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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[181]

Nr. 12.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Freie Bahn!

Roman von E. Werner.
(11. Fortsetzung.)


Nachdem Oskar die Thür des Salons verriegelt hatte, um sich vor jedem unberufenen Lauscher zu sichern, trat er vor seine Schwester hin.

„Dir fehlt noch jede Selbstbeherrschung,“ sagte er gedämpft. „Ein Glück, daß ich an Deiner Seite war. Es war unter diesen Umständen das Beste, Deine tolle Bergfahrt einzugestehen. Nun aber gilt es, eine andere Gefahr zu beschwören. Runeck wird ohne Beweise nicht wagen, etwas gegen uns zu unternehmen, und inzwischen bereiten sich Dinge vor, die nothgedrungen zum Bruche zwischen ihm und Dernburg führen müssen. Bis dahin – nun, ich bin schon mit Schlimmeren fertig geworden!“

Die letzten Worte athmeten wieder die ganze verwegene Zuversicht des Mannes, der schon oft alles auf eine Karte gesetzt und das Spiel gewonnen hatte.

Cäcilie hatte sich erhoben; ihre Augen waren mit einem seltsamen Ausdruck auf ihn gerichtet. „Bis dahin werden wir nicht mehr in Odensberg sein,“ sprach sie. „Fahre nicht auf, Oskar! Ich will nicht wissen, was Du mir verschweigst; was Du mir sagtest, war genug. Du mußt eine Gefahr beschwören, die Dir von Runeck droht – er hat also nicht gelogen, er kann Dich anklagen. Ich aber will nicht die Abenteurerin sein, die sich hier eindrängt und die man schließlich mit Schimpf und Schande fortjagt – hörst Du, ich will es nicht. Wir reisen ab, gleichviel wohin, unter irgend einem Vorwand – nur fort von hier, fort um jeden Preis!“

„Bist Du von Sinnen?“ rief Wildenrod; indem er ihren Arm ergriff, als gelte es jetzt schon, einen Fluchtversuch zu hindern. „Fort? Wohin? Denkst Du, ich kann Dir das frühere Leben wieder öffnen? Das ist vorbei, meine Hilfsquellen sind zu Ende!“

„Mir graut auch vor diesen Hilfsquellen,“ rief Cäcilie bebend. „Ich will arbeiten –“


Osterballspiel.
Originalzeichnung von W. Zehme.

[182] Oskar lachte laut und bitter auf. „Mit diesen Händen vielleicht? Weißt Du, was es heißt, um das tägliche Brot zu ringen? Dazu muß man erzogen sein – unsereins verhungert dabei!“

„Ich kann aber nicht bleiben, jetzt wo mir die Augen geöffnet sind, ich kann nicht! Versuche nicht, mich zu zwingen, oder ich sage Erich noch in dieser Stunde, daß ich ihn nicht liebe, ihn nie geliebt habe, daß unsere Verlobung einzig Dein Werk gewesen ist!“

Oskar erbleichte. Cäcilie war seiner Macht entwachsen, mit Befehlen und Drohungen ließ sich hier nichts ausrichten, so griff er denn zu einem letzten Mittel.

„So thue es,“ sagte er plötzlich kalt und entschlossen, „vernichte Dich und mich! Denn für mich handelt es sich hier um Sein oder Nichtsein. Vor einer Stunde habe ich mich mit Maja verlobt.“

„Mit wem?“ Cäcilie sah ihn an, als verstehe sie die Worte nicht.

„Mit Maja. Sie liebt mich, es bedarf nur noch der Einwilligung Dernburgs. Führst Du einen Bruch mit Erich herbei, deutest Du ihm die Wahrheit an, so ist auch mir Odensberg für immer verschlossen und dann – folge ich dem Beispiele unseres Vaters.“

„Oskar!“ Es war ein Aufschrei des Entsetzens.

„Ich thue es, mein Wort darauf! Glaubst Du, daß es mir leicht geworden ist, das Leben eines Abenteurers zu führen, mir, einem Wildenrod? Weißt Du, was ich gelitten habe ehe es dahin kam? Wie oft ich nachher versuchte, mich emporzureißen? Immer umsonst! und nun endlich naht mir die Rettung, die Erlösung durch die Hand eines holden Kindes, nun erfasse ich es endlich, das so lange gesuchte, so heiß ersehnte Glück – und in dem Augenblick, wo ich es in die Arme schließe, soll es mir wieder entrissen, soll ich zurückgeschleudert werden in den alten Fluch? Das ertrage ich nicht! Eher das Ende!“

Es lag eine eiserne Entschlossenheit auf seinen Zügen, in seinem Tone; das war keine leere Drohung. Cäcilie schauderte.

„Nein,“ flüsterte sie. „Nein, nein, nur das nicht!“

„Ist es denn etwas so Furchtbares, was ich von Dir fordere?“ fragte Wildenrod milder. „Du sollst ja nur schweigen und diese unselige Stunde vergessen! Ich habe Dich retten wollen aus dem Leben, in das ich Dich führen mußte, noch ehe Dir die Augen darüber aufgingen, und jetzt rette ich mich mit Dir. Ich werfe die Vergangenheit hinter mich und beginne ein neues Leben. Hier in Odensberg öffnet sich mir ein neues großes Feld, und Dernburg soll in mir finden, was sein Sohn ihm nicht sein kann. Du wirst Erichs Gattin, er liebt, vergöttert Dich, Du kannst ihn glücklich machen und selbst glücklich sein an seiner Seite!“

Er hatte sich zu ihr herabgebeugt, und seine Stimme hatte einen weichen Klang, aber die Augen seiner Schwester blickten mit einem unendlich wehen Ausdruck zu ihm empor.

„Wie soll ich Erichs Nähe, seine Zärtlichkeit jetzt noch ertragen? Schon die wenigen Minuten vorhin sind eine Folter für mich gewesen. Und wenn ich Runeck wieder begegnen und in seinen Augen dieselbe tödliche Verachtung lesen müßte wie heute früh, ohne daß ich mich dagegen erheben könnte – Verachtung von diesem Runeck!“

Aus dem letzten Wort klang ein verzweifelnder Schmerz. Wildenrod stutzte und heftete einen forschenden Blick auf sie.

„Fürchtest Du seine Verachtung so sehr?“ fragte er langsam. „Sei ruhig, er wird nach jenem Auftritt selbst jede Begegnung vermeiden, in den Familienkreis kommt er ohnehin nicht mehr. Alles andere überlaß mir! Du sollst nur ruhig sein und schweigen. Versprichst Du’s mir?“

„Ja!“ murmelte Cäcilie kaum hörbar.

Oskar beugte sich nieder und berührte mit den Lippen ihre Stirn. „Ich danke Dir! Und nun will ich Dich wirklich allein lassen, denn ich sehe, daß Du dies Gespräch nicht länger erträgst.“

Er wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal stehen, und wieder traf ein durchdringender Blick ihr Gesicht. „Egbert Runeck ist unser Feind, ein Todfeind, der Dich und mich vernichten will und dem ich Kampf bieten muß bis aufs Messer – vergiß das nicht!“

Cäcilie gab keine Antwort, aber ihr ganzer Körper bebte wie im Fieber, als die Thür hinter ihrem Bruder zufiel. Die Wahrheit, die er ihr nicht mehr zu verhüllen suchte, hatte ihr Innerstes getroffen. Die bunte glänzende Welt der Freude und des Genusses, die sie bisher allein gekannt, lag zertrümmert zu ihren Füßen, der Fels war gespalten – was barg sich in seiner Tiefe?




Wochen waren vergangen, der Frühling hatte Abschied genommen und der Sommer war gekommen in seiner vollen heißen Pracht. In Odensberg begann man schon Vorbereitungen zu treffen für die Vermählungsfeier, die auf die letzten Tage des August festgesetzt war. Nach der Trauung sollte eine größere Festlichkeit stattfinden, die den ganzen Umgangskreis des Dernburgschen Hauses vereinigte, und unmittelbar darauf wollte das junge Paar seine Hochzeitsreise nach dem Süden antreten.

Auch die Beamten und Arbeiter der Odensberger Werke beabsichtigten, sich an dem Feste zu betheiligen. Es galt eine Huldigung für den Chef bei der Vermählung seines einzigen Sohnes und Erben. Der Direktor stand an der Spitze eines Ausschusses, der einen großartigen Festzug plante, und alle waren mit vollem Eifer bei der Sache.

Aber trotz dieser festlichen Vorbereitungen lag es doch wie eine Wolke über dem Herrenhause und dem Dernburgschen Familienkreise. Dernburg selbst war durch allerlei äußere und innere Vorkommnisse verstimmt, die bevorstehenden Wahlen zum Reichstage begannen selbst sein Odensberg in Mitleidenschaft zu ziehen, und er wußte nur zu gut, daß auch hier Aufreizungen und Einflüsterungen stattfanden. Offen geschah das allerdings nicht, dazu hielt er die Zügel zu fest in der Hand, aber er vermochte nicht der geheimen und eben deshalb gefährlichen Thätigkeit zu steuern, mit welcher die sozialdemokratische Partei auf seinen bisher so unbedingt behaupteten Werken Schritt um Schritt vordrang.

Ueberdies machte ihm Erichs Gesundheit von neuem ernstliche Sorge; er hatte fast ganz darauf verzichten müssen, den Sohn, wie er gehofft und gewünscht, in seinen künftigen Beruf einzuführen. Der junge Mann kränkelte fortwährend, bedurfte nach wie vor der größten Schonung, und von einer regelmäßigen Thätigkeit war nicht die Rede. Endlich kam noch Wildenrods Werbung und Majas offen eingestandene Liebe, die Dernburg mit dem äußersten Befremden, ja beinahe mit Unwillen aufgenommen hatte.

Der Freiherr hatte noch an demselben Tage, an dem er sich dem jungen Mädchen erklärt, bei dem Vater um ihre Hand angehalten, aber einen viel entschiedeneren Widerstand gefunden, als er erwartet hatte. So sehr Dernburg persönlich für ihn eingenommen war, der Gatte, den er für seine Tochter wünschte, war Oskar nicht, und der Gedanke, das sechzehnjährige Kind einem Manne zu vermählen, der dem Alter nach ihr Vater hätte sein können, war ihm ebenso unfaßbar wie die Erwiderung dieser Leidenschaft von seiten Majas. Die Bitten seines Lieblings erreichten es freilich, daß er das anfängliche Nein nicht aufrecht erhielt, aber ebensowenig war er zu bewegen, jetzt schon seine Einwilligung zu geben. Er erklärte mit aller Entschiedenheit, seine Tochter sei noch viel zu jung, um sich schon für das ganze Leben zu binden, sie solle warten, sich prüfen, in zwei Jahren wolle man wieder von der Sache reden.

Warten! Das war ein verhängnißvolles, ein unmögliches Wort für den Mann, der mit der Minute rechnen mußte, und doch blieb ihm für den Augenblick nichts anderes übrig, denn Maja wurde seinem Einfluß entzogen. Er selbst hatte allerdings nach jener Werbung einen leisen, aber doch verständlichen Wink erhalten, daß unter diesen Verhältnissen das tägliche Zusammensein nicht aufrecht zu erhalten sei, indessen Odensberg jetzt verlassen, hieß soviel als sein Spiel verloren geben. Es galt, wachsam zu sein und der Gefahr zu begegnen, die seit jener Drohung Runecks wie eine Wetterwolke über seinem Haupte hing. Und er mußte auch seiner Schwester zur Seite bleiben, um sicher zu sein, daß sie das ihr abgerungene Versprechen halte – sie war unglaublich verändert seit der unglücklichen Stunde. Er hatte also jenen Wink nicht verstehen wollen und war geblieben. Aber da griff Dernburg sofort mit seiner gewohnten Entschlossenheit ein und sandte seine Tochter, unter dem Vorwande eines Besuches, zu einer [183] befreundeten Familie; sie sollte erst zur Hochzeit des Bruders zurückkehren. –

Egbert Runeck war von Radefeld gekommen, um seinem Chef den gewohnten Bericht zu erstatten. Er pflegte schon seit Wochen bei dieser Gelegenheit nur im Arbeitszimmer zu verweilen und sofort zurückzukehren, wenn das Geschäftliche erledigt war; dem Familienkreise schien er ganz fremd geworden zu sein. Heute aber hatte er zuerst Erich aufgesucht, der ihn mit freudiger Ueberraschung, aber auch mit Vorwürfen empfing.

„Endlich läßt Du Dich einmal wieder sehen! Ich glaubte schon, Du hättest mich ganz vergessen und überhaupt unser Haus in Acht und Bann gethan. Nur der Papa bekommt Dich noch zu Gesicht!“

„Du weißt, wie sehr ich in Anspruch genommen bin,“ versetzte Egbert ausweichend. „Meine Arbeiten –“

„Jawohl, Deine Arbeiten müssen immer den Vorwand liefern! Aber komm, laß uns plaudern – ich bin so froh, Dich einmal ungestört für mich allein zu haben.“

Er zog den Jugendfreund neben sich auf das Sofa nieder und begann zu fragen und zu erzählen. Er sprach jedoch fast allein. Runeck zeigte sich auffallend schweigsam und zerstreut, nur bisweilen antwortete er wie mechanisch, als habe er ganz andere Dinge im Kopfe. Erst als Erich von seiner bevorstehenden Vermählung zu sprechen begann, wurde er aufmerksamer.

„Wir wollen noch am Hochzeitstage abreisen, gleich nach dem Festmahl,“ sagte dieser mit einem glücklichen Lächeln. „Einige Wochen denke ich mit meiner jungen Frau in der Schweiz zu bleiben, dann aber fliegen wir beide nach dem Süden. Nach dem Süden! Du ahnst nicht, welchen Zauber das Wort für mich hat. Dieser kalte nordische Himmel, diese düsteren Tannenberge, dies ganze Leben und Treiben hier, das alles liegt so schwer auf mir. Ich kann hier nicht völlig genesen – Hagenbach, der soeben bei mir war, meint das auch und schlägt vor, daß wir den ganzen Winter in Italien bleiben. Leider wird Papa davon nichts hören wollen – es wird einen Kampf kosten, das bei ihm durchzusetzen.“

„Du fühlst Dich wieder leidender?“ fragte Egbert, dessen Auge mit einem seltsam forschenden Ausdruck auf den bleichen eingefallenen Zügen des Freundes ruhte.

„O, das hat nichts zu bedeuten,“ sagte Erich sorglos. „Der Doktor ist nur so unglaublich ängstlich. Er hat mir das Reiten verboten, giebt mir alle möglichen Verhaltungsregeln und jetzt will er gar die Vermählungsfestlichkeiten beschränkt wissen, weil sie mich anstrengen könnten. Nur keine Aufregung! Das ist sein erstes und letztes Wort. Ich fange nachgerade an, ärgerlich zu werden, er behandelt mich wie einen Schwerkranken, dem jede Erregung den Tod bringen kann.“

Runecks Blick haftete noch immer schwer und düster auf dem Gesicht des jungen Mannes, und es lag wie ein verhaltener Kampf in seinen Zügen und in seiner Stimme, als er fragte:

„Also Doktor Hagenbach fürchtet die Aufregung für Dich? Freilich, Du hast damals einen Blutsturz gehabt –“

„Mein Gott, das war vor zwei Jahren und ist längst ausgeheilt,“ unterbrach ihn Erich ungeduldig. „Mir bekommt nur die Luft in Odensberg nicht, und auch Cäcilie kann und wird sich nie in das Leben hier finden. Sie ist für die Freude und den Sonnenschein geschaffen, das ist das Element, in dem allein sie leben kann, hier, wo alles auf Arbeit und Pflicht gestellt ist, wo die strengen Augen meines Vaters sie wie in einem Banne halten, kann sie nicht gedeihen. Wenn Du wüßtest, was aus meiner strahlend heiteren Cilly geworden ist, die von Leben und Uebermuth sprühte, die selbst in ihren Launen so entzückend war! Wie bleich und still ist sie geworden in den letzten Wochen, wie seltsam verändert in ihrem ganzen Wesen! Manchmal fürchte ich, daß da etwas ganz anderes zu Grunde liegt. Wenn sie das Wort bereute, das sie mir gegeben, wenn – ach, ich sehe überall Gespenster!“

„Aber Erich, ich bitte Dich,“ fiel Runeck beschwichtigend ein. „Befolgst Du so die Vorschrift des Arztes? Du regst Dich in ganz unnöthiger Weise auf.“

„Nein, nein!“ rief der junge Mann leidenschaftlich. „Ich sehe und fühle es, daß Cäcilie mir irgend etwas verbirgt – vorgestern hat sie sich verrathen. Ich sprach von unserer Hochzeitsreise, von Italien, da brach es plötzlich hervor: ‚Ja, laß uns fort, Erich, wohin Du willst, nur weit weit fort von hier! Ich ertrage es nicht länger!‘ Was erträgt sie nicht? Sie wollte mir darüber nicht Rede stehen, aber es klang wie Verzweiflung.“

Erregt sprang er auf. Auch Egbert erhob sich, dabei trat er wie zufällig aus dem hellen Sonnenschein, der durch das Fenster hereindrang, in den Schatten. „Du liebst Deine Braut wohl sehr?“ fragte er langsam, mit schwerer Betonung.

„Ob ich sie liebe!“ Das blasse Gesicht Erichs röthete sich und seine Augen leuchteten auf in schwärmerischer Zärtlichkeit. „Du hast nie geliebt, Egbert, sonst könntest Du nicht so fragen. Wenn Cäcilie mir damals, als ich um sie warb, ein Nein geantwortet hätte, vielleicht hätte ich es ertragen. Wenn ich sie jetzt verlieren müßte – das gäbe mir den Tod!“

Egbert schwieg. Er stand zur Hälfte abgewendet, noch immer lag der stumme qualvolle Kampf in seinen Zügen. Bei den letzten Worten aber richtete er sich empor, trat zu dem Freunde und legte die Hand auf dessen Arm.

„Du sollst sie nicht verlieren, Erich,“ sagte er fest, aber mit zuckenden Lippen. „Du wirst leben und glücklich sein.“

„Weißt Du das so genau?“ fragte Erich, befremdet aufblickend. „Du sprichst ja, als wärest Du Herr über Leben und Tod.“

„So nimm es als eine Prophezeiung, die sich Dir erfüllen wird. – Doch ich muß fort, ich kam überhaupt nur, um Dir Lebewohl zu sagen, denn meine Thätigkeit in Radefeld ist früher zu Ende, als ich glaubte.“

„Um so besser, dann kehrst Du doch nach Odensberg zurück, und wir sehen uns hoffentlich vor meiner Abreise noch häufig genug!“

„Schwerlich, ich habe andere Pläne, die es mir nicht möglich machen, in Odensberg zu bleiben. Ich will eben heute mit Deinem Vater darüber sprechen.“

„Du bist eine beneidenswerthe Natur!“ sagte Erich mit einem Seufzer. „Immer vorwärts, immer aufwärts zu neuen Zielen, ohne Rast und Ruhe! Kaum ist eine Arbeit zu Ende, so hast Du schon wieder neue Entwürfe im Kopfe. Was sind denn das für Pläne?“

„Das wirst Du besser von Deinem Vater hören, jetzt bist Du doch nicht in der Stimmung dazu. Also – leb’ wohl, Erich!“ Er bot ihm mit mühsam unterdrückter Bewegung die Hand, die Erich unbefangen nahm.

„Aber nicht wahr, wir nehmen noch keinen Abschied voneinander? Du kehrst doch einstweilen nach Radefeld zurück?“

„Allerdings, allein ich verlasse es vielleicht schon in den nächsten Tagen, und wer weiß, wo ich mein Zelt aufgeschlagen habe, wenn Du im Frühjahr aus Italien zurückkommst.“

„Aber dann sehen wir uns doch noch bei meiner Hochzeit!“ warf Erich ein.

„Wenn es mir möglich ist –“

„Das muß Dir möglich sein, ich lasse Dich ohne dieses Versprechen nicht gehen. Dich will ich an diesem Tage nicht entbehren. Du kommst unter allen Umständen, Egbert, hörst Du? Und nun muß ich Dich wohl fortlassen, denn ich sehe, daß Dir schon wieder der Boden unter den Füßen brennt. Also auf Wiedersehen!“

„Ja – leb’ wohl, Erich!“

Es war ein heftiger, beinahe krampfhafter Druck, mit dem Runeck die Hand des Jugendfreundes preßte, dann wandte er sich rasch ab und verließ das Zimmer, als fürchtete er, zurückgehalten zu werden. Erst draußen auf dem Gang blieb er stehen und sagte leise mit einem tiefen Athemzug: „Das wäre überstanden! Er hat recht, es würde ihm den Tod geben. – Nein, Erich, Du sollst nicht sterben, nicht durch mich! Das will ich nicht auf mich nehmen!“

Dernburg befand sich wie gewöhnlich um diese Zeit in seinem Arbeitszimmer. Er sah ernst und sorgenvoll aus, während er dem Doktor Hagenbach zuhörte, der ihm gegenübersaß. Oskar von Wildenrod war gleichfalls anwesend; er lehnte mit verschränkten Armen am Fenster, ohne sich an dem Gespräche zu betheiligen, dem er gleichwohl mit gespannter Aufmerksamkeit folgte.

„Sie machen sich übertriebene Sorgen,“ sagte der Arzt in beruhigendem Tone, obgleich auch seine Miene nicht besonders zuversichtlich war. „Herr Erich leidet noch unter den Nachwirkungen unseres rauhen Frühjahres. Er hätte länger im Süden bleiben und noch eine Uebergangsstation wählen müssen; der jähe [184] Klimawechsel ist ihm schädlich gewesen. Er muß einstweilen zurück nach Italien, und ich habe eben mit ihm über den Winteraufenthalt gesprochen. Er würde Rom vorziehen, der jungen Frau wegen. Ich bin eher für Sorrent oder, wenn es denn doch eine größere Stadt sein soll, für Palermo.“

Dernburgs Stirn verfinsterte sich bei den letzten Worten noch mehr, und mit kaum verhehlter Unruhe fragte er: „Halten Sie es für unbedingt nothwendig, daß Erich den ganzen Winter fortbleibt? Ich hoffte, er würde zum Weihnachtsfeste mit seiner Frau zurückkehren.“

„Nein, Herr Dernburg, das geht für diesmal nicht,“ entgegnete Hagenbach mit Bestimmtheit. „Das hieße ja alles wieder aufs Spiel setzen, was wir im vergangenen Winter gewonnen haben.“

„Und was haben wir denn gewonnen? Eine halbe Genesung, die schon nach wenigen Monaten in Frage gestellt ist! Seien Sie aufrichtig, Doktor – Sie glauben, daß mein Sohn unser Klima überhaupt nicht verträgt.“

„Vorläufig dürfte es allerdings nöthig sein –“

„Nichts von ‚vorläufig‘! Ich will die Wahrheit wissen, die volle Wahrheit! Halten Sie es für durchführbar, daß Erich dauernd in Odensberg leben, daß er mein Mitarbeiter, mein dereinstiger Nachfolger werden kann, wie ich es hoffte, als er im Frühjahr scheinbar genesen zurückkehrte?“

Sein Blick hing mit unruhiger Spannung an den Lippen des Arztes, ebenso wie das Auge Wildenrods, der aus der Fensternische hervorgetreten war. Hagenbach zögerte mit der Antwort, sie schien ihm schwer zu werden. Endlich sagte er ernst:

„Nein, Herr Dernburg – da Sie die Wahrheit verlangen – wie die Dinge liegen, ist ein dauernder Aufenthalt im Süden Lebensbedingung für Ihren Sohn. Er kann im Sommer auf einige Monate nach Odensberg kommen, aber einen Winter in unseren Bergen erträgt er nicht mehr, so wenig wie die Anstrengungen einer Berufsthätigkeit. Das ist meine feste Ueberzeugung.“

Wildenrod machte eine unwillkürliche Bewegung bei dieser mit aller Entschiedenheit gegebenen Erklärung, Dernburg schwieg, er stützte nur den Kopf in die Hand, aber man sah es, wie schwer ihn der Ausspruch des Arztes traf, obgleich er ihn geahnt haben mochte.

„Dann heißt es also Abschied nehmen von den Plänen, die ich so lange genährt habe,“ sagte er endlich. „Ich hoffte trotz alledem – gleichviel, Erich ist mein einziger Sohn, ich will ihn mir erhalten, auch wenn ich meine liebsten Hoffnungen dabei begraben muß. So mag er sich denn irgendwo im Süden ein Heim gründen und seine Thätigkeit darauf beschränken, es zu bauen und auszuschmücken – ich kann’s ihm ja gewähren.“

Ein schwerer halbunterdrückter Seufzer verrieth, was ihn der Entschluß kostete. Dann wandte er sich zu dem Arzte und bot ihm die Hand. „Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit, Doktor. Wenn die Wahrheit auch bitter ist, ich muß mich damit abfinden. Wir sprechen noch näher darüber!“

Hagenbach verabschiedete sich und ging. Einige Minuten herrschte Schweigen im Zimmer, dann fragte Wildenrod mit gedämpfter Stimme: „Hat Sie der Ausspruch überrascht? Mich nicht, ich fürchtete längst etwas dergleichen. Wenn Erich nur dauernd gesundet, dann, hoffe ich, werden Sie und er sich leichter in die Trennung finden.“

„Erich wird sich sehr leicht darein finden,“ sagte Dernburg mit aufquellender Bitterkeit. „Er hat stets Furcht vor der Lebensstellung gehabt, die seiner wartete, ihn ängstigte dies mächtige rastlose Getriebe, dessen Herr und Leiter er sein sollte, mit all seinen Anforderungen und Pflichten. Er wird weit lieber am Strande des blauen Meeres sitzen, Baupläne für seine Villa machen und froh sein, wenn ihn nichts in seiner träumerischen Ruhe stört – und ich stehe allein hier, gezwungen, mein Odensberg, das Werk meines Lebens, dereinst in fremden Händen zu lassen. Das ist hart!“

„Müssen Sie das wirklich?“ fragte Oskar bedeutungsvoll, indem er näher trat. „Sie haben ja noch eine Tochter, die Ihnen einen zweiten Sohn geben kann, aber Sie versagen ihrem Erwählten noch immer die Sohnesrechte.“

Dernburg machte eine abwehrende Bewegung.

„Lassen wir das! Nicht jetzt –“

„Gerade jetzt, in dieser Stunde möchte ich zu Ihnen sprechen. Sie haben meine Werbung um Maja in einer Weise aufgenommen, welche ich nicht erwartet und nicht verdient habe. Sie machten mir fast einen Vorwurf daraus, als hätte ich damit ein Unrecht begangen.“

„Ein Unrecht ist es auch, Herr von Wildenrod. Sie durften dem sechzehnjährigen Kinde nicht von Liebe sprechen und es mit dem Geständniß Ihrer Leidenschaft an sich ketten, ohne der Einwilligung des Vaters sicher zu sein. Einem Jüngling verzeiht man es, wenn er sich von der Empfindung des Augenblickes hinreißen läßt, einem Manne in Ihren Jahren nicht.“

„Und dieser Augenblick hat mir doch das höchste Glück meines Lebens gegeben,“ rief Oskar aufflammend, „die Gewißheit, daß auch Maja mich liebt! Sie hat dieses Geständniß vor Ihnen wiederholt – wir hofften beide auf den Segen des Vaters. Statt dessen werden wir zu einem endlosen Warten verurtheilt. Sie haben Maja aus Odensberg verbannt, sich selbst ihrer Nähe beraubt, nur um sie mir zu entziehen –“

„Und was hätte ich denn sonst thun sollen?“ fiel Dernburg ein. „Nach Ihrer übereilten Erklärung war ein unbefangener täglicher Verkehr nicht mehr möglich, wenn ich nicht sofort der Verlobung zustimmte.“

„So thun Sie es jetzt! Majas Herz gehört mir, daran wird weder Zeit noch Trennung etwas ändern, und ich liebe sie grenzenlos. Ihren Sohn müssen Sie in die Ferne ziehen lassen – nun wohl, so lassen Sie mich an seine Stelle treten! Ich habe Ihr Odensberg lieben gelernt und bringe ihm die volle ungebrochene Kraft eines Mannes entgegen, der seines zwecklosen Daseins müde ist und ein neues Leben anfangen möchte. Wollen Sie mir das versagen, nur weil zwei Jahrzehnte zwischen mir und meiner jungen Braut liegen?“

Er sprach mit heißer dringender Bitte und er hätte keine bessere Zeit wählen können als diese Stunde, in welcher dem Manne, der da mit umdüsterter Stirn vor ihm saß, all die Hoffnungen zusammenstürzten, die er auf seinen Sohn gebaut hatte und auf jenen anderen, den er seinem schwachen unselbständigen Erben dereinst an die Seite hatte stellen wollen; auch dieser Plan war gescheitert, seit Dernburg wußte, daß Majas Herz nicht mehr frei war. Und nun brauchte er sein Lieblingskind nicht von sich zu lassen, wenn sie die Gattin Wildenrods wurde, und dieser bot ihm mit seiner kraftvollen entschlossenen Persönlichkeit Ersatz für das, was er verlor! Die Wahl war in der That nicht schwer.

„Das ist ein ernster folgenschwerer Entschluß, Herr von Wildenrod,“ sagte Dernburg. „Wenn Sie sich wirklich zu einer so völligen Umgestaltung Ihres bisherigen Lebens verstehen könnten – es ist keine leichte Aufgabe, die Ihrer wartet, und sie hat vielleicht nur deshalb einen Reiz für Sie, weil sie Ihnen neu und fremd ist. Sie sind an keine regelmäßige Thätigkeit gewöhnt –“

„Aber ich werde es lernen,“ fiel Wildenrod ein. „Sie haben mich oft im Scherz Ihren Assistenten genannt, seien Sie jetzt im Ernst mein Lehrer und Führer, Sie sollen sich Ihres Schülers nicht schämen müssen! Ich habe endlich eingesehen, daß man schaffen und arbeiten muß, um glücklich zu sein, und ich werde arbeiten. Und nun gewähren Sie meine Bitte ... Sie haben Erich erlaubt, glücklich zu sein, wollen Sie es Maja und mir verweigern?“

„Wir werden sehen“ entgegnete Dernburg, aber in seinem Tone lag schon halb und halb die Gewährung. „In drei Wochen ist Erichs Hochzeit, dann kehrt Maja nach Odensberg zurück und –“

„Dann darf ich um meine Braut werben!“ fiel Oskar stürmisch ein, „O, ich danke Ihnen, wir danken beide unserem strengen und doch so gütigen Vater!“

Ein flüchtiges Lächeln erhellte Dernburgs Stirn und wenn er die Einwilligung auch noch nicht aussprach, so wies er doch den Dank nicht zurück.

„Aber nun genug davon, Oskar,“ sagte er, zum ersten Male die vertrauliche Anrede gebrauchend. „Sie zwingen mir sonst mit Ihrem stürmischen Drängen noch alles Mögliche ab, und ich habe noch Geschäftliches zu erledigen. Egbert muß gleich hier sein, er kommt heute von Radefeld herein, um mir Bericht zu erstatten.“

[185]

Fährmannskind.

Ein Frühlingstag! Die Sonne küßte
Die braunen Knospen wach am Strauch;
Berauschend athmet durch die Lüfte
Ein würzig warmer Blüthenhauch.

Die Wellen gehn in stillen Träumen,
Wie Kinderhändchen kost der Wind,
Und ernsthaft schaut in Wind und Wellen
Mit schwarzem Aug’ das Fährmannskind.

Die Ruder regt’s verträumt und träge,
Beschwert von sanfter Müdigkeit;
Es schwelgt in dumpfer Lebenswonne
So matt und wohlig – Frühlingszeit!

Ein Brautpaar sitzt im kleinen Nachen,
Taucht innig Blick in Blick – und schweigt,
Manchmal erröthend eins zum andern
Im Kusse sich hinüberneigt.

Dem Fährmannskind wird’s schwül zu Sinne,
Die Brust ein banges Sehnen schwellt,
Ein fremdes Glück mit seiner Wonne
Wohnt draußen in der fremden Welt.

Die Hände fallen lässig nieder,
Das schwarze Auge blicket weit!
Die heißen Lippen lächeln leise
Wie selig Harren – Frühlingszeit!

Selma Heine.

[186] Der strahlende Ausdruck verschwand aus Wildenrods Zügen und machte für einen Augenblick einem leisen höhnischen Lächeln Platz; dann warf er mit anscheinender Gleichgültigkeit hin: „Herr Runeck wird jetzt von anderer Seite sehr in Anspruch genommen sein. Es rührt sich ja in seiner Partei an allen Ecken und Enden!“

„Jawohl,“ entgegnete Dernburg ruhig, ohne den Ausfall bemerken zu wollen. „Die Herren Sozialisten fühlen sich, der Kamm schwillt ihnen gewaltig. Sie scheinen sogar einen eigenen Kandidaten für unseren Wahlkreis aufstellen zu wollen – zum ersten Male!“

„So heißt es allerdings. Wissen Sie, wen man dafür in Aussicht genommen hat?“

„Noch nicht, aber ich vermuthe, es wird Landsfeld sein, der bei jeder Gelegenheit den Führer spielt. Er ist freilich nur Agitator, seine Sache ist bloß das Wühlen und Hetzen, für den Reichstag taugt er nicht, und die Partei pflegt ihre Leute sehr genau zu kennen. Aber es handelt sich ja überhaupt nur um eine Kraftprobe. Die Sozialisten denken nicht ernstlich daran, mir das Mandat streitig zu machen.“

„Glauben Sie?“ Das Auge des Freiherrn ruhte mit einem eigenthümlichen Ausdruck auf dem Gesichte des Sprechenden „Nun – vielleicht weiß Herr Runeck näher Bescheid darüber.“

Dernburg zuckte ungeduldig die Achseln. „Egbert wird sich allerdings jetzt entscheiden müssen, das weiß er so gut wie ich. Stimmt er mit seiner Partei, das heißt in diesem Falle gegen mich, so sind wir fertig miteinander.“

„Er hat bereits entschieden,“ sagte Wildenrod kalt. „Sie kennen den Namen des gegnerischen Kandidaten noch nicht – ich kenne ihn. Er geht Sie und Odensberg ziemlich nahe an – er heißt Egbert Runeck.“

Dernburg zuckte zusammen wie von einem Schlag getroffen; einige Sekunden lang starrte er den Freiherrn an, als glaubte er, dieser sei nicht recht bei Sinnen. Dann erklärte er kurz und bündig: „Das ist nicht wahr!“

„Bitte, meine Quelle ist die sicherste.“

„Es ist nicht wahr, sage ich Ihnen, Sie sind falsch berichtet, müssen es sein.“

„Schwerlich, aber das wird sich ja bald zeigen, da Sie Runeck erwarten.“

Dernburg sprang auf und begann in heftiger Erregung im Zimmer auf und nieder zu gehen, aber er mochte die Sache ansehen, wie er wollte, sie erschien ihm so unglaublich wie im ersten Augenblick. „Thorheit! Zu einem solchen Possenspiel giebt sich der Egbert nicht her. Er weiß es, daß er mir gegenübertreten, mich bekämpfen muß!“

„Glauben Sie etwa, daß ihn das hindern wird?“ fragte Oskar spöttisch. „Herr Runeck steht jedenfalls hoch über den veralteten Vorurtheilen von Dankbarkeit und Anhänglichkeit, und wer weiß, ob seine Wahl wirklich so aussichtslos ist. Seit Monaten ist er da draußen in Radefeld, jeder Aufsicht entzogen, und hat ein paar hundert Arbeiter zur Verfügung. Die wird er sich ohne Zweifel gesichert haben, und jeder einzelne wirbt ihm zehn, zwanzig Stimmen bei den Kameraden hier in Odensberg. Er wird die Zeit gut benutzt haben.“

Dernburg gab keine Antwort, aber sein Schritt wurde immer heftiger, seine Miene immer drohender, während Wildenrod fortfuhr: „Und diesen Menschen haben Sie mit Wohlthaten überschüttet! – Er dankt Ihnen seine Erziehung, seine Ausbildung, alles, was er ist. Sie gaben ihm eine Stellung, – um die ihn sämtliche Beamten beneiden, und er benutzt das, um heimlich gegen Sie zu wühlen und Sie hier in Odensberg mit den Stimmen Ihrer eigenen Leute zu schlagen.“

„Halten Sie das etwa für möglich?“ fragte Dernburg mit Schärfe. „Ich denke, wir brauchen uns darum keine Sorge zu machen.“

„Hoffentlich nicht, allein es wird wenigstens versucht werden, und schon das ist genug. Bis zu diesem Augenblick hat Runeck wohlweislich geschwiegen, obwohl ihm seit Monaten bekannt sein mußte, um was es sich handelte. Oeffnet Ihnen das endlich die Augen über Ihren Günstling ober glauben Sie meiner Nachricht noch immer nicht?“

„Nein! Uebrigens wird mir Egbert Rede stehen.“

„Weil er muß! Das wird eine böse Stunde, auch für Sie, denn ich sehe, wie schon die bloße Möglichkeit Sie erregt, und doch –“

„Gehen Sie, Oskar!“ unterbrach ihn Dernburg finster. „Egbert kann jede Minute kommen, und wie die Unterredung auch ausfallen mag, ich will ihn allein sprechen.“

Er reichte dem Freiherrn die Hand, und dieser ging; ein stolzer leidenschaftlicher Triumph blitzte aus seinen Augen, als er durch die anstoßenden Zimmer schritt. Endlich hatte er den Fuß auf den Boden gesetzt, wo er künftig Herr sein wollte, alleiniger Herr, wenn der jetzige Gebieter von Odensberg die Augen schloß. Erich räumte ihm freiwillig das Feld, wenn er mit seiner Gattin in die Ferne zog und sich dort der Heimath ganz entfremdete. Jetzt konnten sie zur Wahrheit werden, die stolzen Träume von Macht und Reichthum, und daneben erblühte ein holdes nie gekanntes Glück! Noch eine kleine Weile, dann war das heiß ersehnte Ziel erreicht und die Vergangenheit ausgelöscht und begraben!

Wildenrod betrat eben das Vorzimmer, als die Thür desselben sich öffnete und Egbert Runeck ihm gegenüberstand. Er that unwillkürlich einen Schritt zurück, auch Runeck stutzte und blieb stehen. Er sah es, daß der Freiherr an ihm vorüber wollte, aber er verharrte auf der Schwelle, als wollte er den Ausgang wehren. Einige Sekunden lang maßen sie sich so Auge in Auge, dann fragte Oskar scharf: „Haben Sie mir etwas zu sagen, Herr Runeck?“

„Für jetzt – nein,“ versetzte Egbert kalt. „Vielleicht später.“

„Es ist nur die Frage, ob ich dann Zeit und Neigung haben werde, Sie anzuhören.“

„Ich glaube, Sie werden Zeit haben, Herr von Wildenrod.“

Die Blicke der beiden Männer kreuzten sich, der eine sprühend in wildem tödlichen Haß, der andere voll finsterer Drohung; dann sagte Oskar hochmüthig: „Einstweilen ersuche ich Sie, den Weg freizugeben, Sie sehen, daß ich hinaus will.“

Runeck wich langsam zurück und gab die Thür frei. Wildenrod schritt an ihm vorüber, und wieder spielte jenes höhnische triumphierende Lächeln um seine Lippen. Nun fürchtete er die Gefahr nicht mehr, die bisher dunkel wie eine Wetterwolke über seinem Haupte gehangen hatte. Wenn sein Gegner jetzt auch sprach, so fand er kein Gehör mehr. Die „böse Stunde“, die sich da drinnen vorbereitete, mußte den Feind für immer vernichten!

(Fortsetzung folgt.)




Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Die Herstellung echter Edelsteine.
Von C. Falkenhorst.

Die Kunst, Edelsteine nachzuahmen, ist uralt; in alten keltischen Gräbern fand man Rubinglas, welches zum Schmuck und Talisman anstatt echter Edelsteine benutzt wurde. Heute nach vielen vielen Jahrhunderten blüht die Kunst des Nachmachens und des Fälschens der Edelsteine in noch höherem Maße; aber sie genügt nicht mehr den anspruchsvoll gewordenen Kindern der Neuzeit. Die große Künstlerin Natur, die in ihrem Schoße die funkelnden klaren und harten Edelsteine gebildet hat, geizt mit ihren Gaben; sie hat die schönen Kleinodien nur spärlich hier und dort ausgestreut. Aber der Mensch, welcher der Natur schon so viel abgelauscht hat, kam auf den Gedanken, auch auf diesem Gebiete mit der Meisterin zu wetteifern, in seinen Krügen und Schmelztiegeln echte Edelsteine herzustellen, echte Edelsteine, die von den natürlichen sich durch nichts unterscheiden, ihnen wie ein Wassertropfen dem andern gleichen.

Und unsere Steinkundigen waren in dieser Beziehung glücklicher als die Alchimisten und Goldmacher vergangener Jahrhunderte. Es ist ihnen gelungen, eine ganze Anzahl von Edelsteinen, die den natürlichen durchaus ebenbürtig sind, herzustellen und die Zeit ist vielleicht nicht mehr fern, in welcher die chemischen Mineralogen zu Gründern von Fabriken werden, aus welchen den Edelsteinsuchern eine bittere Nebenbuhlerschaft erwächst.

Aber abgesehen von diesen Aussichten, die dem Besitzer so manchen Familienschatzes unruhige Stunden bereiten könnten, sind diese Arbeiten auch von rein wissenschaftlichem Standpunkte aus so bedeutungsvoll, [187] eröffnen sie so tiefe Einblicke in die geheimen Werkstätten der Natur, daß eine kurze Schilderung der Kunst, Edelsteine herzustellen, sicher auch in weiteren Kreisen Interesse erwecken dürfte.

Das Material, aus welchem die Edelsteine bestehen, ist an und für sich werthlos. Da schillert und funkelt der geschliffene Diamant, wird je nach seiner Größe mit Hunderten und Tausenden bezahlt – und doch besteht er in Wirklichkeit aus Kohlenstoff, aus demselben Kohlenstoff, der auf der Erde uns in mächtigen Graphitlagern entgegentritt oder den wir aus einer rußenden Flamme darstellen können. Aber in dem Diamanten hat dieser Kohlenstoff ein besonderes Gefüge, er hat in ihm eine besondere Krystallform angenommen, und diese verleiht ihm den hohen Werth. Oder betrachten wir den prachtvollen Rubin; er besteht aus Aluminiumoxyd, aus der gemeinen Thonerde, die als Lehm einen so großen Theil des Erdreichs ausmacht. Aber im Rubin tritt uns dieser gewöhnliche Stoff in der edleren Krystallform entgegen. Aehnlich verhält es sich mit den anderen Edelsteinen; wir brauchen nur ganz billige, nahezu werthlose Stoffe in Krystalle umzuwandeln, und es ist uns alsdann die Kunst, echte Edelsteine herzustellen, gelungen. Aber diese Kunst ist nicht so leicht, denn die Stoffe, die hier in Frage kommen, krystallisieren nur unter besonderen, schwer zu erreichenden Bedingungen.

Wie entstehen denn nun Krystalle? Aus der festen formlosen oder „amorphen“ Masse bilden sie sich nicht. Aus pulverisiertem Alaun können wir keine Krystalle bilden, wenn wir das Pulver zusammenpressen. Wir müssen zuerst das Pulver in heißem Wasser auflösen, alsdann kristallisiert der überschüssige Alaun beim Erkalten der Lösung aus dieser heraus. Das ist der eine Weg zur Bildung von Krystallen. Ferner entstehen sie, wenn wir verschiedene Stoffe verdampfen und die Dämpfe in kühleren Röhren auffangen; dann bedecken sich die Flächen der Röhren mit kleineren oder größeren Krystallen des verdampften Stoffes; wir nennen diesen zweiten Vorgang „Sublimation“. Endlich können wir Massen zum Krystallisieren bringen, indem wir sie durch Hitze schmelzflüssig machen; lassen wir sie dann langsam abkühlen, so bilden sich in der erkaltenden Masse Krystalle.

Die Mineralogen haben die drei bezeichneten Wege zur Herstellung von Edelsteinen benutzt und auf allen dreien Erfolge erzielt; aber aus wässerigen Lösungen konnten nur sehr kleine, fast mikroskopische Krystalle gewonnen werden, da sie hier ungemein langsam wachsen. Die Natur ließ sie im Laufe von Jahrhunderten auf diese Weise sich bilden, dem kurzlebigen Menschen stehen solche Zeiträume nicht zur Verfügung. Auch auf dem Wege der Sublimation konnte man bis jetzt nur winzige Krystalle erhalten. Edelsteine von einer Größe, daß man sie schleifen konnte, wurden nur durch den Schmelzfluß erzielt.

Doch wir wollen die Art der Herstellung an einem Beispiel erläutern:

Die größten Fortschritte hat man bis jetzt in Laboratorien in der Erzeugung des Korunds gemacht. Der Korund ist nach dem Diamanten der härteste und werthvollste Edelstein. Er kommt in verschiedenen Arten vor, von denen der Rubin mit rother und der Saphir mit blauer Grundfarbe die wichtigsten sind. Der Korund besteht seiner Zusammensetzung nach aus Thonerde, welcher noch winzige Mengen färbender Substanzen beigemengt sind. Die ersten Versuche, diesen Edelstein künstlich zu gewinnen, gehen bis in das Jahr 1839 zurück. Aber erst nach jahrelangen Bemühungen gelang es Frémy in Paris, Korunde, namentlich Rubine herzustellen, die so groß waren, daß man sie schleifen und aus ihnen einen Schmuck herstellen konnte.

Reine Thonerde schmilzt in unseren Oefen nicht; erst wenn sie mit verschiedenen Flußmitteln wie Mennige, Fluorcalcium etc. vermengt wird, wird sie bei niedrigeren Temperaturen flüssig. Frémy fand nun die passende Mischung heraus, setzte noch etwas färbendes Material in Gestalt des chromsauren Kali zu, hielt 50 Liter dieser Masse acht Tage ständig in einer Temperatur von + 1500° C, und siehe da, es krystallisierten sich bei langsamem Abkühlen schleifwürdige, einige Millimeter große Krystalle heraus, von denen die meisten rothe Färbung zeigten, also Rubine waren, während einige andere blau aussahen und sich als echte Saphire erwiesen. Sie zeigten sich bei der sorgfältigsten sachverständigen Untersuchung den natürlichen Rubinen und Saphiren durchaus gleichwerthig; nur bei der Prüfung im Spektroskop konnten geringfügige Unterschiede wahrgenommen werden, die wahrscheinlich darauf zurückzuführen sind, daß die färbenden Stoffe bei den natürlichen Edelsteinen anders beschaffen sind.

Ein anderer Edelstein, der Smaragd, hat eine verwickeltere Zusammensetzung; auf 100 Theile seiner Masse kommen 67 Theile Kieselsäure, 19 Theile Thonerde und 14 Theile Beryllerde; außerdem enthält er noch winzige nicht meßbare Spuren eines Färbemittels, welches ihm die grüne Farbe verleiht. Indem nun Hautefeuille, ein französischer Mineralog, die oben erwähnte Mischung unter Zusatz eines entsprechenden Flußmittels schmolz und ihr als Farbstoff Chromoxyd zusetzte, erhielt er ziemlich durchsichtige, sehr schön tiefgrüne Smaragdprismen von mehreren Millimetern Dicke.

Auch der Spinell, von welchem namentlich die lichten und rothen Formen besonders hoch geschätzt werden, wurde in 3 bis 4 mm dicken Krystallen von Ebelman hergestellt. Die Mischung bestand aus reiner Thonerde und Magnesia, den Bestandtheilen dieses Edelsteins, denen als Flußmittel Borsäure zugesetzt wurde, während als Färbemittel Chrom benutzt wurde.

Die Herstellung der anderen weniger werthvollen Edelsteine und Halbedelsteine hat nur ein theoretisches Interesse, da man sie in der Natur häufig findet und sie nicht hoch im Preise stehen. Manche von ihnen, wie z. B. der blaue Türkis, sind nicht einmal Krystalle, sondern werden nur aus festen undurchsichtige Mineralmassen herausgeschliffen. Die Herstellung des echten Türkises ist darum auch sehr leicht, und so befinden sich wohl viele künstliche Türkisen im Umlauf, die man für natürliche ausgiebt, während man andererseits natürliche für künstliche gehalten hat.

Eine praktische Tragweite hat augenblicklich die Herstellung echter Rubine in Laboratorien. Der Rubin ist einer der werthvollsten Edelsteine; in früheren Jahrhunderten wurde er sogar weit besser als der Diamant bezahlt, und der berühmte Goldschmied des 16. Jahrhunderts Benvenuto Cellini schätzte das Karat (etwa 1/5 g) des schönsten Rubins auf 300 Scudi (nach unserem Gelde etwa 1260 Mark, das des Diamanten nur auf 100 (420 Mark). Heutzutage sind zwar die Rubinpreise nicht ganz fest, aber immerhin werden fehlerfreie schöne karminrothe Rubine theurer als Diamanten bezahlt, insbesondere Steine von 3 Karat aufwärts. Die Rubingrubenkompagnien möchten wohl gern die Preise noch höher hinaufschrauben, aber wie Prof. Dr. C. Doelter in seiner soeben erschienenen „Edelsteinkunde“[1] (Leipzig, Verlag von Veit u. Co.) treffend bemerkt, werden sie daran durch die Entdeckungen Frémys gehindert, denn bei einem höheren Preise als dem jetzigen würde die Anfertigung künstlicher Rubine lohnend erscheinen und sich zur Industrie ausbilden können. Und vielleicht ist dies bereits der Fall. Im Jahre 1885 tauchten nämlich im Handel schöne karminrothe Rubine auf, welche eine beträchtliche Größe hatten und sowohl in Bezug auf Härte als auf Dichte sich den natürlichen vollkommen ebenbürtig erwiesen, nur bei der Untersuchung auf spektroskopischem Wege ein verschiedenes Verhalten zeigten. Zuverlässiges ist über diese Steine nicht in die Oeffentlichkeit gedrungen; sie werden angeblich in Genf fabriziert und unter dem Namen „rubis réconstruits“ billiger als natürliche Rubine verkauft. Jedenfalls sind es Kunsterzeugnisse, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie nach dem Frémyschen Verfahren hergestellt werden.

Wir haben aber bis jetzt von dem König der Edelsteine, vom Diamanten, geschwiegen. Ist es möglich, ihn künstlich zu erzeugen? Viele haben sich bereits gerühmt, dieses Kunststück vollbracht zu haben, aber die nachfolgende Kritik hat ihnen das Verdienst abgesprochen. Nun kommt wieder aus Paris die Kunde, daß dort im Laboratorium echte Diamanten dargestellt worden sind. Betrachten wir die Sache näher!

Den Mineralogen, die Edelsteine und Felsarten herzustellen suchen, ist neuerdings in der Elektricität ein kräftiger Bundesgenosse erwachsen. Die größte Hitze, welche man bis dahin in Laboratorien herstellen konnte, lieferte das Knallgasgebläse, die Flamme, die durch Verbrennen des Wasserstoffs in reinem Sauerstoff erzeugt wird; man schätzt ihre Leistung auf etwa + 2000° C. Sie wird bei weitem übertroffen durch die Gluth des elektrischen Lichtbogens, die Professor Violle in Paris kürzlich vermittelst sinnreicher Apparate und Berechnungen gemessen und etwa + 3500° C hoch gefunden hat. Mit dieser Hitze läßt sich sicher mehr erreichen. In der That hat ein anderer Pariser, der Chemiker Moissan, gegen das Ende vorigen Jahres einen elektrischen Schmelzofen konstruiert, der bei ganz einfacher Bauart eine Hitze von + 3000° C zu liefern imstande ist. In dieser Gluth schmilzt alles, was irgendwie schmelzbar ist. Man braucht keine Flußmittel; Magnesia, Thonerde schmelzen augenblicklich. Moissan konnte von seltenen Metallen, wie z. B. Uran, von denen man nach den bisherigen Methoden nur ganz dünne und leichte Blättchen darzustellen vermochte, Klumpen von 120 Gramm Gewicht auf einen Schlag herstellen. Aus diesem Schmelzofen sind auch Steine hervorgegangen, die Moissan für Diamanten hält.

Seit langer Zeit wissen wir, daß schmelzendes Eisen und andere geschmolzene Metalle Kohlenstoff auflösen, ähnlich wie das Wasser den Alaun. Kühlt sich das Eisen ab, so krystallisiert aus ihm der Kohlenstoff heraus, aber diese Krystalle sind unter gewöhnlichen Umständen keine Diamanten. Der Kohlenstoff krystallisiert nämlich in zwei Systemen, in dem oktaëdrischen, und dann heißt er Diamant, oder in dem hexagonalen, und dann bildet er den Graphit. Wenn das Eisen in unseren Hochöfen erkaltet, so krystallisiert der Kohlestoff als Graphit heraus. Nun beträgt die Dichte von Graphit etwa 2,0, d. h. er ist etwa zweimal so schwer wie das Wasser, die Dichte des Diamanten aber 3,5. Moissan kam also auf den schon von anderen früher ausgesprochenen Gedanken, den Kohlenstoff in schmelzenden Metallen, namentlich Eisen und Silber, aufzulösen und ihn dann unter einem hohen Drucke auskrystallisieren zu lassen, die Kohlenstoffmasse sozusagen dichter zu machen. Diesen Druck erzielte er mit Hilfe des elektischen Schmelzofens auf besonderen Umwegen, auf die wir hier nicht eingehen können. Er erhielt in der That winzige Kryställchen, welche annähernd die Dichte des Diamanten zeigten, den Rubin ritzten und in Sauerstoff zu Kohlensäure verbrannten; aber nur wenige waren durchsichtig, die meisten zeigten schwarze Farbe, sodaß sie vermuthlich die Diamantvarietät darstellten, die man „Carbonado“ nennt. Die gewonnenen Mengen dieser Edelsteine sind so gering, daß man eine zuverlässige, über jeden Zweifel erhabene chemische Prüfung nicht ausführen konnte. Immerhin bedeuten die Versuche Moissans mindestens einen Schritt vorwärts zur Lösung der so schwierigen, seit vielen Jahren versuchten Aufgabe. Eine praktische Bedeutung kommt ihnen vorläufig nicht zu; das bißchen Diamantenpulver kostet Moissan mehrere Tausend Franken. Es besteht also noch keine Gefahr, daß die Diamanten allzu gemein würden.

Wie dem auch sei, das, was bis jetzt auf diesem Wege sicher erreicht wurde, schließt schon einen gewaltigen Fortschritt in sich; die Herstellung echter Edelsteine wird für immer einer der „brillantesten“ Triumphe des menschlichen Geistes bleiben.


  1. Wir möchten dieses Werk, welches im Gegensatz zu den bisher erschienenen Schriften über Edelsteine weniger die Geschichte und den Handel, dagegen in gründlicher Weise die Naturwissenschaft berücksichtigt, allen denjenigen empfehlen, die für Edelsteinkunde Interesse haben.




[188]

Herr Albrecht.
Eine Ostergeschichte aus dem Ende des 12. Jahrhunderts.
Von Stefanie Keyser.
Illustriert von A. Zick.

Es waren schon ein paar Jahrhunderte verflossen, seitdem die ersten Sendboten des Christenthums das Kreuz aufgepflanzt hatten in den Bergen, die wie langgestreckte Wälle zwischen Harz und Thüringer Wald sich hinziehen.

Gleich tapferen Kriegern hatten sie dafür die gefährlichsten Stätten gewählt. Wo ein heidnisches Heiligthum stand – eine alte Eiche, mit Pferdeschädeln behangen, ein Steinaltar am rauschenden Quell – hatten die Bekehrer den Kampf mit den herrschenden Göttern aufgenommen.

Auch von dem hohen Berge, der als Wetterscheide zwischen lieblichen Thälern und waldigen Hügeln aufragt und der Verehrung Ostaras, der holden Frühlingsgöttin, geweiht war, hatten Benediktinermönche Besitz ergriffen, das heidnische Völkchen, das darum saß, in väterliche Zucht genommen und auf der höchsten Kuppe des Berges eine Kapelle gebaut zur Ehre „Unserer lieben Frau“. Da war, wie das Volk sich zuraunte, die entthronte Ostara in den Berg geschlüpft, im Schwanenhemd, um drinnen auf einem See dem Weltuntergang entgegen zu träumen.

Mit den kleinen Unholden, die Wald und Feld bevölkern sollten, machten die frommen Väter geringere Umstände. Leicht war das Nixchen zu schrecken, das im Thale nach Süden einen Bach bewohnte, den ein Espenwäldchen überwölbte und der „Bebra“ hieß. Die Mönche stifteten mitten in den zitterigen Bäumen über den quirlenden Wellen und quabbeligen Fischschwänzen St. Margarethen ein Heiligenhäuschen und bestellten einen festen Bruder zum Kampfe mit dem bräunlichen Greuel, zum Schutze für das fröhliche Fischervölkchen, das im freundlichen Dorfe dort wohnte und der Forellen und Schmerle genoß. Und gegen den Wilden Mann, der das starke schwarzhaarige Volk heimsuchen sollte, das am nördlichen Fuße des Berges über fruchtbaren aber oft voll Ueberschwemmungen heimgesuchten Boden in hochbeinig auf Stöcken stehenden Häusern wohnte; setzten sie nur einen Bildstock; denn Riesen waren dumm und leicht zu schlagen.

Zu ihrem eigenen festen Sitze erkiesten die Benediktiner die fruchtbare Südseite des Berges. Sie wandelten das Schloß, das einst ein Kaiser errichtet und zum Andenken an guten Kampf Jechaburg, das ist Siegburg, genannt hatte, in ein Kloster um und erbauten eine große Kirche, für welche sie St. Peter als Schützer wählten.

Die schmiegsame Art der Thüringer fand sich bald in die neuen Verhältnisse. Und wenn sie auch murrten, da die heiligen Misteln all den Bäumen ausgereutet wurden – als dann auf den Holzäpfel- und Feldbirnbäumen die edlen, von den frommen Vätern darauf gepfropften Reiser süßes Obst trugen, lobpreisten sie. Sie folgten dem Rufe der Glocken, lernten christliche Zucht und Sitte, thaten geforderte Arbeit und brachten geheischte Abgaben dafür, daß die Verkünder der neuen Lehre ihnen einen Platz im Himmel vorbereiteten.

[189] Später wurde das Klösterlein in ein Chorstift umgewandelt, das zu Ende des zwölften Jahrhunderts weite Länderstrecken besaß, zwölf Altäre in der Runde bediente, die Seelen bis in die Ewigkeit hinein beherrschte.

Nur einmal im Jahre zerriß das Volk die angelegten Zügel. Das war um die Zeit, wo dereinst der holden Ostara höchstes Fest, die Frühlingsfeier, gehalten wurde. Wie dann der Saft in den röthlich sich färbenden Baumzweigen aufstieg, so schien das Blut der Gaugenossen rascher zu fließen; mit den kleinen Blumen, die aus der allmählich sich erwärmenden Erde herausschlüpften, erwachten uralte Erinnerungen, verpönte Mißbräuche wurden geübt, bis endlich am Osterfest die Unbändigkeit ausbrach. Vor Thau und Tag ergaben sich Jünglinge, und Mädchen dem heidnischen Quellendienst, und wenn der Abend kam, dann brachten sie das andere Element, das Feuer, zu Ehren. Mit brennenden Holzfackeln ging’s dem alten Heiligthum zu. Gott allein wußte, woher plötzlich ein Reisighaufen auf die Spitze des Berges kam und eine mächtige Flamme von ihm emporschlug.

„Stab aus!
Brennt dem Winter die Augen aus!“

tönte der rauhe Sang zum wilden Reigen. –

Wieder einmal war Ostern im Anzug und mit dem hohen Feste die Sorge des Stiftes um die ihm untergebene Herde.

Es war nicht der warme Sonnenschein allein, der die Stirn des Chorherrn Cölestin röthete, als er heimkehrte von den Arbeitern, die ein Dornenfeld ausrodeten, um einen Weinberg anzulegen. Mit großen Schritten wandelte er über den Hof, den die Häuser der Chorherren und das Schulgebäude umschlossen, alle geistlichen Brüder aufscheuchend und sich nachwinkend nach dem Gemach des Propstes.

Herr Burchard saß auf seinem hohen schön geschnitzten Stuhle und schlug beim Eintritt der erregten Chorherren das mächtige Buch zu, in dem er gelesen hatte. Auf einem Bärenfell ruhten seine Füße; denn der Steinboden hauchte noch Kühlung aus, so hell auch die Sonne in den Edelsteinen blitzte, mit denen der Einband des Buches verziert war.

„Trage keinen Zorn ob des Einbruchs in Deine Beschaulichkeit,“, sagte Cölestin, „aber Eile thut noth. Als ich bei den ersten Häusern unseres Ortes Jechaburg ankam, hockte bei Reinald, dem Vogelsteller, der zahme Star in der Fensterluke und sang ganz deutlich: ‚Stab aus!‘ Hinter ihm stand der unnütze Tagedieb, umgeben von leichtfertigen Finken und Zeisigen, und lachte. Aber als er mich erschaute, zog er den Star an seinem Schwänzlein hinein und hielt ihm den Schnabel zu.“

Thietmar, der als Oberster über die Wirtschaftsrechnungen des Chorstiftes gesetzt war, nickte bedenklich. „Die Knechte, welche den Zins an Ostereiern in den Stockhäusern einsammeln, haben erzählt, der finstere Kühnrich sitze auf seinem Wassersteg und schnitze ungeheuerliche Stäbe aus harztriefendem Kiefernholz; viel zu dünn däuchten sie ihnen, um Häuser damit zu stützen.“

Jetzt ging auch dem tapferen Michael, der eben vom Dienste in St. Margarethen zurückkam, ein Licht auf. „Darum legte Hiltebold, dem die Mühle an der Bebra eignet, Schrittsteine durch Wasser und Schlamm bis an den Bergesfuß. Sie planen, nächtlicherweile herüber an unseren Quell zu schleichen, um ihren Unfug mit Osterwasser zu treiben. Denn fest sitzt in ihren störrischen Köpfen der Glaube, der Born fließe aus dem See ab, darauf die teuflische Unholdin Ostara schwimmt.“

Eine Stille der Rathlosigkeit folgte.

Da nahm Hildebrand, der kleinste und feinste Chorherr, das Wort. „Es muß einer von uns hinauf auf den Berg gehen in die Kapelle Unserer lieben Frau und den Bruder Albrecht fragen, ob der keinen Rath weiß. Er ist gelehrt und welterfahren. Was er nicht in seinem Stifte zu Halberstadt gelernt hat –“

„Es munkelt sogar von Liebeshöfen, die sie dort errichtet haben,“ fügte mißbilligend der finstere Josephus ein.

Der Propst wehrte ab: „Klostergeschwätz!“

„– darüber ist ihm am Hofe des Landgrafen Hermann auf der Wartburg gewißlich eine Offenbarung geworden,“ vollendete Hildebrand seine Rede.

„Von den Rosenkränze spendenden Hofjungfrauen,“ seufzte leise der jüngste Chorherr.

„Höfischer Brauch,“ erläuterte Herr Burchard.

Unbewegt fuhr Hildebrand fort: „Und wo er als Chorherr die Augen hätte schließen müssen, da durfte er sie als Minnesänger aufschlagen.“

„Er hat es gewißlich gethan,“ murrte Josephus. „Denn ob es nicht eine selbst auferlegte Buße ist, daß er darauf besteht den Dienst droben bei der Kapelle zu versehen, als Klausner in der engem Zelle daneben zu hausen –“

Der Dekan lächelte spöttisch. „Wie in einer Bußzelle sieht es nicht bei ihm aus.“

Der Propst aber sprach kühl: „Wenn weltliche Erfahrung uns einen guten Rath schöpfen könnte, wäre es thöricht, ihn Nicht zu nützen. Bruder Cölestin, da Dein löblicher Eifer diesen Handel angefangen hat, so bringe ihn auch zu Ende! Hebe Deinen Fuß auf und besteige den Berg!“

Cölestin verneigte sich und maß mit bestürztem Blick die steile felsige Wand, die hinter der hohen Umfriedigungsmauer des Stiftes emporstieg, von der warmen Frühlingssonne überglüht. –

Einen weiten breiten Scheitel trug der Berg. Feine Rasenspitzchen, die frisch emporsproßten, überzogen ihn wie mit grünem Sammet, über welchen Maßliebchen gestreut waren. Der nach aufbrechenden Laubknospen duftende Wald säumte ihn nur an einer Seite; an allen andern fiel er steil ab in die von dem ersten lichten Grün überflogenen Thäler. An den Fuß schmiegten sich traulich die Strohdächer fest umfriedeter Dörfer, und in weiter Ferne schloß den Blick nach Mitternacht der finstere Brocken des Harzgebirges und gegen Mittag der immer zuerst und zuletzt weiß bemützte Schneekopf des Thüringer Waldes.

In der Mitte der sonnigen Rasenfläche erhob sich die Kapelle „Unserer lieben Frau“ mit einem Kreuz auf dem First, einem Glöcklein auf dem Dach. Die hölzernen Läden der Rundbogenfenster waren der Frühlingsluft geöffnet; im leisen Zugwind schwankte die ewige Lampe vor dem Muttergottesbild.

Auch in der kleinen Klause, die sich an das Kirchlein schmiegte, waren Thür und Fenster aufgethan. Die rauhen Steinfliesen des Fußbodens waren mit Wachholderzweiglein bestreut; das schmale Polsterbett in einer Wandnische verschwand fast hinter einem farbenleuchtenden persischen Teppich, der kleine Weihwasserkessel an der Wand war kunstvoll getriebene Metallarbeit, das Kruzifix darüber feine Elfenbeinschnitzerei. In der Ecke lehnte eine reich vergoldete Harfe. Der ungefüge Tisch stand in der Mitte des engen Gemaches. Darauf lagen Griffel, Federn, Pinsel, standen Büchsen mit Tinte und Farbenmuscheln.

Davor saß ein junger schlanker Mann in der Tracht der Chorherren, dem wallenden Linnengewand über rothem Unterkleid. Dicke braune Locken, in welche die Tonsur nur leicht eingeschoren war, umkräuselten die schön gewölbte Stirn; die wie zur Beredsamkeit geformten Lippen öffneten sich über Reihen feingeformter Zähne. Die Hand, welche über das Pergament glitt, war zart und schmal.

Er wußte, warum er in der Einsamkeit hauste. Er wollte sein Versprechen erfüllen, das er dem Landgrafen Hermann gegeben hatte, da er als sein Gast auf der Wartburg weilte. Die „Wandlungen“ des Ovidius wollte er in deutsche Reime übertragen. Ein lockendes Werk, denn noch keiner der eifrig übersetzenden Sänger hatte sich daran versucht.

Aber er kam heute nicht vorwärts. Mit durstigen Lippen athmete er die vom Lenzeshauch erfüllte Luft ein; er lauschte auf den aus dem Walde herüberkommenden Gesang der Vöglein. [190] Seine Augen verloren sich träumerisch in dem klaren Himmel, folgten den eilig dahinsegelnden lichten Wölkchen. Es waren wunderbare Augen. Ihre Farbe schien sich zu wandeln nach dem, was sich darin spiegelte: dem blauen Himmel, dem lustig schimmernden, grünlichen Wald oder der düsteren grauen Zellendecke.

Wie die krausen Blättchen der wilden Rosen hereindufteten! Eia, der Blüthenschnee über dem Schwarzdorn! Warum plagte er sich damit, für die „Erdbeerbäume“ des üppigen römischen Dichters ein deutsches Wort zu finden? Er nahm die beiden heimischen Früchtchen Hagebutten und Schlehen dafür.

Da tönte Gekreisch. Jubelnd kam eine Kinderschar gezogen, barfuß, im rauhen flächsenen Hemd, einen grünen Busch dahertragend. „Wir haben den ersten Maikäfer im Walde gesucht; da ist er!“ Sie hatten dem Käfer einen Faden um ein Beinchen gebunden und ihn damit an den Busch befestigt.

Das konnte Albrecht nicht ansehen. Er legte die Federn nieder, ging zu den Kindern, band den Gefangenen los und ließ die Kleinen so lange „Flieg’ aus!“ singen, bis er davongebrummt war.

Dann nahm er wieder Platz und begann, an den Fingern die Versfüße abzuzählen.

Da schob sich plötzlich ein großer Strauß blauer Leberblümchen und weißer Frühlingssterne zwischen ihn und den Blick auf die grüne Bergfläche, und eine helle Stimme fragte: „Wer ist’s, ehrwürdiger Vater?“ lachend, als machte die Fragende sich lustig über die Anrede.

Auch der junge Chorherr lächelte. „Die Finger sind braun und schlank wie Schmerlchen – es ist die Fischerin Irmelein aus Bebra. Komm herein, mein Kind!“

Ein junges Mädchen mit einem Köpfchen braun wie eine Haselnuß schlüpfte in die Klause. „Errathen! Wir jungen Mägde sind in den Wald gegangen und holen zum Osterschmuck der Stiftskirche Epheu und Moos. Da bringe ich für Unsere liebe Frau auch einen Strauß.“

Er warf einen prüfenden Blick darauf. „Sind auch die Maiblumen dabei, die Du so sorglich den ganzen Winter gepflegt hast, damit sie zum heiligen Osterfest blühen sollten?“

Die Maiblumen fehlten; er hatte es gleich gewußt. Die Lieblingsblumen Ostaras sollten der Göttin geopfert werden beim Schöpfen des Osterwassers. Er hob drohend den Finger.

Irmeleins Blick wischte seitwärts durch das offene Kirchenfenster zu dem Bilde der Gottesmutter hin. „O, sie wird darum nicht ihr Angesicht von mir wenden,“ bat sie in weichem aber lautem Tone, daß es bis in die Kapelle schallte. „Sie ist so gut und mild. Ich habe daran gedacht, was sie gern mag. Seht, da sind Himmelsschlüssel, mit denen sie den Himmel aufthut, und eine Marienthräne. Gleicht sie nicht einer rosenrothen Aehre? Es ist die erste weit und breit. Ein Marienkühchen sitzt darauf, das Käferlein, dem Unsere liebe Frau hold ist.“ Es war klar, sie wollte die heilige Jungfrau überreden, daß sie auf die Maiblumen verzichtete.

Da tönte der Pfiff einer Amsel vom Walde her. Irmelein horchte auf und wandte sich um.

„Wohin willst Du?“ fragte er.

Ihr Gesichtchen wurde trübe, als flögen Wolkenschatten über die Sonne. „Es ist Reinald. Ach, wir müssen uns im Walde verstecken. Und wir gehören doch zusammen. Die Fischerin und der Vogelsteller sind beide leichtes Volk, das auf den Wellen schwimmt und in der Luft hängt. Aber die jungen Gesellen in Bebra sind dem Jechaburger ganz aufsässig, verstören ihm die Sprenkel, die Schlingen und bedräuen ihn, sie wollen ihn in den Bach werfen. Als er diesen Winter einen schönen Eisvogel gefangen hatte da riß ihn Hiltebold, der Müller, an sich und hat sich eine Haube davon, machen lassen.“

Wieder ein Amselruf. Sie nickte mit dem Köpfchen muthwillig nach dem Walde hin. „Pfeife nur! Ich weiß gar wohl: nach den klugen Vöglein, die am längsten sich vor den Leimruthen hüten, steigst Du am eifrigsten.“ Dann flüsterte sie Albrecht vertraulich zu: „Ehrwürdiger Vater, legt den Strauß und Eure Fürbitte Unserer lieben Frau zu Füßen.“

Noch einmal beschaute sie sich in dem Spiegelein, das sie an der Seite trug. Reinald hatte es bei der Domina in Münchelora gegen einen Dompfaffen eingetauscht, der schöne Tanzweisen pfiff. Sie strich sich die Ringellöckchen aus der Stirn und verschwand nach dem Walde zu.

Albrecht stützte das Haupt in die Hand, die Gedanken zu sammeln.

Lautes Schluchzen tönte aus der Kirche herüber, das Weinen eines Weibes. Gerade das konnte Albrecht nicht hören. Abermals stand er auf und trat in die Kirchenpforte.

Vor dem Altar kniete eine schlanke Mädchengestalt, das Gesicht in die gefalteten Hände gedrückt. Zwei lange gelbe Zöpfe fielen bis auf den Saum des aus weicher Lämmerwolle selbst gesponnenen und gewebten Rockes herab. Es war Gotelinde, die tugendreichste Maid von Jechaburg.

„Was bedrückt Dich so schwer, meine Tochter?“ fragte er sanft.

Sie erhob sich und kam schluchzend zu ihm heran. „Ach, ich mußte mein Herz einmal ausschütten, und St. Peter unten versteht solcherlei Dinge nicht recht. Da bin ich zu Unserer lieben Frau gegangen.“

Er nickte ihr ermuthigend zu. „Nun, so erzähle! Die heilige Jungfrau hört es auch von hier aus.“

Sie trocknete die Augen ab. „Der schwarze Kühnrich aus den Stockhäusern unten hat mir immer alles zu Liebe gethan. Wenn er seine Abgaben vom Korn dem Stiftsmeier brachte, dann legte er mir einen Kuchen aus Weizenmehl auf das Fensterbrett oder setzte eine bunte Ente in den Hof. Aber die jungen Gesellen in unserem Jechaburg, wollen keinen Fremden dulden. In diesem Jahre fand ich das erste Veilchen hart an dem Grenzstein unserer Fluren. Ich rief und winkte nach beiden Seiten. Unsere Bauern liefen von den Aeckern herbei, die Spielleute kamen, und wir hoben den Reigen um das Veilchen an, wie es aller Brauch ist. Auch Kühnrich kam und wollte neben mich in den Ringelreihen treten. Da quakte Reinald, der Vogelsteller, wie ein Frosch – Ihr wißt, die Stockhäuser stehen im Sumpf – und die jungen Burschen aus Jechaburg fielen über Kühnrich her. Er ist ja stark wie ein Wolf; aber es waren ihrer zu viele, und sie stürzten ihn hinab. Das arme Veilchen, das so bescheiden aus seinem Moosbettlein lugte, hatten sie zertreten. Und als ich Klage führte bei unserem Dekan, da schalt er über die Abgötterei, die wir mit einer Blume trieben. Mein Vater aber lachte, daß Reinald [191] gequakt hatte. Und wir könnten doch für unser Gartenland im Kirchthal so gut ein Paar tüchtiger Arme brauchen.“

Albrecht sah mitleidig auf das jammernde Mädchen.

In die Stille tönte ein rauhes Getute von dem mitternächtlichen Absturz des Berges. Siie fuhr empor. „In den Stockhäusern blasen sie den ersten Storch an! Das ist gewiß Kühnrich!“ Und sie rannte an den Rand des Abhangs, riß unziemlich ihr Kopftüchlein ab und winkte mit aller Kraft.

„O weh über die sittigste Jungfrau von Jechaburg!“ sagte Albrecht lachend für sich. „Aber wer hackt da Holz an meinem Herde?“

In seiner Klause stand an der Feuertätte eine junge Magd von kräftigem Wuchs, starken schwarzen Haaren und ebenso dunklen Augen. Sie hatte Feuer angezündet, und blies in die Flammen. „Ich back’ Euch einen Kuchen aus den neunerlei heilkräftigen Kräutern, den Ihr Gründonnerstag essen müßt,“ sagte sie. „Bachbungen und Brunnenkresse habe ich mitgebracht, Gierenkraut, Lauch, Sauerampfer unterwegs gesammelt, Schlüsselblumen, Frauenmantel und junge Nesseln hier oben gepflückt.“ Sie eilte hinaus und streifte vom Hollunderbaum an der Thür eine Handvoll Blattknospen dazu.

„Und was soll ich für Deinen heilsamen bitteren Kuchen leisten, Elsemuth?“ fragte Albrecht und sah behaglich zu, wie ihre flinken Finger die Pfanne auf das Feuer stellten, aus einem Krüglein Oel hineingossen, Eier dazu schlugen, die Kräuter zerschnitten.

Ohne die Augen von dem sich bräunenden Gebäck zu wenden, fuhr, sie fort: „Macht doch Einmal die Sache Unserer lieben Frau ordentlich klar. Er, ich meine der Müller Hiltebold, kann ein tüchtiges Weib brauchen, das ihm die Mühle stellen hilft. Im Wasser herumsteigen bin ich gewöhnt. Unser Stockhaus steht am tiefsten Sumpf. Und ich vermag auch das Volk im Zaum zu halten, das bei ihm die liebe Feldfrucht und Eicheln mahlen und Oel aus Bucheckern schlagen läßt. Ich will schon ein scharfes Auge haben, daß wir unserer Abgaben nicht verlustig gehen. Und dann treibe ich Handel mit dem feinsten Mehl, dem klarsten Oel, mäste Schweine und Gänse. Wir werden reiche Leute. Aber er ist zitterig wie die Bebra und ihr ganzes Ingesinde an Forellen und Schmerlen, wagt sich nicht in unser Gehege, streicht mit seiner schönen Haube nur von weitem daran vorüber, weil der wilde Kühnrich gesagt hat, er wolle ihm Arme und Beine entzwei schlagen. wenn er unseren Boden betrete. Unsere liebe Frau muß ihm das Herz stärken, daß er ehrlich wirbt. Alsdann will ich schon mit meinen Leuten fertig werden.“ Sie ballte die starken Hände.

Der Kuchen war gar. Sie schob ihn auf eine Schüssel.

Plötzlich ging ihr Blick hinab in das Thal. „Dort schleicht er unter den Bäumen an der Bebra entlang – er sucht mich; ich muß hinab.“ Und heidi! ging’s stracks den steilen Abhang gerade hinunter.

„Wunderbar, daß auf solchen Wegen selten die Hälse gebrochen werden!“ sagte Albrecht. „Aber sind die Dorfsprentzeln nicht wie die Gockel auf ihren Höfen? Aufgeblasen stolzieren sie, wollen allein im Korbe sitzen und hacken auf jedes arme fremde Hühnlein eifersüchtig wüthend ein.“

Und da die Sonne im Mittag stand, zog er die Glocke. Behaglich verzehrte er dann sein Mahl, das der Schaffner des Stiftes durch einen Küchenjungen heraufgeschickt hatte, der Fastenzeit gemäß einen gebratenen Fisch und eine aus süßem Teige gebackene Biene, mit Honig gefüllt.

Nun ging’s wieder an das lustige Versedrechseln.

Wuchtige Schritte näherten sich der Klause. Die rundbogige kleine Thür verdunkelte sich: Cölestin erschien mit Gepuste, den Schweiß von der Stirn trocknend, und bot brüderlichen Grüß. Neugierig überflog sein Blick die Blätter, die auf Bank und Schemel herumlagen und deren schön ausgemalte Zeilen wie Prozessionen erschienen, über welchen purpurrothe und blaue Fähnlein flatterten. Aber plötzlich hielt sein Blick an. Aus einem mächtigen O schaute wie aus einer Grotte ein Mädchenkopf, mit bräunlicher Farbe gemalt.

„Ist das nicht –“

„Eine Wasserholde,“ schnitt Albrecht seine Rede ab.

„Aber soll das ein J sein? Scheint es nicht eine hochgewachsene Jungfrau mit azurblauen Aeuglein? Und wie viel Gold hast Du an die Zöpfe verschwendet!“ nörgelte Cölestin.

„Eine Waldfei ist’s!“ erklärte Albrecht. „So habe ich die Nymphen und Sylvanen übersetzt, die in dem Sange des Ovidius vorkommen. Dahin gehört das alles.“

„Auch das U, welches als Herd einer Kreatur dient, schwarz wie die Heerscharen der Hölle?“

Albrecht schob ungeduldig das Blatt fort, darauf er im Gedankenspiel nach Tische gemalt hatte. „Das wird ein Gezwerg. Denn was wissen die Deutschen von den Faunen und Satyrn, die in den Wäldern des feinen Römers hausen?“

Cölestin schüttelte den Kopf. „Bruder Albrecht, fliehe die Versuchung!“

Der lächelte. „Die Versuchungen banne ich alle auf das Pergament; da können sie mir nichts anhaben, Du aber sage mir, welche Versuchung Dich in der heißen Stunde aus dem lauschigen Klostergang den steilen Berg herauf getrieben hat.“

Der andere legte ein paar Kissen, mit morgenländischer Seide überzogen, auf die steinerne Fensterbank und trug dann in wohlgefügter Rede die bösen Erfahrungen und die Sorge der Chorherren in Bezug auf die immer noch wallende Ostara vor.

Nachdenklich hörte Albrecht zu. Dann sagte er: „In den armen kalten Ländern können sich die Menschen nicht genug thun mit der Freude über den holden Lenz. Ueber den dunklen Harzbergen sahen wir von Halberstadt aus im Frühling rothen Feuerschein. In Eisenach feierten sie am Sonntag Lätare den Sommergewinner, banden eine wüste Strohpuppe, die den Winter vorstellte, an ein Rad und ließen dies brennend vom Metilstein hinablaufen. Mit Juchhei rannten die jungen Mägde und Gesellen nach, hinab zur schön geschmückten Sommerdocke, die in grüner Tanne vor dem Georgenthor saß. Es wurden schwere Strafen auf den Unfug gesetzt.“

Cölestin nickte. „Und das half.“

Albrecht zuckte die Achseln „Das nächste Mal schwärzten sie sich die Gesichter, damit sie niemand erkannte. Das Volk läßt nicht von allen Bräuchen, die aus seiner Art, seinem Bedürfnis herausgewachsen sind. Wie die ersten Bekenner des Kreuzes in deutschen Landen bei dem Namen Ostern die alte Ostara – gestatte, daß ich sage: zu Gevatter baten“ – Cölestin prallte entsetzt zurück – „um das Fest dem Volke vertrauter zu machen, so sollten wir den alten heidnischen Brauch mit neuem christlichen Geiste erfüllen, ihn in den Dienst unserer Kirche nehmen. Sind wir nicht gesandt, um zu versöhnen? Soll das Joch nicht sanft, die Bürde nicht leicht sein?“

„Ich verstehe Dich nicht,“ sprach Cölestin.

Nach kurzem Besinnen erwiderte Albrecht: „Wenn ich heute zum letzten Male geläutet und damit Land und Leute in den Schutz der heiligen Engel befohlen habe, will ich hinabkommen und meine Meinung den Brüdern vortragen. Sage das dem Herrn Propst und überwinde den mühseligen Heimweg in Geduld – in Geduld, lieber Bruder.“

„Ein kühler Trunk wird vonnöthen sein,“ Meinte der wohlbeleibte Chorherr und begab sich auf den Abstieg.

Nun war die große Woche gekommen. Die Hausfrauen schmückten die Stuben mit Weidenzweigen voll silberglänzender Kätzchen, streuten Binsen auf den Fußboden und buken Osterfladen.

Die Glocken schwiegen, und die Kinder erzählten von ihnen, sie seien am Gründonnerstag nach Rom geflogen, um dort Milch und Wecken zu essen.

Die letzte Nacht vor dem Auferstehungsmorgen lag still und dunkel auf dem Gefilde, in dem einst die holde Frühlingsgöttin geherrscht hatte. Nur der starke Quell, der aus dem Felsengeklüft des Berges sprudelte und sich zu einem kleinen Weiher sammelte, murmelte sein uraltes Lied.

Da, als das erste Frühroth aufstieg, knirschte der Kies auf den Feldwegen, raschelte es leise im Gebüsch, kam es von allen Seiten heran.

Unter den hohen Eichen, die den Quell schützten, trat der finstere Kühnrich hervor. Das lange schwarze Haar – nur Hörige trugen es gestutzt – fiel bis auf die kräftigen Schultern herab; am Gürtel, der mit Metall reich beschlagen war, klirrte das kurze Schwert. Er war vom Scheitel bis zum trotzig auftretenden Fuß der freie deutsche Bauer. Langsam schritt er heran. Er wäre nicht gekommen, aber Gotelinde hatte ihn so lieblich angeschaut, so bittend nach der Quelle gewinkt, als er gestern die Birken zum Festschmuck für das Chorstift brachte. [192] Ja, arbeiten durfte er für Jechaburg; dann aber hieß es: „Schab ab!“ Wenn sie ihn heute wieder anfallen wollten! Seine Faust krampfte sich um den Schwertgriff.

Da umschlangen ihn zwei weiche Arme. Eine Hand, die selbst in der Nacht weiß leuchtete, faßte ihn und zog ihn dem Weiher zu. Sprechen durfte niemand bei dem Zauberwerk; aber es mißte auch niemand das Wort.

In der Grotte lag schon das Sträußchen der Jungfrau. Jetzt schöpfte sie Wasser, benetzte ihre Hände und strich ihm damit die Falten von der Stirn. Da schloß er die Augen; das Brennen verging wirklich von dem

linden Netzen, und der Krampf der zusammengeballten hartgearbeiteten Finger löste sich, als sie aus ihrer hohlen Hand das kühle Wasser darüber goß.

Dann stand sie an ihn geschmiegt, und sie blickten hinein in die wieder ruhig werdende Wasserfläche, die in der Morgendämmerung spiegelte. Da schauten ihre Gesichter nebeneinander heraus.

Glückliches Vorzeichen! Man sah die zukünftigen Eheliebsten in der Osternacht im Wasser … die natürlichsten Dinge macht hoffendes Herz zum Wunder! Er schlang den Arm um sie; sie legte das Haupt an seine Brust.

Trippelnde Füßchen huschten heran. Sie enteilten.

Nur Irmelein hatte solch schnellen Gang. Sie kam von Bebra herauf, trug geschäftig ihre Maiblumen in die Grotte und that gar nicht, als wartete sie ebenfalls auf den Einen. Sie warf das verhüllende Huch ab und begann, mit den runden Armen in dem Wasser zu plätschern, begoß sich das Köpfchen, wusch, den zarten Nacken, schniegelte sich wie ein badendes Täubchen. Nur zuweilen stahl sich ihr Blick unter den krausen Wimpern seitwärts.

Da erschien im Wasser ein lustiges Gesicht hinter ihr. Wollte Reinald vielleicht selbst zu einem Finken werden, daß er so den Schnabel nach ihr spitzte? Klatsch! hatte er einen Schlag darauf.

Im nächsten Augenblick gab es noch einen Schall. Reinald hatte Irmelein erwischt und küßte ihren rothen Mund. Dann flohen sie auseinander.

Kräftige Schritte nahten; sanftes Geklingel tönte dazwischen.

Elsemuth führte ihren Hiltebold heran, den echten Dorfgecken, der seinen feinen Tuchrock an den Nähten mit Schellen hatte besetzen lassen und auch auf dem nächtlichen Gange sich nicht von seiner schönen Haube trennen konnte.

Während Elsemuth den Strauß niederlegte, und eifrig ihre Arme badete – die Hauptsache war ja doch, daß sie kräftig blieb – bespiegelte er sich in der Wasserfläche. Wie schön war doch die Haube! Wenn sie nur deutlicher in dem Morgengrauen zu erschauen wäre! Er bog sich vor – abermals gab es einen Klatsch – die Haube lag im Wasser und trieb ab.

Hiltebold streckte hilflos die Arme aus.

Im nächsten Augenblick hatte Elsemuth die zierlich geschnitzten Holzschuhe abgeworfen, und, die Röcke hoch schürzend, stieg sie furchtlos hinein in die Fluth. Immer tiefer ging’s. Jetzt hatte sie das Leibstück ihres Erwählten ergriffen und kehrte damit zurück.

Hiltebold schüttelte die Tropfen heraus und setzte sie auf sein Flachshaar. Dann ging das Paar einträchtig davon und machte anderen Jünglingen und Mädchen Platz, die von ihren heißen Herzen an das alte Heilwasser getrieben wurden. –

Die Kinder hatten überall auch nicht viel geschlafen. Sie lugten die halbe Nacht zu den Fensterluken hinaus, um zu sehen, wie der Hase über den Weißdornzaun in das Wurzgärtlein stieg und seine rothen Eier in die Salbeistauden, in den blauen Schwertel legte. Und manch altes Mütterlein spähte gen Osten, ob es ihr diesmal gelingen werde, zu erschauen, wie die Sonne beim Aufgang drei Freudensprünge machte. Sie hatten es bis jetzt immer verschlafen, oder es war Nebel gewesen. Sonnenaufgänge haben nun einmal ihre Haken.

Jetzt blitzte der erste Sonnenstrahl auf, und zugleich schlugen alle Glocken an zu der Verkündigung: Christ ist erstanden.

„Christ ist erstanden!“ grüßten sich die Leute, während sie in die Stiftskirche zu St. Peter pilgerten.

Weihrauchwolken entströmten der hohen Kirchenpforte an welcher Birken, in jungem Laube und Blüthengetroddel prangend, gesetzt waren. Auf den Altären flammten Kerzen, St. Peter trug einen Purpurmantel und den goldenen Schlüssel. Und über allen Prunk erhöht, schaute aus einem Gemälde auf Goldgrund der blasse auffahrende Heiland, in der von Nägeln durchbohrten Hand die Siegesfahne schwingend. Mächtig tönte der feierliche Gesang der Chorherren; erschüttert kniete das Volk bis hinaus auf die Hügel des Kirchhofes.

Von feierlichem Gottesdienst durchzogen, verlief der hohe Festtag. Endlich summte die letzte Glocke aus. Die Dunkelheit brach herein.

Da blitzte es auf in der Flur, da huschten Lichter unter den Bäumen über das Feld hin und her wie die Irrwische, sammelten sich, und plötzlich rollten sie sich auf wie feurige Schlangen. Aus dem Moor der Stockhäuser, von den Espen der Bebra, aus den Obstgärten und Weinbergen der Jechaburg bäumten sie sich auf, ringelten dem Gipfel des Berges zu.

[193] Und droben an dem steilen Absturz lohte eine Flamme empor, weit hinaus grüßend alle die Getreuen, die Ostaras nicht vergessen hatten.

„Stab aus! Stab aus!
Brennt dem Winter die Augen aus!“

tönte der rauhe Sang.

Steil war der Berg. Der Athem ging den Singenden fast aus; aber zum wilden Liede mußte er reichen, ja, er stärkte sich noch mehr, als die Klimmenden von den Höhen überall, auf den Kuppen, soweit man schauen konnte, die Feuerfackeln winken sahen, sahen, wie der alte Gau der Frühlingsgöttin seine Huldigung zollte. Singend brachen sie aus dem Walde hervor, stiegen sie über den schroffen Bergrand empor.

Da wurde ihr Gang langsamer. Was war das? Die sonst um diese Zeit wie zürnend verschlossene Kapelle that sich auf; beleuchtet von der ewigen Lampe erschauten sie das Huldbild Unserer lieben Frau.

Und aus der Pforte schritten, voran die Chorknaben, ihre Rauchfässer hoch schwingend, einen feierlichen Hymnus singend, in langem Zuge die Chorherren, an der Spitze der Propst mit seinem Stabe.

Vor der Kapelle stellten sie sich auf wie treue Kriegsknechte vor der Feste, die sie vertheidigen wollen.

Mit raschen Schritten, aber kam Herr Albrecht hervor und bestieg den erhöhten Rain, welcher die kleine Kirche umfriedete.

„Tretet in einen Ring!“ “gebot er nun mit klingender Stimme. Da zogen die Feuerschlangen langsam heran, jedes Dorf für sich.

Es war ein wunderbarer Gottesdienst, zu dem sie berufen wurden. Ueber der weiten Bergfläche das dunkle Himmelsgewölbe, von funkelnden Sternen besät, im Kreise die Gemeinden mit lodernden Fackeln, bestrahlt von den Flammen des heidnischen Ostarafeuers. Vor ihnen der junge Geistliche, als trete er aus dem Kranze von grünendem Christdorn heraus, ein Bote der Kirche, die hinter ihm in sanftem Kerzenglanz mit dem milden Bilde Unserer lieben Frau sich erhob.

Aber siehe! Herr Albrecht strafte nicht, er begann das Frühlingsfest zu feiern. Mit dem Schwunge des Dichters pries er die Auferstehung der Natur, wie sie die Eisfesseln des Baches sprengt, Blumen und Kräuter aus der Erde lockt, den Vöglein die sangeslustige Zunge löst.

Die widerborstigen Gemeinden reckten ihre Ohren auf und lauschten und merkten es nicht, wie er allmählich, nun als Chorherr ihres Stiftes, sie zu dem größeren Wunder führte, zu der auferstandenen Liebe, die das Grab gesprengt, den Tod überwunden habe. Sein falkenscharfer Blick überflog den Kreis. Das demüthige Senken der Fackeln that ihm kund, daß er die zerrissenen Zügel christlicher Gesinnung wieder in der Hand hielt.

Aber weise unterließ er es, sie straffer zu ziehen. „Feiert Euer frohes Fest,“ fuhr er fort. „Gott hat Wohlgefallen an unschuldiger Freude. Wir werden sie Euch nicht verleiden. Aber wir werden Euch hinfüro in jedem Jahre hier begegnen und Gott, dem Herrn, die Ehre geben, bevor Ihr in fröhlichem Muthe Euch seiner schönen Erde freut.“

Er wollte zurücktreten. Da blendete es wie ein Blitzstrahl in seine Augen. Er sah hinüber. Das kam aus Irmeleins Handspiegel; sie hob bittend die Hände. Und da zur Rechten sahen ihn blaue Augen flehend, zur Linken schwarze fordernd an.

Er besann sich. Für Strauß, Kräuterkuchen und Bitt-Thränen wurde ein Wunder erwartet von „Unserer lieben Frau“ und Hilfe von ihm. Ein kaum merkbares Lächeln flog über seine Lippen. Er sammelte sich zu einem zweiten Theile seiner Rede.

„Aber wie wir Euch für Trotz Liebe geben, so heischen wir auch von Euch milden Sinn. Mit einem grausamen heidnischen Reime droht Ihr, dem harten Winter die Augen auszubrennen! Ist von Euren Herzen auch die harte Eisrinde gesprungen? Habt Ihr Widersetzlichkeit, Haß, Mißgunst aus Eurer Seele gebrannt? Werdet Ihr im frohen Ostertanz Euch brüderlich die Hände reichen?“

Unbeweglich stand der Ring.

„Wohlan! Wenn die Männer starrnackig sanfter Sitte sich nicht beugen wollen, so befehle ich den gehorsamen Töchtern unseres Stiftes, mit gutem Beispiel voran zu gehen. Gotelinde, wohlgethane Jungfrau, Irmelein, freundliches Kind, und Elsemuth, aufrichtige Maid, bietet den Nachbarn jenseit Eurer Dorfgehege die Hand, wie die Stimmen in Euren Herzen Euch führen.“ .

Da schritten aus den Reihen ihrer Dorfgenossen drei Mägdlein hervor, wie getrieben von einer unsichtbaren Gewalt


[194]

Sie gingen schnell, immer schneller über den Rasen, ihre Pfade durchkreuzten sich.

Mit fröhlichem Luftsprung that sich der Vogelsteller hervor, schwang seinen hohen Festhut, auf dem die Rohrflöte steckte, und faßte Irmelein bei den Händen. Lachend drehten sie sich umeinander herum.

Und Gotelinde war hinüber gewandelt, hoch und weiß wie Lilie, und streckte dem finsteren Kühnrich die Hand entgegen. Der ergriff sie und sah trotzig um sich. Nun war es sein gutes Recht; das wollte er schon vertheidigen.

Elsemuth aber stürmte, daß der Saum ihres mit rothen Fäden ausgenähten Leinwandrockes flog, zum Müller und führte ihn samt seiner schönen Haube unter Schellengeklingel davon wie ein Lamm zur Schlachtbank.

Und da niemand wagte, Einhalt zu thun, fanden sich mehr und mehr zusammen. Es mußte unter der Asche stark geglimmt haben. Zu fröhlichem Zuge ordneten sich die Paare.

Aber nun schauten sie verlegen drein. Nach welcher Tanzweise sollten sie den Reigen anheben? Reinald begann zwar zu singen: „Stab aus!“ Jedoch Irmelein hielt

ihm den Mund zu wie er vordem seinem Star den Schnabel. Herr Albrecht hatte ja das Lied heidnisch, grausam genannt. Aller Augen richteten sich auf ihn. Wer Altes stürzt, muß Neues schaffen können.

Da winkte Albrecht einem Knaben, daß er ihm die Harfe bringe. In freier edler Haltung, wie die Sänger auf der Wartburg vor dem Landgrafen gestanden hatten, stand er jetzt vor seinem Bauernvölkchen. Seine schmalen Hände glitten über die goldflimmernden Saiten, holder Wohllaut rauschte auf, und in der halb sprechenden, halb singenden Weise seiner Dichterzunft erfand er ihnen ein neues Tanzlied:

„Auf den Wiesen die Blümlein springen,
Kleine Vöglein im Walde singen
Fröhlich mit süßem Schalle.
Ihr Knaben und Mägdlein alle,
Nun hebet auch Ihr Euch zum grünen Plan,
Die holde Sommerzeit zu empfahn!“

Enger schloß sich der Kreis. Die jungen Dörfler raunten, die Mägdlein wisperten die Verse nach.

Ueber Herrn Albrechts Züge flog es wie Schelmerei. War tief in ihm ein Stücklein von dem Geiste des wilden Tannhäuser verborgen?

Schnelle Griffe auf der Harfe folgten. Dann sang er keck:

„Zu Zwei und Zweien
Im Doppelreihen
Nun sollt Ihr springen! Heiahei!
Auch dem Spielmann springt –“

„das Herz dabei“, wollte er enden, aber der Propst hob mahnend den Finger

„Eine Saite entzwei,“ schloß das Lied.

Lauter Jubel folgte. Zu Zwei und Zweien ging’s im künstlichen Zippelschritt davon, um das Osterfeuer herum.

Die Chorherren schauten dem Hoppaldei zu und dem schönen lustigen Firlefei.

Erst als nach alter Sitte klafterlange Sprünge über das Feuer gethan wurden, wandelten sie langsam hinab. Auch Albrecht zog sich nach seiner Klause zurück.

Da umringten ihn plötzlich die drei klugen Jungfrauen. Sie drückten den Saum seines Obergewandes an die Lippen.

„Ihr habt harte Herzen erweicht, deß sagen wir Euch Dank,“ sprach Gotelinde.

„Das beste Krüglein Oel bringe ich Euch!“ betheuerte Elsemuth.

„Ja, wenn Ihr kein Chorherr wäret, da freilich,“ schäkerte Irmelein. Sie wollte weiter sprechen, aber das flinke Zünglein versagte.

„Willst Du mir das Herz schwer machen?“ lächelte er.

Da sah es plötzlich Thränen; die drei Augenpaare standen voll Perlen. Innig sahen sie ihn an.

„Eueren Gesponsen Kuß und Lachen,“ sagte er mit leiser Schwermuth. „Mir eine Thräne. Wem ist das bessere Theil geworden?“

Dann gingen seine Augen über sie hinweg nach dem funkelnden Sternenhimmel hinauf, und nun schien es, als strahlten sie in überirdischem Licht. Er hob die Hand ernst zum Segen über die tief sich beugenden jugendlichen Häupter: „Seid glücklich!“

Die Feier des Osterfestes auf dem Berge Unserer lieben Frau stieg zu immer höherem Glanze empor. Die Kapelle wurde mit einem Ablaß begabt, zahllose Wallfahrten pilgerten hinauf am steilen Weg reihten sich Verkaufsbuden.

Bei der Einführung der Reformation wurde das Stift aufgehoben, das Kirchlein geschlossen. Die Wallfahrten wandelten sich in Osterlustbarkeiten für die Umgegend.

Gemachsam schliefen auch diese ein. Die Trümmer der Kapelle überzog der grüne Rasen. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde das letzte Osterei mit seinem altherkömmlichen Kreuze am steilen Weg verkauft.

Nur blaue Glockenblumen läuten noch auf der Stätte, wo der Chorherr Albrecht sich mit der Uebertragung des Ovidius mühte, deren letzter Rest, nach sechshundert Jahren unter Einbänden von Einquartierungsregistern des Dreißigjährigen Krieges und unter Küchenabrechnungen hervorgezogen wurde.

Aber wenn die Osternacht anbricht, dann lodert eine mächtige Flamme auf dem Gipfel des Frauengberges empor; von den Ortschaften ziehen, die jungen Männer aus mit brennenden Fackeln und winken dem Feuer zu, heut wie vor tausend Jahren.

[195]
Oceandampfer.

Als Christoph Kolumbus das amerikanische Festland entdeckt hatte, wie wuchs da von Jahr zu Jahr die Erde vor den Blicken der westwärts steuernden Menschen – hinter dem Atlantischen Ocean ein neuer Erdtheil, weit ausgestreckt von Nord nach Süd, und hinter ihm ein neuer Ocean „ein ungeheueres Meer, das größer ist, als man fassen kann“, wie der Geschichtschreiber und Zeuge der ersten Erdumseglung der staunenden Welt berichtete! Auf seiner ersten Fahrt hatte Kolumbus 36 Tage lang nur Himmel und Wasser gesehen – und heute werden Tausende von Menschen zu der Kolumbus-Weltausstellung von der Alten nach der Neuen Welt hinüberdampfen und auf den Kapitän ungehalten sein, wenn sie nach acht Tagen Amerikas Gestade nicht erblicken! Freilich zwischen damals und heute liegt ein anderes Zeitalter, in welchem die Entfernungen sich verkürzten, die Erde gleichsam kleiner wurde. Der Zauberer, der dies vollbrachte, ist der schnaubende Dampf.

Wie langsam gestaltete sich der Seeverkehr noch zu Anfang unseres Jahrhunderts. Eine Fahrt von der Südspitze Englands nach Halifax in Neu-Schottland dauerte in der Regel 32 bis 33 Tage, wobei eine Strecke von rund 3000 Seemeilen (1 Seemeile = 1852 m) zurückgelegt wurde. Die Durchquerer der Oceane waren noch ganz und gar von Wind und Wetter abhängig; aber im Jahre 1807 baute Fulton in der Neuen Welt den ersten brauchbaren Dampfer „Claremont“, und die Zeit nahte, in welcher der Dampf dem Menschen auch die Fahrt über den Ocean erleichtern sollte. Schon im Jahre 1819 wagte der Dampfer „Savannah“ die erste überseeische Dampffahrt von Savannah nach Liverpool und legte die Strecke in 26 Tagen zurück; aber der Versuch war nicht entscheidend, da man acht Tage lang die Segelkraft benutzen mußte.

Erst im Jahre 1833 arbeitete sich der Dampfer „Royal William“ ganz aus eigener Kraft durch den „großen Teich“ hindurch; er hatte am 18. August Amerika verlassen und kam am 12. September glücklich in Gravesend an der Mündung der Themse an. Das Ansehen der neuen Schiffe wuchs, und fünf Jahre später wurde durch die Fahrten der englischen Dampfer „Sirius“ und „Great Western“, die von Bristol bis New-York 15 bis 20 Tage brauchten, der Sieg des Dampfschiffes über das Segelschiff entschieden.

Mit fieberhafter Hast ging man jetzt an den Bau neuer besserer Dampfer; um für sie kräftige Kolbenstangen zu schmieden, wurde 1842 der erste Dampfhammer der Welt in Creuzot errichtet – der moderne Cyklop hat also jüngst seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Das Rad wurde durch die Schraube ersetzt, und schon 1845 dampfte das erste Schraubenschiff über den Ocean; die Maschinen wurden verbessert und von Jahr zu Jahr wuchs die Schnelligkeit der Dampfer. Namentlich auf die Verbindung zwischen Nordamerika und Europa wurde besonderes Gewicht gelegt; die einzelnen Dampfschiffahrtsgesellschaften wetteifern heute miteinander in der Geschwindigkeit, mit welcher ihre Schiffe Passagiere und Post über den Ocean bringen, und in diesem Wettstreite rechnet man selbst mit Stunden und Minuten.

„Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“ – so ist auch eine einzige gelungene schnelle Fahrt über den Ocean kein Beweis für die Tüchtigkeit des Schiffes. Auch auf die Dampfer übt Gunst oder Ungunst des Wetters ihren Einfluß aus, und so kann das bessere Schiff einmal hinter dem schlechteren zurückbleiben, wenn das letztere ein günstigeres Wetter hatte. Hier können nur Durchschnittszahlen aus einer Reihe von Fahrten maßgebend sein. Einen Anhalt über die Fahrgeschwindigkeit der einzelnen Oceandampfer bietet die Postbeförderung. Der General-Postmeister von New-York veröffentlicht jährlich eine Statistik, in welcher auch diese Frage berücksichtigt ist, und nach der für das Jahr 1891/1892 ausgegebenen gebührt der Siegespreis einem deutschen Dampfer. „Fürst Bismarck“, der auf dem „Vulkan“ zu Stettin gebaute Schnelldampfer der Hamburg-Amerikanischen Paketfahrt-Aktiengesellschaft, hat alle seine Nebenbuhler überflügelt. Er lieferte die Post New-York—London durchschnittlich in 171 Stunden 3 Minuten, also in 7 Tagen 3 Stunden 3 Minuten. Nächst dem „Fürst Bismarck“ steht der „Teutonic“, ein Dampfer der englischen White-Star-Linie, der eine Leistung von 175 Stunden 2 Minuten erzielte; die „City of New-York“ von der englischen Inman-Linie wies eine solche von 179 Stunden 4 Minuten auf, und als der viertbeste Schnelldampfer wurde die „Havel“ vom Norddeutschen Lloyd mit 182 Stunden 8 Minuten verzeichnet. Alle diese Schiffe haben eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 Knoten, also 20 Seemeilen in der Stunde – sicher ein unermeßlicher Fortschritt gegenüber den langsamen Fahrten der ersten Oceandampfer!

Aber wir leben im Zeitalter der Geschwindigkeit; die Fahrt über den Atlantischen Ocean dauert uns noch viel zu lange; sie soll kürzer werden; also: mehr Dampf! Leicht gesagt, aber dieser Wunsch bereitet den Ingenieuren viel Kopfzerbrechen.

Das Verhältniß der von den Dampfmaschinen gelieferten Kraft zu der Fahrgeschwindigkeit eines Schiffes ist sehr ungünstig, und bei unseren großen Schnelldampfern muß die Erhöhung der letzteren um nur 1 Seemeile für die Stunde mit Tausenden von Pferdestärken bezahlt werden. In einem englischen Fachwerke wurde dieses Verhältniß neuerdings genauer berechnet, indem als Grundlage für die Betrachtung der Schnelldampfer „City of Paris“ gewählt wurde.

Wollte man ihm eine Fahrgeschwindigkeit von 10 Seemeilen in der Stunde verleihen, so würden die Maschinen 2200 Pferdestärken entwickeln müssen. Erhöht man die Geschwindigkeit um die Hälfte, also auf 15 Seemeilen in der Stunde, so sind nicht etwa 3300 Pferdestärken nöthig; das Verhältniß ist ein ganz anderes, erst mit 7300 Pferdekräften können wir diese Schnelligkeit erzielen. So steigen die Ansprüche an die Maschinenkraft mit jeder Seemeile; bei einer Fahrgeschwindigkeit von 17 Meilen sind schon 10700 Pferdestärken nöthig, bei 19 Seemeilen 15000, bei 20 Seemeilen 17500, bei 21 Seemeilen 20300, bei 22 Seemeilen 23300 und bei 26 Seemeilen in der Stunde gar 38500 Pferdestärken, wobei diese Zahlen stets auf den Schiffstypus der „City of Paris“ zu beziehen sind. Die größten Fahrgeschwindigkeiten, die jetzt erreicht werden, betragen durchschnittlich 20 Seemeilen in der Stunde. Wir können uns auf Grund der vorstehenden Zahlen leicht einen Begriff verschaffen, wie theuer jede weitere Vermehrung der Geschwindigkeit die Gesellschaften zu stehen kommt, denn die Dampfmaschinen brauchen Kohlen!

Nun sind allerdings auch auf dem Gebiet der Dampfmaschinen große Fortschritte gemacht worden. Während man vor dreißig Jahren bei den Maschinen alter Bauart durchschnittlich in der Stunde 1,5 Kilogramm Kohlen brauchte, um 1 Pferdestärke zu erzeugen, sank bei den sogenannten Compoundmaschinen der Bedarf auf etwa 1 Kilogramm, bei den seit 1884 eingeführten Dreifach-Expansionsmaschinen sind nur ¾ Kilogramm Kohlen für Stunde und Pferdestärke nöthig, und man baut jetzt sogar Vierfach-Expansionsmaschinen. Ein Dampfer mit 1000 Pferdekräften mußte vor dreißig Jahren für eine zwanzigtägige Reise 1400 Tonnen Kohlen mitnehmen, jetzt braucht ein gleicher Dampfer für dieselbe Zeit nur etwa den dritten Theil. Wo es sich aber um Vermehrung der Maschinenkraft um viele Tausende von Pferdestärken handelt, da fällt der Kohlenvorrath auf dem Schiffe und der Kohlenverbrauch während der Fahrt schwer ins Gewicht, und es fragt sich, ob die Verkürzung der Fahrt um einige Stunden der hohen Ausgaben werth ist. Darum meinen auch viele, daß wir mit unseren heutigen Dampfern an der Grenze der Leistungsfähigkeit angelangt seien. Aber andere sagen „Zeit ist Geld“ – und scheuen keine Ausgaben zur Erzielung größerer Fahrgeschwindigkeiten. In der That hat die englische Cunard-Linie zwei Schnelldampfer, „Campania“ und „Lucania“, im Baue, welche bei 183 Metern Länge mit Maschinen von 26000 Pferdekräften ausgerüstet werden und die bisher schnellsten Schnelldampfer in der Fahrgeschwindigkeit noch übertreffen sollen – ja man hört sogar von Plänen für Schiffe von 213 Metern Länge mit 30000 Pferdekräften![1]

Wir haben bis jetzt immer die Fahrgeschwindigkeit in Seemeilen angegeben. Den „Landratten“ unter unseren Lesern wird eine Umrechnung in Meter vielleicht nicht unerwünscht sein. Die schnellsten Dampfer legen in einer Sekunde etwa 10 Meter zurück. Nennen wir zum Vergleich noch einige bekannte Geschwindigkeiten, auf die Sekunde berechnet: die des Pferdes im Galopp beträgt 4 bis 5 Meter; ein Eisenbahnpersonenzug kommt in 1 Sekunde um 9 Meter vorwärts, ein Schnellzug um 14 Meter und der Blitzzug um 21 Meter, ja, bei einer Probefahrt in Amerika wurde neuerdings auf der New-Jersey Centralbahn zwischen Sanwood und Westfield die ungeheuere Geschwindigkeit von 42 Metern in der Sekunde erreicht! Auf eiserner Schiene wetteifert also das Dampfroß mit dem Orkan, der mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 50 Metern in der Sekunde dahinbraust. Ob die Schnelldampfer jemals diese Geschwindigkeit erlangen werden? In unserer Zeit ist alles möglich, und niemand kann ahnen, mit welchen Neuerungen in der Schiffsbaukunst die fortschreitende Technik die Menschheit noch überraschen wird.

St. J.


„Elsa.“
Eine Ehestandstragödie in Briefen.0 Von Ernst Wichert.
(Schluß.)


16.

Auf diese Weise war nicht vorwärts zu kommen. Der Fels erwies sich zu hart, ich selbst rieb mich auf. Ich sah ein, daß meine Strenge seinen Eigensinn nur stärkte. Gewiß verwünschte er längst die ganze Wohlthätigkeitsvorstellung und hätte gern nachgegeben. Aber sich’s abtrotzen lassen –? Das nicht!

Ich selbst wurde weich – das wird Dir gefallen, Toni – legte mich aufs Weinen, aufs Bitten. Ich weinte, daß es einen Stein hätte erbarmen müssen – mir war wirklich so kläglich zu Muth. Ich bat herzlich ... alles vergebens!

Er nahm mich in seinen Arm, er küßte mich, er streichelte mir das Haar, wie er’s sonst so gern that, er trocknete mir die Thränen, er gab mir wieder die gewohnten Kosenamen. Seine Stimmung erheiterte sich von Minute zu Minute. Ein Alb schien ihm von der Brust genommen. Und was antwortete er? „Ich sehe zu meiner herzlichen Freude, daß die Krisis überstanden ist. Noch kurze Zeit, und Du selbst wirst eingestehen, daß Du ein Närrchen warst. Bitte nicht, Liebchen! Du siehst ja doch, daß ich Deinen Wunsch nicht erfüllen kann. Er erscheint Dir sicher selbst schon gar nicht mehr wichtig. Wirf allen Unmuth ab! Sei wieder mein gutes, liebes Weib! Laß uns glückliche Menschen sein!“

[196] Ach Toni, wie es in mir aussieht –! Ich kann Dir’s gar nicht beschreiben. Ich komme auf Gedanken ...

Giebt’s denn wirklich kein Mittel, diesen Widerstand zu brechen? Ist eine Frau so ohnmächtig? Und man sagt doch ...

Ich will diesen Brief auf der zweiten Seite schließen. Wer weiß, was ich Dir sonst noch für häßliche Geständnisse zu machen hätte?




17.

Ich bin nicht eitel, Toni, Du kannst mir’s bezeugen. Aber ich habe heute früh, als ich mich ankleidete, lange vor dem Spiegel gestanden. Der Frisiermantel war mir von den Schultern geglitten, ich kämmte das aufgelöste wellige Haar über Arme und Nacken. Und zum ersten Male kam mir die Frage: bist Du schön, und welche Macht übt Dein körperlicher Reiz? Wenn Du Dich Deinem Mann so zeigtest mit einer Bitte auf den Lippen ... Nein, nicht einmal so. Wenn Du Dein Gesicht lieblich lächeln, Deine Augen zärtlich locken, Deine Hände sanft streicheln, Deine Arme sich verlangend ausbreiten ließest – könnte er Dir etwas abschlagen?

Ich erröthete bis zur Stirn hinauf – auch das sah ich im Spiegel. Und ich fragte mich, wenn ich so vor meinem Mann erröthete ...

Ach, es ist abscheulich! Ist es nicht abscheulich, so auch nur wach zu träumen?

Ich kenne mich gar nicht mehr.

Du hast mich manchmal „eine alte Jungfer“ genannt, Toni – damals, als wir beide so um die sechzehn Jahre herum alt waren. Ich trug gern Kleider, die ganz oben um den Hals dicht schlossen; es war mir stets ein unbehagliches Gefühl, mich für den Ballsaal ankleiden zu müssen; ich hob immer auf der Straße bei schlechtem Wetter oder beim Absteigen von der Pferdebahn so „komisch vorsichtig“ den Rock, wenn ich mich beobachtet glauben durfte. So ist es noch immer. Denke Dir, ich lösche im Schlafzimmer stets halbbekleidet das Licht und dulde auch keine noch so diskrete Nachtlampe. Zimperlichkeit ist sonst nicht mein Fehler, auch im Umgang mit Männern nicht. Und nun gar mit meinem Mann! Nein wirklich, er hat sich nie darüber zu beklagen gehabt. Aber ihn in mich verliebt zu sehen hat mich allemal so ganz eigen beunruhigt. Und ihn in mich verliebt zu machen – nein, Toni, das hätte ich nicht über mich gebracht, und wenn mir dafür alle Schätze Golkondas gewinkt hätten. Dafür erst recht nicht! Aber auch nicht einmal, um ihm die unschuldigste Kleinigkeit abzuringen. Die Scheu mich hinterher vor mir selbst schämen zu müssen – Du begreifst das. Was er mir nicht aus Liebe that, behielt für mich keinen Werth. Nie habe ich seiner Zärtlichkeit irgend ein Zugeständniß verdanken mögen; und ich unterschied da sehr scharf. Sehr scharf! Vielleicht ganz unbewußt. Wirklich ganz unbewußt. Erst jetzt denke ich darüber nach, wo ich allen Ernstes überlege ...

Was verkehrt so meine ganze Natur? Das immer leidenschaftlichere Verlangen, in diesem aufgezwungenen Wettkampf mich zu behaupten, macht mich krank – sterbenskrank. Ich fiebere, ich phantasiere. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ein üppiges Weib tanzen um das Haupt Johannes’ des Täufers. Es ist eine dämonische Gewalt, was mich aus aller Fassung bringt. Kann ich etwas gegen sie?

Weil ich noch daran glaube, schreibe ich Dir das alles, meine Gedanken zu reinigen. Du bist meine Freundin.

Ich müßte zu tief hinunter! Edwin etwas ablisten, abschmeicheln, von den Lippen küssen – – Wie ich bin, wär’s ein Wagniß auf Leben und Tod. Bliebe er standhaft, so wäre ich mir rettungslos verloren.

Ich zittere, daß er standhaft bleiben könnte.

Aber er wäre der erste Mann ...

Ich habe die Feder zerstampft. Nur noch mit Bleistift: Gute Nacht, Liebste!




18.

Telegraphische Depesche.

Triumph, Triumph! Das Ziel ist erreicht. Wie glücklich ich bin! Brief folgt.




19.

Der Brief, den ich Dir versprochen habe, ist eigentlich ganz überflüssig, liebe Toni. Edwin hat nachgegeben, das sagt alles. Das Schreiben an Frau Hermia chaben wir gemeinsam redigiert. Jeder Satz hat ihm zehn Seufzer ausgepreßt. Er ist unglaublich schwerfällig, wenn es gilt, ein paar Redensarten zu drechseln. Das soll alles nicht auf die gewöhnliche Art gesagt werden! Und wer es liest, nimmt doch nur den Sinn heraus. Gnädige Frau, ich habe mich anders besonnen. Was weiter?

Denke doch nur nicht, Liebste ... Herr Gott! was mag ich Dir neulich für Unsinn geschrieben haben? Mir wird ganz heiß. Ich hoffe, daß Du den Brief verbrannt haben wirst. Wenn nicht, so thu’s sogleich. Ueberhaupt verbrenne stets meine Briefe. Sie sind nur für Dich, und sie wollen auch von Dir nur einmal gelesen sein. Ich glaube wirklich, Du bildest Dir ein ... Das hat man nun von der Aufrichtigkeit.

Meine Nerven waren überspannt, leisteten mir schlechte Dienste. In den letzten Tagen fürchtete ich wirklich mitunter, um den Verstand zu kommen. Du kannst Dir so einen Zustand gar nicht vorstellen. Man verwildert vollständig. Es giebt Zahnschmerzen, die einen ganz toll machen; man will nur Ruhe haben und wählt endlich die gefährlichsten Mittel in halber Bewußtlosigkeit. Und wenn es den Kopf kosten sollte! Aber denke nicht ... Ja, was?

Es machte sich eigentlich ganz von selbst. Ich hatte ja schon zu Blicken und Thränen meine Zuflucht genommen. Wie wenig fehlte da, daß mein Herz weich wurde und seine Sprache zu reden anfing, die sich bekanntlich nicht nur aus Worte zusammensetzt. Und Edwin war längst mürbe geworden. Es sah nur noch so aus, als ob er seine Unerschütterlichkeit behauptete; innerlich waren die Stützen wankend geworden. Und wie ich nun mit sanfter Hand ... Es war mir wirklich Bedürfniß, dem lieben Menschen zu beweisen, daß ich ihm gut sei. Und weißt Du – ich selbst war nahe daran, schwach zu werden und in seinen Armen opfermüthig zu bekennen, daß ich eine rechte Thörin gewesen und ihn gewähren lassen wolle, wenn ich nur seiner Liebe versichert bleibe. Vielleicht nur noch wenige Minuten ... Aber es ist besser so. Nicht wahr? Es ist besser so. Es war doch ein großer, unvergeßlicher Augeblick! Und wer weiß, ob ich die Seelenstärke gehabt hätte, nicht zu bereuen.

Wird Edwin sie besitzen? Ich hoffe es. Ach! ich will es ihm ja so leicht machen ...

Ganz freilich gefällt er mir heute nicht. Es ist, als ob es ihm Mühe verursachte, den Kopf hoch aufzurichten, wie er sonst pflegt. Er ist sehr still und leicht gereizt, wenn ich ihn zu erheitern bemüht bin. Sein Blick hat etwas Flimmerndes, und alle seine Bewegungen sind schlaff wie von übergroßer Ermüdung. Natürlich beobachte ich ihn aufmerksam. Das scheint ihm nicht lieb zu sein. Und doch entzieht er sich mir nicht. Sicher fühlt er, daß er mir den Beweis schuldig ist, allen Unmuth abgeschüttelt zu haben. Das kostet ihn aber größere Anstrengung, als er selbst wahr haben möchte. Ich habe dafür durchaus Verständniß. Es ist ja doch das erste Mal, daß er seiner kleinen Frau zuliebe – nun, meinetwegen eine Thorheit begangen hat. Es sollte ja auch nur eine Thorheit sein. Denn wenn er in einer wirklich wichtigen Sache gegen seine Ueberzeugung nachgegeben hätte – ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen könnte. Heute jedenfalls wohl nicht mehr.

Ueberhaupt, liebste Freundin, es ist wunderlich, was der Mensch für ein unzuverlässiges Geschöpf ist. Wenn ich nicht ganz scharf meine Gedanken zusammennehme, bilde ich mir heute ein, daß ich gestern im Innersten gar nicht so wild darauf versessen war, mein Stück durchzusetzen. Und das ist gewiß: wenn Edwin widerstanden hätte, ich würde es überwunden haben. Aber es ist doch besser so. – – –




20.

Kannst Du Dir eine solche Bestialität als möglich vorstellen, Toni? Edwin ist seine Stelle gekündigt worden. Mit drei Monaten Frist. Aber er hat sofort erklärt, daß es seinen Wünschen entsprechen würde, das Amt in den nächsten Tagen schon seinem Nachfolger übergeben zu können. Er entbinde den Chef gern von seiner kontraktlichen Pflicht, die unter den jetzigen Umständen zu erfüllen ihm selbst nur eine Pein sein würde.

[197]

Der Gang nach dem Osterwasser.
Originalzeichnung von W. Stöwer.

[198] Aber was sagst Du zu solcher Bestialität! Habe ich die edle Dame richtig geschätzt? Natürlich ist kein Grund angegeben. Soweit hat ihr Einfluß denn doch nicht gereicht, den Herrn Gemahl zu bestimmen, ihm die Beschuldigung der Untauglichkeit an den Kopf zu werfen. Er hätte sich damit doch auch zu lächerlich gemacht. Kein Grund ist aber auch ein Grund, und in diesem Falle ein sehr durchsichtiger. Ach – – ich könnte ihr die Augen auskratzen!

Du hättest sehen sollen, Toni, mit wie ruhiger Miene Edwin mir die Hiobspost überbrachte! Keine Muskel des Gesichts verzog sich, mit keinem Worte deutete er an, daß er mir eine Schuld bei diesem Mißgeschick beimesse. Er wollte nicht einmal zugeben, daß es sich um ein solches handle. „Es ist wahr,“ sagte er lächelnd, „augenblicklich sitzen wir wie die Vögel auf dem kahlen Aste, und ein so bequemes Nest werden wir nicht so leicht wieder finden. Aber die Welt ist ja groß, und es erscheinen viele Blätter. Irgendwo werde ich doch ankommen. Und fürs erste hat es vielleicht sein Gutes, daß ich mich wieder einmal ganz ungetheilt meiner eigenen Produktion hingeben kann. Die schönsten Entwürfe sind liegen geblieben. Freilich werden wir uns einschränken müssen. Ich arbeite langsam und nach meiner Art immer nur für einen engeren Kreis von Verstehenden; dafür heimst man nicht glänzende Honorare ein. Nun – ein Vogelmagen ist ja nicht groß; und daß er jemals knurrt, fürchte ich nicht.“

Der liebe Mann! Er wollte mich beruhigen. Aber ich nahm den Schlag nicht so philosophisch hin. Ich brach in die heftigsten Scheltreden gegen das übermüthige Volk los, das sich vom Geldsack herunter so etwas glaube ungestraft erlauben zu dürfen. Der Zorn und Aerger preßten mir Thränen aus. Ich überhäufte mich selbst mit Vorwürfen, dieses Unheil herbeigeführt zu haben. Ich konnte mir nicht genug darin thun, meine Ansichten verschroben, meine Bestrebungen kindisch, meine Handlungsweise abscheulich zu nennen. Und zuletzt im Eifer fiel ein Wort –

Das Wort hätte lieber nicht fallen sollen. „Wenn Du doch Deinen Willen behauptet hättest!“ fuhr’s mir heraus.

Ich sah, daß er erschrak. Seine Lippen zuckten. Und dann blickte er mich so traurig an ... Es ging mir durch Mark und Bein. Ich warf mich an seine Brust und bat: „Verzeih’, verzeih’! Es war so nicht gemeint. Ich bin ja die glücklichste Frau. Nur Deinetwegen ...“

Ich hoffe, meine Küsse haben ihn überzeugt.

Ist’s aber ein Wunder, wenn einen so eine Erfahrung einen Augenblick außer sich bringt? – – –




21.

Fünf Wochen später.

Erinnerst Du Dich, Toni, daß ich Dir einmal schrieb, wie ich mir das Leben mit Edwin gedacht hätte, bevor wir förmlich verlobt waren? Ich glaube, ich sagte Dir, daß es mich gar nicht sehr freudig überraschte, als ich dahinter kam, er habe mit der Erklärung gewartet, bis er mir eine gesicherte Stellung anbieten könnte. Ich schalt ihn deshalb philiströs, vermißte die dichterische Vertrauensseligkeit. Ich hätte mich in ein lustiges Wolkenkuckucksheim hineingeträumt, in dem es uns wohl sein sollte, und empfand es wie einen tiefen Abfall von dem Ideal einer so himmlischen Existenz, nun recht kleinbürgerlich von dem reichlichen Jahresgehalt eines Redakteurs, zahlbar in vierteljährlichen Raten, zehren zu sollen.

Nun hätte ich ungefähr, was ich mir wünschte. Noch nicht ganz freilich, aber die Zeit läßt sich schon absehen, in der wenig mehr fehlen wird. Erspart haben wir gar nichts. Was wir hatten, haben wir gerade so verbraucht. Das Wirthschaftsgeld ist bereits recht knapp geworden, da wir vorläufig von den Vorschüssen eines knauserigen Verlegers leben müssen. So lange wir die jetzige, für unsere Verhältnisse zu große Wohnung behalten müssen, können wir auch das Mädchen nicht auslohnen. Später werde ich mich mit einer Aufwärterin behelfen oder selbst die Magd spielen. Wir haben uns schon um einen Abmiether bemüht und hoffen, ihn außer der Zeit zu finden. Wie ich freilich unsere schönen Sachen, Edwins Bibliothek und alle die Bilder, die er aus Liebhaberei angeschafft hat, in einem viel engeren Raume unterbringen soll, ist mir noch ein Räthsel. Wir werden verkaufen müssen. Ich weiß nur nicht, was? Am Ende ist nichts überflüssig. Und wie es Edwin gefallen wird, wenn ich ihm mit rauhen Händen das Kinn streichle ...

Es wäre doch gut, wenn Edwin wieder eine feste Stellung erhielte. Das Gehalt könnte ja allenfalls etwas geringer sein; man würde sich danach einrichten. Aber so lediglich von der Hand in den Mund ... Ja, damals wär’s anders gewesen. Nun hat man das bequeme Leben gekostet, sich an allerhand Bedürfnisse gewöhnt ... die Zukunft beunruhigt mich doch ein bißchen.

Die besseren Posten sind überall besetzt, und zu tief hinabzusteigen scheut Edwin sich mit Recht. Er schreibt Briefe auf Briefe – immer ohne Erfolg. Das ist eine sehr lästige Arbeit, und ich höre ihn auch oft genug seufzen, wenn wieder dieselbe Litanei gesungen werden muß. Die gute Laune zur dichterischen Beschäftigung wird ihm gewöhnlich schon am Morgen für den ganzen Tag verdorben. Du kannst Dir denken, daß er sich dann am Abend zwingen muß, heiter zu erscheinen. Ich fürchte, wir gehen einer recht trüben Zeit entgegen.

Ich selbst bin oft trübe gestimmt. Wenn uns diese Prüfung ohne unser Verschulden getroffen hätte, wie ganz anders würden wir ihr ins Gesicht sehen! Jetzt fragt man sich doch immer: war’s nöthig? Das heißt – ich frage so, und ich fürchte, Edwin läßt nur die Frage nicht laut werden, um mich zu schonen. Ich habe Augenblicke, in denen ich wünsche, er möchte einmal die Geduld verlieren und gegen mich recht ärgerlich losfahren, daß kein Hund mehr ein Stück Brot von mir nähme. So recht tüchtig moralisch durchgeprügelt zu werden, das wäre mir eine Wonne. Ich könnte ihm die Hand dafür küssen. Und hinterher wüßte ich doch, daß ich wieder einen Mann hätte.

Einen Mann, der mein Herr wäre! Es steht ja geschrieben: er soll dein Herr sein. Und so etwas wie Unterwerfung unter seinen Willen geloben wir Frauen ja wohl auch am Altar. Das ist eine altmodische Formel, sagt man, und es wäre auch recht lächerlich, wenn der Mann sich auf sie beriefe. Soll sein! Was heißt das? Es greift da keine Vorschrift durch, mag sie sich auch auf biblische Autorität stützen. Aber wie ich jetzt das Verhältniß ansehe, möchte ich glauben, daß die Frau es stets als eine Wohlthat empfinden wird, wenn der Mann zugleich der Herr ist, durch die Ueberlegenheit sittlicher Kraft seinen Willen zum bestimmenden macht. An ihm hat die Frau einen Halt und die Zuversicht der Dauerhaftigkeit dieses Halts. Sie sägt den Ast ab, auf dem sie sitzt, wenn sie diesen Halt zu schwächen sucht. Es ist etwas um die Furcht, die im Grunde der Seele Liebe ist. Das klingt sehr orthodox. Aber wer an sich selbst erfahren hat ...

Was? Ich sträube mich einzugestehen, daß sich in uns etwas verändert hat. Und doch – ! Es ist wahr, an dem Aste hatte ich gesägt. Hoffentlich doch nicht tief hinein. Und er ist stark, die Wunde verwächst sich. Könnte ich nur vergessen, ganz vergessen, daß ich einmal ... Und wer fagt mir, daß sich die Versuchung nicht wiederholt? Wer giebt mir die Zuversicht zurück, daß diese Stütze nicht wankt? Ich sehe sie wanken, weil ich sie wanken sah. Und wenn ich nicht mehr zu einem Herrlichen aufblicke ... Ich schrieb das Wort so hin, und jetzt erst merke ich, was es bedeutet: das „Herr“ steckt darin. So bewegen sich meine Gedanken immer im Kreise.

Es ist mein Unglück, daß ich mir Gedanken mache. Und vielleicht sein Unglück! Er kannte mich; er hätte vorhersehen können, daß er recht behalten mußte. O, das ist ungerecht, sehr ungerecht, ich fühle es. Aber was nützt diese Einsicht? Wenn das kranke Kind die bittere Medizin nicht nehmen will und so lange schmollt und schmeichelt, bis die Mutter schwach wird, und nun zeitlebens das Siechthum behält – ist die Frage abzuweisen: warum zwangst du mich nicht? Kann sein, der Vergleich hinkt. Aber Du wirst mich verstehen. Wenn meine Mutter so an mir gehandelt hätte und sie entschuldigte sich damit, daß sie mir ja den Willen gethan, ich weiß nicht, ob meine Liebe und Verehrung ... Ach, Toni, es überkommt mich mitunter eine Angst –! Was soll das werden? – – –




22.

Acht Monate später.

Du hast mir lange nicht geschrieben, liebste Freundin, und es wundert mich durchaus nicht, denn ich habe recht unartig Deine Briefe unbeantwortet gelassen. Ich hätte Dir wenigstens danken und mittheilen sollen, daß unser Briefwechsel vorläufig ein Ende haben müsse. Er war recht unerquicklich geworden und für [199] Dich peinlich, nachdem das heitere Spiel mit Enthüllungen, Anklagen und Vertheidigungen in bitteren Ernst sich umgewandelt hatte. Meine Schreibseligkeit verführte mich schon zu freundschaftlichen Offenbarungen, die nach Deiner eigenen Meinung nicht mehr verträglich schienen mit der Pflicht, Störungen des ehelichen Friedens auch vor unseren Nächsten geheim zu halten. Ich hatte mich in diese kleinen Indiskretionen so hinein geplänkelt, daß der Rückzug später schwer wurde. Ich glaube, ich wollte mich begreiflich machen, und zuletzt mußte ich doch erkennen, daß das ein recht eitles Bemühen ist. Man sagt immer zu wenig und zu viel, und der letzte Grund unseres Handelns ist unaussprechlich.

Nun aber zwingt mich’s wieder zu Dir: ich nehme einen Freundschaftsdienst in Anspruch, der nicht gering ist. Deshalb mußt Du erfahren, was mich dazu veranlaßt.

Es ist uns sehr schlecht ergangen – mit jedem Tage schlechter. Edwin fand trotz aller Bemühung keine Stelle, die ihm zusagen konnte. Er wechselte mehrmals rasch und wurde so zu kostspieligen Umzügen genöthigt, die ihn in Schulden brachten. Er mußte als politischer Redakteur thätig sein, wozu er keine Neigung, kein Geschick hatte. Für ein wahres Lumpengeld verlangte man eine ungemessene Arbeit und den Verzicht auf jede Selbständigkeit der Gesinnung. Ueberall wog die geschäftliche Rücksicht vor, wurde in der kleinlichsten und jämmerlichsten Weise lediglich auf den äußeren Vortheil spekuliert. Und dazu Edwin mit seinen idealistischen Anschauungen und dichterischen Neigungen! Ich hätte ihm tausendmal zurufen mögen: wirf ab, was Dir den Rücken drückt, stelle Dich frei! Aber wie durfte ich das? Er mußte leben und – hatte eine Frau zu versorgen. Es wurde mir mehr und mehr eine traurige Pflicht, ihn zum Ausharren zu ermuthigen, zu neuen Bemühungen anzutreiben, zur Fügsamkeit gegen die traurigste Nothwendigkeit zu überreden. Er beugte sich immer wieder, aber mit immer schwererer Ueberwindung. Je mehr er die Herrschaft über sich verlor, um so fester mußte ich die Hand auf die Zügel legen. Endlich versagte er jeden weiteren Schritt auf diesem Wege, nicht aus kräftiger Gegenwehr, sondern aus völliger Uebermüdung. Er erklärte, mit der dürftigsten Häuslichkeit zufrieden sein, aber freie Zeit zu selbstgewählter Thätigkeit gewinnen zu wollen. Er habe ein Werk geplant, das ihn wieder auf die Höhe stellen müsse; aber es könnten viele Monate vergehen, bis es druckfertig sei. Hätte das seinen Verleger gefunden, so wäre uns geholfen.

Ich war innerlich überzeugt, daß so nicht geholfen werden konnte. Edwin hätte imstande sein müssen, dem Bedürfniß der breiten Masse entgegenzukommen, seine reichen und gediegenen Kenntnisse feuilletonistisch zu verwerthen, leichtfertige Romane zu schreiben. Dazu fehlt ihm die Begabung. Und nun in dieser Gemüthsunruhe –! Ich mußte ihn doch gewähren lassen.

Wir verkauften, was uns irgend noch entbehrlich war. Wir mietheten ein Stübchen mit Kochraum im Hinterhause vier Treppen hoch. Ich verschaffte mir einen kleinen Verdienst durch Handarbeit für Läden. Es war ein Hungerbrot. Und es geschah, was ich vorausgesehen hatte: Edwin zermarterte seinen Kopf am Schreibtisch und brachte nichts aufs Papier, was ihn befriedigte. Er behauptete, meine Nähe störe ihn, lasse seine Gedanken nicht zu sich selbst kommen. Zu meinem Schrecken bemerkte ich, daß er immer wieder zum Anfang zurückkehrte, denselben Satz immer wieder anders formulierte. Und eines Abends war es gewiß, daß ein Nervenfieber ihn erfaßt hatte, daß er am nächsten Morgen nicht mehr die Feder zur Hand nehmen werde. Das war ein furchtbarer Schlag.

Ich will nicht versuchen, Dir die nun folgende Leidenszeit zu schildern. Die Krankheit dauerte viele Wochen lang an. Hätte sich der menschenfrenndliche Armenarzt nicht weit über seine amtliche Pflicht hinaus unserer angenommen, ich weiß nicht, was aus uns geworden wäre. Mehrmals war ich schon nahe daran, Dich um eine Unterstützung anzugehen, aber ich schämte mich, Dir dieses Elend offenkundig zu machen. Ich wußte ja auch, daß Du wenig bemittelt bist – und zuletzt hörte alle Spannkraft auf, ich willigte ein, daß mein Mann ins öffentliche Krankenhaus gebracht wurde.

Vor einigen Tagen ist er daraus als gesund entlassen worden und zu mir zurückgekehrt. Er ist aber nicht gesund, er krankt unheilbar – an seiner Frau. Jetzt erst zeigt sich die ganze Verwüstung unseres Eheglücks. Die Noth wäre vielleicht zu ertragen, aber – wir finden uns nicht mehr zueinander. Edwin schämt sich vor mir – ja, ja! das ist der tiefste Grund seines Leidens. Er betrachtet mich wie eine Last, die ihn nicht mehr frei aufathmen läßt, und ich höre ihn unter ihr keuchen. Er hat nicht einmal mehr den moralischen Muth, mich zu belügen. Er liebt mich nicht mehr.

Und ich –? Mein Benehmen gegen ihn ist häßlich. Ich kann’s nicht überwinden, ihn so in sich selbst erniedrigt zu sehen, mich fortdauernd als seinen Vorwurf zu fühlen. Ich sehe ein, daß ich ihm nur noch ein Hinderniß auf seinem dornigen Lebensweg sein kann, und deshalb bin ich entschlossen – – ihn zu verlassen. Ist er allein, so wird er sich wieder aufrichten, und mein Gewissen kann beruhigt sein.

Ich gebe ihn frei; er soll weiter keine Pflicht gegen mich haben, ganz sich selbst leben können. Bei dieser Trennung will ich der schuldige Theil sein. Deshalb verlasse ich ihn heimlich, und er soll sich trösten dürfen: es ist gut so; sie war dieser Prüfung nicht gewachsen.

Und nun meine Bitte. Nimm mich bei Dir auf, Toni, für die erste Zeit wenigstens. Ich will nicht zu meiner Mutter. Sie würde mich gar nicht verstehen, stündlich mit Vorwürfen quälen, mich um den Rest von Selbstachtung bringen, mit dem ich jetzt doch wuchern muß, um mich zu erhalten.

Ich warte Deine Antwort nicht ab. Könnte sie freudig zustimmend lauteu? So ist’s besser, ich lasse Dir keine Wahl, wie ich selbst keine Wahl habe. Auf baldiges Wiedersehen!




23.

Drei Tage später.

Es ist anders gekommen, Liebste – ganz anders.

Edwin hat mich verlassen.

Und auf Nimmerwiederkehr.

Früh am Morgen wollte ich weggehen. In dieser letzten Nacht aber ...

Der Schlaf hatte mich übermannt, und als ich aufwachte, fand ich sein Bett leer. Auf seinem Kopfkissen lag ein Blatt Papier, mit wenigen Zeilen beschrieben. Sie sagten mir alles.

Ich kam zu spät, seinen unseligen Entschluß zu hindern. Im Schloßteich fand man ihn, nahe dem Schwanennest.

Heute Abend werde ich ihn ganz still begraben. Dann reise ich zu meiner Mutter.

„Nun ist all unser Glück dahin“ 000000

Elsa. 


Blätter und Blüthen.


Das Münchener Kunstgewerbe auf der Ausstellung in Chicago. „Es darf sich sehen lassen!“ das sagte mit Befriedigung jeder, der diesen Winter trotz der grimmigen Kälte vor den Fenstern des Kunstgewerbevereins zu München verweilte. Allmählich tauchten dort immer mehr Prachtstücke auf mit großen Zetteln, auf denen zu lesen stand: „Für Chicago“. Keine deutsche Stadt, Berlin mit einbegriffen, besitzt eine permanente Ausstellung von solchem künstlerischen Glanze, weil nirgends sonst Kunst und Handwerk so tief und innig verbunden sind wie in München. Die ersten dekorativen Künstler, zum großen Theil Handwerkersöhne, bringen aus der väterlichen Werkstatt eine natürliche Geschicklichkeit und Findigkeit mit, die dann ihren Werken das kraftvolle, grnndoriginelle Gepräge verleiht, das sich neben den elegantesten französischen Luxusgeräthen zu behaupten weiß. Ein Prachtstück dieser Art z. B. entzückte alle Kenner, ein kaum meterlanges „Piratenschiff“ vom Bildhauer C. Fischer, als Saalzierde von der Decke hängend gedacht, mit einem bösartigen drohenden Schiffsschnabel, trotzigem Balken- und Eisenwerk, Ketten statt Tauen, blutrothen Drachensegeln und schwerbeschlagenen Seiten, ein Stück echter Seeräuberromantik, wie aus den Novellen des Cervantes herausgeschnitten. Daneben hing ein hochgetakeltes „holländisches Vollschiff aus dem 17. Jahrhundert“, bis ins kleinste einer jener pomphaften Prachtfregatten mit vergoldetem Bugspriet und stockwerkhohen Wänden nachgebildet. Diese beiden Stücke dürften wohl den Weg in einen amerikanischen Prunksaal finden. An die Deutschen drüben wendet sich dafür ausschließlich ein sehr schöner Wandschirm von Professor Louis Braun, dessen fünf Felder von fünf kraft- und charaktervollen Kürassiergestalten ausgefüllt sind. Der Pappenheimer aus dem Dreißigjährigen Kriege macht den Anfang, ihm folgt ein österreichischer Kürassier aus der Türkenzeit, ein preußischer aus dem Siebenjährigen ein bayerischer aus dem Befreiungskrieg, und den Beschluß macht ein junger Hüne in der Uniform des preußischen Garde-Kürassierregiments. – Der sonstige Reichthum an Prachtspiegeln und Büsten, Zimmereinrichtungen, Schnitz- und Juwelierarbeiten, auch an wunderschönen Stickereien von künstlerisch geschulten Damen, alles dies und unendlich viel mehr vereinigt sich zu einem Ganzen, an welchem sicherlich unsere deutschen Landsleute drüben ihre stolze Freude haben werden. Sie seien hiermit im voraus darauf aufmerksam gemacht!

[200]

OSTERN.

An keinem anderen Feste spielt die Sonne eine solche Rolle wie zu Ostern, wie das ja auch in der Zeit, da ihre Strahlen neues Leben wecken, keineswegs wunder nehmen kann. Seit alter Zeit ist es darum Sitte, der Sonne am Ostermorgen einen glänzenden Empfang zu bereiten. Im deutschen Alterthum fielen ihre ersten Strahlen wohl auf Schwerttänze und rauchende oder blutende Opfer, und Priesterweihgesänge tönten ihr entgegen. Die Opferaltäre sind gefallen und an die Stelle der Waffenspiele sind ändere getreten, welche vielleicht ebenfalls uralten Ursprungs sind und jedenfalls zur Sonne in besonders naher Beziehung stehen. Eines derselben ist das Osterballspiel, welches unser Bild S. 181 darstellt.

Noch sind zwei Stunden Zelt, bis das Sonnenlicht über die sandigen Flächen der Mark dahinblitzt, da rüstet man sich in den Dörfern und kleinen Städten bereits zum Osterballspiel. Auf einem Hügel, oder wo ein solcher fehlt, auf einem freien Platze, mitten im Flecken sammeln sich Scharen von Kindern und Erwachsenen. Ehedem brachte man große Lederbälle mit, die vorher sorgfältig ausgebessert worden waren, heute sind hie und da Gummibälle dafür eingetreten. Heute gelten Regen und Schnee als Hinderungsgründe, vor fünfzig, ja noch vor dreißig Jahren flogen die Bälle auch durch dichte Schneeflocken und strömenden Regen. Mehrere Gruppen von Burschen bilden sich, meist fünf bis acht, je nach der Größe der Ortschaft.

Jede der Abtheilungen hat einen Ball, den zunächst ein Auserwählter führt. Um ihn drängen sich die anderen, und in weitem Kreise rings staunt, schaut und lauscht die Menge. Ein Ruf ertönt, und alle Bälle steigen hoch in die Luft: Wer möglichst senkrecht wirft, gilt als Meister. Die Augen jeder Gruppe sind auf ihren Ball gerichtet. Jetzt hat er seinen höchsten Punkt erreicht – jetzt beginnt er zu sinken, und alles stürzt mit hoch erhobenen Händen ihm nach. Aber bloßes Auffangen ist kein Kunststück. Mit kräftigem Ruck gilt es ihn wieder in die Höhe zu treiben, ehe ihn noch ein snderer fassen kann.

Der Raum, auf dem ma spielt, ist ziemlich beschränk, und gewöhnlich gerathen schon beim zweiten Wurf die einzelnen Haufen aneinander und durcheinander. Eine Schande für den, dessen Ball den Boden berührt! Eben wirft das Schicksal zwei Gruppen dicht aneinander. Der Ball der einen fällt in die andere, und diese hat nichts Schleunigeres zu thun, als ihn zu Boden zu werfen: Jene wollen sich rächen, aber sie finden wachsame Gegner.

Zwei-, dreimal hat so die eine Schar den Ball der zweiten zu Boden geworfen. Da rafft diese sich endlich zu einem letzten Vorstoße auf. Eben stürmen die siegreichen Nebenbuhler hinter ihrem Balle her, da stürzt die feindliche Schar von hinten her auf sie ein und wirft sie mit kräftigem Anprall weit über die Stelle hinaus, wo ihr Ball fallen muß. Indessen wiederum vergeblich: ein flinker Bursche ist seitwärts ausgewichen und hat unter dem Jubel der Zuschauer den Ball noch glücklich erhascht. Ein Fußtritt treibt den der feindlichen Gruppe den Hügel hinunter, und diese hat zu dem Mißlingen des Rachezuges noch eine zweite Schlappe erlitten.

Das herrschende Dämmerlicht macht das Spiel noch anziehender, die Bilder noch eigenartiger. Jetzt geht die Sonne im Osten auf. Unter einem hellen Freudenjauchzer, der allen Streit und Wetteifer auf einen Augenblick verstummen macht, steigen die Bälle empor und grüßen das junge Tageslicht, das die Spielfreude auf den höchsten Gipfel hebt und ihr zugleich ein rasches Ende bereitet.

Und noch einen anderen Volksbrauch führen wir S. 197 unsern Lesern vor, in dem sich die geheimnißvollen Vorstellungen spiegeln, welche unsere Vorfahren mit der Osternacht verbanden, und der auch in unserer heutigen Ostererzählung eine Rolle spielt.

Wenn die Mitternachtstunde kommt, mit welcher der erste Ostertag anhebt, da weht nach dem Volksglauben ein heiliger Schauer durch die Lüfte. Die alten Götter halten ihren Umzug und bringen ihren Segen zu dem draußen aufkeimenden Leben. Baum und Strauch, Saat und Wiese erhalten die Jahresweihe, und wo ein Wässer rauscht, ein Fluß, ein Bach, ein Quell, ein Gesicker, das von Felsen zu Felsen tropft, oder ein Rinnsal, das sich durch die Wiesen zieht, da fällt tausendfach stärkerer Segen hernieder, Segen, der sich nicht nur auf Saat und Ernte, auf das Blühen und Gedeihen der Natur bezieht, sondern auch fähig ist, einzugreifen in das Menschenleben und Lose zu gestalten nach einem unergründbaren Gesetze.

Wo ein See sich erstreckt, ein Teich im Wiesengrunde sich ausdehnt, oder ein Brunnen liegt, da geht der Zauber vorüber; denn das stehende Wasser ist tot und darnm nicht geeignet, zum Mittel einer lebenspendenden Kraft zu werden. Aber Kraft, Gesundheit, Schönheit, Erfüllung der Liebeswünsche, Heilung von Gebrechen, Glück und Frohsinn, alles vermag das rinnende Naß der Osternacht zu geben, wenn man nur nicht gegen die Bestimmungen verstößt, welche die erste Bedingung seiner Wirkung sind: tiefes Schweigen und das Fernhalten jedes Sonnenstrahles.

Einstens konnte man in der Osternacht ganze Scharen junger Männer sich im kühlen Bade unter freiem Himmel erfrischen sehen, und hier und da an einem einsamen Orte netzte auch ein Mädchen seine Glieder in der heiligen Fluth. Noch als die Großmutter ein ganz junges Mädchen war, blieb man bis nach Mitternacht in der Spinnstube zusammen, und mit dem Glockenschlage zwölf zogen alle Mädchen, mit Krügen bewaffnet, unter tiefem Schweigen nach dem nahen Flusse. – Auch heute holt man noch Osterwasser, aber erst am Ostermorgen, kurz vor Sonnenaufgang. Damals hätte sich kein Bursche getraut, sich den Wasserholerinnen anzuschließen. Aber heute? Die Großmutter schüttelt manchmal den Kopf über die „verderbte Zeit“; und doch kann sie’s nicht ändern. Ihre Enkelin hat aufs bestimmteste erklärt, dies Jahr werde sie kein Osterwasser holen. Aber „Er“ weiß es besser. Kaum hat es in der Früh fünf Uhr geschlagen, da hat er sich schon im Hofe eingefunden. Lächelnd sieht er schon beim Eintreten die beiden großen Steinkrüge an der Thür stehen, und ungläubig schaut er drein, als ihn das Mädel versichert, damit sollen heute die Kühe getränkt werden.

Der Großvater hätte der Großmutter so etwas aufs Wort geglaubt. Nicht so dieser aufgeklärte Jüngling der Neuzeit! Die kleine Pfeife im Munde, stellt er sich ruhig neben die beiden Krüge. Endlich wird’s die höchste Zeit; denn schon beginnt’s recht hell zu werden. So muß sie sich denn entschließen, ihn mitzunehmen. Aber erst muß er geloben, kein Wort zu sprechen, und zu besserer Sicherung darf er das Pfeifchen nicht aus dem Munde nehmen.

Er verspricht natürlich alles, was sie haben will. Auf dem Wege zum Wasser ist er dann auch noch leidlich artig, und ruhig läßt er sie schöpfen. Aber der Heimweg! Hinter ihr geht er auch jetzt noch, aber so ganz ungeneckt kommt sie doch nicht davon. Erst legt er die Hand auf ihre Schulter, dann guckt er sie so lächelnd an, und wenn das Pfeifchen nicht wäre, wer weiß, was er noch thäte! Und bei alledem muß sie ihn ruhig gewähren lassen. Sie darf ja nicht reden und kann doch auch die Krüge nicht wegsetzen. Ach. wenn es jemand sähe! So schwer es ihr wird, so geht sie doch schweigend dahin. Hat sie doch eine Hoffnung: wenn sie das Wasser glücklich bis in ihre Kammer bringt, dann ist alles gut! Ihr rosiges Gesichtchen soll unter seiner Wirkung noch ganz anders erblühen, und dann – dann hält ihn der Osterzauber fest und er kann nicht fort von ihr, auch wenn er wollte. Er aber will gar nicht fort. A. T.      

Alpenrosen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Kühler Schnee deckt noch tief die Matten und Halden des Hochgebirgs, wenn man draußen im „Flachland“ Ostern feiert. Spät kehrt der Lenz ein bei den Bewohnern der Hochthäler, aber auch dort ist er der allmächtige Zauberer, der tausend Blüthen springen macht und die Lüfte mit ihrem Würzhauch füllt. Dann ist auch die Zeit der Alpenrose gekommen, die mit ihren rothleuchtenden Blumen auf saftgrünem Blättergrund einen üppigen Teppich über die Thalwand breitet. Und der kräftige kleine Bursch auf unserem Bilde, er ist selbst so ein Stück Alpenrose, er wetteifert mit seinem blühenden Strauße in frischen Gesundheitsfarben, er bringt einen Hauch mit von der köstlichen Bergluft, in der er geboren. Und so muthet unser Bild uns an wie ein richtiger Frühlingsgruß aus den Bergen, so lustig und farbenfreudig wie ein sonniger Frühjahrsmorgen.

Marie Wunsch, die Schöpferin unseres Bildes, ist eine junge Wiener Malerin, die dort und in Venedig ihre Studien gemacht hat. Ihre ersten Erfolge hat sie mit Kinderbildern errungen, und diesem Gebiete ist sie auch treu geblieben.


manicula 0 Hierzu die farbige Kunstbeilage III: Alpenrosen. Von M. Wunsch.

Inhalt: Freie Bahn! Roman von E. Werner. (11. Fortsetzung). S. 181. – Osterballspiel. Bild. S. 181. – Fährmannskind. Gedicht von Selma Heine. Mit Abbildung. S. 185. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Die Herstellung echter Edelsteine. Von C. Falkenhorst. S. 186. – Herr Albrecht. Eine Ostergeschichte aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Von Stefanie Keyser. S. 188. – Mit Abbildungen S. 188, 189, 190, 193 und 194. – Oceandampfer. Von St. J. S. 195. – „Elsa.“ Eine Ehestandstragödie in Briefen. Von Ernst Wichert. (Schluß). S 195. – Der Gang nach dem Osterwasser. Bild. S. 196. – Blätter und Blüthen: Das Münchener Kunstgewerbe auf der Ausstellung in Chicago. S. 199. – Ostern. S. 200. (Zu den Bildern auf S. 181 und 197.) – Alpenrosen. S. 200. (Zur Kunstbeilage.)


Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 60 Pf. bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.  



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Anm. d. Red. Siehe auch „Die neueren Schnelldampfer der Handels- und Kriegsmarine“ von Karl Busley, Professor an der kaiserl. Marine-Akademie zu Kiel. 2. Aufl. (Leipzig, Lipsius und Tischer.)