzig reine Gefühl in einem befleckten verlorenen Leben, dessen Rechnung jetzt mit einer Kugel ausgeglichen werden sollte.

In der Erinnerung Wildenrods tauchte jener erste Abend auf, den er einst in Odensberg verlebt. Damals hatte er dort oben am Fenster gestanden, den Kopf voll von ehrgeizigen Plänen und im Herzen die erste aufkeimende Neigung zu dem lieblichen Kind, an dessen Hand der so heiß begehrte Reichthum hing. Damals hatte er sich gelobt, dereinst Herr und Gebieter dieser Arbeitswelt zu werden, er hatte im Vorgefühl seines Sieges stolz hinübergeblickt zu den Werken, wo aus den riesige Essen die Funkengarben aufgesprüht waren. Jetzt lag das alles in toter Ruhe, das rastlose Getriebe stand still, die Feuer waren erloschen.

Nur dort drüben, wo die Walzwerke lagen, dämmerte ein matter ungewisser Schein, der aber allmählich heller wurde. Oskar blickte erst gleichgültig, dann schärfer darauf hin. Jetzt verschwand das Leuchten, um gleich darauf wieder aufzutauchen, jetzt zuckte es hin und her, und dann auf einmal war es, als ob ein Blitz die Nacht zerreiße. Eine Flamme schoß jäh empor und in ihrem Scheine sah man, daß die ganze Umgebung von qualmenden Rauchwolken erfüllt war.

Wildenrod fuhr auf bei diesem Anblick, aber schon in der nächsten Minute stürzte er nach dem Hause und schlug gegen das Fenster der Pförtnerwohnung. „Feuer auf den Werken! Wecken Sie Herrn Dernburg! Ich eile voran!“

„Feuer in dieser Sturmnacht? Gott steh’ uns bei!“ rief die entsetzte Stimme des aus dem Schlaf geschreckten Mannes. Oskar hörte nicht darauf, er eilte nach den Werken hinüber, von wo der Brand jetzt immer deutlicher sichtbar wurde. Sonst waren dort, selbst in der Nacht, noch Hunderte thätig, heute waren nur die Aufseher zurückgeblieben und diese lagen im Schlafe.

Wildenrod kannte die Werke genau; er wandte sich zuerst nach dem Häuschen des alten Mertens, der, seit die Arbeiten in Radefeld zu Ende waren, hier einen Posten innehatte, und weckte auch ihn aus dem Schlafe. Es wurde Lärm geschlagen, in wenigen Minuten waren ein paar Dutzend Menschen versammelt, und jetzt ließ auch das Feuerhorn seine dumpfen heulenden Töne vernehmen. Odensberg hatte die vorzüglichsten Löschanstalten weit und breit, denn Dernburg hatte aus seiner Arbeiterschaft eine freiwillige Feuerwehr gebildet, die trefflich eingeübt war. Aber heute waren ja alle Bande der Ordnung gelöst, die Arbeiter befanden sich in ihren abgelegenen Wohnstätten, da war kaum Hilfe von ihnen zu erwarten.

Jetzt erschien Dernburg selbst, der noch einsam in seinem Arbeitszimmer gewacht hatte, als der Feuerruf ertönte, und gleichzeitig stürzte ein Theil der Beamten herbei, deren Wohnungen in der Nähe lagen, Wildenrod sah sich plötzlich dem Manne gegenüber, der ihm vor wenigen Stunden noch Sohnesrechte zugestanden hatte und dem inzwischen jene niederschmetternde Enthüllung geworden sein mußte. Auch Dernburg wich unwillkürlich zurück beim Anblick des Freiherrn, den er auf der Flucht und

[383] schon in weiter Entfernung glaubte. Aber jetzt war keine Zeit zu irgend welchen Erörterungen – Oskar trat entschlossen vor. „Ich entdeckte den Brand zuerst,“ sagte er, „und ließ sofort die Alarmsignale geben. Das Feuer scheint in den Walzwerken ausgebrochen zu sein.“

„Ja, dort ist es!“ bestätigte Dernburg. „Aber da kann es nicht durch Unvorsichtigkeit entstanden sein, die Arbeit ruht ja seit den Mittagsstunden – der Brand ist gelegt worden!“

Die Umstehenden theilten sämtlich seine Meinung, das sah man, aber Wildenrod schnitt jede weitere Bemerkung ab. „Gleichviel, wir müssen zur Brandstätte vordringen!“ rief er. „Bei diesem Sturme sind alle Werke in höchster Gefahr.“

„Bei diesem Sturme sind sie verloren!“ sagte Dernburg finster. „Wir haben nicht einmal Hände zum Löschen.“

„Aber unsere Feuerwehr! Die Arbeiter –“ warf der alte Mertens ein, doch ein bitteres Auflachen seines Herrn unterbrach ihn. „Meine Arbeiter? Die lassen brennen, was brennen will. Ruft sie nur herbei mit den Feuerhörnern, es kommt keiner – keiner, sage ich Euch! Es sind ja meine Werke, da rührt sich keine Hand!“

Allein wie zur Antwort wurden jetzt Rufe und Stimmen laut und am Eingang zu den Werken tauchten Fackeln auf. Ein Trupp von Arbeitern erschien in geschlossener Reihe, die Feuerhelme auf den Köpfen, die Brandkittel übergeworfen, und ihnen nach donnerten die Spritzen. Und nach fünf Minuten kam ein zweiter Trupp und dann ein dritter und vierter. Jetzt erscholl der Feuerruf überall, nah und fern, das ganze Odensberger Thal wurde lebendig; überall blitzten Lichter auf. Die Werke füllten sich mit Menschen, es kam alles und alles war bereit, zu helfen.

Dernburg hatte anfangs fast versteinert auf die Ankommenden geblickt; als aber nun ein Zug nach dem anderen aus dem Dunkel auftauchte, als die Leute wie auf Leben und Tod heranjagten, um nur rechtzeitig anzukommen, als im Galopp die Spritzen vorfuhren, da hob ein tiefer Athemzug die Brust des Herrn von Odensberg; er richtete sich hoch auf, als werfe er eine lange getragene Last von sich und rief: „Nun, wenn Ihr denn doch helfen wollt, dann vorwärts! Dem Feuer zu Leibe!“

Das geschah, aber der Brand hatte schon allzu reichliche Nahrung gefunden. Das ganze Innere der Walzwerke schien in Flammen zu stehen, vergebens versuchte man hineinzudringen. Dernburg hatte persönlich die Oberleitung der Rettungsarbeiten übernommen und lenkte seine Leute mit Wort und Blick, und sie gehorchten ihm so pünktlich und unbedingt wie nur je.

Aber auch Oskar von Wildenrod war unermüdlich mit dabei. Er fragte nicht erst, ob man ihm dies Recht noch zugestehe, er nahm es sich einfach. Er war überall, wo es Noth that. Aber obwohl er die einzelnen Abtheilungen muthig und unerschrocken immer wieder vorführte, obwohl die Spritzen ihre zischenden Strahlen unausgesetzt in die Gluth schleuderten, so hatte doch das Feuer einen übermächtigen Bundesgenossen an dem herrschenden Sturme, und im Verein mit ihm spottete es aller Mühen und Anstrengungen. Wie feurige Schleier zuckten die Flammen aus den Fenstern des Gebäudes, sie leckten an den Mauern und schossen sprühend aus dem Dache heraus. Der Sturm jagte sie schon hinüber nach den anderen Dächern, er führte brennende Späne hoch durch die Luft, um sie dann verderbenbringend wieder niedersinken zu lassen. Schon hatte es auch anderswo an einzelnen Stellen gezündet, überallhin mußten Abtheilungen zum Löschen gesandt werden.

Wildenrod kehrte eben von einem dieser Nebenbrände, den er unter seiner Aufsicht hatte löschen lassen, zur eigentlichen Brandstätte zurück, wo der Herr von Odensberg nicht vom Platze wich. Dieser sprach eben mit dem Oberingenieur, der mit rathlosen Mienen vor ihm stand.

„Wir zwingen es nicht, Herr Dernburg,“ sagte er. „Sehen Sie nur, das Feuer droht schon, nach den Gießereien hinüberzugreifen, und brennen die erst, dann hat es überallhin offene Bahn. Ein Mittel gäbe es vielleicht noch, aber Sie wollen es ja nicht – wenn wir den Versuch machten, das große Reservoir der Radefelder Leitung zu öffnen.“

„Nein niemals – das würde Menschenleben kosten!“ erklärte Dernburg. „Mag sein, daß sich Freiwillige dazu finden würden, die Leute sind in ihrer jetzigen Stimmung zu jedem Opfer fähig, aber ich opfere kein Menschenleben, eher mögen die Werke alle niederbrennen.“

Er trat zu den Spritzen, die eben wieder mit ihren Wasserstrahlen einen neuen Angriff versuchten, und gab dort einige Befehle, während Wildenrod, der zugehört hatte, sich an den Oberingenieur wandte. „Was ist’s mit der Radefelder Leitung?“ fragte er hastig.

„Die Leitung ist unmittelbar an die Walzwerke angeschlossen,“ versetzte der Beamte. „Wenn es möglich gewesen wäre, rechtzeitig das große Becken oben auf dem Boden und das Hauptrohr der Zuleitung zu öffnen, so hätte der Brand erstickt werden können. Aber wir konnten uns dort keinen Zugang verschaffen. Das Rohr liegt –“

„Ich weiß,“ unterbrach ihn Wildenrod. „Ich war dabei, als die Leitung angeschlossen und erprobt wurde, und habe mit angesehen, wie man den Zufluß öffnete. Der Zugang ist unmöglich, sagen Sie?“

Der Oberingenieur zuckte die Achseln und deutete auf die Brandstätte. „Jetzt ist er vielleicht eher möglich, unsere Spritzen haben Bahn gemacht, wenigstens für kurze Zeit, aber Herr Dernburg hat recht, der Versuch würde Menschenleben kosten. Wer wagt sich in die glühenden Mauern, die jeden Augenblick einstürzen können? Und wenn es wirklich gelänge, die Leitung zu öffnen und die Wassermassen des Reservoirs dort oben in den Feuerherd zu leiten, wie sollen unsere Leute zurückkommen? Der Dampf erstickt sie, wenn das Wasser losbricht, es kommt keiner lebendig heraus.“

„Es handelt sich nur darum, daß einer lebendig hineinkommt,“ murmelte Oskar, das Auge starr auf den lohenden Brand gerichtet. Der Oberingenieur sah ihn betroffen an, aber bevor er noch zu antworten vermochte, kehrte der Chef zurück. „Uebernehmen Sie das Kommando dort drüben,“ befahl er. „Winning hält es nicht mehr aus.“

Der Beamte eilte fort und Dernburg streifte mit einem finsteren Blick den Freiherrn. „Was wollen Sie hier?“ fragte er in gedämpftem Ton. „Es sind Hände genug da zum Löschen, wir brauchen Ihre Hilfe nicht.“

„Vielleicht doch!“ sagte Wildenrod mit einem seltsamen Lächeln.

Dernburg trat dicht an ihn heran. „Ich habe Sie vor meinen Beamten und Arbeitern nicht preisgeben wollen, jetzt aber sage ich Ihnen, Sie sind hier nicht mehr am Platze, Herr von Wildenrod. Gehen Sie!“

Wildenrod begegnete fest den drohend auf ihn gerichteten Augen, dann sagte er langsam und ernst: „Ich gehe! Grüßen Sie Maja, vielleicht erlauben Sie ihr doch noch – um mich zu weinen!“

Er wandte sich schnell ab und verschwand in dem Gewühl der Hilfeleistenden. –

Es war eine furchtbare Nacht, die Odensberg heute durchlebte. Die vom Sturm gejagten Wolken blutroth gefärbt von den lodernden Flammen, hastig hin und her wogende Menschenmassen, ein brausendes Rufen, Schreie, das Rasseln der Spritzen – es war ein unheimliches Bild.

Da auf einmal erhob sich inmitten der Brandstätte eine mächtige Dampfwolke, die sich immer weiter ausbreitete, und zugleich ließ sich ein eigenthümliches Zischen und Brausen vernehmen. Die Flammen loderten nicht mehr so hoch empor wie vorhin, sie schienen zu sinken, zu flüchten vor irgend einer geheimnißvollen Gewalt, während der Dampf und das Brausen immer stärker wurden. Die Umstehenden konnten sich den Vorgang nicht erklären, alle möglichen Vermuthungen wurden laut, Dernburg fand zuerst die Lösung des Räthsels. „Die Radefelder Leitung ist offen!“ rief er. „Das Wasser ist eingebrochen. Vielleicht ist das Hauptrohr geborsten oder das Feuer hat den Verschluß gesprengt. Gleichviel – es bringt uns Rettung!“

Athemlos folgte alles dem Kampf der beiden feindlichen Elemente, aber bald siegte die Fluth, die offenbar den ganzen Boden überschwemmte, wo das Feuer seine Hauptnahrung gefunden hatte. Es brannte wohl noch an verschiedenen Stellen des Daches, aber das war zu löschen und wurde gelöscht, als das Flammenmeer im Inneren zusammensank. Die Spritzen traten wieder mit voller Kraft in Thätigkeit, und jetzt stürzte auch ein Theil der längst schon wankenden Mauern ein, das Hauptgebäude brach in sich zusammen. Damit war die Gefahr für die Umgebung beseitigt und der Brand auf seinen Herd beschränkt.

„Das war Hilfe in der Noth!“ sagte Dernburg zu den ihn umgebenden Beamten. „Und daß die Leitung gerade im [384] entscheidenden Augenblick losbrach, ist wohl mehr als Zufall gewesen – das Walten einer höheren Hand.“

„Ich fürchte, es war eine Menschenhand!“ entgegnete der Oberingenieur leise.

Dernburg wandte sich betroffen zu ihm. „Was wollen Sie damit sagen?“

„Freiherr von Wildenrod ist nirgends zu finden,“ erklärte der Beamte ernst. „Er sprach vorhin mit mir über die Möglichkeit, die Leitung zu öffnen, und that dabei eine seltsame Aeußerung, die mich erschreckte. Wenige Minuten später sah ich ihn nach jener Richtung eilen und dort verschwinden. Hier hat kein Zufall gewaltet.“

Dernburg erbleichte, jetzt auf einmal wurden ihm Oskars letzte Worte klar und er verstand alles. „Um Gotteswillen!“ fuhr er auf, „dann müssen wir zur Brandstätte dringen, müssen wenigstens versuchen –“

„Unmöglich!“ unterbrach ihn der Direktor. „Unter den glühenden dampfenden Trümmern athmet nichts Lebendes mehr.“

Er hatte nur zu sehr recht, das sah auch Dernburg ein; tieferschüttert legte er die Hand über die Augen. Für ihn gab es hier keinen Zweifel mehr; der Mann, der Odensberg an sich hatte reißen wollen um jeden Preis, er hatte sich geopfert, um Odensberg zu retten! –

Die Arbeiten auf der Brandstätte nahmen noch Stunden in Anspruch. Es galt, das da und dort immer wieder aufflackernde Feuer zu ersticken, die Brandstätte abzuschließen und die immer noch strömende Fluth der Radefelder Leitung abzusperren.

Der Tag war bereits angebrochen, als es endlich möglich wurde, die Leute zu entlassen und nur die zur Bewachung nöthige Mannschaft zurückzubehalten. Sie hatten alle an Muth und Ausdauer das Aeußerste geleistet; nun warteten die Männer, mit den rauchgeschwärzten Gesichtern und triefenden Kleidern, erschöpft von der langen schweren Arbeit, auf ihren Chef. Aller Blicke waren stumm und fragend auf ihn gerichtet, als er jetzt in ihre Mitte trat. Seine Stimme, obgleich voll tiefer Bewegung, war weithin hörbar. „Ich danke Euch, Kinder! Was Ihr in dieser Nacht für mich gethan habt, das werde ich Euch nie vergessen. Ihr habt mir die Niederlegung der Arbeit angekündigt und ich wollte Euch die Wiederaufnahme verbieten. Nun habt Ihr doch gearbeitet für mich und mein Odensberg, und da denke ich“ – er streckte plötzlich einem alten Arbeiter mit eisgrauem Haar, der dicht vor ihm stand, beide Hände entgegen – „wir bleiben nun auch zusammen und arbeiten wieder zusammen wie seit dreißig Jahren!“

Und in dem stürmisch jubelnden Zuruf, der jetzt von allen Seiten laut wurde, ging der Odensberger Ausstand zu Ende.




Mehr als zwei Jahre waren vergangen seit jener Sturmnacht, in welcher der Brand auf den Odensberger Werken gewüthet hatte, aber aus dem Sturm und Brand jener Tage, die alles mit Vernichtung bedroht, hatte sich neues Leben und Schaffen emporgerungen.

Die Ereignisse, die damals den Familienkreis Dernburgs ebenso schwer getroffen hatten wie seine Stellung als Herr von Odensberg, waren allmählich in den Hintergrund getreten, obgleich sie noch lange ihre folgenschweren Wirkungen gezeigt hatten. Am Tage nach dem Brande hatte man die Leiche Oskar von Wildenrods gefunden. Seine heldenmüthige That, an der nicht zu zweifeln war, wurde überall bewundert; nur Dernburg und Egbert wußten und die wenigen sonst Eingeweihten ahnten es, daß ein beflecktes und verlorenes Leben mit diesem freiwilligen Opfertod gesühnt worden war. Für alle anderen blieb das Andenken des Freiherrn rein, der unter den rauschenden Tannen des Odensberger Parkes seine Ruhestätte fand.

Die allgemeine Annahme ging dahin, daß der Brand gelegt worden sei, aber Beweise dafür hatte man nicht gefunden und auch nicht finden wollen. Fallner, auf den eine Spur wies, hatte Deutschland verlassen, um sich der Untersuchung zu entziehen, die ihm wegen des schweren Angriffes auf Runeck bevorstand. Da alle jene Vorfälle in der Oeffentlichkeit nur allzu großes Aufsehen gemacht hatten, so wollte man sie um keinen Preis durch eine Gerichtsverhandlung wieder in den Vordergrund drängen – in diesem Punkte war Dernburg mit den Gegnern einverstanden. Er that das Möglichste, die ganze Sache in Vergessenheit zu bringen, um den neu errungenen Frieden mit seinen Arbeitern nicht durch bittere Erinnerungen und Erörterungen aufs neue zu gefährden.

Runeck hatte vom Krankenbette aus seiner Partei die Erklärung gesandt, daß er sein Mandat niederlege. Auch ohne jene schwere Verwundung, die ihn Wochen hindurch an das Lager fesselte und ihm monatelang jede ernstere Thätigkeit verbot, wäre der Entschluß unvermeidlich gewesen. Das Band zwischen ihm und seinen einstigen Genossen, schon lange nur noch äußerlich vorhanden, war jetzt endgültig zerrissen. Das Ergebniß der Neuwahl war vorauszusehen; es gab nur einen, der dem Herrn von Odensberg den Platz hatte streitig machen können, und dieser eine trat zurück. Aus der Wahlurne ging Eberhard Dernburg mit überwiegender Mehrheit hervor, und diesmal standen auch seine Odensberger zu ihm – die Aussöhnung war vollständig gewesen.

Egbert hatte nach seiner Genesung Odensberg verlassen und war lange fern geblieben. Er wie Dernburg fühlten, daß sich die neue Zukunft, wo sie sich die Hände reichen wollten, nicht so ohne weiteres an die Vergangenheit anknüpfen ließ, daß sich da noch manche innere Wunde schließen mußte, wenn auch die äußere geheilt war. Der junge Ingenieur hatte weite Reisen gemacht und war ein volles Jahr lang in Amerika gewesen, wo es für ihn noch so viel zu sehen und zu lernen gab. Dort hatte er die Studie, die er einst in England begonnen, zum Abschluß gebracht. Als er nun endlich nach Odensberg zurückkehrte, da war das lange Harren zu Ende, da durfte er das Glück umfangen, das ihm einst an der Schwelle des Grabes aufgeblüht war; nach einem kurzen Brautstande fand in aller Stille seine Vermählung mit Cäcilie statt. –

Heute herrschte im Herrenhause eine freudige festliche Bewegung, man erwartete das junge Ehepaar von der Hochzeitsreise zurück, und Frau Doktor Hagenbach, die auch nach ihrer Heirath noch in den alten vertrauten Beziehungen zu dem Dernburgschen Hause stand, ordnete soeben noch einiges für den Empfang. Aus dem kränklichen nervösen und verblühten Mädchen war eine heitere und noch immer anmuthige Frau geworden; Doktor Hagenbach hatte seine ärztliche Autorität auch als Ehemann behauptet, er hatte seiner Frau die verhaßten „Nerven“ vollständig abgewöhnt.

Frau Leonie war eben fertig geworden, als sich die Thüre öffnete und ihr Gatte eintrat. Auch ihm schien der Ehestand ganz gut zu bekommen, denn er sah höchst vergnügt aus und Sprache und Haltung waren vortheilhaft verändert – man sah wohl, er hatte es ernst genommen mit dem „Menschlichwerden“. Er nickte seiner Frau zu und sagte: „Ich komme nur einen Augenblick herauf, Leonie, um Dir zu sagen, daß ich vorher noch einen Krankenbesuch zu machen habe. Es wird aber nicht lange dauern, zum Empfang bin ich jedenfalls wieder da.“

„Sie treffen ja erst gegen zwei Uhr ein“, bemerkte Leonie. „Aber noch eine Frage, lieber Hugo – hast Du Dir die Sache mit Dagobert überlegt?“

Der Doktor zog wieder sein grimmiges Gesicht von ehemals und seine Stimme gewann einen grollenden Ton, als er antwortete: „Da giebt es nichts zu überlegen! Ich werde mich hüten, dem Jungen die dreihundert Mark zu schicken, die er seiner Behauptung nach so nothwendig braucht. Er muß mit dem auskommen, was ich ihm ein für allemal ausgesetzt habe.“

„Aber die Summe ist doch nicht so groß,“ wandte Frau Leonie ein, „und Du hast sonst nicht über Dagobert zu klagen. Er arbeitet fleißig, schreibt uns fleißig –“

„Und schmachtet Dich noch immer fleißig an, in Versen und in Prosa,“ ergänzte Hagenbach. „Na, auf den dummen Jungen braucht ja ein vernünftiger Mensch nicht eifersüchtig zu sein, obgleich er sich unterstand, mir nach Empfang der Verlobungsanzeige zu schreiben, ich hätte ihm einen tödlichen Stoß in das verrathene Herz gegeben. Der Herzensstoß hindert ihn aber nicht, sich bei jeder Gelegenheit hinter seine Frau Tante zu stecken, wenn er etwas von mir, dem Verräther, haben will, und sie nimmt leider immer seine Partei. Diesmal hilft es ihm aber nichts – er bekommt das Geld nicht, und damit Punktum!“

Leonie widersprach nicht, sie lächelte nur mit nachgiebiger Miene und ließ den Gegenstand fallen. „Wir werden heut’ im engsten Kreise sein,“ bemerkte sie. „Nur Graf Eckardstein ist geladen.“

„Hoffentlich bedeutet das, daß wir bald wieder eine Braut im Hause haben und daß in nicht allzu ferner Zeit eine junge Gräfin ihren Einzug in Eckardstein hält.“

Frau Leonie schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich fürchte, das

[385]

Ausblick vom Jaffathor in Jerusalem.
Originalzeichnung von G. Bauernfeind.

[386] ist noch keineswegs ausgemacht. Herr Dernburg wünscht es ja zweifellos, aber Maja verhält sich noch immer ablehnend. Wer weiß, wie ihre Antwort lautet, wenn der Graf sich wirklich erklärt.“

„Aber sie kann doch nicht ewig um den einstigen Verlobten trauern – sie war ja damals noch ein halbes Kind.“

„Und doch hat sein Tod sie beinahe das Leben gekostet!“

„Ja, das war eine schöne Zeit!“ sagte Hagenbach mit einem Seufzer. „Auf der einen Seite Egbert, der wochenlang zwischen Leben und Tod schwebte, auf der anderen Fräulein Maja, die gleichfalls Anstalt zum Sterben machte, und dazwischen Frau Cäcilie, die mir eines Tages, als es dem Runeck gerade recht schlecht ging, in aller Seelenruhe erklärte, wenn es mir nicht gelänge, ihren Egbert zu retten, dann wolle auch sie nicht mehr leben. Einen lustigen Brautstand haben wir beide gerade nicht dabei gehabt – Gott sei Dank, daß die Ehe besser geworden ist! Doch ich muß fort! Ich gehe erst noch einmal nach Hause, hast Du etwas zu bestellen?“

„Eine Kleinigkeit: Du wolltest ja den Kutscher zur Bahn schicken – da kann er den Brief und die Postanweisung gleich mitnehmen.“

„Welche Postanweisung?“ fragte der Doktor mißtrauisch.

„Nun, die dreihundert Mark für Dagobert. Ich habe die Anweisung schon ausgefüllt, sie liegt auf Deinem Schreibtisch, Du brauchst nur das Geld herauszugeben, lieber Hugo.“

„Leonie, was fällt Dir denn ein?“ fuhr Hagenbach gereizt auf. „Ich habe Dir doch gesagt und sage es noch einmal –“

Er kam aber nicht dazu, es noch einmal zu sagen, denn seine Frau unterbrach ihn: „Ich weiß, Hugo, Du stellst Dich bisweilen hart und bist doch die Herzensgüte selbst. Du hast ja längst beschlossen, dem armen Jungen das Geld zu schicken –“

„Ich denke nicht daran!“ rief der Doktor wüthend.

„Doch, Du denkst daran,“ versicherte Frau Doktor Hagenbach mit einer Bestimmtheit, gegen die sich schlechterdings nichts einwenden ließ. „Du fürchtest nur, Deiner Autorität etwas zu vergeben, und da hast Du recht wie immer. Deshalb habe ich es Dir abgenommen und an Dagobert geschrieben. Es geschah einzig um Deinetwillen, das siehst Du doch ein, lieber Hugo.“

Der „liebe Hugo“ hatte in seiner Ehe schon manches einsehen lernen. Er hörte zwar nie einen Widerspruch und es geschah alles ausschließlich nach seinem Willen, das sagte ihm seine Frau täglich, und er glaubte es auch meistens, in Odensberg aber war man anderer Meinung. Da wurde mit aller Entschiedenheit behauptet, daß die Frau Doktor das Regiment im Hause führe. Und jedenfalls wurde die Postanweisung mit den dreihundert Mark noch im Laufe der nächsten Stunde abgesendet. –

Im Salon saß Maja Dernburg allein am Fenster; zu ihren Füßen lag Puck; er war gesetzt und verständig geworden und hatte seine Neigung, Menschen, welche karrierte Beinkleider trugen, hinterrücks zu überfallen, gänzlich abgelegt. Freilich wurde er auch nicht mehr so viel geneckt wie früher, seine junge Herrin streichelte und liebkoste ihn wohl noch, aber das lustige Spiel, das sie sonst mit ihm getrieben, hatte längst aufgehört, schon seit Jahren. Sie war überhaupt nicht mehr die „kleine Maja“, das kindlich reizende Geschöpf mit dem lachenden Uebermuth und den sonnigen Augen. Wohl hatte sich die schlanke weißgekleidete Mädchengestalt dort am Fenster zum vollsten Liebreiz entwickelt, aber aus dem lachenden Kinde war eine stille Jungfrau geworden, und in den braunen Augen lag es wie tiefe schwere Schatten, wie ein noch immer nicht überwundenes Weh.

Es war still ringsum und Maja blickte träumerisch hinaus in den hellen Sommertag, als ihr Vater eintrat. Sein Haar war weiß geworden in den letzten Jahren, sonst aber war er noch immer die alte ungebeugte Erscheinung.

„Hältst Du schon Ausschau nach dem Wagen?“ fragte er.

„Nein, Papa, dazu ist es noch zu früh,“ entgegnete das junge Mädchen. „Egbert und Cäcilie können vor einer Stunde nicht hier sein, aber da wir fertig sind mit allen Anstalten zu ihrem Empfang –“

„Um so besser, dann werden wir noch eine Stunde für unseren Gast allein haben. Eckardstein ist schon da – drüben in meinem Arbeitszimmer.“

„So? Weshalb ist er denn nicht mit Dir gekommen?“

„Weil er es für nothwendig hielt, mich als Parlamentär vorauszuschicken. Wir haben eine lange und ernste Unterredung miteinander gehabt – soll ich Dir den Inhalt derselben erst noch mittheilen oder erräthst Du ihn?“

Maja hatte sich erhoben; sie war bleich geworden, während ihre Augen sich bittend auf den Vater richteten. „Papa – konntest Du mir das nicht ersparen?“

„Nein, mein Kind,“ sagte Dernburg ernst. „Viktor ist entschlossen, sich diesmal die Entscheidung zu holen, und Du wirst seiner Erklärung stand halten müssen. Er bat mich um meine Fürsprache, und ich habe sie ihm zugesagt, denn ich habe da noch ein Unrecht von früher her gut zu machen. Er warb schon damals vor drei Jahren um Dich, wenn es auch nicht bis zum offen ausgesprochenen Antrag kam; ich sah in dieser Werbung des vermögenslosen jungen Offiziers nur eine Berechnung und ließ ihn das sehr bitter fühlen. Er hat aber bewiesen, daß seine Liebe echt und treu ist, und ich würde gern, sehr gern das Glück meiner Maja in seine Hände legen.“

„Ich möchte bei Dir bleiben, Papa,“ flüsterte das junge Mädchen, sich fast angstvoll an seine Brust schmiegend. „Willst Du mich denn nicht behalten?“

„Mein Kind, getrennt werden wir ja auch nicht, wenn Du Viktors Gattin wirst. Du weißt es am besten, was ihn bisher von Eckardstein ferngehalten hat; Dein Jawort würde ihn sofort bestimmen, den Abschied zu nehmen und sich in Zukunft seinen Gütern zu widmen. Dann bleiben wir beisammen, Eckardstein liegt ja so nahe.“

„Ich kann nicht!“ rief Maja heftig, indem sie sich emporrichtete. „Oskar hat mich im Leben unlöslich an sich gekettet, er läßt mich auch im Tode nicht frei! Wie oft ist mir das Herz schwer geworden, wenn ich in Viktors bittende Augen blickte und diese stumme Bitte nicht verstehen durfte, aber ich kann nicht glücklich sein an der Seite eines anderen!“

„Es ist nur wenigen bestimmt, glücklich zu sein,“ sagte Dernburg mit schwerem Nachdruck, „doch die Pflicht, glücklich zu machen, wo das in unsere Hand gegeben ist, die Pflicht haben wir alle. Viktor weiß, was geschehen ist, er fordert von Dir nicht jene leidenschaftliche Liebe, die Dich an Oskar band, er würde sie vielleicht nicht einmal verstehen. Aber Du bist ihm nothwendig zu seinem Glück, und seine treue ehrliche Zuneigung ist es wohl werth, daß Du Dich um seinetwillen losmachst von jenen Erinnerungen. Du hast volle Freiheit, Maja – nur das eine bedenke: wer überhaupt leben will, der muß auch für andere leben!“

Das junge Mädchen antwortete nicht, ein paar schwere Thränen rollten langsam aus ihren Augen; die ernste Mahnung war nicht wirkungslos geblieben.

„Nun, was soll ich dem Grafen sagen?“ fragte Dernburg nach einer Pause.

Maja preßte beide Hände gegen die Brust, als wollte sie ein dort aufsteigendes Weh niederkämpfen, dann senkte sie das Haupt und erwiderte fast unhörbar: „Sage ihm – daß ich ihn erwarte!“

Da fühlte sie die Lippen des Vaters auf ihrer Stirn, und sie in die Arme schließend, sagte er in tiefer Bewegung: „Recht so, mein armes – mein tapferes Kind!“

Fünf Minuten später trat Viktor Eckardstein ein, fast unverändert in seiner äußeren Erscheinung, nur ernster, männlicher in seinen Zügen. Jetzt freilich zeigte sein ganzes Wesen nur Erregung und Unruhe.

„Ihr Herr Papa sagte mir, daß ich Sie allein finden würde, Maja,“ hob er an. „Ich möchte Ihnen so manches, so vieles anvertrauen und weiß doch nicht, ob Sie es hören wollen.“

Maja stand mit gesenkten Augen da; eine leise Röthe begann in ihrem Gesicht aufzusteigen, als sie wortlos bejahend das Haupt neigte.

Der Graf schien doch irgend ein anderes Zeichen der Ermuthigung erwartet zu haben, seine Stimme gewann einen leisen Anflug von Bitterkeit, als er fortfuhr: „Es ist mir schwer genug geworden, mit meinen Bitten und Wünschen erst einem anderen zu nahen, und wenn es auch Ihr Vater war. Aber Sie haben sich mir immer so fern gehalten, Maja, haben mir so wenig Hoffnung gegeben, daß ich es nicht wagte, die Frage, an der mein Lebensglück hängt, zuerst an Sie zu richten. Ich fühle nur zu sehr, daß ich hier einen Fürsprecher brauchte.“

„Ich wollte Ihnen nicht wehe thun, Viktor, gewiß nicht,“ versicherte Maja. und streckte ihm mit der alten kindlichen Vertraulichkeit die Hand hin, die er fest im die seinige schloß.

[387] „Und Sie haben mir doch wehe genug gethan mit jener stetigen stummen Abweisung,“ sagte er vorwurfsvoll. „O, von der Stunde an, in der ich damals im Waldhäuschen das ‚Wichtel‘ fand, seit jenem Augenblick, wo aus der grauen Hülle das süße Gesichtchen meiner Jugendgespielin auftauchte, wußte ich, wo das Glück meines Lebens lag. Darf ich nun endlich sprechen? Maja, ich liebe Dich über alles, ich kann nicht leben ohne Dich!“

Es waren keine glühenden stürmischen Liebesworte, wie sie das junge Mädchen einst von den Lippen eines anderen gehört hatte, aber aus ihnen sprach warme, innige Zärtlichkeit und Maja hätte kein Weib sein müssen, wäre sie dieser festen treuen Liebe gegenüber gleichgültig geblieben.

„Du willst es, Viktor – so nimm mich hin!“ sagte sie leise. „Ich bin Dir ja gut gewesen seit meinen Kinderjahren!“

Mit einem jubelnden Ausruf schloß Viktor sie an seine Brust, zur höchsten Verwunderung Pucks, der den beiden zusah und sich die Sache offenbar nicht recht erklären konnte.

Die Verlobung, die nun auch dem Vater angekündigt wurde, nahm begreiflicherweise alle Bewohner des Herrenhauses so in Anspruch, daß man nicht mehr daran dachte, Ausschau nach dem Wagen zu halten, der jetzt drüben auf der Waldhöhe erschien. Der Weg führte noch eine Strecke auf dieser Höhe hin, ehe er sich ins Thal hinabsenkte. Da lag Odensberg, diese mächtige Stätte der Arbeit, inmitten seiner grünen Tannenberge. Die Walzwerke waren längst wieder aus der Asche emporgestiegen, umfangreicher noch als früher, und neue Anlagen anderer Art hatten sich ihnen zugesellt, denn auf den Dernburgschen Werken gab es keinen Stillstand, sie breiteten sich mit jedem Jahre weiter aus.

Die junge Frau in dem einfachen grauen Reiseanzuge beugte sich aus dem offenen Wagen und blickte hinüber, wo halb versteckt hinter den Bäumen des Parkes das Herrenhaus sichtbar wurde. Cäcilie war immer ein schönes Mädchen gewesen, aber die Frau in der vollen Entfaltung jenes eigenartigen Reizes, der ihr von jeher die Herzen gewonnen hatte, war fast noch schöner. Es konnte freilich keinen größeren Gegensatz geben als diese zarte, noch immer etwas fremdartige Erscheinung und den Mann, der an ihrer Seite saß. Das war noch ganz der alte Egbert Runeck, in seiner herben trotzigen Kraft, die bereit schien, den Kampf mit der ganzen Welt aufzunehmen und durchzufechten. Nur die grauen Augen unter der breiten wuchtigen Stirn hatten einen anderen Ausdruck als früher; ein warmer heller Schimmer lag darin, und es war nicht schwer zu errathen, woher dies Leuchten stammte.

„Dort liegt unsere Heimath, Cäcilie!“ sagte Runeck, indem er auf das Thal deutete. „Du freilich hast Odensberg nie geliebt – wirst Du es da ohne Ueberwindung ertragen, dauernd hier zu leben?“

„Wenn ich bei Dir bin! – Und das fragst Du noch?“ entgegnete die junge Frau mit leisem Vorwurf.

„Ja, bei mir, Deinem starren Egbert, der nicht einmal immer Zeit haben wird für Dich, wenn er erst wieder mitten in der Arbeit steht. Auf unserer Hochzeitsreise – da gehörte ich nur Dir allein, da konnten wir einen Märchentraum träumen, aber jetzt kommen die ernsten Arbeitstage mit ihren Pflichten und Sorgen und sie werden mich oft genug von Deiner Seite rufen. Wirst Du das auch verstehen, Cäcilie? Du hast dem allem bisher so fern gestanden!“

Er blickte mit einer gewissen Unruhe auf seine Gattin, aber er begegnete einem hellen frohen Aufleuchten ihrer Augen. „Nun, dann werde ich es wohl lernen müssen, Deine Sorgen und Pflichten zu theilen. Willst Du es mich lehren, Egbert? Aber was weißt Du denn von Märchenträumen, Du Mann der grausamen Wirklichkeit? Wo hast Du sie kennengelernt?“

Runecks Auge schweifte über die Waldberge, bis zu der fernen einsam aufragenden Felswand, von deren Gipfel im hellen Sonnenschein ein Kreuz herübergrüßte, das Wahrzeichen des Albensteins. „Dort oben,“ sagte er leise, „als der Wald um uns brauste und der Glockenruf aus der Tiefe emporstieg, O, es war eine schwere Stunde – eine furchtbare für Dich, mein armes Weib. Ich mußte Dich erbarmungslos aufschrecken aus Deinem ahnungslosen Glück und die bunte glänzende Welt, in der Du bisher gelebt hattest, in Trümmer schlagen, um Dir den Abgrund zu zeigen, an dem Du standest.“

„Schilt die Stunde nicht!“ bat Cäcilie, sich an ihn schmiegend. „Da bin ich aufgewacht, da habe ich sehen und denken lernen. Weißt Du, Egbert,“ – ein neckisches Lächeln verdrängte den Ernst in ihren Zügen – „ich habe dabei immer an die alte Sage von der Springwurzel denken müssen, die den Felsen spaltet, in dem die versunkenen Schätze ruhen. Du hast mir damals so hart und mitleidslos zugerufen: ‚Die Tiefe ist leer und tot, es giebt keine versunkenen Schätze mehr!‘ Und nun –“

„Nun bin ich selbst zum Schatzgräber geworden!“ ergänzte Egbert, indem er sich niederbeugte und in die dunklen feuchtschimmernden Augen seiner Frau blickte. „Du hast recht, in der Stunde gewann ich Dich trotzalledem.

Ich hob aus Nacht und Dunkel
Den goldnen Wunderschrein,
Und all das Schatzgefunkel
Und all das Gold ist mein!“ –

Es war einige Stunden später, der Empfang und die Begrüßung im Herrenhause waren vorüber, und während Cäcilie noch im Salon mit Maja und dem Grafen Eckardstein plauderte, trat Dernburg mit Runeck auf die Terrasse hinaus.

„Es war Zeit, daß Du kamst, Egbert,“ sagte er. „Der Direktor ist bei seiner jetzigen Kränklichkeit der Stellung nicht mehr gewachsen; er wollte schon vor Monaten seine Entlassung nehmen und hat sich nur bestimmen lassen, zu bleiben, bis Du an seine Stelle treten und die Leitung der Werke übernehmen könntest. Ich bin auch sehr froh, Cäcilie wieder im Hause zu haben, denn Maja werde ich nicht lange mehr behalten, Viktor spricht schon von der Hochzeit, er ist ganz berauscht von seinem Glück.“

„Aber Maja selbst zeigt noch nicht viel von bräutlichem Glück,“ warf Egbert ein. „Hat sie ihr Jawort gern gegeben?“

„Nein, gern nicht, aber doch aus freiem Willen. Und nun dies Wort einmal gegeben ist, wird es auch den düsteren Schatten verjagen, den Oskars Liebe und sein Tod über ihr Leben geworfen hat. Jetzt steht eine Pflicht zwischen ihr und jener Erinnerung, jetzt wird sie überwinden.“

„Und Graf Viktor wird ihr das leicht machen!“ ergänzte Egbert.

„Davon bin ich überzeugt. Er ist ja keine groß angelegte Natur wie“ – Dernburg streifte mit einem Seitenblick seinen Pflegesohn – „wie ein gewisser anderer, den ich eigentlich für Maja in Aussicht genommen hatte, aber dieser andere ist leider immer seinen eigenen Weg gegangen und seinem eigenen Starrkopf gefolgt, und so hat er es auch in der Liebe gemacht.“

„Du hast bisher nicht viel Freude gehabt an Deinem Sohn,“ sagte Egbert, mühsam seine tiefe Bewegung unterdrückend, „er hat sogar im offenen Kampfe gegen Dich gestanden; aber glaube es mir, Vater, ich habe am schwersten darunter gelitten, und jetzt gehört meine ganze Kraft Dir und Deinem Odensberg.“

„Wir können sie brauchen,“ erklärte Dernburg. „Ich fühle doch bisweilen das Alter und das Versagen meiner Kraft – wer weiß, wie lange sie noch ausreicht! Einstweilen trittst Du an meine Seite, und da denke ich, werden wir auf dem Boden gemeinsamer Arbeit den Ausgleich finden für alles, was noch trennend zwischen uns liegt. Wir haben ja darüber gesprochen, als Du aus Amerika zurückkehrtest.“

Egberts Auge begegnete voll und klar dem des Sprechenden. „Ja, und ich glaubte Dir die volle Wahrheit schuldig zu sein, als Du mich zur Leitung Deiner Werke beriefest. Von meiner einstigen Partei habe ich mich losgesagt für immer, aber nicht von dem, was Großes und Wahres in jener Bewegung liegt. Das bleibt für mich bestehen. Das werde ich vertreten und dafür werde ich kämpfen mein Leben lang.“

„Ich weiß es“, sagte Dernburg, ihm die Hand hinstreckend. „Aber auch ich habe gelernt in jenen schweren Tagen. Ich bin nicht mehr der alte Eisenkopf, der meint, er könne sich allein einer neuen Zeit entgegenstemmen. Freilich kann ich dieser neuen Zeit nicht mit offenen Armen entgegengehen; ich habe ein ganzes Menschenleben hindurch auf anderem Boden gestanden und kann mir nicht selbst untreu werden. Aber ich kann eine junge frische Kraft an meine Seite rufen, die emporgewachsen ist in der Gegenwart. Wenn ich dereinst Odensberg ganz in Deine Hände lege, dann Egbert führe Du die neue Zeit herauf, ich will es nicht hindern! Bis dahin aber für uns alle: Freie Bahn!“



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Blätter und Blüthen.


Jakob Moleschott †. In den Pfingsttagen ging durch Deutschland die Kunde, daß Jakob Moleschott am 20. Mai in Rom seinen Geist ausgehaucht habe. Ein Holländer von Geburt, starb er als Italiens Senator, und wie nahe stand dieser Weltweise dem deutschen Geistesleben! War er doch um die Mitte des Jahrhunderts einer der Fahnenträger der kleinen Forscherschar, welche das „Volk der Denker“ aus dem Banne einer phantastischen Philosophie zu befreien und in neue Bahnen des geistigen Lebens zu drängen trachtete. Es waren Gelehrte, welche die Wissenschaft durch eigene Forschungen bereicherten und die Gabe einer gewandten populären Darstellung besaßen. Kein Wunder, daß sie die Massen ihrer Leser und Zuhörer mit sich fortrissen, daß man nunmehr den Sätzen „Kein Gedanke ohne Phosphor!“ oder „Der Mensch ist, was er ißt“ mit derselben Begeisterung entgegenjubelte, mit der einst die Schüler Hegels Beifall klatschten, als ihr Meister bewies, daß Sein und Nichtsein identisch, ein und dasselbe seien. Vierzig Jahre sind seit dem Auftreten Moleschotts verflossen; die Sturm- und Drangperiode hat ihr Ende erreicht; die Geister sind nüchterner geworden, und da man sich überzeugt hat, daß auch die neuesten „Schöpfungsgeschichten“ trotz aller Beweise, die für sie aus dem Arsenal der Naturwissenschaften herbeigeholt wurden, die volle Wahrheit nicht enthüllen, begnügt man sich mit dem Studium der einzelnen Abschnitte der Entwicklungsgeschichte des Weltalls, sucht einzelne Seiten im Buche der Natur zu enträthseln. Die Spezialforschung und ihre Anwendung auf das praktische Leben beherrschen die Neuzeit, und auch Moleschott hat dieser Spezialforschung die letzten Jahrzehnte seines Lebens gewidmet.

Jakob Moleschott wurde am 9. August 1822 zu Herzogenbusch in Holland geboren. Unter der Leitung seines Vaters, der ein Arzt war, genoß er eine ausgezeichnete Erziehung und kam in seinem 19. Lebensjahr nach Heidelberg, wo er Physik, Chemie und Physiologie studierte. In Heidelberg lernte er auch die Hegelsche Philosophie kennen. Schon als Student verfaßte er im Jahre 1845 seine „Kritische Betrachtung von Liebigs Theorie der Pflanzenernährung“, die allgemeines Aufsehen erregte. Nachdem er in Heidelberg promoviert hatte, ging er nach Holland, wo er sich als praktischer Arzt niederließ, kehrte aber bald in die ihm liebgewordene Neckarstadt zurück, um daselbst als Privatdocent zu wirken. Hier schrieb er auch seine „Physiologie der Nahrungsmittel“, welche den ungetheilten Beifall der Fachmänner fand, und sein erstes populäres Werk „Die Lehre der Nahrungsmittel für das Volk“, das in die meisten lebenden Sprachen übersetzt wurde und seinen Namen weltbekannt machte, In den späteren Werken führte er die Weltanschauung, die in diesem Buche bereits niedergelegt war, nur ausführlicher aus, und diese Anschauung ist wohl bekannt; es dürfte genügen, daran zu erinnern, daß Moleschott das Zurückgehen der Thatkraft des holländischen Volkes, das einst in der Weltgeschichte von sich reden gemacht hatte, auf die üherwiegende mangelhafte Kartoffelnahrung zurückführte und dagegen die politische Regsamkeit der Engländer aus dem Saft der Beefsteaks herleitete. Am deutlichsten sind seine Gedanken in dem Werke „Der Kreislauf des Lebens“ ausgedrückt.

Der Senat der Heidelberger Hochschule hielt diese Lehren für gefährlich und ertheilte 1854 dem Docenten eine „sokratische“ Verwarnung, worauf dieser sofort seiner Lehrthätigkeit entsagte. Er lebte als Privatgelehrter in Heidelberg, bis er im Jahre 1856 an das Polytechnikum in Zürich als Professor der Physiologie berufen wurde. Im Jahre 1861 erhielt er dann den Ruf an die Universität in Turin, und Italien wurde nunmehr seine neue Heimath, in welcher er 1876 zum Senator erhoben wurde. Seit 1879 wirkte er als Professor an der Universität in Rom. Das aufblühende italienische Volk war für seine Lehren äußerst empfänglich; Moleschott blldete eine besondere Schule von Physiologen heran, als seine vornehmsten Schüler seien nur Mantegazza, Lombroso und Mosso genannt, die gleich ihrem Meister nicht nur forschen, sondern auch durch gemeinverständliche Schriften auf das Volk einzuwirken suchen. Moleschott hatte darum Dentschland nicht vergessen, er arbeitete für deutsche Zeitschriften, und im Jahre 1883, als sein Heidelberger Freund Hermann Hettner gestorben war, schrieb er das anziehende Werk „Hermann Hettners Morgenroth“. In dem Revolutionsjahr 1848 war der junge Moleschott mit Feuereifer für ein einiges großes Deutschland eingetreten; ja er ging so weit, daß er Holland mit ihm vereint sehen wollte. „Von dem Wunsche beseelt,“ schrieb er, „in Deutschland mit der Freiheit auch die Macht erblühen zu sehen, wünschte ich ihm vor allem eine Seemacht und für Holland, ohne daß es die Freiheit verlöre, die Verschmelzung mit einer großen Macht, mit der es stammverwandt die Bildungswege und viele ideale und praktische Lebens- und Weltbedürfnisse theilt.“

Nun ist der Mensch Moleschott nicht mehr. Nach seiner eigenen Lehre war er weiter nichts als „die Summe von Eltern und Amme, von Ort und Zeit, von Luft und Wetter, von Schall und Licht, von Kost und Kleidung“, aber wir möchten noch hinzufügen, daß nach einem Ausspruch Moleschotts „in jeder Menschenbrust ein Etwas lebt, das ihm heilig ist, das ihm die höchste Pflicht, die seligste Neigung, die wärmste Ueberzeugung, das reinste Gut bedeutet, für das der Edle lebt und stirbt, dem der Zaghafte bebend entsagt, das der Gemeine ruchlos zu verrathen imstande ist“. Und dieses Etwas, was die Brust Moleschotts durchglühte, war, wie wir mit Bestimmtheit sagen können, das hehre Humanitätsideal, dessen Emporringen in der Kulturgeschichte Hermann Hettner in seinen Werken so trefflich geschildert hat. *     

In Kriegszeiten. (Zu dem Bilde S. 377.) Das siebzehnte Jahrhundert, das in seiner ersten Hälfte einen Dreißigjährigen Krieg hatte toben sehen, sollte auch in seiner zweiten nicht zur Ruhe kommen. Ludwig XIV. war der Störenfried, der seine politische Macht dazu benutzte, sich nicht bloß in die Angelegenheiten der Nachbarn einzumengen, sondern sogar deren Bestand zu bedrohen. Das mußten namentlich die Vereinigten Niederlande erfahren, nachdem sie mit England und Schweden Frankreich daran gehindert hatten, die fast schon ganz eroberten spanischen Niederlande sich einzuverleiben. Ludwig, der Sonnenkönig, rückte in Holland ein und eroberte den größten Theil desselben. In diese Zeit fällt die Scene, welche unser Künstler in seinem Bilde festgehalten hat. Der Kriegslärm verhallt an den Mauern des schlichten Gehöftes, in dessen Küche die schmucke Tochter des Hauses und der Trompeter sich in traulicher Unterhaltung zusammengefunden haben. Was kümmern sich die beiden um die Welt draußen! Was um den Krieg! Sie stehen im Begriff, ein Bündniß der Herzen zu schließen und bekräftigen es mit warmem Händedruck. Die Königin am Herde hat einen Vasallen gefunden, der vertrauensvoll und zärtlich von seinem niedrigen Schemel zu ihr aufschaut. – Wenn nur das garstige Verslein nicht wäre vom anderen Städtchen und anderen Mädchen!

Gabriel Hackl, dem wir dieses Bild verdanken, ist zu Marburg in Steiermark geboren am 24. März 1843, erhielt den ersten Zeichenunterricht in seiner Heimath, setzte seine künstlerische Ausbildung an der Akademie zu Wien fort und siedelte dann (1870) nach München über, wo er in Pilotys Schule trat und acht Jahre später die Stelle eines Professors an derselben Akademie erhielt, deren Schüler er noch eben gewesen war. C. A. R.     

Die wahre Heimath des Pumpernickel. Wie Königsberg seit alten Zeiten sein „Panis Marci“ – Markusbrot, Marzipan – so hat die gute Stadt Osnabrück ebenfalls von alters her in ihren Backstuben ein „bonum paniculum“ ein „gutes Brötchen“, bereitet – den Pumpernickel. Die vielfach verbreitete Mär, daß der menschenfeindliche Voltaire dem Gebäck durch die wegwerfende Bemerkung „Bon pour Nickel!“ – „Gut genug für mein Pferd!“ – den Namen gegeben habe, ist wohl niemals ernst genommen worden. Der altersmäßig erwiesene Ursprung des Pumpernickels ist folgender: Bei einer Hungersnoth ums Jahr 1540 ließ der Magistrat von Osnabrück auf Gemeindekosten Brot backen und unter die Nothleidenden vertheilen. Dies Brot erhielt den lateinischen Namen „bonum paniculum“ aus dem der Volksmund Bonpanickel, Bompernickel, Pumpernickel machte. Ein Thurm vor den Osnabrücker Stadtmauern, in der Nähe der sogenanten Hafermühle, in welchem solches Brot gebacken wurde, heißt heute noch der „Pernickelsthurm“.



Inhalt: Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (9. Fortsetzung). S. 373. – Des Lieblings Frühstück. Bild. S. 373. – Fortschritte der Elektrokultur. Von C. Falkenhorst. S. 376. Mit Abbildung S. 378. – In Kriegszeiten. Bild. S. 377. – Die Schwabenkolonien in Palästina. Von Schmidt-Weißenfels. S. 379. Mit Abbildungen S. 379, 380, 381 und 385. – Freie Bahn! Roman von E. Werner (Schluß). S. 382. – Blätter und Blüthen: Jakob Moleschott †. S. 388. – In Kriegszeiten. S. 388, (Zu dem Bilde S. 377.) – Die wahre Heimath des Pumpernickel. S. 388.




Erklärung.

Ich erkläre hiermit, daß ich mir das Recht der Dramatisierung meines Romans „Freie Bahn!“ ausdrücklich selbst vorbehalte und dies Recht auch für alle meine übrigen Schriften ausschließlich in Anspruch nehme. Es kommt ja sehr häufig vor, daß Romane und Novellen in dramatischer Form auf die Bühne gebracht werden, aber das geschieht stets durch den Verfasser selbst, vielleicht im Verein mit irgend einer bühnenerfahrenen Kraft. Meine Romane sind dagegen von jeher ein Gegenstand fremder Ausbeutung gewesen und in drei- und vierfacher Bearbeitung über die verschiedensten Bühnen gegangen, bis ich die gerichtliche Entscheidung dagegen anrief und in den betreffenden Fällen auch ein obsiegendes Erkenntniß erzielte.

Erst vor einigen Wochen wurde am Münchener Hoftheater eine Dramatisierung meines „Glück auf!“ aufgeführt, von der ich erst durch die Zeitungen Kenntniß erhielt. Die Leitung des Königlichen Residenztheaters hat die Bearbeitung allerdings nur in der Voraussetzung angenommen, daß sie eine durchaus berechtigte sei, und auf meine Beschwerde das Stück sofort und dauernd vom Repertoire abgesetzt. Ich habe also an dieser Stelle nicht den mindesten Vorwurf zu erheben. Ebenso ist die Theateragentur des Herrn Entsch, die den Vertrieb des Stückes übernommen hatte, nach Kenntniß der Sachlage davon zurückgetreten. Ich kann für diese rückhaltlose Anerkennung meines geistigen Eigenthums nur dankbar sein und darf nunmehr wohl bei den anderen Bühnen die gleiche Anschauung voraussetzen. Jedenfalls kennzeichne ich jene Bearbeitung, die den Titel „Elsa“ führt, als eine unrechtmäßige, der ich, wenn sie dennoch weitere Verbreitung finden sollte, auf dem Wege der Klage entgegentreten werde. E. Werner. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Der Verfasser, einer der ältesten und verdientesten Mitarbeiter der „Gartenlaube“, hat diesen Aufsatz wenige Tage vor seinem am 24. April erfolgten Tode vollendet. Fast bis zu seinem letzten Athemzug harrte der Schwergeprüfte aus bei der Arbeit. Ehre seinem Angedenken! Die Redaktion.